Schicksalswege von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 4: Ungerecht -------------------- André kam von seiner Arbeit nach Hause und brachte seinen Eltern den verdienten Lohn. Es war nicht viel, aber es reichte, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Vor etwa einem Jahr hatte er die Anstellung bei seinem Meister bekommen und verdiente seinen Unterhalt zusammen mit seinem Freund Alain als Handwerker. Eine aufgeladene und stickige Luft umfing André, als er zu Hause ankam. Gleich hinter der Tür befand sich der nicht allzu große Speiseraum mit einer Feuerstelle, einem Esstisch und zwei Schlafkammern. Auf dem Tisch brannte eine Öllampe und in der Feuerstelle prasselte ein Feuer. Aber es wurde nicht wie erwartet gekocht. Andrés Großmutter war zu Besuch und stritt heftig mit seinem Vater: „...anstatt dich pausenlos zu betrinken, solltest du lieber eine vernünftige Anstellung finden!“, bekam André gerade ihre letzte Anschuldigung mit und schloss die Wohnungstür hinter sich. Keiner schien seine Ankunft zu bemerken. Sein Vater und seine Großmutter standen sich mitten im Raum gegenüber und funkelten sich gegenseitig böse an, ohne dabei handgreiflich zu werden. Seine Mutter saß auf einem Stuhl am Tisch und vergrub wieder einmal ihr Gesicht in den Händen. Sie sah ermattet aus und beteiligte sich nicht am Streit. André ging unverzüglich zu ihr und nahm sie in seine Arme. Madame Grandier zuckte leicht erschrocken zusammen, doch als sie ihren Sohn sah, lehnte sie sich dankend an ihn. „Denkt Ihr, ich suche mir keine Arbeit?!“, empörte sich sein Vater jähzornig und seine Nasenflügel bebten wieder einmal: „Was unterstellt Ihr mir?! Ein Zimmermann wird anscheinend nicht mehr gebraucht! Und ich bin nicht mehr der Einzige, der seine Arbeit verloren hat! Es werden immer mehr! Aber das wisst Ihr doch nicht! Ihr behütet lieber Eure selbstgerechte Göre und denkt nicht einmal an Euren eigenen Enkel!“ „Wie kannst du es wagen, so über sie zu sprechen! Lady Oscar ist eine...“ „Es ist mir gleich, was sie ist!“ „Vater...“, entfuhr es André unbeabsichtigt und sofort lenkte dieser die Aufmerksamkeit der beiden Streitenden auf sich. Erst jetzt wurde den Sturköpfen bewusst, dass er schon zuhause war. Das minderte allerdings nicht ihre heftige Auseinandersetzung. Seine Großmutter rückte ihre Brille auf dem Nasenrücken zurecht, stemmte ihre Hände in die Hüfte und widmete sich dabei wieder altklug ihrem Schwiegersohn. „Und natürlich denke ich an meinen Enkel. Ich habe Lady Oscar bereits angesprochen und sie hat eingewilligt, dass er als Stallbursche auf dem Anwesen arbeiten kann. Er wird auch dort ein Zimmer beziehen können.“ „Was?! Wie bitte?!“, hörte man es aus allen Ecken der Wohnung. Sowohl André, als auch seine Eltern starrten die alte Frau empört an. „Niemals!“ Aufbrausend und barsch warf sein Vater seine Antwort Sophie entgegen und lief purpurrot an: „Niemals wird mein Sohn diesen verfaulten Aristokraten dienen! Und erst recht nicht diesem verwöhnten Mannsweib! Er ist ein freier Mann und wird es auch bleiben! Niemals werde ich zulassen, dass er bei diesen verkommenen Adligen zu Boden kriechen wird und sich von ihnen alles gefallen lassen muss! Niema...“ Plötzlich erstarrte er und fasste sich verkrampft an die linke Brust. Er ging mit einem gedämpften Schmerzenslaut in die Knie. „...arrgh... was ist das...?“ „Vater!“ André ließ erschrocken seine Mutter los, die perplex auf ihrem Stuhl verharrte, und war schon mit zwei Schritten bei ihm. Unsanft schob er seine Großmutter beiseite und kniete sich schreckensbleich zu seinem Vater. „Was ist mit dir?!“ André sah seinen Vater in einem ihm völlig unbekannten Zustand. Schweißperlen besetzten das glühend rote, schmerzverzerrte Gesicht. Seine rechte Hand griff immer noch verkrampft in sein Hemd und umfasste die stark brennende Brust. Unendlich dauernde Minuten schienen zu verstreichen, doch eine Antwort blieb aus. Stattdessen packte ihn sein Vater am Kragen und zog ihn zu sich. „Schwöre, mein Sohn!“, brachte er verstockt zu Stande und eine Dunstwolke nach billigem Schnaps hüllte André ein. Sein Vater zog ihn noch näher an sein Gesicht heran und der bissige, widerwärtige Geruch drehte André beinahe den Magen um. „Schwöre, dass du niemals für Adlige arbeiten wirst und...“ Sein Vater verkrampfte sich. Ein heftiger Schmerz jagte durch sein Herz, aber dennoch ließ er seinen Sohn nicht los. Seine Atmung wurde angestrengter, schneller, flacher. Dennoch bemühte er sich, den Satz zu vollenden: „...und dass du dich von ihnen... niemals ernie... drigen lassen wirst! Du bist... ein... ein freier Mann! Schwöre es!“ André konnte in seiner Schreckensstarre kein Wort hervor bringen. Er nickte ihm nur stumm zu. Seine Augenlider brannten und in seiner Kehle entstand ein dicker Kloß, als die Finger seines Vaters ihn schließlich entkräftet freigaben. Seine Mutter erwachte aus ihrer Reglosigkeit, lief unverzüglich herbei und fing ihren Mann gerade noch rechtzeitig auf. „André, hol einen Arzt!“, rief sie aufgebracht und ihre Stimme erweckte seine Lebensgeister. André brauchte eine halbe Stunde, bis er mit einem Arzt zurückkam. Für seinen Vater war das aber schon zu spät. Der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Sein Herz hatte ihm urplötzlich den Dienst versagt und er war binnen weniger Minuten verstorben – in den Armen seiner Frau und in Anwesenheit seiner Schwiegermutter. Letztere war bleich wie die Wand und wagte sich nicht von der Stelle zu rühren. In Anbetracht der erschütternden Situation, verlangte der Arzt dennoch sein Geld. „Aber Ihr habt ihn doch gar nicht behandelt!“, protestierte André verständnislos. „Tja, der Weg hierher kostet auch sein Geld. Und ich muss doch auch von etwas leben“, sagte der Arzt steif und streckte ihm schon seine Hand zu. André schaute wie benommen auf den leblosen Körper seines Vaters. Seine Mutter weinte sich auf dessen Brust aus und seine Großmutter versuchte sie verzweifelnd zu beruhigen. Angst vor der ungewissen Zukunft, ein bitterer Schmerz über die Geschehnisse und hilflose Wut auf die ungerechte Welt schossen glühend heiß durch Andrés Adern. Aber was konnte er schon tun? Er war jetzt der Mann im Hause und alle Entscheidungen oblagen von nun an ihm. André hatte keine andere Wahl: Er zog seinen Geldbeutel und bezahlte den Arzt mit dem Lohn, den er heute hart verdient hatte. - - - Wieder einmal besuchte seine Großmutter ihn und seine Mutter. Die Frage, ob er als Stallbursche auf dem Anwesen de Jarjayes arbeiten und wohnen sollte, hatte sich von alleine erübrigt. Da sein Vater vor einem halben Jahr so plötzlich verstarb, wollte André seine Mutter keineswegs verlassen. Er hatte doch seine Arbeit und sie würden schon irgendwie zusammen durchkommen. Gemeinsam war es immer leichter durchs Leben zu gehen, egal wie bitter und schwer es war oder sein würde. Einmal mehr erzählte Sophie ihrer Tochter beim Saubermachen der Wohnung die aktuellen, besorgniserregenden Vorkommnisse um ihren Schützling: „...vorgestern hat Lady Oscar das Leben der Prinzessin gerettet und sich dabei eine Verletzung am Arm zugezogen. Sie hat viel Blut verloren und ist bewusstlos geworden. Eine ganze Nacht lang war sie nicht ansprechbar und wir mussten um sie bangen. Doch anstatt sich zu schonen, ist sie heute früh schon wieder nach Versailles aufgebrochen, um ihren Dienst anzutreten! Zum Glück war ein gewisser Graf Hans Axel von Fersen aus Schweden dabei und hatte sie begleitet. Obwohl er nicht ursprünglich aus Frankreich kommt, spricht er fließend französisch. Er kam hierher um zu studieren und ist sehr edel und hübsch. Er ist des gleichen Alters wie Lady Oscar und sie meinte, sie habe ihn erst jetzt richtig kennengelernt. Ach, wenn sie nur nicht wie ein Mann, sondern wie eine richtige Dame erzogen worden wäre, dann könnte ich mir meine liebe Lady Oscar gut zusammen mit diesem Graf von Fersen vorstellen...“ André verließ die Wohnung und suchte Alain auf, um mit ihm gemeinsam zur Arbeit zu gehen. Er wurde langsam müde von den Erzählungen seiner Großmutter. Aber dennoch tat ihm Oscar im tiefsten Winkel seines Herzens schon irgendwo leid, wegen ihrer Verletzung und der Aufopferung für die Prinzessin. Es war ihre verdammte Pflicht, der sie stets getreu nachkam – ohne Rücksicht auf sich selbst. Was diesen gewissen Grafen aus Schweden anging, hätte André seiner Großmutter widersprochen. Er kannte ihn zwar nicht, jedoch verspürte er plötzlich einen schwachen Stich in seinem Brustkorb. Er wusste nicht weshalb und was das zu bedeuten hatte, aber es stimmte ihn missmutig. Er lachte nicht mehr über die falsche Erziehung des Schützlings seiner Großmutter. Seit dem Tod seines Vaters war er ernster geworden – und erwachsener. Mit seinen neunzehn Jahren trug er schon eine gewisse Verantwortung für den Haushalt, für das Geld und um seine Mutter. Seitdem ihr Mann unter der Erde lag, war seine Mutter immer kraftloser, kränklicher und mager geworden. Seit kurzem konnte sie nicht mehr ihrer Arbeit als Wäscherin nachgehen. André hatte somit seine eigenen Verpflichtungen und es interessierte ihn nicht, wie die Adligen ihr Leben führten und was mit ihnen geschah. Nur Oscar drang manchmal in sein Bewusstsein, wofür er sich keine Erklärung fand. Dann, etliche Wochen später, begegnete er ihr wieder. André erblickte sie nur ganz kurz, als das neue Königspaar nach der Krönungszeremonie ein Institut besuchte, wo der Student Maximilien de Robespierre die Gratulationsrede hielt. Oscar begleitete das Paar, das nun für die Zukunft Frankreichs die Verantwortung übernehmen würde: Marie Antoinette und ihr Gemahl Louis, der zum Ludwig XVI gekrönt wurde, nachdem sein Großvatter wenige Monate zuvor an Pocken gestorben war. Nun hoffte das Volk mit ihrem neuen König auf bessere Zeiten. Und diese Zeiten kamen tatsächlich, denn die Nahrungsmittel wurden billiger. Jedoch hielt dieser Umschwung nicht lange an. Schon bald stiegen die Steuern wieder und immer mehr Menschen verloren ihre Arbeit, weil sie nicht mehr bezahlt werden konnten. „Das ist doch nicht zu fassen! Wozu brauchen wir dann den neuen König und die neue Königin, wenn alles beim Alten bleibt?!“, beschwerte sich Alain bissig zum späteren Feierabend. „Zum Glück dürfen wir noch unsere Arbeit behalten“, erwiderte André nachdenklich und Alain sagte wieder einmal das, was ihm Sorgen bereitete: „Die Frage ist nur wie lange?! Unser Meister musste uns heute schon den Lohn halbieren und wenn es so weiter geht, dann werden wir noch umsonst arbeiten müssen!“ André konnte die miese Laune seines Freundes verstehen. Und nebenbei dachte er an das, was seine Großmutter vor wenigen Tagen über ihren Schützling erzählt hatte: Oscar wurde zum Kommandanten befördert. Es war das erste Anliegen Marie Antoinettes in ihrer Position als Königin. Doch auch andere beschenkte die Königin mit neuen Posten, durch die Verdopplung oder Verdreifachung des Gehalts oder schlicht mit einem prunkvollen kleinen und schlossähnlichen Anwesen. Das hieß also, dass nicht nur Oscar von der Gunst der Königin profitierte, sondern ebenso viele Adlige. Warum? Einfach so, weil es der Wunsch der Königin war! Wie ungerecht! Und das Volk durfte weiter in Elend und Armut versinken! Langsam erreichten André und Alain den Marktplatz und mussten kurz anhalten. Da stimmte etwas nicht! Viele Bürger hatten sich in einem Halbkreis versammelt. Im Zentrum stand ein kleiner, dunkelhaariger Junge und rieb sich weinend die Augen. Vor ihm postierte sich turmhoch ein Herzog und funkelte ihn mit hämischen Blicken an. An der Seite des Jungen kniete ein junges, blondhaariges Mädchen – bestimmt eine Bekannte oder Nachbarin, denn die beiden sahen sich in keinster Weise ähnlich. Das Mädchen versuchte flehend dem Mann etwas zu erklären. „Rosalie!“, schoss es André und Alain augenblicklich und gleichzeitig überrascht durch den Kopf. Sie rannten unverzüglich dorthin und erkundigten sich bei den Herumstehenden, was geschehen war. Sie standen am Rande der versammelten Menge und merkten nicht, dass hinter ihnen eine Kutsche Halt machte. „Was geschieht hier?“, erkundigte sich eine hohe, energische Stimme. „Ein kleiner Junge hat dem Herzog de Germain Geld gestohlen, weil er schon seit mindestens zwei Tagen nichts mehr zu Essen gehabt hatte“, erklärte Alain, was er bereits mit André von den Herumstehenden in Erfahrung gebracht hatte und sah sich um. Auf einmal erstarrte er und mit weit aufgerissenen Augen tippte er André hinweisend an. Dieser folgte seinem Blick und auch ihm rutschte beinahe das Herz in die Hose! Aus der Kutsche stieg ein junger Offizier in der roten Uniform eines hochrangigen Kommandanten und gesellte sich zu ihnen. Das blonde Haar lag wellig über die Schultern und der eisige Blick der blauen Augen heftete sich gradlinig auf das Geschehene. André und Alain überlief ein heiß-kalter Schauer. Nie im Leben hätten sie gedacht, ausgerechnet diese Person jemals so nahe neben sich stehen zu sehen. „Rosalie...“, murmelte diese und in ihrer Stimme schwang so etwas wie Mitgefühl. Das verblüffte die beiden Männer noch mehr. „Ihr... Ihr kennt sie?“, brachte André verstockt von sich, als wäre das wichtig. Die blondgelockte Person seufzte. Die beiden schienen Rosalie gut zu kennen und nebenbei durchströmte sie eine eigenartige Aura, die sie unwillkürlich gesprächiger machte. Aber vielleicht war das auch nur ein innerer Impuls, der sie dazu bewog, es den beiden zu erzählen: „Ich bin ihr vor wenigen Tagen begegnet. Das arme Mädchen war sehr verzweifelt, weil sie kein Geld hatte um ihrer Mutter Medizin zu kaufen und auch keine Arbeit finden konnte. Ich hoffe, ich habe ihr wenigstens etwas helfen können...“ Sie sah leicht betrübt zu Boden und murmelte leise für sich: „Ich wusste nicht, was für ein Elend in dieser Stadt herrscht...“ Dann neigte sie ihren Kopf zur Seite und warf den beiden jungen Männern einen abschätzenden Blick zu. „Warum erzähle ich euch das eigentlich?“ Das hätte sie selbst gerne gewusst, denn es war nicht ihre Art mit fremden Menschen auf diese, beinahe vertrauliche Weise zu reden. Ihr Blick durchbohrte die beiden, aber eine Antwort blieben sie ihr schuldig. Ein Pistolenschuss zerriss die Luft und hallte ohrenbetäubend durch den Markt. Alle drei richteten ihr Augenmerk schlagartig in die Richtung und was sie sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren: Der Herzog hatte den kleinen Jungen erschossen und stieg lachend in seine Kutsche, die sogleich auch ins Rollen kam. Das Gesicht der blondgelockten Person verfinsterte sich. Wut und Zorn sprachen daraus. „Dieses Untier!“, knurrte sie und setzte aufgewühlt der Kutsche nach. „Will sie ihn etwa zur Rechenschaft ziehen?“, dachte André augenblicklich bei sich. Er war für den Bruchteil einer Sekunde fassungslos. Dem Herzog konnte keiner etwas anhaben, nicht einmal der König selbst - und dass wusste jeder! Von einem unerklärlichen Impuls angetrieben rannte André ihr unverzüglich nach und bekam sie am Handgelenk zu fassen. Er packte sie und hielt sie auf, bevor er überhaupt überlegen konnte, was er da eigentlich tat und warum! „Halt! Das dürft Ihr nicht tun! Niemand kann das!“ Sie wirbelte aufgebracht herum, entriss ihm ihr Handgelenk und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. „Was fällt dir ein, mich anzufassen!“, schnaubte sie wütend und heiser. André schmerzte die brennende Wange, aber er blendete das aus. Ihre Ohrfeige saß tief und sein Ego war angekratzt. Sein Blut kochte! Mit einem Mal war ihm egal, wer vor ihm stand. „Und was fällt Euch ein, mich zu schlagen!“, schleuderte er ihr nun ebenfalls erzürnt ins Gesicht: „Glaubt Ihr, Ihr könnt Euch alles erlauben, weil Ihr adlig seid?! Wenn Ihr keine Frau wärt, würde ich Euch eine Lektion erteilen, die Ihr niemals vergessen würdet, Lady Oscar!“ „André, bist du Lebensmüde?!“ Alain tauchte unverhofft neben ihm auf, aber sein Freund fixierte nur seinen Gegenüber. Oscar war für einen kurzen Augenblick verblüfft, aber sogleich wurde ihr Gesicht noch wütender und herrischer. Sie hob wieder ihre Hand und ballte sie zur Faust – aber sie schlug nicht zu. „Woher kennst du meinen Namen?! Wer bist du?!“ André ignorierte ihre Fragen. Ob aus gekränktem Stolz oder etwas anderem, war ihm gerade nicht von Bedeutung. „Begreift Ihr das denn nicht?! Niemand darf den Herzog zur Rechenschaft ziehen! Niemand kann ihm etwas anhaben! Nicht einmal der König! Meine Großmutter hat schon genug Sorgen mit Euch...“ Oscar war wie erstarrt. Mit einem Mal war der Herzog vergessen. Eine schwache Erinnerung schwebte durch ihren Kopf: An eine Rangelei zwischen fünf Knaben, als sie ihr einstiges Kindermädchen mit einer Kutsche in Paris abgeholt hatte – es musste vier Jahre her sein. „Deine Großmutter...“ Es traf sie wie ein Blitz. Was für eine Begegnung! Was für ein Zufall! „Du bist also der Enkel von Sophie... André...“ Und im nächsten Augenblick legte sie sich die Hand an die Stirn. Sie atmete tief ein und aus. „Wie konnte ich... Ich werde den Herzog wohl ein anderes Mal herausfordern müssen...“ Sie warf André noch einen flüchtigen Blick zu und machte dann kehrt zu ihrer Kutsche. Sie fuhr weg und ließ beide Männer einfach perplex stehen. Der Kreis um die trauernde Mutter und ihrem getöteten Jungen, wurde immer kleiner. Die Verbliebenen halfen ihr beim Aufstehen, stützten sie von allen Seiten beim Laufen und brachten sie zusammen mit ihrem Kind fort. Die zwei jungen Männer bekamen das nur am Rande mit. André hielt unbewusst seine Wange und Alain verschlug es die Sprache. Keiner der beiden rührte sich, als wären sie in zwei steinerne Säulen verwandelt worden. Und so bemerkten sie nicht, dass Rosalie zu ihnen kam. Erst ihre entsetzte, weinerliche und fassungslose Stimme brachte sie in die Wirklichkeit zurück: „Wieso?“ Diese eine Frage fasste alles Geschehene zusammen, aber keiner fand eine Antwort darauf, denn sie fragten sich alle das Gleiche. Die Welt war ungerecht – erbarmungslos und niederträchtig. „Sie wollte bestimmt helfen... wie letztens mir... und ich weiß nicht einmal ihren Namen...“ Erneut zerriss Rosalies Stimme die schwere und erdrückende Stille. „Lady Oscar...“, murmelte André und entfernte die Hand von seiner Wange. Er formte sie zu einer lockeren Faust vor seiner Brust. Trotz des grausamen Ereignisses konnte er nicht verhindern, dass sein ganzes Denken nur dieser Frau in der roten Uniform galt. Er sah immer noch in die Richtung, in die sie weg gefahren war. So auch Rosalie und Alain. Und auch als es schon nichts mehr von ihrer Kutsche zu sehen gab, konnten sie sich noch immer nicht von der Stelle rühren. „Du kennst sie?“ Rosalie schien erstaunt zu sein. André nickte. „Wir sind uns bisher noch nie begegnet, aber meine Großmutter erzählt oft über sie. Sie arbeitet auf dem Anwesen de Jarjayes und Lady Oscar ist ihr Schützling.“ „So ist es also...“ Rosalie verstummte. Wenigstens kannte sie nun den Namen der gütigen Madame, die ihr sehr geholfen hatte. Mit diesem einen Goldstück, dass für einen Adligen kaum von Bedeutung war, würden ihre Mutter und sie noch lange auskommen. Wie gutherzig sie doch im Vergleich zu den meisten Adligen war - diese bemerkenswerte und außergewöhnlichen Lady in Uniform. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)