Schicksalswege von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 3: Schicksalsschlag --------------------------- Der Abend brach an und die Sonne begann sich am Horizont vom Tag zu verabschieden. Sie hinterließ ein rötliches Farbenspiel am Himmelsgrund, bis es schließlich in ein tiefes Violett überging und dann immer dunkler wurde. Die Nacht würde bald Einzug halten und um diese Zeit kam Andrés Vater meistens heim. Madame Grandier hatte schon das Abendbrot gemacht und zu dritt saßen sie dann am Tisch beisammen, wie jeden Abend. „Wie war dein Arbeitstag?“, fragte Madame Grandier ihren Mann, wie immer, nachdem sie mit dem Essen begonnen hatten. Monsieur Grandier verzog abfällig sein Gesicht, als hätte er gerade in seiner Fischsuppe auf ein Sauerampfer gebissen. „Der Arbeitstag wäre erträglicher, wenn nicht alle über diese österreichische Prinzessin reden würden!“ Madame Grandier machte sich nichts aus seinem Missmut über die Adligen. Seit sie denken konnte, war er schon immer so. Die Welt der Adligen war für ihn ungerechte, da diese keine Steuern zahlen und die einfachen Menschen dafür umso härter arbeiten mussten, sodass die Aristokraten auf dessen Kosten ein schönes Leben genießen konnten. Madame Grandier schob diesen Gedanken beiseite. Ihr Mann hatte im Grunde recht, aber es änderte nichts an der Tatsache. „Heute war die Prozession der Prinzessin an Paris vorbeigezogen, denn sie fuhr zum ersten Mal nach Versailles. Viele haben sich den Zug angeschaut und reden nur noch darüber.“ „Ich habe sie gesehen...“, entfuhr es André zwischen zwei Bissen. „Du warst auch dabei?“ Sein Vater verengte seine Augen zu Schlitzen und schielte zu ihm. Seine Mutter verzog dagegen ein kaum merkliches Lächeln: „Du hast die Prinzessin also auch gesehen? Wie ist sie denn so? Man sagt, sie sei schön.“ André ließ seinen Löffel in den Teller herabsinken und erwiderte seiner Mutter das Lächeln. „Ich habe nicht die Prinzessin gesehen, sondern Großmutters Schützling. Lady Oscar ist jetzt doch Kapitän der königlichen Garde und ich muss zugeben, in ihrer weißen Paradeuniform sah sie nicht schlecht aus...“ „Pah!“, unterbrach ihn sein Vater knurrend. Seine Nasenflügel blähten sich auf und bebten. „Wir müssen uns hier abrackern und zusehen, wie wir unsere Familien ernähren können und diese kleine Göre in Männerkleidern bekommt alles in den Hintern geschoben! Dass ist doch lächerlich, dieses Mädchen als Kapitän - einfach so, ohne einen einzigen Finger krumm gemacht zu haben! Diese Aristokraten sind allesamt ein verfaultes Pack und ich will weder von dieser österreichischen Prinzessin, noch von dieser selbsternannten Lady Oscar etwas mehr hören! Ich möchte mein Abendmahl und die Zeit mit meiner Familie genießen!“ „Ja, Vater.“ André sagte nichts mehr dazu und aß lieber stumm den Rest seiner Suppe auf. Er musste sich eingestehen, dass sein Vater in vielen Punkten Recht hatte. Aber einer Sache hätte er ihm gerne widersprochen: Oscar konnte vielleicht nichts dafür, dass man sie in die Rolle eines Mannes gezwungen hatte. Immerhin hatte es ihr Vater, der General, schon von ihrer Geburt an so bestimmt. Das würde aber die Meinung seines Vaters nicht umstimmen. Ob es allerdings auch Oscars Wunsch und Wille war, wie ein Junge zu leben, war eine zweitrangige Sache. André rief sich Oscar wieder in Erinnerung: Stolz und aufrecht hatte sie auf ihrem weißen Schimmel gesessen. Man könnte das gar als faszinierend und wundervoll bezeichnen. Aber vielleicht verstellte sie sich nur, weil die Erziehung als Offizier das von ihr verlangte? Denn egal wie männlich sie sich zu geben versuchte, in ihr würde immer das Herz einer Frau schlagen. Das war André in diesem Moment klar geworden. - - - In den folgenden drei Jahren hatte André den Schützling seiner Großmutter kein einziges Mal mehr gesehen. Dafür aber hörte er Einiges über sie: Da gab es am Hofe einen Zwist zwischen der Kronprinzessin Marie Antoinette und der Mätresse des Königs, Madame Dubarry. Oscar war zwar selbst nicht davon betroffen, musste aber ständig Schlichterin spielen und mehr Acht auf die Kronprinzessin geben. Irgendwann wurde der Streit zwischen den beiden Frauen beigelegt. Kaum sich diese Sache erledigt wurde, hörte man an jeder Ecke von Paris die nächsten Neuigkeiten aus Versailles: Man munkelte, dass die Kronprinzessin demnächst beabsichtigte, die Großstadt mit ihrem gleichaltrigen Gemahl zu besuchen. Für André waren der französische Thronfolger und die Kronprinzessin uninteressant. Viel wichtiger war es zu wissen, ob der Kapitän der königlichen Garde den Zug anführen würde?! Ganz bestimmt würde Oscar dabei sein! Immerhin war es ihre Pflicht, die königliche Familie zu beschützen! Und wenn man seiner Großmutter Glauben schenken konnte, dann entzog sich Oscar niemals ihren Pflichten! André wusste selbst nicht, warum ihn Oscar, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, beschäftigte! Früher war das doch nicht so! Er lachte mit Alain über ihre Erziehung und dennoch reizte es ihn zugleich, ihr noch einmal zu begegnen. Eine Frau in Uniform sah man schließlich nicht jeden Tag! Das war für ihn wie eine Art Attraktion. Und was der Meinung seines Vaters anging, nun, er hatte es ja nicht verboten, sondern er wollte nur nichts darüber hören. Nun kam die Stunde null. Sämtliche Straßen waren mit allen möglichen Schaulustigen gesäumt. Alle wollten die schöne Prinzessin sehen. Alle, außer zwei jungen Männern. Der eine rieb sich die Hände, den Kapitän etwas näher betrachten zu können, als es ihm beim letzten Mal gelungen war, und der andere war neugierig, ob sich Oscar viel verändert hatte. „Da schaut! Da kommen sie!“ rief jemand aus einem der oberen Fenster des gegenüberliegenden Hauses und zeigte mit seinem Finger in eine bestimmte Richtung. Alle Zuschauer, ob auf den Straßen oder aus den Fenstern, renkten gespannt ihre Hälse und blickten erwartungsvoll in die Richtung der herannahenden Kutschen des Kronpaares und dessen Gefolge. Und in der Tat zeigten sich schon bald die Umrisse der vielen Pferde und Reiter, dicht gefolgt von der Kutsche mit der Kronprinzessin und dem Kronprinzen. An der Spitze des Zuges war nicht Oscar, sondern jemand anders. Sie selbst begleitete die Kutsche und bot wieder einmal eine elegante Erscheinung. Ehrwürdig auf ihrem Schimmel sitzend, beobachtete sie wachsam das Geschehen, wie auch bei ihrer letzten Begegnung. André bemerkte sie sofort, als sie in sein Sichtfeld kam. Ihre himmelblauen Augen schielten verstohlen von rechts nach links und wieder nach vorn. Ihr Haar war etwas in die Länge gewachsen und lag offen auf den Schultern. Und wieder flüsterte André halblaut ihren Namen, als sie ihn und Alain passierte, ohne die geringste Notiz von den Beiden zu nehmen. „Da läuft einem ein kalter Schauer über den Rücken!“ brummte Alain, als sie sich nach der Betrachtung des Zuges auf den Heimweg machten. Er überkreuzte symbolisch die Arme vor seinem Körper und rieb sich die Oberarme. So, als würde er frieren, obwohl es ein schöner, sonniger und warmer Tag am späten Nachmittag war. „Vielleicht ist sie in Wirklichkeit gar nicht so, wie sie sich gibt“, wandte André schulterzuckend ein. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er sich für Oscar einsetzte. Irgendein Impuls bewog ihn dazu. „Vielleicht muss sie sich so verhalten. Immerhin trägt sie die Verantwortung über die Sicherheit der königlichen Familie.“ „Pah!“ Alain beeindruckte das keineswegs. „Ihr eiskalter Blick lässt einem sogar in der Hölle erfrieren und du glaubst noch an Wunder!“ „Das Eis kann schmelzen, Alain...“ „Du bist ein Träumer, André. Ich glaube nicht, dass so eine Person überhaupt einen Funken Wärme in sich trägt.“ Im Gegensatz zu seinem Freund hatte Alain in seinem neunzehnten Lebensjahr ein paar Erfahrungen mit Frauen erlebt und meinte sich schon mit ihrem Wesen auszukennen. Er hatte auch schon versucht André in die Welt der weiblichen Reize und dem Vergnügen mit ihnen einzubeziehen, jedoch erfolglos. Sein Freund war nicht der Richtige für diese Art von Abenteuer und redete sich meistens aus der Sache heraus, dass er lieber auf die Richtige warten wollte. Daher passierte es oft, dass Alain und seine anderen Freunde, die gar schon fast hinter jedem Rock her rannten, spaßeshalber André als „Träumer“ bezeichneten. Vielleicht stimmte das ja auch, aber jeder Mensch hatte halt seine Prinzipien und diese sollte man jedem lassen. „Wenn du meinst...“ André gab nach. Nichts und niemand konnte Alains Meinung ändern. Vielleicht hatte Alain aber auch recht. Was wusste er schon von dem Leben einer Aristokratin, die wie ein Mann erzogen wurde? Einzig nur das, was seine Großmutter über sie erzählte. Allerdings: Ob das der Wahrheit entsprach, war eine ganz andere Frage. Sie passierten die Straße, nahmen eine Abkürzung durch eines der Elendsviertel, durchquerten eine der engen Gassen und kamen wieder an einer große Straße hinaus. Die Sonne strahlte noch mit letzter Kraft und verfärbte den Himmel mit so wunderschönen, kräftigen rötlichen Streifen, als sie sich dem Horizont neigte. Die Bürger beendeten langsam ihre Arbeit und schlossen ihre Läden. Es wurde immer ruhiger auf den Straßen, aber dafür umso voller in den Spelunken. Eine Kutsche fuhr schnell durch das abendliche Paris und überfuhr beinahe ein Mädchen. Ihr Schreckenslaut zog die Aufmerksamkeit der Bürger auf sich und die Kutsche blieb urplötzlich stehen. Daraus lugte ein adliger junger Mann und fragte aufrichtig, ob etwas passiert sei. Das Mädchen rappelte sich hoch und sagte, es sei alles in Ordnung. Der junge Mann atmete sichtbar auf und setzte seinen Weg fort. Diese Szene beobachteten rein zufällig auch André und Alain. Sie eilten hilfsbereit zu dem Mädchen. „Diese Adligen!“, knurrte Alain bissig und spuckte der fortfahrenden Kutsche nach: „Können die nicht aufpassen, wo sie hinfahren!“ „Es ist schon in Ordnung“, sagte das Mädchen und Alain sah sie wieder an. „Es war meine Schuld. Ich war in Gedanken versunken und habe nicht aufgepasst. Und der nette Herr hat sich sogar entschuldigt und nach meinem Befinden gefragt.“ „Trotzdem!“ Alain beeindruckten solche Aussagen keineswegs. „Hör doch auf!“, mischte sich André ein und widmete sich freundlich dem Mädchen zu: „Wie heißt du eigentlich? Das ist mein Freund Alain, er ist eigentlich ein netter Kerl. Und mein Name ist André.“ „Ich heiße Rosalie“, stellte sich das Mädchen mit einem unschuldigen Lächeln vor. „Freut mich euch kennenzulernen.“ Und vielleicht war genau dieses reine Lächeln, das Alain etwas milder stimmte. Oder auch ihr hübsches Äußeres, wenn man das zerschlissene, ärmliche und an manchen Stellen mehrfach geflickte Kleid nicht beachtete. Sie hatte große blaue Augen, langes blondes Haar, das zu einem Zopf gebunden war und noch recht kindliche Gesichtszüge, was auf ein Alter zwischen dreizehn oder vierzehn Jahre schließen ließ. Für Alain definitiv ein Spur zu jung. Er besann sich sogleich. „Die Freude ist auch unsererseits. Wo wohnst du? Wenn du möchtest, können wir dich begleiten.“ „Das ist nett von euch. Ich wohne hier um die Ecke.“ Rosalie zeigte auf eine Seitenstraße, wo die nächsten Elendsviertel begannen. Zu dritt setzten sie ihre Füße in Bewegung. „Fehlt dir wirklich nichts?“, hakte André nach und Rosalie schüttelte bekräftigend den Kopf. „Es ist wirklich alles in Ordnung. Es gibt Schlimmeres, als ein paar Kratzer.“ „Was meinst du damit?“, wollte Alain sogleich hellhörig wissen. Er war eigentlich kein Mensch, der sich in fremde Angelegenheiten einmischte, aber zu den weiblichen Geschöpfen verhielt er sich immer so – es sei denn, sie wären adliger Herkunft. „Meine ältere Schwester ist von Zuhause weggelaufen...“, erzählte Rosalie gleich trüb: „Und es wird alles teurer: Fleisch, Gemüse, Brot. Meine Mutter ist krank und wir haben noch kaum noch Geld.“ Alains Miene verfinsterte sich schlagartig. „Und wir haben gerade eben noch diesen prächtigen Zug angesehen! Was nützt uns die schöne Prinzessin, wenn das Volk weiter leidet!“ „Alain...“, versuchte André ihn zu besänftigen, doch insgeheim musste er ihm Recht geben. Ja, was nützte ihnen die schöne Prinzessin, wenn die Steuern und die Preise in die Höhe stiegen, das Volk hungerte und im Elend lebte, während in Versailles Feste gefeiert wurden. Und als wäre dieses Wissen nicht schon erdrückend genug, erlebte André, kaum dass er zu Hause ankam, ein weiteres Unglück: Seine Mutter saß bestürzt auf einem Stuhl, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte heftig. André war sofort bei ihr, kniete sich zu ihr nieder und fasste umsorgt ihre Handgelenke. „Mutter! Was ist passiert?“ Seine Mutter entfernte die Hände von ihrem Gesicht und griff nach den seinen. Sie zitterte. André umschloss mechanisch ihre Finger und hielt sie fest. Er traute sich nicht etwas zu sagen, weil er fürchtete, etwas Grauenvolles zu erfahren. Seine Mutter sah ihn mit roten Augen an und bittere Tränen liefen ihr haltlos über die Wangen. „Es ist alles aus, mein Sohn... Dein Vater hat heute seine Arbeit verloren... Sein Meister kann ihn nicht mehr bezahlen... Und jetzt... und jetzt betrinkt er sich in einer Spelunke... unser letztes Geld... Mein Verdienst als Wäscherin wird nicht mehr ausreichen...“ Sie entriss ihm ihre Hände, schlang ihre knochigen Arme um ihn und schluchzte hemmungslos an seiner Schulter. „Was sollen wir tun, André... Wie soll es nur weiter gehen...“ André hielt seine Mutter fest an sich gedrückt und musste erst einmal den Schlag verdauen. Die Zeit für ihn schien plötzlich still zu stehen und er rang nach Luft, um wenigstens atmen zu können. Doch der Schock dieser Nachricht nistete sich erbarmungslos in ihm ein und ein stechender Schmerz durchdrang seinen Körper. „Aber... aber was ist mit Großmutter...? Sie... sie würde uns doch bestimmt helfen können...“ Madame Grandier hörte mit dem Schluchzen auf, aber entriss sich nicht von ihm. Sie vergrub ihr Gesicht noch tiefer in seine Schulter. „Nein, mein Sohn... Sie hat schon genug zu tun... Wir sollten... wir wollen ihr nicht noch mehr zur Last fallen...“ „Ja, Mutter...“ André gab ihr widerwillig recht. Seine Großmutter würde ihnen natürlich helfen, aber sie war nicht mehr die Jüngste und würde nichts Großartiges an ihren Problemen ändern können. Sie musste selbst daran denken, wie sie ihre Arbeit behielt. Es war ein Glück und ein Segen, dass sie auf dem Anwesen de Jarjayes immer noch ihre sichere Anstellung hatte. Und das wollten sie ihr nicht nehmen, indem sie ihr zur Last fielen, um an das nötige Geld zu kommen. Das verstand André in diesem Falle sehr gut. „Wir werden es schon schaffen...“, versuchte er seiner Mutter Trost zu spenden und umarmte sie noch fester: „Ich werde meinen Meister fragen, ob ich neben meiner Lehre auch bei ihm arbeiten kann... Auch wenn es nicht viel sein wird... aber wir werden es schon schaffen...“ Seine Mutter hob den Kopf und sah ihn an. Das tränenüberflutete Gesicht nahm ihr die Sicht und sie konnte ihren Sohn nur verschwommen erkennen, aber das war ihr egal. „Du bist ein guter Junge... Ja, wir werden schon durchkommen... Wenn wir zusammenhalten, wird bald wieder alles in Ordnung sein...“ Mit diesem Gedanken hatte André schon lange gespielt. Seitdem er und Alain vor ein paar Jahren eine Lehre bei ihrem Meister begonnen hatten, hatte André dieser Gedanke beschäftigt. Nun ergab sich die Möglichkeit, es in die Tat umzusetzen und sein Können zum Besten zu geben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)