Er liebt mich, er liebt mich nicht von Hoellenhund ([Secret Love]) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Aki Takeda war als Schulschwänzer bekannt - unbeliebt bei den Lehrern, beliebt bei den Schülern. Ein Ärgernis und Mädchenschwarm, wobei letzteres wohl weniger seiner durchschnittlichen Statur, als seiner Haltung zu verdanken war, die viele als rebellisch bezeichneten. Nicht aber Takeda selbst. Hätte ihn je jemand gebeten, sich selbst zu beschreiben, hätte er nicht mehr als ein Wort dafür benötigt: Einsam. »Aki!« Eine Mädchenstimme riss Takeda aus seinen Gedanken. Auf halbem Weg durch den Flur blieb er stehen, ließ Schülerinnen und Schüler wie ein Strom an sich vorüber fließen, er selbst ein Fels, für den sich das Wasser teilte. Langsam wandte er sich um. Das Mädchen, das ihm gegenüber stand, war hübsch, das konnte Takeda nicht bestreiten. Ihr glattes, schwarzes Haar umspielte ihre Taille und ihre braunen Augen funkelten lebendig. Sie war groß, vielleicht sogar ein wenig größer als er selbst. »Wieso hast du nicht angerufen?« Angerufen? Natürlich, sie hatte ihm vorige Woche ihre Nummer zugesteckt. Noch eine Nummer. Der kleinste Teil eines großen Ganzen, eines Telefonbuchs, das sein Leben war und das doch nie die richtigen Nummern enthielt. Einige lange Sekunden durchforstete Takeda sein Gedächtnis nach dem Namen des Mädchens, doch er konnte ihn nicht finden. Also erwiderte er nur: »Sorry, hatte keine Zeit.« Das Mädchen verschränkte die schlanken Arme vor der Brust und zog die Augenbrauen zu einem schwarzen Rudel lauernder Wölfe zusammen. »Wenn du kein Interesse an mir hast, kannst du das auch einfach sagen.« Ihre direkte Art irritierte Takeda, wenn auch nicht genug, um die Fassade der Gleichgültigkeit sinken zu lassen, die er das vergangene Jahr über um sich herum aufgebaut hatte. Mut hatte sie jedenfalls, das musste Takeda ihr zugestehen und ihr zu seinem Bedauern auch Recht geben: Er hatte tatsächlich kein Interesse an One-Night-Stand Nummer weiß nicht wie-viel in diesem Schuljahr. Am liebsten hätte Takeda sich auf der Stelle umgedreht und das Mädchen, an dessen Namen er sich nicht einmal erinnern konnte, einfach sich selbst überlassen. Stattdessen aber hörte er sich sagen: »Nach den Ferien geh ich auf eine Oberschule in Osaka, dann sehen wir uns sowieso nicht mehr.« Er konnte sich nicht erklären, woher diese Worte gekommen waren. Bisher hatte der Gedanke an den baldigen Schulabschluss nichts als Leere in ihm ausgelöst, Hilflosigkeit. Und plötzlich hatte sein Gehirn gänzlich ohne sein Zutun einen Weg für seine Zukunft ausgeheckt, der Takeda nun, wo er darüber nachdachte, als der einzig logische erschien. Er würde sich bei der Seikô Gakuen Oberschule in Osaka einschreiben. »Das ist so ziemlich die blödeste Ausrede, die ich je gehört habe.« Das Mädchen. Takeda hatte beinahe vergessen, dass sie immer noch da war. »Sorry.« Mehr konnte er nicht sagen, weil er genau wusste, dass sie Recht hatte. »Ja, ist klar. Dann viel Glück in Osaka. Vorausgesetzt du findest eine Schule, die jemanden wie dich freiwillig aufnimmt.« Damit warf sich das Mädchen das lange Haar über die Schulter und stolzierte an Takeda vorbei und auf den Hof hinaus. Vielleicht hätte er sie zurückrufen sollen. Vielleicht hätte er ihr sagen sollen, dass es nicht an ihr lag. Vielleicht. Doch es war ihm gleich, was sie von ihm hielt, was sie ihren Freundinnen über ihn erzählen würde. Wichtig war einzig und allein seine Angst, dass sie auch mit ihren letzten Worten Recht behalten könnte. Weil sie der Typ Mädchen war, der einfach immer Recht behielt. Er war so besessen von seinem neuen Plan, dass ihm selbst der feuchte Glanz, der in ihren Augen schimmerte, als sie an ihm vorüberschritt, nur wie ein kleiner, unbedeutender Preis für etwas Großes, Bedeutsames vorkam. Und dafür verachtete er sich. Kapitel 2: ----------- Die überladenden, bunt dekorierten Schaufenster und grellen Werbetafeln des berühmten tokyoer Einkaufs- und Vergnügungsviertelns Ginza rasten an Takedas Sichtfeld vorbei. Grün und rot und gelb und blau und pink. Alles verschwamm zu einem Wirbel aus leuchtenden Farben. Takeda war wieder sechs Jahre alt. Die Hand seines alten Freundes Hirakawa hatte ihn am Arm gepackt und zerrte ihn durch die überfüllten Straßen hinter sich her. Durch die Augen eines Kindes wirkte die Stadt noch viel größer und überwältigender, als sie es ohnehin schon war. Doch Hirakawa schien ein klares Ziel zu haben. Er ließ sich nicht beirren, noch verlangsamte er seinen Schritt. Vor einem eher unscheinbaren, weniger bunten und etwas altmodisch wirkenden Schaufenster in einer schmalen Seitengasse schließlich hielt er inne und ließ Takedas Arm los. Mit dem schlanken Zeigefinger seiner linken Kinderhand wies er auf die Auslagen des Antiquariats. »Sieh mal!« Zwischen handbemaltem Porzellan und fein geschnitzten Elfenbein-Figuren aus der Meiji-Zeit stand dort, auf rotem Samt gebettet, eine alte, hölzerne Spieluhr. Auf ihrem runden Sockel drehte sich ein bunt bemaltes Pärchen im Tanze. Eine Szene aus dem Ballett, etwas Fremdartigem, Europäischem. »Oh, wie schön!«, murmelte Takeda und bewunderte die Entdeckung seines Freundes. Die Figuren drehten und drehten sich wieder und wieder um die eigene Achse und je länger Takeda hinsah, desto größer wurde seine Angst, das Mädchen könnte durch den Wirbel aus den Händen des Jungen gerissen werden und zwischen all dem Porzellan und Elfenbein um die Spieluhr her für immer verloren sein. »Das sind wir«, erklärte Hirakawa mit fester Stimme, den Blick ebenfalls auf die Spieluhr geheftet. Überrascht sah Takeda zu seinem Freund auf, versuchte seinen Blick aufzufangen, doch es gelang ihm nicht. Also wandte er sich wieder der Spieluhr zu, verengte die Augen ein wenig und hielt den Kopf leicht schräg. Ja, er konnte verstehen, was Hirakawa gemeint hatte, auch wenn er es nicht in Worte zu fassen vermochte. Das dort auf der Spieluhr, das waren sie. Ein kurzes Schweigen entstand, ehe Takeda endlich sagte: »Ja, schon. Aber das eine ist doch ein Mädchen.« Endlich wandte Hirakawa ihm das Gesicht zu. »Ja. Na und?« Wieder kurzes Schweigen, dann brachen die Jungen in schallendes Gelächter aus, lachten ihr Glück und ihre Freude, ihre Unbeschwertheit in die Welt hinaus. Und die Szenerie verschwamm in weißem Nebel. Einige Herzschläge lang konnte Hirakawa nichts mehr sehen, nichts als dieses blendende Weiß. Dann schälte sich ein Gesicht aus dem Nebel, Hirakawas Gesicht, älter dieses Mal. Das Gesicht eines Teenagers. »Unsere Spieluhr ist weg.« »Wovon redest du?«, hörte Takeda sich selbst sagen und doch hatte er die Lippen fest verschlossen. Es war ein anderes, ein falsches Ich, das aus dem Nichts heraus für ihn sprach, das ihm die Kontrolle entriss. »Unsere Spieluhr aus dem Antiquariat in Ginza.« »Dann hat sie wohl jemand gekauft.« Diese Gleichgültigkeit. Wieso war da so viel Gleichgültigkeit in Takedas Stimme? Es war nicht seine eigene. »Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, sie würde für immer da sein.« Sei endlich still! Hör auf, so zu reden! Doch die Worte wollten sich einfach nicht halten lassen. »Ein Antiquariat kauft Sachen an, um sie zu verkaufen. So ist das eben.« »Ja, vielleicht...« Ein merkwürdiger Ausdruck überschattete Hirakawas Augen. Ein Ausdruck, den Takeda nicht deuten konnte, der ihm fremd war und der seinem Herzen doch einen Stich versetzte, ihm den Atem nahm, der ihn ängstigte. Dieser Blick... Kapitel 3: ----------- Takeda schreckte aus dem Schlaf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wieder dieser Traum, diese Erinnerung, die ihn nicht loslassen mochte... Er fand sich an seinem Schreibtisch wieder, in seinem kleinen Zimmer mit den wenigen, ausgesucht schnörkellosen Holzmöbeln, den Kopf auf die auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Papiere gebettet. Ein eindringliches Klopfen an der Tür machte ihm bewusst, was ihn geweckt hatte. »Ja?«, antwortete er mit vom Schlaf kratziger Stimme. »Aki? Bist du schon wach?« Die hohe, schrille Stimme, in der immer ein Hauch von Hysterie mitschwang und die es so perfekt verstand, ein nagendes Gefühl von Hektik zu verbreiten, gehörte seiner Mutter. Jetzt schon, gab Takeda in Gedanken zurück, laut sagte er jedoch: »Ja, du kannst rein kommen.« Mit einem kaum wahrnehmbaren, kurzen Quietschen wurde die Tür nach innen aufgedrückt. Takedas Mutter trug eine schlichte weiße Schürze um die Hüften und einen recht erstaunten Ausdruck auf dem jungen Gesicht. »Ich hätte ja nicht gedacht, dich tatsächlich irgendwann mal wieder am Schreibtisch sitzen und lernen zu sehen. Seit Ryo weggezogen ist, war der bei dir ja nur noch Dekoration.« Ryo Hirakawa. Takeda konnte sich an keine Zeit erinnern, in der er sein Leben nicht mit ihm geteilt, mit ihm gelacht und geweint hatte. Keine bis auf das vergangene Jahr. Hirakawas Vater war kurzfristig nach Osaka versetzt worden und Frau und Sohn waren ihm wie selbstverständlich gefolgt. In den ersten Wochen hatte Takeda unzählige Male versucht, Kontakt zu seinem alten Freund aufzunehmen, doch vergebens. Hirakawas Handynummer war nicht mehr vergeben und auf Briefe an die neue Adresse hatte Takeda nie eine Antwort erhalten. Schließlich hatte er sich damit abfinden müssen, dass es in Hirakawas neuem Leben keinen Platz mehr für ihn, für das Vergangene, zu geben schien. Er hätte sich für Hirakawa freuen sollen, doch wie sehr er sich auch bemühte, er konnte den Stich, den das plötzliche Ende der langjährigen Freundschaft seinem Herzen versetzte, nicht verleugnen. »Aber die Aufnahmeprüfung war doch schon letzte Woche, oder nicht?« Die Stimme seiner Mutter riss Takeda aus seinen Gedanken und brachte ihn ins Hier und Jetzt seiner Existenz zurück. »Stimmt. Aber die Seikô Gakuen ist nicht irgendeine Schule. Selbst wenn ich die Prüfung bestanden haben sollte, muss ich jede Menge nachholen, wenn ich bei denen in der Oberstufe mitkommen will. Seine Mutter seufzte leicht: »Willst du dir das Ganze nicht vielleicht noch mal überlegen? Es gibt so viele schöne Schulen in der Umgebung. Wieso muss es ausgerechnet Osaka sein? Da müsstest du dir eine eigene Wohnung suchen. Du weißt doch nicht mal, wie man die Wäsche trennt. Und billig ist das ja auch nicht gerade.« Ein genervtes Augenrollen Takedas war die Antwort: »Mama, ich weiß sehr wohl, wie man Wäsche wäscht. Außerdem hat die Seikô ein eigenes Wohnheim, nur für die Schüler. Und wenn das Geld nicht reicht, dann arbeite ich eben in den Ferien. Vielleicht hier in Tokyo, dann kann ich solange hier wohnen und euch besuchen.« Als hätte Takedas Mutter ihn nicht gehört, fuhr sie fort: »Und dann ausgerechnet eine Jungenschule. Du hältst es doch keine zwei Wochen aus, ohne ein neues Mädchen mit nach Hause zu bringen.« »Mama, du machst dir zu viele Gedanken. Das ist eine Schule und kein Gefängnis. In Osaka haben die Mütter auch schöne Töchter«, gab Takeda zurück. Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, wollte er die Seikô Gakuen nicht besuchen, um Mädchen kennen zu lernen. Von denen gab es in Tokyo mehr als genug. Im Gegenteil: Die vielen kurzlebigen Beziehungen, die er im Laufe des letzten Jahres geführt hatte, verschafften ihm keine Befriedigung, sie stießen ihn ab. Die Beziehungen in diesem Jahr, nachdem sein Kontakt zu Hirakawa abgebrochen war, nachdem Hirakawa die Schule gewechselt, nachdem er auf die Seikô Gakuen gegangen war. »Na schön, von mir aus. Aber deinem Vater musst du das selber beibringen«, gab Takedas Mutter zurück. »Du tust ja gerade so, als wäre ich schon aufgenommen.« Als hätte sie die ganze Zeit über nur auf dieses Stichwort gewartet, zog Takedas Mutter einen schmalen Briefumschlag aus der Tasche ihrer Schürze und hielt ihn Takeda entgegen: »Von der Seikô.« Mit zittrigen Fingern und trockener Kehle nahm Takeda den Umschlag entgegen. Das Siegel war bereits gebrochen, doch Takeda hatte keine Zeit, sich darüber zu ärgern, dass seine Mutter diesen wichtigen Brief bereits vor ihm geöffnet hatte. Langsam zog er den schmalen Bogen Papier aus dem Umschlag und entfaltete ihn. Kapitel 4: ----------- Osaka war so völlig anders als Tokyo. Obwohl es erst Anfang April war, brannte die Sonne bereits vom Himmel und rief Takeda in Erinnerung, dass er ab sofort viele hundert Kilometer weiter im Süden Japans leben würde. Doch obwohl ihm alles hier so fremd schien, hatte er bereits jetzt das Gefühl, dass er diese Stadt lieben lernen würde. Die Seikô Gakuen befand sich etwas abseits des Trubels, ein riesiger Campus, viel größer als Takeda es von seiner alten Mittelschule her kannte, mit modernen Gebäudekomplexen aus Glas und Stahl bebaut. Im Zentrum des Geländes hatte ein Brunnen mit zwei Meter hoher Fontäne Platz gefunden, von dem Takeda glaubte, eine halbe Schulklasse müsse bequem darin baden können. Direkt gegenüber befand sich von Säulen in altertümlichem Stil umrahmt das Hauptgebäude für Lehre, Administration und Verwaltung, aus dessen Tor Takeda gerade getreten war, nachdem er, wie er in seinem Brief angewiesen worden war, seinen Anmeldebogen ausgefüllt hatte. Die nicht allzu weit entfernt angrenzenden Wohnheime der Seikô Gakuen erinnerten Takeda an moderne Hotels und während er noch einmal seine Zulassung überflog, machte er sich auf direktem Weg dorthin. Nachdem Sie Ihren Anmeldebogen ausgefüllt haben, begeben Sie sich bitte zum Wohnheimblock A. Einer der Wohnheimsprecher wird Sie dort Ihrem Zimmer zuweisen, stand dort. Und tatsächlich hatte sich vor dem Haupteingang des Wohnblocks A bereits eine kleine Schlage etwas unsicher wirkender, neuer Schüler gebildet. Die meisten wirkten deutlich jünger als er selbst, was Takeda, während er sich in die Schlange einreihte, unwillkürlich daran erinnerte, dass die Seikô nicht nur eine Ober- sondern auch eine Mittelschule war. Er musste nicht lange warten, bis er schließlich einem hochgewachsenen Jungen mit runder Brille und Klemmbrett gegenüber stand, wohl ein oder zwei Jahre älter als Takeda selbst. Die konzentrierten Falten auf seiner Stirn wiesen ihn eindeutig als einen der Organisatoren des Spektakels aus. »Name?«, frage er mit diplomatischer Stimme, ohne Takeda auch nur anzusehen. »Aki Takeda.« »Takeda, also...« Er suchte mit den Augen seine Liste ab, bis er, so schien es, Takedas Namen darauf fand. »Dein Zimmer ist in Wohnblock C, 102. Dein Mitbewohner heißt Yuuki Ishida. Wohnheimsprecher: Ryo Hirakawa.« Takeda erstarrte. Er musste sich verhört haben. »Was ist denn? Bist du festgewachsen, Aki Takeda?« »Entschuldigung, aber was hast du gerade gesagt?« »Wohnblock C, Zimmer 102.« »Nein, ich meine den Namen des Wohnheimsprechers.« »Ryo Hirakawa.« Nun endlich blickte der Junge mit der runden Brille zu Takeda auf. Ein leicht verächtliches Blitzen lag in seinen Augen: »Soll ich es buchstabieren?« »Schon gut, bin ja schon weg«, gab Takeda, nun wieder mit gewohnt gleichgültiger Fassade zurück, kehrte dem Jungen den Rücken und machte sich, so rasch es die schwere Tasche auf seinem Rücken zuließ, auf den Weg zum Wohnblock C. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Vielleicht würde er Hirakawa früher wiedersehen, als er es zu hoffen gewagt hatte. Kapitel 5: ----------- Die Tür zu Zimmer 102 stand offen. Auf einem der beiden Betten, die fast das gesamte Zimmer ausfüllten, lümmelte bäuchlings ein Junge mit blond gefärbtem, kurzem Haar in Trainingshose und blätterte in einem Magazin herum. Als er Takeda bemerkte, sprang er sofort auf. »Aki Takeda?«, fragte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht und kam, um Takeda seine Tasche abzunehmen. »Willkommen im angesagtesten Wohnblock der Seikô Gakuen. Was aber natürlich jeder Block von sich behauptet.« Als wäre die Tasche mit Watte ausgestopft, warf der Blonde sie in hohem Bogen auf das Bett, das wohl ab sofort Takedas sein würde. Er wirkte muskulös, beinahe so, als würde er regelmäßig Gewichte stemmen. »Ich bin Yuuki Ishida. Schön, dass du auch schon kommst. Ich dachte schon, ich muss den ganzen Tag hier rumliegen und verpasse ganze Training.« »Training?«, frage Takeda verwirrt, was Ishida nur ein noch breiteres Grinsen ins Gesicht schrieb. »Ich bin im Athletik-Club. Besser gesagt: Ich BIN der Athletik-Club, der Vorsitzende sozusagen. Ohne mich kriegen die Schlappschwänze da unten nichts auf die Reihe.« Ishida machte nur eine kurze Atempause, die er gleichzeitig nutzte, um Takedas überraschten Gesichtsausdruck zu prüfen, ehe er fortfuhr: »Du brauchst gar nicht so zu gucken, das ist immerhin mein letztes Jahr hier. Wenn man’s bis dahin nicht mindestens zum Klassensprecher geschafft hat, ist das echt ein Witz. Hast du dir schon überlegt, in welchen Club du eintreten willst? Bist ja ein bisschen schmächtig, was? Naja, aber was nicht ist, kann ja noch werden.« Takeda brauchte einige Sekunden, um die vielen neuen Informationen zu verarbeiten, ehe er antwortete: »Muss man in einen Club eintreten?« »Machst du Witze?« Ishida war offensichtlich ehrlich verblüfft. »Was willst du denn hier sonst den ganzen Tag machen? Wir sind ’ne Jungenschule, hier gibt’s keine Mädchen, schon vergessen?« Takeda hielt einen Moment lang inne und runzelte die Stirn. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass ein Club vielleicht keine schlechte Gelegenheit war, um neue Freunde zu finden. Oder alte Freunde wieder zu finden... »In welchem Club ist denn Ryo Hirakawa?«, frage er wie beiläufig. Für einen kurzen Augenblick schien Ishida verdutzt. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Sei froh, dass du ausgerechnet mich das fragst, Mann, sonst gibt’s noch gleich am ersten Tag Gerüchte. Hirakawa ist im Kendô-Club, ’ne richtige Ikone. An den kommst du sowieso nicht ran. Aber Kendô, wieso nicht? Dann bist du wenigstens nicht im Athletik-Club, du ziehst bestimmt den Schnitt runter. Nichts für Ungut, Mann. Jeder hat seine Stärken. Aber ich muss jetzt wirklich los. Wir sehen uns heute Abend, da gibt’s dann ’ne ganz besondere Überraschung, alles klar?« »Was denn für eine Überraschung?« »Wenn ich dir das jetzt sagen würde, wäre es ja keine Überraschung mehr. Also dann!« Und damit flog Ishida förmlich aus der Tür und war nur wenige Lidschläge später auf dem Gang verschwunden. Takeda fragte sich einen Augenblick lang, wie es ihm bloß gelang, sich bei einem solchen Tempo immer noch so elegant zu bewegen, ehe er die Tür schloss und seinen Blick durch sein neues Zimmer schweifen ließ. Ishida schien kein schlechter Kerl zu sein. Humor hatte er jedenfalls. Außerdem glaubte Takeda, dass er noch einiges von ihm würde lernen können. Kein schlechter Zimmergenosse für einen Neuling wie ihn. Langsam ließ sich Takeda auf sein neues Bett sinken, zog seine Tasche zu sich heran und begann, die wenigen Habseligkeiten, die er mitgebracht hatte, auszupacken. Den meisten Platz nahmen die neuen Schuluniformen ein. Nicht mehr blau wie auf der Mittelschule, sondern dunkelgrün. Ein Anzug mit farblich abgestimmter Krawatte. Während Takeda mit dem Daumen über den Saum einer der Ärmel strich, fragte er sich, wie es sich wohl anfühlen würde, eine dieser Uniformen zu tragen. Wie es sein würde, ein Teil dieser Schule zu sein, ein Teil der Schule, an der Ryo Hirakawa Wohnheimsprecher war. Noch ehe Takeda bewusst war, was er tat, hatte er sein T-Shirt über den Kopf gezogen und stattdessen das weiße Hemd der Schuluniform übergestreift, die Jeans gegen die grüne Stoffhose getauscht und die Krawatte gebunden. Als letztes schob er die Hände durch die Ärmel des Jacketts und schloss die drei silberfarbenen Knöpfe vor der Brust. Alles saß, als wäre es eigens für ihn gefertigt worden, wie eine zweite, angenehme Haut. Im Zimmer gab es keinen Spiegel, doch Takeda musste sich nicht erst ansehen, um zu wissen, wie ihn die neue Schuluniform verändert hatte. Eine Veränderung, die weit über das Aussehen hinaus ging. Von der einen Sekunde zur anderen war er ein neuer Mensch geworden. Kapitel 6: ----------- Noch nicht einmal einen ganzen Tag lang hatte Takeda sein Zimmer im Wohnheim bezogen und schon wünschte er sich an einen Ort weit fort von hier. Vielleicht nicht unbedingt zurück nach Tokyo, aber Hokkaido wäre sicher ein guter Anfang gewesen. Oder Russland. Im Nachhinein konnte Takeda beim besten Willen nicht mehr sagen, wie er in diese missliche Lage geraten war. Er wusste nur, dass er mitten auf dem Schulgelände stand, vor dem stattlichen Bau des Hauptgebäudes, gegenüber des großen Springbrunnens, von Yuuki Ishida und einer Horde anderer Oberschüler umringt, in ein rüschenbesetztes und verboten kurzes Kleid gezwängt. »Rein mit ihm!« Hände griffen nach Takeda, packten ihn an Schultern und Armen, schließlich an Hüfte und Beinen. »Seid ihr wahnsinnig geworden?!« Er wehrte sich aus Leibeskräften, schlug und trat um sich, doch gegen die Übermacht der Oberschüler hatte er keine Chance. »Stell dich nicht so an, das ist unser kleines Willkommensritual!« Die Stimme gehörte Ishida, soviel war sicher, auch wenn Takeda seinen Mitbewohner in der Menge um sich her nicht ausmachen konnte. All seine Konzentration galt nun dem Brunnen, der drohend immer näher und näher kam. »Auf drei! Eins… Zwei…. Und drei!« Ein Platschen, ein lauter Aufschrei und Takeda fand sich im kalten Wasser wieder, das unsägliche Kleid völlig durchnässt. In diesem Augenblick fühlte er sich unbeschreiblich nackt. »Was soll der Scheiß?« Gelächter um ihn her, schallend, demütigend, ansteckend und Takeda wurde leicht ums Herz. Diese Menschen waren jetzt seine neue Familie. Und er fiel in ihr Lachen ein, lachte, wie er seit einem Jahr nicht mehr gelacht hatte und fühlte sich lebendig, wie lange nicht mehr. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass sein Leben nicht mehr leer war. Sein Blick huschte über die Oberschüler um ihn her, wollte sich jedes lachende Gesicht für immer einprägen, kein Detail dieses Augenblicks vergessen. Dann sah er ihn. Er stand weit abseits, an eine der Säulen gelehnt, die das Tor des Hauptgebäudes rahmten. Ryo Hirakawa. Sein Gesicht lag im Schatten, doch Takeda war sich sicher, dass er zu ihm hinüber sah. Er musste ihn erkannt haben, er musste. Hirakawas hochgewachsener Körper löste sich von der Säule hinter ihm. Einen Augenblick lang glaubte Takeda, er würde auf ihn zu kommen, wollte es glauben. Doch Hirakawa wandte sich ab, ging mit gleichmäßigen Schritten auf das entfernte Wohnheim zu. Takedas Lachen erstarb. Er rappelte sich auf und hievte sich mühsam über den Rand des Brunnens. Das Kleid klebte nass und schwer an seinen Beinen. Die Zeit schien einen Augenblick lang still zu stehen, jede Bewegung eine Ewigkeit zu dauern. Takeda kämpfte sich durch die immer noch grölende Menge auf die Stelle zu, an der er Hirakawa zuletzt gesehen hatte. Er wusste nicht wieso, doch ein drängendes Gefühl hatte sich mit eiserner Faust um sein Herz geklammert und drohte ihn zu ersticken. Er durfte Hirakawa jetzt nicht gehen lassen, er musste ihn aufhalten. »Warte!«, hörte er sich rufen. Doch als er endlich wieder freie Sicht hatte, war Hirakawa bereits aus seinem Blickfeld verschwunden. Kapitel 7: ----------- Der Schulanfang rückte immer näher und mit jedem Tag, der verstrich, steigerte sich Takedas Nervosität. Auf den Fluren des Wohnheimblocks hielt er ständig Ausschau nach Hirakawa, versuchte ihn beim Essen oder im Waschraum abzufangen. Doch immer, wenn sie sich begegneten schien es, als würde Hirakawa seine Anwesenheit nicht bemerken und ehe Takeda ihn ansprechen konnte, war er auch schon wieder verschwunden. Allmählich beschlich Takeda das ungute Gefühl, dass hinter dem Verhalten Hirakawas eine gewisse Absicht steckte. Der Grund dafür blieb ihm allerdings ein Rätsel. Manchmal gelang es Takeda, Hirakawa einige Zeit lang zu beobachten, ohne dass dieser ihn bemerkte. Er schien auch mit den anderen Schülern nicht häufig zu sprechen. Zwar wurde er von allen freundlich gegrüßt, doch immer wahrte er eine gewisse höfliche Distanz. Die meiste Zeit des Tages verbrachte er in der umfangreichen schuleigenen Bibliothek. Einmal hatte Takeda stundenlang davor gesessen, um herauszufinden, wie lange Hirakawa wohl bleiben würde und seinen Posten schließlich ergebnislos verlassen. Aber auch die täglichen Treffen des Kendô-Clubs verpasste Hirakawa nie. Ob Takeda es nun recht war oder nicht – er musste zugeben, dass sich sein alter Freund im vergangenen Jahr verändert zu haben schien. Natürlich, er war immer eher nachdenklich gewesen, schon seit Kindertagen nicht mehr aufgeweckt, eher interessiert. Aber so fixiert hatte Takeda ihn noch nie erlebt. Und das beunruhigte ihn noch weitaus mehr als die Tatsache, dass Hirakawa ihn ganz offensichtlich einfach nicht mehr kennen wollte. Als Takeda schließlich am Sonntagmorgen allein auf seinem Zimmer saß, seinen Gedanken nachhing und eines seiner alten T-Shirts, die er noch immer nicht in den Schrank geräumt hatte, aus der Reisetasche unter seinem Bett zog, fiel ein Zettel heraus. Irritiert bückte sich Takeda nach dem weißen, quadratischen Stück Papier und drehte es um. '070 15239857. Sadako.' Sadako... Das war also ihr Name. Der Name des Mädchens, das er nie zurückgerufen hatte. Im Grunde war Takeda keinen Deut besser als Hirakawa. Wie konnte er ihm also einen Vorwurf machen? Er hatte nicht das Recht, ihm nachzustellen. Außerdem kam er sich nach fast einer Woche Observation allmählich mehr als albern vor. »Was treibst du eigentlich den ganzen Tag?«, hatte Ishida ihn gestern Abend gefragt. »Nichts.« Eine bessere Antwort hatte Takeda nicht in den Sinn kommen wollen. »Nichts?« »Nichts Besonderes zumindest.« »Wird langsam Zeit, dass du dich für einen Club entscheidest. Morgen ist der letzte Ferientag, also auch der letzte Tag, um sich anzumelden. Und jetzt sag nicht, du hättest was Besseres zu tun.« »Sag ich ja gar nicht.« »Gut, ich dachte nämlich schon, du hättest ’ne Freundin.« Damit hatte Ishida Takeda sein Kissen mit so viel Schwung an den Kopf geworfen, dass dieser beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Aber genau dieser Schlag schien ihn in die Realität zurückgeholt zu haben. Zumindest war er sich nun sicher, wozu er den heutigen Tag nutzen würde und Hirakawa nachzustellen gehörte nicht dazu. Er musste sich zusammenreißen. Und mich bei Gelegenheit für die Aktion mit dem Kleid rächen, fügte er als gedankliche Notiz hinzu. Kapitel 8: ----------- In der Sporthalle war das Training bereits in vollem Gange. Die Schüler hatten sich paarweise zusammengefunden und schienen mit ihren Bambusschwertern eine bestimmte Abfolge von Schlägen einzustudieren. Sie alle trugen die traditionell in Dunkelblau gehaltene Kendô-Uniform und, obwohl es sich offensichtlich nur um Trainingskämpfe handelte, auch die dazugehörige Rüstung mit Kapuze und Gesichtsgitter, was es Takeda unmöglich machte, die einzelnen Schüler voneinander zu unterscheiden. Nur einer von ihnen war nicht in das Training vertieft und trug auch keine Rüstung. Stattdessen schlenderte er zwischen den Kämpfenden hindurch und rief ihnen hier und da eine Anweisung zu, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Seine dominante Art verriet Takeda, dass es sich um den Vorsitzenden des Clubs handeln musste. Er war kräftig, fast ein bisschen stämmig gebaut und trug sein schwarzes Haar beinahe schulterlang. Als sein Blick Takeda traf, kam er mit weiten, zielstrebigen Schritten auf ihn zu. »Hast du dich verlaufen?« Im selben Augenblick hielten alle Schüler im Kampf inne. Erst, als die damit verbundene plötzliche Stille Takeda auf die Ohren drückte, wurde ihm bewusst, wie laut die sich kreuzenden Schwerter bis eben die Luft der Halle erfüllt hatten. Takeda blickte dem Vorsitzenden direkt in die Augen und bemühte sich, nicht zu blinzeln. Mit fester Stimme sagte er: »Mein Name ist Aki Takeda. Ich möchte in den Club eintreten.« »Weitermachen!« Die Stimme des Vorsitzenden schallte wie ein nahendes Unwetter durch die Halle und sofort nahmen die Schüler ihr Training wieder auf, war die Luft erneut erfüllt von Rufen und Schritten und dem Donnern der Schwerter. Nur eine Gruppe, gar nicht weit entfernt, allerdings hinter dem Rücken des Vorsitzenden vor seinen Blicken geschützt, blieb weiterhin wie angewurzelt stehen, schien das Gespräch zu verfolgen. »Du bist Anfänger, oder?«, fragte der Vorsitzende mit prüfendem, aber nicht unfreundlichem Blick. »Ja«, gestand Takeda leicht zögerlich. Er fühlte sich plötzlich ein wenig deplatziert. »Na gut. Mein Name ist Yamato Kuroi, ich bin der Club-Vorsitzende.« Damit reichte er Takeda auf europäische Art die Hand. Er hatte einen ungewöhnlich festen Griff, den Takeda zu erwidern versuchte. Vielleicht war sein Vater ein Geschäftsmann. Aus dem Augenwinkel bemerkte Takeda, wie sich einer der beiden Schüler, die ihr Training weiterhin unterbrachen, aus der Gruppe löste und mit energischen Schritten auf sie zu kam. Erst als er sie beinahe erreicht hatte, riss er sich die Maske vom Gesicht. Takedas Herz setzte einen Schlag lang aus. Es war Ryo Hirakawa und seine zu schmalen Schlitzen verengten Augen zeugten von unterdrückter Wut. »Was machst du da, Kuroi?« Takeda wurde bewusst, dass er beinahe vergessen hatte, wie Hirakawas Stimme klang. Sie war weder hoch noch tief, aber so schneidend wie zerbrochenes Glas. Angestrengt bemühte sich Takeda, nicht vor dieser Stimme zurückzuweichen, standhaft zu bleiben, die Fassade der Gleichgültigkeit zu wahren. Nie hatte ihn das so viel Kraft gekostet. Kuroi drehte sich nicht einmal um. »Kennst du den Jungen, Ryo?« Einige Sekunden, die Takeda wie eine Ewigkeit vorkamen, antwortete Hirakawa nicht. Seine Augen schlossen sich, öffneten sich wieder. Erst dann begannen seine Lippen, ein Wort zu formen: »Nein.« Takedas Hände fingen an zu zittern, er musste sie zu Fäusten ballen, um es zu verbergen. Inständig hoffte er, dass weder Hirakawa noch Kuroi bemerkt hatten, wie sehr ihn dieses kleine Wort getroffen hatte, diese Gewissheit, die seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden ließ. Aber vielleicht war Hirakawas distanzierte Haltung im Grunde gar nicht so falsch: Ihre Freundschaft oder Nicht-Freundschaft ging nur sie beide etwas an. Nicht Kuroi und auch sonst niemanden. Er musste Hirakawa zur Rede stellen. Nicht hier, irgendwo allein. »Na, dann gibt es hier jawohl kein Problem«, schloss Kuroi, die Augenbrauen leicht hochgezogen, als wäre ihm durchaus bewusst, dass es hier sehr wohl ein Problem gab. »Solange ich hier noch der Vorsitzende bin, ist es allein meine Entscheidung, wen ich in den Club aufnehme und wen nicht. Und ich sage, der Junge bleibt.« Hirakawas Blick verfinsterte sich, doch so sehr sich Protest in seinen Augen spiegelte, so viel Respekt lag nun in seiner Stimme: »Ganz wie du willst.« Plötzlich wurde Takeda bewusst, dass aus Hirakawa ein Lügner, ein Schauspieler, geworden war. Vielleicht genauso ein Lügner wie er selbst. Abrupt wandte sich Hirakawa ab und machte sich auf den Weg zu seinem Trainingspartner zurück, der, in der großen Halle etwas verloren, bereits auf ihn wartete. Erst, als er seine Maske wieder aufsetzte und das Bambusschwert zur Ausgangsposition erhob, wandte Kuroi sich wieder an Takeda: »Lass dir von dem nichts gefallen. Es bekommt kleinen Jungs nicht, wenn sie gerade mal in der Oberstufe angekommen sind und schon einen Club übernehmen sollen.« »Hirakawa wird Vorsitzender des Kendô-Clubs?« Takeda war ehrlich überrascht. Natürlich, Ishida hatte ihm bereits von Hirakawas Talent erzählt, aber die Tatsachen hatten lautere Stimmen, als sie jede Geschichte je hätte haben können. Ein schiefes Grinsen zerschnitt Kurois Gesicht: »Ich wusste doch, dass ihr euch kennt.« »Was?« »Erzähl mir keine Märchen, woher kennst du sonst Ryos Nachnamen? Er hat schließlich nicht die Höflichkeit besessen, sich vorzustellen.« Takeda wollte gerade den Mund öffnen, um etwas zu sagen, da winkte Kuroi bereits ab: »Schon gut, dafür haben wir später noch Zeit. Jetzt ist erstmal das Training dran. Komm am besten in einer halben Stunde noch mal her, dann suchen wir dir ein paar Klamotten aus dem Fundus zusammen.« Als Takeda keine Anstalten machte, zu gehen, fügte er hinzu: »Von mir aus kannst du auch solange zugucken.« Takeda nickte und ließ sich auf eine Bank am Rande der Halle sinken, von der aus er einen guten Blick auf den Trainingskampf von Hirakawa und seinem Partner hatte. Er studierte jede der Bewegungen des alten Freundes. Wie er bei Angriffen leichtfüßig zurückwich, ohne dabei jedoch die Offensive zu verlieren. Wie er seinem Gegner das Bambusschwert kraftvoll entgegen stieß und wie beiläufig parierte. Jeder dieser Bewegungsabläufe wirkte einstudiert, zu perfekt, um natürlich zu sein, aber mit einer solchen Selbstverständlichkeit ausgeführt, dass Takeda das Gefühl hatte, Hirakawas Körper und das Schwert seien eins. Kapitel 9: ----------- Es schienen nicht mehr als ein paar Minuten verstrichen zu sein, als Kurois gebieterische Stimme erneut die Luft der Halle durchschnitt: »Das reicht für heute! Ihr ward gut, geht euch fertig machen!« Die Schüler brachen ihr Training ab, verbeugten sich voreinander und flossen wie ein Schwarm kleiner Fische durch die Tür aus der Halle. Hirakawa ließ sich ein wenig zurückfallen, bedeutete seinem Partner mit einer Handbewegung, ohne ihn weiter zu gehen, beugte sich hinab und begann, an seinem Schuh herum zu nesteln. Vielleicht hoffte er, einige Gesprächsfetzen von Takeda und Kuroi aufschnappen zu können, doch Kuroi hatte Geduld. Er blieb stumm, bis sich Hirakawa schließlich als einer der letzten ebenfalls auf den Weg in Richtung der Waschräume gemacht hatte. Erst dann wandte er sich Takeda zu, erneut das schiefe Grinsen auf dem Gesicht. »Ich wüsste ja zu gerne, wieso Ryo so einen Narren an dir gefressen hat. Und ich dachte schon, der wäre eine Maschine, die zum Laufen nur Öl braucht.« Kuroi betrachtete Takedas Gesicht so eindringlich, dass er sich zu fragen begann, ob damit irgendetwas nicht in Ordnung war. Er wollte schon danach fragen, als Kuroi endlich den Blick durch die Halle und zu der Tür, durch die Hirakawa verschwunden war, abschweifen ließ. »Du bist wohl nicht gerade versessen darauf, darüber zu reden«, stellte er schließlich fest. Sein Grinsen war verschwunden und er zuckte leicht die Achseln. »Na komm, wir suchen dir ein paar Klamotten zusammen. Ein bisschen frisches Blut können wir im Club immer gut gebrauchen.« Damit führte Kuroi Takeda zu einem kleinen, an die Halle angrenzenden Raum. Bevor er darin verschwand, musterte er Takeda noch einmal von Kopf bis Fuß, wohl um seine Größe abzuschätzen. Während Takeda wartete, ging ihm das Gespräch zwischen Hirakawa und Kuroi nicht aus dem Kopf. Schließlich rang er sich dazu durch, danach zu fragen: »Hast du Streit mit Hirakawa?« Einen Augenblick lang hörte Takeda nichts als das Geräusch von Kartons, die hin und her geschoben wurden. »Kann man so nicht sagen.« Ehe Takeda weiter nachhaken konnte, stand Kuroi schon wieder vor ihm, mit einer kompletten Kendô-Ausrüstung auf dem Arm. »Hier, die sollte dir passen. Schuhgröße 24.5?« »Ja«, gab Takeda verblüfft zurück. »Die Schwerter bleiben hier, du kannst dir vor jedem Training eins aus dem Schrank da holen. Das ist übrigens immer von 16 bis 18 Uhr, außer mittwochs, da ist frei. Alles klar?« Takeda nickte knapp und nahm die Ausrüstung entgegen. »Wenn du Lust hast, treffen wir uns die Tage mal auf einen Kaffee oder so«, fuhr Kuroi fort. »Vielleicht bist du dann ein bisschen gesprächiger.« »Gerne.« Diese Gelegenheit, mehr über das Verhältnis von Kuroi und Hirakawa zu erfahren, würde sich Takeda auf keinen Fall entgehen lassen. Kapitel 10: ------------ Es dämmerte bereits, als sich Takeda auf den Weg zur schuleigenen Bibliothek machte. Sie würde in knapp zehn Minuten schließen. Takeda war sich dessen durchaus bewusst, er hatte es mit einkalkuliert. Da Hirakawa den Großteil seiner Freizeit in der Bibliothek zu verbringen schien, hatte Takeda sich vorgenommen, ihn nach Torschluss dort abzufangen. Das war die einzige Gelegenheit, noch vor dem morgigen Unterrichtsbeginn von Angesicht zu Angesicht mit ihm zu sprechen. In Ruhe - und vor allem: allein. Takeda hatte sich lange überlegt, wie er dieses Gespräch anfangen sollte, welche Worte die Richtigen wären. Aber ein möglicher Anfang war ihm alberner vorgekommen als der andere. Vielleicht: Du hast mich doch wiedererkannt, oder? Ich bin's, Aki Takeda. Oder besser: Wieso hast du dich nicht mehr bei mir gemeldet, nachdem du hierher gezogen bist? Nein, zu vorwurfsvoll. Am besten mit einem unverfänglichen Thema beginnen, Kendô vielleicht. Die Tür zur Bibliothek schwang auf und Hirakawa trat ins Freie, zwei Bücher unter den linken Arm geklemmt. Ihm folgte eine junge Frau, zog hinter sich die Tür zu und drehte einen Schlüssel im Schloss herum. Es musste sich um die Bibliothekarin handeln. Sie trug eine Brille mit schmalem Silberrand und eine elegante Hochsteckfrisur, keinen strengen Dutt, wie es Takeda vielleicht erwartet hätte, sondern eine lockere Verflechtung, aus der sich einige widerspenstige Strähnen gelöst hatten und ihre Ohrläppchen umspielten. Er konnte nicht bestreiten, dass sie attraktiv war, obwohl sie um einiges älter sein musste als er selbst. Nachdem die Frau die Tür verriegelt hatte, wandte sie sich Hirakawa zu. Aus dieser Entfernung konnte Takeda nicht verstehen, was sie sagte, doch die beiden wirkten unbestreitbar miteinander vertraut. Und sie kamen direkt auf ihn zu. Takeda war wie erstarrt. »Ich verspreche dir, du wirst es lieben«, konnte er die Bibliothekarin nun sagen hören. »Da bin ich sicher«, gab Hirakawa zurück. Seine Stimme war eine völlig andere als die, mit der er Kuroi bedacht hatte, weich wie fallendes Herbstlaub im Wind. Die beiden schlenderten an Takeda vorbei, ohne auch nur Notiz von ihm zu nehmen; als wäre er nichts weiter als einer der Bäume im angrenzenden Park oder vielleicht eine Ente, die sich verlaufen hatte. Sie waren bereits einige Meter weiter in Richtung des Wohnheims gegangen, als Takeda sich endlich aus seiner Starre befreien konnte. Alle Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, waren vergessen. Sein Kopf war völlig leer. Und doch umklammerte er mit aller Kraft diesen einen verbliebenen Gedanken: Er durfte Hirakawa jetzt nicht einfach gehen lassen, er durfte die Gelegenheit, endlich unter vier Augen mit ihm zu sprechen, nicht vergeuden. »Hirakawa!« Takeda rannte ein Stück, um dann, leicht außer Atem, vor Hirakawa und seiner Begleitung zum Stehen zu kommen. Sie wirkte überrascht, sein Gesicht glich dem einer Statue. »Ist das ein Freund von dir, Ryo?« Ein freundliches Lächeln umspielte die Mundwinkel der Bibliothekarin. Takeda hätte es ihr am liebsten vom Gesicht gewischt. Er konnte nicht sagen, wieso, aber dass sie Hirakawa beim Vornamen nannte, machte ihn rasend vor Wut. »Geh doch schon mal vor, Rika«, gab Hirakawa zurück, ohne sie anzusehen. Das allerdings schien sie nicht im mindesten zu irritieren. Wie gut sie sich kennen mussten... »Ein Geheimnis also? Ich mag Geheimnisse.« Als sie ihn umarmte, drehte sich Takeda der Magen um. Lass die Finger von ihm!, hätte er am liebsten geschrien, aber es gelang ihm, sich zu beherrschen. »Bis morgen dann!«, flötete die Frau fröhlich und wandte sich dann zum Gehen. Takeda machte sich nicht einmal die Mühe zu warten, bis sie außer Hörweite war, ehe er Hirakawa anfuhr: »Wer war das denn?!« »Das geht dich nichts an«, gab Hirakawa zurück, die Stimme so eisig, wie sich Takeda den Tod vorstellte und doch vermochte sie die Wut, die heiß in seiner Brust brannte, nicht zu löschen. »Weißt du eigentlich, dass ich mich nur wegen dir an der Seikô angemeldet habe? Und du behandelst mich die ganze Zeit über wie Luft!« »Was?« Ein falsches Lachen verzerrte Hirakawas Züge: »Das ist so ziemlich das Lächerlichste, was ich je gehört habe.« »Was sollte ich denn machen? Du bist einfach abgehauen, dein Handy war nicht erreichbar und auf meine Briefe hast du auch nie geantwortet.« »Ich hatte keine Zeit.« Takeda erstarrte. Seine Worte aus Hirakawas Mund. Dieselbe eiskalte Lüge. »Willst du mich verarschen?« »’Nen Versuch war’s wert, oder? Bist du eigentlich so egoistisch oder so naiv? Ist dir nie auch nur eine Sekunde lang in den Sinn gekommen, dass ich dich vielleicht gar nicht wiedersehen WILL?« Der Stoß traf Takeda mitten ins Herz. Er musste um Luft ringen, seinen Kreislauf am Leben erhalten. Er durfte nicht zulassen, dass seine zittrigen Knie den Dienst versagten und nachgaben. Die Lösung war so einfach, wieso hatte er sie nicht gesehen? Natürlich, weil er sie nicht hatte sehen wollen. Weil er gedacht hatte, er könnte zu seinem alten Leben zurückkehren, wenn er nur Hirakawa wieder an seiner Seite wüsste; dass so alles wieder einen Sinn ergeben würde, ergeben musste. Hirakawa wandte sich ab. Ohne ein Wort des Abschieds ließ er Takeda allein zurück. Zurück mit dem Warum, das sich immer und immer wieder in seinem Kopf drehte. Was war vor einem Jahr geschehen? Was war in diesem letzten Jahr geschehen? Was hatte alles so sehr auf den Kopf stellen können? Hirakawa so sehr verändert, ihn selbst so sehr verändert? Was? Langsam tat Takeda einige Schritte rückwärts. Hinter sich spürte er eine Bank, die er bis eben nicht bemerkt hatte und ließ sich dankbar darauf sinken. Langsam legte er den Kopf in den Nacken und starrte zu den Sternen empor, die nach und nach am dunkelblauen Himmel erblühten, als hoffte er, sie könnten ihm eine Antwort auf seine Fragen geben. Kapitel 11: ------------ Takeda hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als ihn etwas aus seinen Gedanken riss. Im ersten Moment konnte er es nicht zuordnen, wusste nicht, was es gewesen war, bis er es erneut hörte. »Takeda!« Jemand rief seinen Namen. Eine Stimme, die ihm vertraut vorkam. Sie gehörte nicht Hirakawa, sie gehörte, sie gehörte... Das Gesicht Yuuki Ishidas schob sich in Takedas Sichtfeld, leicht verzerrt, mit gerunzelter Stirn und zusammengezogenen Augenbrauen. »Man, was treibst du denn hier? Ich hab dich überall gesucht. Dachte, du hast dich vielleicht verlaufen. Es ist schon irre spät. Um zehn ist Sperrstunde im Wohnheim, kapiert? Wir müssen zurück, sonst lassen die uns auf der Parkbank pennen. Komm schon, hoch mit dir!« Takeda wurde auf die Füße gezogen, wankte leicht, war verwirrt. »Was haben sie denn mit dir gemacht? Oder hast du was getrunken? Das geht ja mal gar nicht klar.« Ein Arm hakte sich bei Takeda unter, zog ihn mit sich. Immer einen Fuß vor den anderen setzen, einen Fuß vor den anderen. Der Weg zum Wohnheimblock C schien länger geworden zu sein, ein endloser Marsch durch die zwielichtigen und verlassen daliegenden Welten des Campus, von Wegen durchzogen, die doch alle nur Irrwege waren. Als Ishida endlich mit Takeda im Schlepptau das Wohnheim erreichte, war der Wohnheimsprecher gerade dabei, die Tür zu verriegeln. »He, wir müssen da noch rein!«, rief ihm Ishida entgegen und beschleunigte seinen Schritt, wodurch Takeda nun eher hinter ihm hergezogen als von ihm gestützt wurde. Die Miene des Wohnheimsprechers blieb ausdruckslos: »Drei nach Zehn.« »Komm schon, sei kein Frosch, Hirakawa.« Hirakawa? Natürlich, er war der Wohnheimsprecher, er... »Ich musste nur noch schnell meinen Freund hier einsammeln«, gab Ishida besänftigend zurück und fuhr Takeda freundschaftlich durch das ohnehin schon zerzauste Haar. Der kam sich in diesem Augenblick vor wie ein kleines Kind - was er vermutlich auch war. Doch er hatte keine Kraft, sich dagegen zu wehren. In Hirakawas Gesicht regte sich etwas, das Takeda nicht richtig deuten konnte, dann trat er einen Schritt zurück, um die beiden Nachzügler einzulassen. Auf halber Treppe zu Zimmer 102 brach Ishida schließlich das entstandene Schweigen: »Man, man, man. Der muss ja echt was gegen dich haben.« »Wer?«, fragte Takeda matt. Ishida zog den Zimmerschlüssel aus seiner Hosentasche und sperrte die Tür auf. »Na, Hirakawa. Also nicht, dass er jetzt ein besonders aufgeschlossener Mensch wäre, aber eigentlich hilft er dir immer, wenn du in der Klemme steckst.« »Ach so?« Takeda ließ sich auf sein Bett fallen. Am liebsten hätte er den Namen Hirakawa ab sofort aus seinem Wortschatz gestrichen, damit der Drache, der in seiner Brust tobte, sich für die nächsten hundert Jahre wieder in seiner Höhle einrollen und den Schlaf der Gerechten würde schlafen können. Aber es gelang ihm nicht. »Als letztes Jahr mein Vater gestorben ist, hat mich Hirakawa wieder hoch gezogen. Ich dachte, ich müsste die Schule abbrechen und zu meiner Mutter nach Okinawa zurückgehen. Geld verdienen. Er ist von sich aus auf mich zugekommen, hat irgendwie ein Auge dafür, wenn’s einem schlecht geht, glaub ich. Naja, jedenfalls hat er für mich bei der Schulleitung vorgesprochen und hat es doch tatsächlich geschafft, dass die mir das Schulgeld erlassen haben. So ’ne Art Stipendium. Unglaublich der Kerl.« Takeda hatte während Ishidas Ausführungen die Augen geschlossen. Obwohl sein Mitbewohner denken musste, dass Takeda bereits eingeschlafen war, fuhr er halblaut fort: »Wäre gerne sein Freund geworden. Aber der lässt niemanden an sich ran. Ich glaube, dem geht’s mieser als allen, denen er hilft.« Damit löschte Ishida das Licht und überließ das Zimmer der Schwärze der Nacht. Kapitel 12: ------------ Es kam, wie es kommen musste. Nach einer feierlichen Begrüßung der neuen Schüler im großen Saal des Hauptgebäudes, begann der Schulleiter persönlich Namen und Klassen der Oberschüler zu verlesen. Die neuen Mittelschüler, die man als Oberschüler aufgrund räumlich getrennter Wohn- und Unterrichtseinheiten nur selten zu Gesicht bekam, hatten die Halle bereits gemeinsam mit ihren neuen Klassenlehrern verlassen und im Saal wurde es ruhiger. Rund 50 Schüler sollten nun auf drei neue Klassen verteilt werden. Im Grunde war es Takeda gleich, in welche Klasse er kommen würde, schließlich kannte er keinen der anderen Schüler in seinem Jahrgang. Bis auf... »Hirakawa, Ryo. Klasse A.« Aus dem Augenwinkel konnte Takeda sehen, wie sich Hirakawa von seinem Platz erhob und sich in Richtung der Bühne aufmachte, wo sich bereits eine kleine Gruppe von Schülern um die neuen Klassenlehrer versammelt hatte. Weitere Namen wurden aufgerufen, doch Takeda nahm kaum Notiz davon. All seine Gedanken kreisten nur um diese eine Hoffnung. Bitte, bitte, bitte, bitte... »Takeda, Aki. Klasse A.« Bitte nicht! Noch gestern hätte Takeda alles darum gegeben, mit Hirakawa in eine Klasse zu kommen, doch jetzt konnte er sich kaum eine grausamere Folter ausmalen. Aber es kam eben immer so, wie es kommen musste. Takeda zögerte einen Augenblick zu lange, zog sich dann aber doch von seinem Platz hoch und machte sich mit weichen Knien in Richtung Bühne auf. Sofort wurde ihm bewusst, dass Hirakawa ihn unverhohlen anstarrte; mit einem kalten, klaren Blick, der Takeda wünschen ließ, er könnte augenblicklich wieder Luft für Hirakawa sein. Doch diese Chance hatte er verspielt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste zu seiner alten Gleichgültigkeit zurückfinden, er musste... »Bitte folgen Sie mir«, erhob sich nun die Stimme seines neuen Lehrers über die aufgeregt schwatzenden Oberschüler und er führte die kleine Gruppe aus der Halle, aus dem Hauptgebäude hinaus, über den Platz mit dem Springbrunnen hinweg und auf ein großes, längliches Gebäude mit Glasfront zu, in dem sich die Klassenzimmer befinden mochten. Der Raum der Klasse A war großzügig und hell, mit einer breiten Fensterfront, durch die die Morgensonne hinein schien. Das Herzstück bildete ein nagelneues Whiteboard, davor stand das eher unscheinbare Lehrerpult, vor dem sich wiederum eine Vielzahl von Einzeltischen gruppierte. Takeda ließ sich ein wenig zurückfallen und wartete, bis die meisten der anderen Schüler einen Platz gefunden hatten, ehe er sich auf einen freien Stuhl in der hintersten Reihe fallen ließ, möglichst weit von Hirakawa entfernt und weitestgehend vor seinen Blicken geschützt. Auf dem Platz neben Takeda saß ein kleinwüchsiger Junge mit einer schwarz gerahmten Brille auf der Nase, die Takeda unwillkürlich an Glasbausteine erinnerte und der ihm gerade den Kopf zuwandte. »Hi, ich bin Kamui Sakana. Du bist neu, oder?« »Hier sind doch alle neu«, gab Takeda abweisend zurück. Er war zu beschäftigt damit, Hirakawas Hinterkopf anzustarren, als dass er sich auf den Jungen neben sich hätte konzentrieren können. »Ich war schon in der Mittelschule auf der Seikô und viele andere auch«, gab Sakana zurück, als hätte er gar nicht bemerkt, wie wenig Takeda sich für ihn interessierte. »Glückwunsch erstmal. Es kommen nicht viele Auswärtige in die A-Klasse.« Damit hatte Sakana Takedas volle Aufmerksamkeit für sich gewonnen. Aus seinen Gedanken gerissen wandte er den Kopf seinem neuen Sitznachbar zu: »Wie bitte?« »Die A-Klasse ist nur für besonders Begabte. Wusstest du das nicht?« Takeda war ehrlich verblüfft. »Nein«, sagte er nur, doch in seinem Kopf rasten die Gedanken. Das musste ein Irrtum sein. Takeda hatte nie besonders gute Noten mit nach Hause gebracht und das vorige Jahr über schon gar nicht. Natürlich, er hatte für die Aufnahmeprüfung wie verrückt gelernt, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie ihn das für eine Begabtenklasse qualifiziert haben sollte. Vor seinem inneren Auge sah Takeda das lachende Gesicht seiner Mutter, wenn er sie anrief und ihr davon erzählte... Sie würde es auch nicht glauben. In diesem Moment räusperte sich der Klassenlehrer leicht, wandte sich dem Whiteboard zu und schrieb einen Namen darauf. Erst jetzt bemerkte Takeda, dass er wie ein richtiger Wissenschaftler aussah. Er trug sein leicht gewelltes Haar schulterlang, eine große runde Brille auf der Nase und hatte sich in einen weißen Kittel gehüllt, als wollte er im nächsten Augenblick ein gewagtes Experiment durchführen. »Mein Name ist Kei Yamamura. Ich unterrichte Physik, Biologie und Kunst.« Aufgrund der ungewöhnlichen Fächerkombination ging ein leises Raunen durch die Klasse. Auch Takeda konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein Mensch wie Yamamura-Sensei vor einer Leinwand mit Pinsel und Farben hantierte. Doch er würde es sicher bald erleben. »Bevor wir mit dem Unterricht anfangen, sollten wir einen Klassensprecher wählen«, fuhr Yamamura-Sensei fort und ließ seinen wissenschaftlich prüfenden Blick durch die Klasse wandern. Sakana hob die Hand: »Ich schlage Hirakawa vor.« Zustimmendes Gemurmel erfüllte den Raum und Yamamura-Sensei wandte sich wieder dem Whiteboard zu, um Hirakawa als Kandidaten zu notieren. Takeda hatte geglaubt, dass sich viele der Schüler untereinander nicht kennen würden. Im Gegenteil aber schienen die meisten tatsächlich bereits die Mittelschule der Seikô Gakuen besucht zu haben. Plötzlich fühlte sich Takeda wie ein Fremdkörper, wie ein Außenseiter in einem eingespielten System. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht und wäre einfach mit der Wand hinter sich verschmolzen. Einen Augenblick lang herrschte Stille in der Klasse. Jeder musste sich Gedanken über einen weiteren potentiellen Kandidaten für die Klassensprecherwahl machen, doch niemand schien diese Position besser ausfüllen zu können als Hirakawa. Gerade räusperte sich Yamamura-Sensei erneut, als Hirakawa die Hand erhob. »Ich schlage Aki Takeda vor.« Takeda wurde übel. Er konnte nur hoffen, dass sein Gesicht seinen Wunsch, die Farbe der Wand anzunehmen, nicht allzu wörtlich genommen hatte, denn in der selben Sekunde, da Hirakawa seinen Namen nannte, wandte sich die ganze Klasse zu ihm um. Er brachte kein Wort heraus. Da kein Widerspruch erfolgte, schrieb Yamamura-Sensei auch Takedas Namen an die Tafel. Während zwei weitere Kandidaten vorgeschlagen wurden, versuchte Takeda sich zu beruhigen. Was wollte Hirakawa damit bezwecken? Niemand würde Takeda zum Klassensprecher wählen, so viel war sicher. Vielleicht war das ein Versuch, ihn zu demütigen. Doch das würde er nicht zulassen, er würde es sich nicht zu Herzen nehmen. Wieso sollten die anderen Schüler ihn auch wählen, sie kannten ihn ja überhaupt nicht. Es hatte nichts mit ihm zu tun. Die Stimmzettel der verdeckten Wahl wurden eingesammelt und Yamamura-Sensei begann, die Stimmen zu verlesen, während Sakana entsprechend Striche hinter die auf dem Whiteboard niedergeschriebenen Namen setzte. »Ryo Hirakawa.« Strich. »Ryo Hirakawa.« Strich. »Aki Takeda.« Strich. Takeda konnte seinen Ohren kaum trauen. Irgendjemand hatte tatsächlich für ihn gestimmt. Er selbst war es jedenfalls nicht gewesen. Vielleicht Sakana? »Ryo Hirakawa.« Strich. »Aki Takeda.« Strich. »Aki Takeda.« Irgendetwas konnte da nicht mit rechten Dingen zugehen. Mit vor Schreck und Erstaunen geweiteten Augen beobachtete Takeda, wie die Anzahl der Striche hinter seinem eigenen und dem Namen Hirakawas wuchs und wuchs. Am Ende stand es acht zu fünf für Hirakawa. Drei Stimmen hatten sich auf die beiden übrigen Kandidaten verteilt. Takeda konnte es einfach nicht fassen. »Damit ist Hirakawa der neue Klassensprecher«, verkündete Yamamura-Sensei und die Klasse verfiel in ausgelassene Zustimmung. »Und Takeda der neue Stellvertreter.« Das konnte einfach nicht wahr sein. Wo war Takeda da nur hineingeraten? Kapitel 13: ------------ »Du bist in die A-Klasse gekommen? Glückwunsch! Hab doch gesagt, dass jeder seine Stärken hat. Deine sind eben eher im Köpfchen.« Yuuki Ishida war bereits lange vor Takeda zurück in Zimmer 102 gewesen. Er hatte die letzte Doppelstunde abgehängt. Kunst sei nicht sein Ding, hatte er gesagt. »Ich glaube, du hast mir nicht richtig zugehört, Ishida. Die haben einen Fehler gemacht.« »Na klar. Und wie soll das deiner Meinung nach passiert sein? Hat sich zufällig noch jemand mit dem Namen Aki Takeda an der Seikô beworben und sie haben eure Adressen vertauscht?« Ishidas Gesichtsausdruck war deutlich anzusehen, dass er das für mehr als unwahrscheinlich hielt. »Ja, wieso nicht?«, gab Takeda trotzig zurück und verschränkte vor der Brust. »Hör mal, die haben keinen Fehler gemacht. Wieso versuchst du dir das einzureden? Du bist im Moment ganz schön mies drauf.« Blitzmerker, fuhr es Takeda durch den Kopf. Laut sagte er: »Kann man so nicht sagen.« »So genau will ich's auch gar nicht wissen«, räumte Ishida ein, den Blick der Decke zugewandt. »Aber sag mal, musst du nicht zum Training?« Takeda warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Der große Zeiger wies auf die Fünf, der kleine auf die Vier. »Ach du Scheiße«, entfuhr es ihm. Hastig sprang er auf und riss seine Kendô-Ausrüstung aus dem Wandschrank neben dem Bett. »Los, Takeda, ich will dich rennen sehen!«, feixte Ishida. Sein Lachen hallte Takeda noch in den Ohren nach, als er aus dem Zimmer schoss, die Treppe mehr hinab flog, als dass er rannte und in Richtung der Sporthalle davon setzte. Endlich, völlig außer Atem, erreichte Takeda die Umkleidekabinen, doch sie waren leer. Die anderen Schüler mussten bereits mit dem Training angefangen haben. »Scheiße«, murmelte Takeda erneut, während er sich mühte, die ungewohnte Kendô-Uniform anzulegen. Sein erster Tag im Club und er kam gleich mehr als nur ein bisschen zu spät. Als er endlich in die Sporthalle stürzte, zeigte die große Wanduhr bereits viertel nach Vier an und das Training war längst in vollem Gange. Er konnte Kuroi ausmachen, der in der Mitte der Halle stand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, seine Schüler beobachtend. Es dauerte keine zwei Herzschläge, bis er Takedas Anwesenheit bemerkte. »Wo bleibst du denn, Junge?«, dröhnte seine harte Stimme durch die Halle und Takeda nahm die Beine in die Hand, um kurze Zeit später schlitternd vor Kuroi zum Stehen zu kommen. »Und wie siehst du überhaupt aus?«, fuhr Kuroi im selben Tonfall fort. Sein linker Mundwinkel allerdings zuckte, als müsste er sich ein Lachen verkneifen. Takeda sah an sich hinab und musste einen Fluch unterdrücken. In seiner Eile hatte er sich den Kendō-Gi, das dunkelblaue Oberteil der Kendô-Uniform, falsch herum gebunden. Nach dem Brauch der buddhistischen Beerdigungen war er also gerade gestorben. Dieser Tag wurde einfach immer besser. »Ich geh mich umziehen«, murmelte Takeda schließlich und wollte sich gerade der Tür zuwenden, als er Kurois schwere Hand auf seiner Schulter spürte. »Lass gut sein, sonst verpasst du den Rest des Trainings ja auch noch.« Einen Moment lang suchte Kurois Blick die Halle ab, vielleicht auf der Suche nach einem Trainingspartner für Takeda. Dabei hätte er bereits wissen müssen, dass niemand übrig geblieben war. Während Takeda Kurois Blick folgte, musste er überrascht feststellen, dass viele der Clubmitglieder Mittelschüler zu sein schienen. Es lohnte sich wohl nicht, einen eigenen Kendô-Club nur für die Oberschüler der Seikô Gakuen einzurichten. »Na gut«, sagte Kuroi schließlich und rieb sich mit dem Finger über eine der buschigen Augenbrauen. »Am besten zeige ich dir erstmal ein paar Grundlagen. Außer dir haben wir dieses Jahr keine Neuanfänger bekommen. Sonst gibt es zum Jahresanfang immer ein paar Extrastunden, aber so lohnt sich das nicht. Mach mir einfach alles nach.« Kuroi erhob sein Bambusschwert und begab sich in Ausgangsposition. Takeda gab sich alle Mühe, es ihm gleich zu tun und es schien ihm auch erstaunlich gut zu gelingen. Jedenfalls nickte Kuroi knapp, korrigierte Takedas Beinstellung nur leicht. Es fühlte sich gut an, sich wieder voll und ganz auf etwas konzentrieren zu müssen. Takeda konnte sich nicht erklären, wieso ihm während des Trainings so leicht ums Herz war, bis er feststellte, dass er die ganze Zeit über nicht eine Sekunde lang an Hirakawa gedacht hatte. Und das, obwohl er hier irgendwo in diesem Raum sein musste, womöglich ganz in seiner Nähe. Kuroi zeigte Takeda noch einige weitere Stellungen, ehe er seine Stimme erneut durch die Halle donnern ließ und alle Schüler mit seiner üblichen Floskel verabschiedete: »Das reicht für heute! Ihr ward gut, geht euch fertig machen!« Die Schüler verbeugten sich voreinander und Takeda tat es ihnen gleich. Ein leises, beinahe heimliches Lächeln umspielte Kurois Mundwinkel und er klopfte Takeda zum Abschied auf die Schulter: »Aus dir wird noch mal was, Junge.« Von diesem Lob beflügelt machte sich Takeda auf den Weg in Richtung der Waschräume. Er war beinahe dort angelangt, als eine kühle, schneidende Stimme ihn zurückrief: »Hey, Takeda.« Plötzlich fühlte er sich wie ein Vogel, der gegen eine Scheibe geflogen war. Er musste sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass diese Stimme Hirakawa gehörte. Verdammt noch mal, was wollte dieser Kerl jetzt bloß von ihm? »Wir sollten einige mögliche Aktionen für das Sommerfest durchsprechen«, fuhr Hirakawa fort, als sei es das natürlichste der Welt. »Wieso wir?«, wollte Takeda mit zusammengebissenen Zähnen wissen und rang sich nun doch dazu durch, sich zu Hirakawa umzudrehen. Wenn das eine Entschuldigung für sein indiskutables Verhalten neulich vor der Bibliothek sein sollte, dann war sie wirklich mehr als erbärmlich. »Du bist der stellvertretende Klassensprecher, oder nicht?« Das klang so beiläufig, dass Takeda kaum glauben konnte, dass es Hirakawa gewesen war, der ihn überhaupt erst in diese missliche Lage gebracht hatte. Wut stieg in Takedas Brust auf. Was war das für ein perfides Spiel, auf das er sich eingelassen hatte? »Schön, reden wir also über das Sommerfest«, brachte Takeda hervor und war selbst überrascht, wie ruhig seine Stimme klang. Ruhig und beinahe ein bisschen bedrohlich. »Natürlich nicht jetzt«, gab Hirakawa zurück, die linke Augenbraue leicht angehoben. »Komm Freitag nach dem Training im Wohnheim zu mir aufs Zimmer.« Und damit wandte sich Hirakawa ab, ohne auch nur eine Antwort abzuwarten. Takeda war so perplex, dass er völlig vergaß, nach der Zimmernummer zu fragen. Kapitel 14: ------------ Die kommenden Tage verliefen nicht besser, als dieser vermaledeite Montag aufgehört hatte. Takeda bemühte sich angestrengt, dem Unterricht zu folgen, was ihm mal mehr, mal weniger gut gelang. Immer, wenn er sich dabei erwischte, auf Hirakawas Hinterkopf zu starren, hätte er sich am liebsten geohrfeigt. Am Mittwoch schließlich war es so heiß, dass Takeda viel darum gegeben hätte, sich unter einen der Kirschbäume im angrenzenden Park legen zu können, anstatt Yamamura-Senseis komplizierten Ausführungen über höhere Physik folgen zu müssen. Als die Glocke endlich das Ende des Unterrichts ankündigte, war Takeda einer der ersten, die sich aus dem Klassenraum drängten, um über das Schulgelände hinüber zum angrenzenden Park zu schlendern. Er war noch nicht weit gekommen, als ihn jemand zurück rief. »Hey, Aki!« Verwundert drehte Takeda den Kopf und entdecke Kuroi, der an ein Motorrad gelehnt am Rand der Auffahrt stand. Aber nicht irgendein Motorrad, sondern eine blankpolierte, schwarze Suzuki; ein richtiges Schätzchen, das Kuroi einen Haufen Geld gekostet haben musste. Und er schien damit auf jemanden zu warten. »Sprichst du eigentlich jeden mit Vornamen an?«, wollte Takeda leicht säuerlich wissen, während er näher kam. »In Deutschland macht man das so.« »Wie bitte?« »Mein Vater kommt aus Deutschland. Er hat meine Mutter auf einer Geschäftsreise in Yokohama kennengelernt.« Plötzlich kam Takeda der feste Handschlag wieder in den Sinn, mit dem Kuroi ihn bei ihrer ersten Begegnung begrüßt hatte. Takeda hatte mit seiner Vermutung also richtig gelegen: Kurois Vater war Geschäftsmann. Und ein europäischer noch dazu. Das schräge Grinsen, das Takeda bereits sehr gut kannte, verzerrte Kurois Züge: »Macht dich das etwa nervös? Wenn ich dich Aki nenne?« »Mach was du willst. Ich bleibe jedenfalls bei Kuroi«, gab Takeda auf eine Art zurück, die er für betont lässig hielt, doch Kurois Grinsen wurde nur noch breiter. »Schon gut, Junge. Lust auf ’ne kleine Spritztour?« »Aber das Training fängt doch gleich an.« »Sehr brav. Aber heute ist Mittwoch.« Natürlich, wie hatte Takeda nur so die Zeit vergessen können? Das Kendô-Training fand immer von 16 bis 18 Uhr statt – außer mittwochs, das hatte Kuroi selbst ihm doch letzten Sonntag erst gesagt. »Stimmt«, räumte er also ein. »Aber ich kann nicht fahren.« Jetzt konnte Kuroi ein kurzes Lachen, das an das Bellen eines Hundes erinnerte, nicht unterdrücken: »Mit meinem Baby würde ich dich sowieso nicht fahren lassen. Du setzt dich hinten drauf und ICH fahre. Du kommst nicht aus Osaka, oder? Gegen eine kleine Stadttour ist also nichts einzuwenden. Warst du überhaupt schon mal am Meer?« Takeda fragte sich, wie es Kuroi nur gelang, die Menschen so gut zu durchschauen. Er schien jedenfalls nicht nur auf Schuhgrößen spezialisiert zu sein. »Nein«, gab Takeda also zu und ließ sich von Kuroi einen Motorradhelm reichen, der bereits auf dem Sattel bereit gelegen hatte. Plötzlich fragte sich Takeda, ob Kuroi hier wohl auf ihn gewartet hatte. Und wenn ja – wieso? »Aufsteigen und festhalten!« Takeda tat wie geheißen und keine drei Sekunden später raste das Motorrad bereits die Auffahrt hinunter und bog auf die Zufahrtsstraße Richtung Osaka ab. Der Wind pfiff durch Takedas Haare und schüttelte ihn. Er musste sich fester an Kurois Hüfte klammern, um nicht vom Sattel zu rutschen. »Alles klar da hinten?«, wehte Kurois Stimme durch den Fahrtwind und der Lärm entgegenkommender Fahrzeuge diffus zu ihm hinüber. Takeda musste nicht antworten. Er genoss die rasante Fahrt in vollen Zügen und war beinahe enttäuscht, als Kuroi auf einer Brücke plötzlich abbremste. Gerade schon wollte er sich beklagen, da sah er es, das Meer. Tiefblau und ruhig lag es unter ihnen, glitzerte wie verzaubert im Licht der Frühlingssonne. »Wusste doch, dass dir das gefällt«, grinste Kuroi Takeda an und ließ den Blick dann ebenfalls zum Horizont schweifen. Eine ganze Zeit lang genossen beide die Ruhe, die von dem Meer unter ihnen ausging, die ihnen Kraft zu spenden schien. Erst dann brach Kuroi das Schweigen: »Woher kennt ihr euch? Ryo und du?« Mit einem Mal war das Meer verändert. Statt Kraft und Ruhe schien es plötzlich eine tiefe Schwermut auszustrahlen, die Takedas Herz ergriff. Ryo Hirakawa. Takeda wollte wütend sein, wenn er diesen Namen hörte, doch in diesem Moment mochte es ihm einfach nicht gelingen. »Wir kennen uns schon seit dem Kindergarten. Er hat mit seinen Eltern in derselben Straße gewohnt, in Tokyo«, antwortete er schließlich aus dem Gefühl heraus, es einfach irgendjemandem sagen zu müssen. Und wenn dieser jemand Kuroi sein sollte, dann war ihm das nur Recht. »Sowas habe ich mir schon gedacht«, brummte Kuroi, den Blick weiterhin auf den Horizont geheftet. »Hattet ihr Streit?« »Wenn ich das wüsste«, gab Takeda zurück, in seiner Stimme weitaus mehr Frustration, als er es beabsichtigt hatte. »Er ist nach Osaka gezogen und hat sich nicht mehr gemeldet. Keine Ahnung wieso.« »Und du hast dich dann bei der Seikô beworben, weil du wusstest, dass Ryo hier zur Schule geht?« »Findest du das albern?« »Nicht unbedingt.« »Tja, nur er leider schon.« Am liebsten wäre Takeda über die Reling geklettert und einfach ins Wasser gesprungen. Zumindest wäre das doch mal etwas Neues gewesen. »Ryo verbirgt irgendwas. Ich weiß nur nicht, was es ist. Noch nicht.« Überrascht hob Takeda den Kopf und starrte auf das scharfkantige Profil von Kurois Gesicht. Doch dieser schien kein Interesse daran zu haben, seine Vermutung weiter auszuführen, denn in diesem Augenblick zog er sich den schwarzen Motorradhelm wieder über den Kopf. »Vor mir hat niemand Geheimnisse. Merk dir das, Junge«, schloss er und schwang sich auf den Sattel der Suzuki. »Steig auf, ich fahr dich ’ne Runde durch die Stadt und dann zur Seikô zurück.« Doch von der Stadtführung nahm Takeda nicht viel mit. Wieder und wieder drehten sich die Gedanken in seinem Kopf um ihn, um Hirakawa. Um Hirakawa und die Frage nach der Wahrheit. Kapitel 15: ------------ Die Woche zog viel zu schnell an Takeda vorüber. Er hätte viel darum gegeben, wenn man ihm vor seinem Treffen mit Hirakawa noch ein wenig Aufschub gewährt hätte, doch die Unterrichtsstunden kamen und gingen, das Kendô-Training begann und endete und ehe Takeda sich versah, war es bereits Freitagabend. Mutlos schleppte er sich nach dem Kendô-Training in die erste Etage des Wohnheimblocks C hinauf. Er fühlte sich wie ein zu Unrecht Verurteilter auf dem Weg zum Schafrichter. Ishida hatte es sich bereits mit einer Zeitschrift auf seinem Bett gemütlich gemacht, als Takeda ihr gemeinsames Zimmer betrat. Es schien ihm überflüssig, die Zeit vor seiner Hinrichtung mit einer Begrüßung zu verschwenden, also trat er nur rasch hinüber zu seinem Wandschrank, um sich der Kendô-Ausrüstung zu entledigen. »Wo ist eigentlich Hirakawas Zimmer?«, fragte er betont beiläufig. »Was willst du denn von ihm?«, gab Ishida zurück. Offensichtlich war er immer noch in seine Lektüre vertieft. »Er hat dir doch hoffentlich keine Strafarbeit aufgebrummt?« »Frag einfach nicht«, antwortete Takeda mit schwerer Stimme, schob die Tür zu seinem Wandschrank zu und lehnte sich mit einem leichten Seufzer dagegen. »Gut, dann frag ich eben nicht«, meinte Ishida nur und schlug eine Seite um. »Zimmer 311, zwei Etagen drüber. Eigentlich solltest du das wissen, der Typ ist schließlich unser Wohnheimsprecher.« »Wohnheimsprecher, Klassensprecher, künftiger Kendô-Club-Vorsitzender... Bin gespannt, wann er die Schulleitung übernimmt.« Erst jetzt legte Ishida seine Zeitschrift beiseite und blickte zu Takeda auf, die Stirn in leichte Falten gelegt. »Also das wird wohl noch drei Jahre dauern. Bis er seinen Schulabschluss gemacht hat«, gab er trocken zurück und grinste dann. »Bist du ein bisschen gefrustet oder so?« Da Takeda darauf keine passende Antwort in den Sinn kam, zuckte er nur die Achseln. »Ich muss jetzt los. Wird vielleicht ein bisschen später heute. Ich meine nur, damit du nicht wieder über den ganzen Campus rennst und nach mir suchst.« Ishidas Grinsen wurde breiter: »Käme mir nie in den Sinn. Viel Spaß bei deinem Date, Prinzessin.« Ein Augenrollen Takedas war die Antwort, ehe er sich aus dem Zimmer schleppte und den Aufstieg in den dritten Stock begann. Als Takeda den oberen Treppenabsatz erreichte, stand die Tür zu Hirakawas Zimmer bereits offen. Hirakawa selbst lehnte im Türrahmen und bedachte Takeda mit einem kühlen, prüfenden Blick, ehe er zurück trat, um ihn einzulassen und die Tür hinter ihm zu schließen. Takeda war so überrascht von dem Anblick des Zimmers, dass er für einen kurzen Augenblick sogar seinen Unmut über dieses unfreiwillige Treffen vergaß. Der Raum war nicht viel größer als sein eigenes Zimmer, allerdings mit nur einem Bett ausgestattet, sodass er viel geräumiger wirkte und Platz für allerlei persönliche Habseligkeiten bot. Dem Bett gegenüber stand ein schlichtes Bücherregal aus hellem Holz, das zum Bersten mit klassischer Literatur gefüllt schien. Außerdem hatte ein kleiner Schreibtisch mit blank polierter Platte unter dem Fenster Platz gefunden. Alles in allem strahlte das Zimmer eine seltsame Mischung aus penibler Ordnung und chaotischer Gemütlichkeit aus. »Fass bloß nichts an«, zerriss Hirakawas schneidende Stimme die Stille, als er Takedas neugierige Blicke bemerkte. Takeda allerdings war nicht bereit, sich schon in den ersten fünf Minuten seines Besuchs auf einen Streit einzulassen: »Du wohnst alleine?« »Sieht so aus, oder?« Als Takeda nicht antwortete, fügte Hirakawa hinzu: »Als Wohnheimsprecher hat man gewisse Privilegien.« Tja, es sah ganz danach aus. Hirakawa ließ sich auf seinem Schreibtischstuhl nieder. Takeda bot er keinen Platz an. Es wäre auch keiner vorhanden gewesen, da der Schreibtischstuhl die einzige Sitzgelegenheit im ganzen Raum war. Offensichtlich bekam Hirakawa nicht häufig Besuch. »Ich habe bereits eine Liste mit möglichen Aktivitäten für das Sommerfest zusammengestellt«, begann Hirakawa in geschäftlichem Tonfall. Takeda ließ seinen Blick wieder durch das Zimmer schweifen, während er antwortete: »Und wozu brauchst du mich dann?« »Für die Formalitäten.« Takeda trat einen Schritt näher an das Bücherregal heran. Auf dem obersten Brett, zwischen zwei dicken Wälzern von Kafka, hatte er etwas ausgemacht, das ganz und gar nicht zum Rest des sonst so nüchtern eingerichteten Zimmers passen mochte. Es war kein Buch, im Gegenteil. Es handelte es sich um eine hölzerne Spieluhr, auf deren runden Sockel sich ein Pärchen im Tanze ruhte. Takedas Herz tat einen Hüpfer. Das war einfach nicht möglich. Von einer Sekunde auf die andere hatte Takeda alles um sich herum vergessen. Er war wieder sechs Jahre alt, sah die grell erleuchteten Reklamen Ginzas vor sich. Sah sein Gesicht, wie es sich in der Schaufensterscheibe des kleinen Antiquariats spiegelte, sah Hirakawas leises Lächeln neben sich, so nah, dass er es hätte berühren können. Die Stille um ihn her rauschte in Takedas Ohren. Langsam, ganz behutsam, streckte er die Hand nach der Spieluhr aus, wie gebannt von ihrem Anblick. Doch noch ehe seine Fingerspitzen sie berühren konnten, durchschnitt Hirakawas Stimme die Luft, die zerbrochene, kalte Stimme des echten, des heutigen Hirakawas, und durchbrach den Zauber, der Takeda für einen kurzen Augenblick lang in eine andere Zeit versetzt hatte. »Ich hab doch gesagt, du sollst hier nichts anfassen!« Ehe Takeda sich versah, war Hirakawa von seinem Stuhl aufgesprungen und hatte Takeda so fest am Unterarm gepackt, dass es schmerzte. »Das ist doch unsere Spieluhr! Wo hast du die her?« »Keine Ahnung, wovon du redest.« »Zerquetschst du mir deswegen gerade den Arm?« Als hätte er sich verbrannt, ließ Hirakawa von Takeda ab und trat einen Schritt zurück, einen Ausdruck des Entsetzens ins Gesicht geschrieben. »Wieso hast du mich wirklich hier her bestellt, Hirakawa? Wolltest du sehen, ob ich mich noch erinnere? War das ein Test?« »Verschwinde«, brachte Hirakawa hervor, den Blick starr auf Takedas Gesicht geheftet und doch schien er ihn nicht anzusehen, durch ihn hindurch zu blicken, als gäbe es da etwas, das nur Hirakawa allein nicht verborgen blieb. »Du hältst mich fest und sagst, ich soll verschwinden. Du findest es albern, dass ich gekommen bin, um dich zu wieder zu sehen, hast die ganzen Jahre aber unsere Spieluhr aufbewahrt. Was du sagst und was du tust, passt einfach nicht zusammen. Was soll ich davon halten? Wie soll ich mich verhalten? Sag's mir!« »Raus hier, hab ich gesagt!« Ehe Takeda wusste, wie ihm geschah, fand er sich auf dem Flur der dritten Etage wieder. Die Tür zu Zimmer 311 schlug mit einem lauten Krachen hinter ihm zu. Kapitel 16: ------------ In dieser Nacht konnte Takeda nicht schlafen. Immer wieder kreisten seine Gedanken um Hirakawa, versuchten die Puzzleteile seines Verhaltens zu einem eindeutigen Bild zusammenzusetzen, doch es mochte ihm nicht gelingen. Immer dann, wenn er doch für einen kurzen Augenblick in den Schlaf abglitt, sah er Hirakawas Gesicht vor sich. Das lächelnde Gesicht des Sechsjährigen vor dem Schaufenster in Ginza, das verzerrte Gesicht des Teenagers bei einem ihrer letzten Gespräche, bevor Hirakawa fortgezogen war, ihn verlassen hatte. »Unsere Spieluhr ist weg.« »Ein Antiquariat kauft Sachen an, um sie zu verkaufen. So ist das eben.« Aus. »Takeda! He, Takeda, wach auf!« Takeda schlug die Augen auf. Er musste doch tatsächlich eingeschlafen sein, wenn auch nicht für lange, wie es sich anfühlte. Ishida hatte sich über ihn gebeugt und ihn an der Schulter gepackt, um ihn wach zu rütteln: »Da bist du ja wieder. Du hast den Wecker überschlafen. Keine Ahnung, wie du das geschafft hast, bei dem Lärm, den der veranstaltet hat.« »Wie spät ist es denn?«, wollte Takeda wissen, rappelte sich auf und fuhr sich mit der Hand durch das zerwühlte Haar. »Halb sieben, also keine Panik. Du hast nicht besonders gut geschlafen, was?« »Sieht man mir das an?« »Ein bisschen«, gab Ishida trocken zurück und grinste leicht, ein schwaches Grinsen, das gleich darauf wieder verblasst war. »Du hast im Schlaf gesprochen. Hast dich immer wieder bei irgendwem entschuldigt. Es geht mich zwar nichts an, aber ich glaube, du solltest die Sache lieber klären, bevor du noch den Bach runtergehst.« »Einfühlsam wie immer«, gab Takeda zurück und unterdrückte ein Gähnen. »So bin ich halt.« Ishidas Grinsen lebte wieder auf und er schnappte sich sein Kissen, um es Takeda unsanft an den Kopf zu werfen: »Aber du bist auch nicht besser, oder?« Obwohl sein Herz noch immer schwer war, verzogen sich Takeda Lippen unwillkürlich zu einem kleinen Lächeln. Ishida machte einen zufriedenen Eindruck. »Na dann, auf geht’s! Dusche am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen«, flötete er in einem fürchterlich unmelodischen Singsang und Takeda folgte ihm nur zu gerne in den Waschraum. Der Schultag flog an Takeda vorüber, ohne dass er viel Notiz davon nahm. In jeder Pause zwischen den Unterrichtsstunden bemühte er sich, Hirakawas Blick aufzufangen, doch nun schien sein einstiger Wunsch, wieder Luft für den alten Freund sein zu können, plötzlich und ungefragt doch noch in Erfüllung gegangen zu sein. Als die Glocke endlich das Ende des Unterrichts ankündigte, war Takeda mehr als froh, der unangenehmen Mischung aus Nähe und Distanz zu Hirakawa entkommen zu können. Bis zum Kendô-Training hatte er noch gut eine halbe Stunde Freizeit und so schlenderte er gedankenverloren über den Campus, den Blick zum strahlendblauen Himmel erhoben, über den sich hier und da eine dicke, flauschige Wolke treiben ließ. Für Takedas Geschmack war der Tag einfach viel zu schön, zu schön für den grässlichen Gewittersturm, der in seiner Brust tobte, jedenfalls. Gerade als er das dachte, schreckte eine bekannte Stimme ihn auf: »Na, träumst du, Junge?« Kuroi hatte sich an die niedrige Mauer gelehnt, die an dieser Stelle des Campus‘ den Hauptweg säumte und taxierte Takeda mit väterlichem Blick in den dunklen, von buschigen Augenbrauen gesäumten Augen. Dankbar über die kleine Ablenkung gesellte sich Takeda zu ihm: »Musst du nicht eigentlich das Training vorbereiten, Kuroi?« »Was soll man da groß vorbereiten?«, gab der mit einer wegwerfenden Handbewegung leichthin zurück. »Du siehst nicht besonders gut aus. Alles in Ordnung?« Der Gedanke, dass seine Stimmung offenkundig so leicht von seinem Gesicht abzulesen war, gefiel Takeda ganz und gar nicht. Was war nur aus seiner Aura der Gleichgültigkeit, seinem perfekten Pokerface geworden? »Wie man’s nimmt«, antwortete er schließlich widerstrebend und ließ den Blick erneut zu den Wolken empor wandern. »Streit mit Ryo?« Überrascht begegnete Takeda Kurois Blick. War er wirklich so durchschaubar? Sofort verzogen sich Kurois Züge zu dem schiefen Grinsen, das er, so schien es Takeda, immer dann aufsetzte, wenn er mehr wusste als das, was er hätte wissen sollen. »Mach dir nicht zu viele Gedanken, das steht dir nicht.« »Was steht mir denn?« »Ich weiß, was dir steht.« Ehe Takeda begriff, was vor sich ging, hatten Kurois schwere Hände seine Oberarme umfasst und ihn zu sich herangezogen. Kurois Lippen fanden die seine und er stahl ihm einen Kuss. Einige Herzschläge lang schien die Welt still zu stehen. Das ergab einfach keinen Sinn. Das war doch... In diesem Augenblick drehte Kuroi Takeda leicht herum und er sah, was der Vorsitzende des Kendô-Clubs bereits lange vor ihm bemerkt haben musste. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen fiel Takedas Blick auf Hirakawa, der nicht weit entfernt auf dem Hauptweg stand und zu ihnen hinüber starrte. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke, dann wandte Hirakawa sich ab. Als wäre ein Bann von ihm genommen, stieß Takeda Kuroi hart zurück: »Was soll der Scheiß?!« Kuroi lachte kurz und bellend auf: »Na lauf ihm schon nach. Das willst du doch, oder?« Takeda hatte keine Zeit für ein warum. So schnell er konnte stürzte er Hirakawa nach, der sich mit zielstrebigen Schritten zusehends von ihm entfernte. Das Herz hämmerte so laut in seiner Brust, dass er glaubte, Hirakawa müsse es hören und das bellende Lachen Kurois dröhnte immer noch in seinen Ohren. »Warte, Hirakawa!« Takedas Stimme klang gebrochen, sein Atem hart und unregelmäßig. »Es ist nicht so, wie es aussieht.« Noch während die Worte Takedas Kehle entrannen, kam er sich mehr als albern vor. Sofort wünschte er sich, er könnte sie zurücknehmen, doch zu seiner Überraschung Hirakawa hielt abrupt inne, wandte sich jedoch nicht zu ihm um: »Das geht mich nichts an.« »Offensichtlich doch, sonst würdest du wohl kaum vor mir weglaufen, oder? Sieh mich an.« Takeda ergriff Hirakawas Oberarm, um ihn zu sich herumzudrehen. Mit einer blitzschnellen Bewegung schlug Hirakawa seine Hand zur Seite: »Fass mich nicht an!« »Gut, ich fasse dich nicht an. Aber lass uns doch endlich mal vernünftig miteinander reden.« »Ich weiß nicht, was es da zu reden gibt.« »Ich will doch nur, dass wir wieder Freunde sein können, so wie früher. Wieso machst du mir das so schwer?« Hirakawas Augen verengten sich leicht, ehe er antwortete: »Du bist doch derjenige, der mir die ganze Zeit über nachstellt. Nennst du das Freundschaft?« »Ist dir eigentlich mal aufgefallen, dass du niemanden mehr an dich ran lässt? Außer dieser Bibliothekarin hast du überhaupt keine Freunde, oder?« »Bist du etwa immer noch eifersüchtig?« »Ich bin doch nicht eifersüchtig.« »Ach ja, und wie würdest du das nennen?« Hirakawa machte eine kurze Pause, um Takedas Gesicht eingehend zu studieren, ehe er aufgebracht fortfuhr: »Mein Gott, sie ist eine Freundin meiner Mutter, okay? Sie hat mir die Schule hier empfohlen. Denkst du nicht, es wäre ein bisschen undankbar, sie nicht hin und wieder mal zu besuchen?« »Hin und wieder? Du hängst doch ständig in der Bibliothek rum.« »Ja, um zu LERNEN. Was ist eigentlich dein Problem?« »Ich will einfach nur wissen, was mit dir los ist. Früher hatten wir nie Geheimnisse voreinander. Wieso hast du den Kontakt zu mir abgebrochen, als du hier hergezogen bist?« »Ist das alles?« Hirakawas Wut hatte nun auch den Drachen in Takedas Brust geweckt: »Ja, das ist alles.« »Schön«, gab Hirakawa zurück, seine Stimme ein wenig zu laut, ein wenig zu schrill. »Mein Vater ist nicht nach Osaka versetzt worden. Er hat seinen Job verloren und sich am vierten März um 23.18 Uhr vor den Shinkansen geworfen. Sie haben uns danach seine Einzelteile geschickt, in einer netten Geschenkverpackung. Bist du jetzt zufrieden?« Takedas Kehle war wie zugeschnürt. Er konnte das, was er in diesem Augenblick empfand, nicht in Worte fassen. Ja, er war sich nicht einmal sicher, was genau es für ein Gefühl war, das dort in seiner Brust tobte. Reue, Schuld, Mitleid? Vielleicht von allem ein bisschen. »Hirakawa...«, begann er hilflos, ohne zu wissen, was er eigentlich sagen wollte, doch der alte Freund hatte sich bereits umgedreht und marschierte in Richtung des Wohnheims davon. Dieses Mal versuchte Takeda nicht, ihn aufzuhalten. Kapitel 17: ------------ An diesem Tag kam Hirakawa das erste Mal nicht zum Kendô-Club-Treffen. Insgeheim hatte Takeda gehofft, sich vor dem Training noch einmal in Ruhe mit ihm unterhalten zu können; auch wenn er im Grunde nicht wusste, was er hätte sagen sollen. Am liebsten wäre Takeda Kuroi an den Hals gesprungen und hätte ihn so lange gewürgt, bis er ihm eine Entschuldigung für sein anmaßendes Verhalten abgerungen hätte. Doch was würde das schon nützen? Er hatte geglaubt, in Kuroi eine Art Freund gefunden zu haben. Umso bitterer war nun die Enttäuschung. Kuroi handelte mit Kalkül, daran bestand kein Zweifel. Er hatte ganz bewusst einen Streit zwischen Takeda und Hirakawa provozieren wollen, als er Takeda geküsst hatte. Er durchschaute die Menschen zu gut, war zu berechnend, als dass es anders hätte sein können. Doch was wollte er damit bloß bezwecken? Takeda konnte jedenfalls von Glück sagen, dass durch Hirakawas Abwesenheit ein Trainingspartner frei geworden war: Hinata, ein begabter Kendô-Kämpfer aus der Mittelstufe. So war er wenigstens nicht gezwungen, Kuroi die ganze Zeit über ansehen zu müssen. Als Takeda sich schließlich nach dem Training auf sein Bett fallen ließ, fühlte er sich, als wäre ein Lastwagen über ihn hinweg gerollt. »Du siehst nicht aus, als hättest du die Sache geklärt.« Ishida hatte halb hinter einem Stapel Zeitschriften verborgen so ruhig auf seinem Bett gelegen, dass Takeda ihn tatsächlich nicht bemerkt hatte. »Ich glaube, es ist alles nur noch viel schlimmer geworden«, gab Takeda zurück, wobei er sich nicht sicher war, ob er wirklich darüber reden wollte oder nicht. Er hatte sich Kuroi anvertraut und es war ein Fehler gewesen. Und doch konnte er einfach nicht glauben, dass es bei Ishida genauso sein sollte. »Mal angenommen, ein anderer Junge würde dich küssen. Was würdest du dann denken?«, fragte er also und hoffte inständig, damit genügend Distanz zwischen sich und seine Frage zu bringen. »Ich wusste doch, dass zwischen dir und Hirakawa was läuft!« Takeda wäre beinahe vor Schreck vom Bett gefallen: »Doch nicht Hirakawa!« »Nicht?« Ishida wirkte fast ein bisschen enttäuscht. »Was weißt du über Yamato Kuroi?« »Lass dich bloß nicht mit dem ein«, gab Ishida zurück, die Stirn von leichten Sorgenfalten durchzogen. »Egal, was er dir gesagt hat: Glaub ihm kein Wort.« »Eigentlich hat er gar nichts weiter gesagt«, sprach Takeda seine Gedanken laut aus, aber Ishida zuckte nur die Achseln. »Dann glaub eben nicht, dass er dir nichts zu sagen hat. Er ist jedenfalls ziemlich skrupellos. Wer ihm nicht passt, der wird abserviert. Wenn er dich mag: Schön für dich. Aber ich würde mich nicht darauf verlassen, dass es auch so bleibt.« Einen Augenblick lang ließ sich Takeda diese Bemerkung durch den Kopf gehen und versuchte, sie mit Kurois Verhalten zusammenzubringen. Wollte Kuroi ihn loswerden? Aber wieso? Es half nichts, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Alles, was er wissen musste, würde er schon erfahren. Früher – oder eben erst später. »Was liest du da eigentlich ständig?«, probierte Takeda also ein neues Thema aus und schien damit sein Ziel nicht verfehlt zu haben. Ishida grinste: »Modellbauzeitschriften. Man kann ja nicht immer nur Sport machen, oder? Als Kind dachte ich immer, wenn ich nur genug über Flugzeuge lernen würde, könnte ich irgendwann fliegen.« Das hatte Takeda auch geglaubt. Kapitel 18: ------------ Das nächste Kendô-Training kam für Takedas Geschmack viel zu schnell. Er hatte es nicht gewagt, Hirakawa während des Unterrichts anzusprechen. Zwar hoffte er insgeheim darauf, er würde von sich aus auf ihn zukommen, doch wirklich daran glauben konnte er nicht. In Kurois Gegenwart würde Takeda jedenfalls auf Abstand bleiben, so viel war sicher. Als er das dachte, konnte er noch nicht wissen, wie sehr er sich irrte. »Bis zum Turnier gegen die Huan Oberschule ist nicht mehr viel Zeit«, dröhnte Kurois harte Stimme durch die Sporthalle. »Zeigt mir, wie gut ihr in Form seid.« »Beim Turnier treten nur die acht besten gegeneinander an«, raunte Hinata, mit dem Takeda am vorigen Tag trainiert hatte, ihm ins Ohr. »Ich will ein paar Trainingskämpfe sehen«, fuhr Kuroi fort und begann die Namen der Gegner zu verlesen. »Und zum Schluss Aki und Ryo.« Erschrocken suchte Takeda den Blick des Mittelschülers an seiner Seite und dieser starrte nicht minder entsetzt zurück. Takeda war Anfänger, diese Konstellation war einfach absurd. Hinata hob die Hand: »Entschuldigung. Sollte ich nicht besser gegen Hirakawa antreten?« Kuroi bedachte ihn mit einem Blick, der finsterer war als eine mondlose Nacht. »Keine Extrawünsche!« Der Mittelschüler fuhr bei Kurois hartem Tonfall erschrocken zusammen. Er tat Takeda , schließlich hatte er es nur gut gemeint. Aber noch mehr tat er sich selber . Gegen Hirakawa hatte er keine Chance – und er hatte auch nicht das Gefühl, dass er eine schonende Behandlung zu erwarten hatte. Auf die folgenden Trainingskämpfe konnte sich Takeda nicht konzentrieren. Immer wieder suchte er Hirakawas Blick, doch der hatte sich auf die gegenüberliegende Seite der Halle zurückgezogen und sah nicht eine Sekunde lang zu ihm hinüber. Als sie schließlich an der Reihe waren, wäre Takeda am liebsten davon gelaufen. Aber diese Genugtuung würde er Kuroi nicht verschaffen, das kam nicht in Frage. Mit weichen Knien trat er also vor, Hirakawa gegenüber, nahm die Ausgangsposition ein. Besser kämpfen und verlieren als von vornherein aufzugeben. Takeda wusste nicht, worauf er vorbereitet gewesen war, doch bereits der erste Schlag Hirakawas übertraf alle seine Erwartungen bei Weitem. Er traf Takeda so hart am Handgelenk, dass ihm das Bambusschwert aus der Hand rutschte und mit einem lauten Klappern auf dem Boden aufschlug. Der Schmerz kam so unvorbereitet und intensiv, dass Takeda Tränen in die Augen schossen. Ein Raunen ging durch die Schüler in der Halle. »Aufhören!« Kurois dominante Stimme beendete den Kampf ehe er richtig begonnen hatte. »Alles in Ordnung?«, hörte Takeda Hinatas Stimme an seinem Ohr. Die Halle verschwamm für einen kurzen Augenblick vor seinen Augen, nahm dann aber wieder klare Gestalt an. »Geht schon«, stieß Takeda zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ryo, geh dich umziehen. Und danach kommst du zu mir. Wir müssen reden«, fuhr Kurois Stimme so laut fort, dass es jeder hören konnte. »Das Training ist für heute beendet.« Damit wandte er sich ab und verließ mit weiten Schritten die Halle. Obwohl Takedas Hand noch immer vor Schmerz pochte, flüsterte eine leise Stimme in seinem Hinterkopf ihm zu, dass er nicht zulassen durfte, dass es so zu Ende ging. »Kuroi!« Takeda war dem Club-Vorsitzenden nachgesetzt und rief ihn nun, auf halbem Weg durch den Flur, zurück. Ganz in der Nähe konnte er hören, wie die anderen Schüler nach und nach die Halle verließen und sich in Richtung der Waschräume drängten. Ruhiger als sonst, befangen. Kuroi wandte sich mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen zu Takeda um. »Das war nicht Hirakawas Schuld«, stieß Takeda hervor. Der schnelle Sprint und der Schmerz in seinem Handgelenk nahmen ihm den Atem. »Ich habe ihn provoziert.« »Das tut nichts zur Sache, selbst wenn es wahr wäre. Du bist ein verdammt schlechter Lügner, Aki, hat dir das schon mal jemand gesagt?« Mit einem Mal war die Wut, die sich seit gestern in Takedas Brust aufgestaut hatte, wieder da. Heiß und brennend nagte sie an seinen Eingeweiden und drängte Takeda, sie nicht länger eingesperrt zu halten. Natürlich, er war es nicht gewesen, der Hirakawa provoziert hatte. Kuroi war es selbst gewesen. Und plötzlich ergab alles einen Sinn. »Kann es sein, dass du einen Vorwand suchst, um zu verhindern, dass Hirakawa den Club übernimmt?« »Das ist kein Vorwand. Einen schwächeren Schüler derartig anzugehen, zeugt von Charakterschwäche. Hirakawa ist den Aufgaben eines Club-Vorsitzenden offensichtlich noch nicht gewachsen.« Das alt bekannte schiefe Grinsen verzerrte Kurois Züge und dieses Mal hätte Takeda es ihm am liebsten aus dem Gesicht geschnitten. »Was hast du für ein Problem mit Hirakawa?«, schrie er nun fast, doch das schien auf Kuroi nicht den geringsten Eindruck zu machen. »Und ich dachte die ganze Zeit über, du wärst es, der Streit mit Ryo hat.« »Wer hat das behauptet?« Hirakawas kalte Stimme durchschnitt die Luft. Er stand einige Meter entfernt an die Wand gelehnt da, die Kendô-Kleidung bereits gegen die grüne Schuluniform der Oberschüler getauscht. Takedas Herz tat einen Hüpfer. Wie lange hatte Hirakawa da wohl bereits gestanden? Wie viel hatte er gehört? »Es tut mir leid, Ryo, aber dafür ist es jetzt ein bisschen zu spät«, gab Kuroi mit einer Stimme zurück, die der Hirakawas an Kälte in nichts nachstand. »Ich werde den Fall der Schulleitung melden. Ich glaube nicht, dass du am Turnier gegen die Huan teilnehmen wirst. Und ein Club-Vorsitzender, der bei so einem wichtigen Turnier mit Abwesenheit glänzt... Wie würde das wohl aussehen?« Einen kurzen Augenblick lang hielt Kuroi inne, als erwartete er eine Antwort Hirakawas. Als sie jedoch ausblieb, wandte Kuroi sich ab und stampfte mit schweren Schritten durch den Flur davon. Sprachlos starrte Takeda ihm nach, bis er spürte, wie eine Hand seinen unverletzten Arm umgriff. »Komm, gehen wir.« Seite an Seite verließen Takeda und Hirakawa die Sporthalle und traten hinaus auf den Hof, über dem noch immer die Abendsonne brannte. »Es tut mir leid«, begann Takeda schließlich, den Blick auf seine Füße gerichtet. »Dass du wegen mir den Club nicht übernehmen kannst.« »Schon gut«, war Hirakawas schlichte Antwort, in der zwar kein Vorwurf mitschwang, die Takeda jedoch auch nicht von seiner Schuld freisprach. Aber das schien ihm in diesem Augenblick auch nicht wichtig. Mit einem Mal waren sie beide Verbündete geworden. Verbündete im Kampf um etwas, das größer war, als sie selbst. Mit Blick gen Himmel fuhr Hirakawa fort: »Manchmal wünsche ich mir auch, dass alles wieder so sein könnte, wie es früher war. Albern, nicht wahr?« »Wieso kann es denn nicht wieder so sein?« Doch Hirakawa gab keine Antwort. Er bedachte Takeda mit einem Blick, der sich genau auf der Gradlinie zwischen sanft und hart zu bewegen schien, bevor er den Kopf zur Seite wandte. »Ich muss noch ein bisschen arbeiten. Zieh dich um und kühl dein Handgelenk«, sagte er nur und ohne ein Wort des Abschieds wandte er sich ab und ließ er Takeda allein zurück. Kapitel 19: ------------ »Was ist denn mit dir los?«, fragte Ishida, einen leicht schelmischen Ausdruck auf dem Gesicht, als Takeda am nächsten Morgen noch vor dem Klingeln seines Weckers aus dem Bett sprang. »Hast du etwa doch noch den Frühsport für dich entdeckt?« »Ganz und gar nicht«, gab Takeda zurück und zog ein frisches Hemd aus dem Schrank. Er wollte Hirakawa noch vor dem Schulbeginn abfangen; die ganze Nacht über hatte er an nichts anderes denken können. Er musste ihn einfach sehen, sich vergewissern, dass die Verbundenheit, die er gestern Abend zwischen ihnen gespürt hatte, kein Traum gewesen war. »Man, dein Handgelenk sieht ganz schön übel aus«, fuhr Ishida fort und zog die Augenbrauen hoch. »Tut auch ganz schön übel weh«, gab Takeda leichthin zurück, ohne sein Gelenk auch nur eines Blickes zu würdigen. Es hatte über Nacht eine besorgniserregende grüne Farbe angenommen und war an der Stelle, an der Hirakawas Bambusschwert es getroffen hatte, stark angeschwollen. Aber das war für Takeda nicht mehr als eine unbedeutende Nebensächlichkeit. »Geh damit am besten zum Sanitätsraum. Nicht, dass das noch gebrochen ist.« »Quatsch, das ist nur ’ne leichte Prellung.« »Leicht würde ich das nicht nennen. Aber mach was du willst, auf den guten Rat des weisen Ishida hörst du ja sowieso nicht«, meinte Ishida mit einem Hauch von gespielter Kränkung in der Stimme, die Takeda zum Lachen brachte. »Ich werde schon noch genug Gelegenheit haben, auf den guten Rat des weisen Ishida zu hören.« Ishidas darauffolgende Kissenattacke traf nur noch die Tür, die hinter Takeda ins Schloss fiel. Wie er erwartet hatte, fand er Hirakawa in der Bibliothek. »Guten Morgen«, sagte er mit gedämpfter Stimme, obwohl die Bibliothek so früh am Tag noch fast zur Gänze leer war. Irritiert hob Hirakawa den Kopf. »Was machst du denn hier? Wohl kaum lernen, oder? Ich hab dich seit Schulbeginn noch nie hier gesehen.« Plötzlich kam sich Takeda faul und undankbar vor. Man hatte ihm nicht nur die Möglichkeit gegeben, hier zur Schule zu gehen, man hatte ihm obendrein auch noch einen Platz in der A-Klasse zugewiesen. Er hätte sich wahrlich mehr Mühe geben können, den Erwartungen, die damit zusammenhingen, gerecht zu werden. »Der Stoff ist ganz schön heftig«, antwortete er schließlich und kam sich ziemlich blöd dabei vor. »Ich geb dir Nachhilfe, wenn du willst«, schlug Hirakawa vor, ohne Takeda anzusehen, stand auf und klemmte sich seine Bücher unter den Arm. »Lass uns draußen weiter reden.« Seite an Seite machten sie sich auf den Weg zum Ausgang. Als sie an der Ausleihe vorbei kamen, lächelte die Bibliothekarin ihnen zu. »Tschüss Rika«, verabschiedete sich Hirakawa im Gehen von ihr und Takeda meinte, ein merkwürdig zufriedenes Glitzern in ihren Augen zu sehen, ehe er gemeinsam mit Hirakawa auf den Hof hinaus trat. »Wie geht es eigentlich deinem Handgelenk?«, wollte Hirakawa wissen, während er Takeda in Richtung einer nahen Bank lotste. Bis zum Unterrichtsbeginn war noch eine gute halbe Stunde Zeit. »Ganz gut«, gab Takeda zurück. Keine Lüge, nur eine kleine Übertreibung. Das letzte was er wollte, war Hirakawa ein schlechtes Gewissen einzureden. Schließlich hatte er wegen ihm bereits genug Schwierigkeiten. »Was willst du jetzt eigentlich unternehmen? Wegen dem Kendô-Club, meine ich.« »Kuroi hat Recht, ich habe einen schwachen Charakter.« Mit dieser Antwort hatte Takeda nicht gerechnet. »Und deswegen willst du das jetzt einfach so auf dir sitzen lassen? Kuroi spielt nicht fair!« Ein leises Lächeln umspielte Hirakawas Mundwinkel: »Ich glaube nicht, dass er es schafft, mich wegen so einer Lappalie vom Turnier auszuschließen. Dazu bin ich für unser Team viel zu wichtig. Ohne mich braucht die Seikô eigentlich gar nicht erst gegen die Huan anzutreten. Aber es war wirklich süß, wie du mich verteidigt hast.« »Wie bitte? Also manchmal bist du echt ein Arsch«, fauchte Takeda ihn an, unsicher ob er sauer oder eher peinlich berührt sein sollte. Schließlich entschied er sich für nichts von beidem. »Das Nachhilfeangebot nehme ich übrigens gerne an«, begann er das in der Bibliothek angebrochene Thema fortzusetzen, um seine Gedanken zu ordnen. »Ich verstehe überhaupt nicht, wieso mir der Unterricht eigentlich so schwer fällt. Zumindest die Schulleitung scheint mich ja für besonders begabt zu halten.« Hirakawa gab ein leises Brummen von sich und rieb sich mit der freien Hand über die rechte Augenbraue. »Was?«, wollte Takeda wissen, die Stirn in Falten gelegt. Einige Sekunden lang herrschte Schweigen und als Hirakawa schließlich antwortete, sah er Takeda dabei nicht an. »Ich war im Auswahl-Komitee für die neuen Oberschüler.« Takeda begriff nicht recht: »Ja... Und?« »Ich habe die Aufnahmeprüfung für dich geschrieben. Ich habe die Zettel ausgetauscht. Hab wohl ein bisschen übertrieben.« Die Welt um Takeda begann sich schwindelerregend zu drehen. »Hirakawa, das ist Betrug«, brachte er hervor und suchte den Blick seines Freundes, der ihm jedoch auswich. »Wieso hast du das gemacht?« »Ich hatte Angst, du könntest durchfallen. Ich wollte dich wiedersehen«, gestand Hirakawa schließlich mit leiser, fragiler Stimme, die nicht zu seiner sonst so kühlen und distanzierten Haltung passen mochte. Es schien, als habe er eine Mauer sinken lassen, die er zu seinem Schutz um sich herum aufgebaut hatte, hinter die er niemals jemanden blicken ließ – außer Takeda in diesem Augenblick. Für einige Sekunden schloss Hirakawa die Augen. Dann plötzlich wandte er Takeda den Kopf zu, durchbohrte ihn mit seinem festen Blick: »Es tut mir leid, ich hätte dir mehr vertrauen sollen.« Takedas Herz pochte heftig gegen seine Rippen. Er wusste nicht wieso, aber plötzlich war er so nervös wie nie zuvor in seinem Leben. Hirakawa hatte den Test für ihn manipuliert. Damit hatte er nicht nur den Verlust seines Amtes, sondern auch eine Suspendierung vom Unterricht riskiert. Und das alles nur, um ihn wiederzusehen. Takeda wusste nicht, was er tun, wie er reagieren sollte. Die ganze Situation schien ihm zu groß, er selbst zu klein und unbedeutend, als dass er sie hätte bewältigen können. Er wollte sich ihr entziehen, wollte seine Gedanken, seine Gefühle neu ordnen. »Weißt du, was mich an dir wirklich nervt?« Takedas Worte gehörten nicht mehr ihm. Sie schienen völlig ohne sein Zutun aus ihm heraus zu fließen, ohne, dass er sie halten konnte. Ganz so wie in seinem Traum, wie in seinem Traum... »Dass man bei dir nie weiß, woran man ist«, schloss er. Hirakawas Blick war der eines getretenen Hundes. Du bist ein Idiot, Idiot, Idiot!, fuhr es Takeda durch den Kopf, während sein Herz noch immer so heftig schlug, als habe er gerade einen Marathon hinter sich. Von seinen eigenen Worten beschämt wandte er sich ab und rannte in Richtung der Unterrichtsräume davon. Hirakawa folgte ihm nicht. Aki Takeda, flüsterte eine kleine, aufdringliche Stimme in seinem Kopf, wie kann man nur so blöd sein? Kapitel 20: ------------ »Wie soll ich es wieder gut machen?« Hirakawa hatte sich in der Klasse neben Takeda gesetzt. Sakana war zwar nicht gerade glücklich gewesen, ab sofort an Hirakawas Stelle in der ersten Reihe sitzen zu müssen, doch dem Klassensprecher schlug man einen kleinen Wunsch eben nicht so einfach ab. Besonders dann nicht, wenn ihm sein Ruf so weit vorausgeeilt war wie bei Hirakawa. »Wie wär’s, wenn du in Mädchenkleidern in den Brunnen vor dem Hauptgebäude springst?«, stieß Takeda zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Hirakawas Nähe machte ihn nervös und trug nicht gerade dazu bei, seinen guten Vorsatz, künftig im Unterricht besser aufzupassen, in die Tat umzusetzen. Yamamura-Sensei war gerade dabei, der Klasse in einem recht komplizierten Versuchsaufbau die Strahlung von Radium zu demonstrieren, doch Hirakawa schien sich dafür plötzlich nicht mehr im Geringsten zu interessieren. »Ich dachte, das wäre DEIN Hobby.« »Du hast jawohl nicht ernsthaft geglaubt, dass ich das freiwillig gemacht habe, oder?« »Würde es den Herren in der letzten Reihe etwas ausmachen, zumindest die anderen Schüler nicht zu stören, wenn sie schon keinen Wert darauf legen, dem Unterricht zu folgen?« Yamamura-Senseis Blick hatte Takeda und Hirakawa fixiert. Von seinem Gesicht konnte Takeda ganz deutlich ablesen, dass er nicht nur wütend über die Schwätzerei, sondern ganz offensichtlich obendrein empört über Hirakawas Beteiligung daran war. »Sakana, seien Sie doch so freundlich und tauschen Sie wieder mit Hirakawa den Platz.« Sofort stand Sakana von seinem Stuhl auf und kam zu Hirakawa hinüber getrabt. Der bedachte ihn mit einem langen Blick, den Takeda nicht deuten konnte, ehe er sich ebenfalls erhob. »Im Grunde genommen sind wir sowieso quitt. Ich sage nur Kendô«, murmelte Hirakawa noch, eher er sich wieder zu seinem Stammplatz durchschlängelte. »Was wollte Hirakawa denn von dir?«, fragte Sakana mit hinter seinen Glasbausteinen weit aufgerissenen Augen, doch ehe Takeda etwas erwidern konnte, fuhr Yamamura-Sensei dazwischen. »Geht das jetzt schon wieder los? Wenn ich heute noch von irgendjemandem auch nur einen Mucks höre, gibt es einen Eintrag ins Klassenbuch.« Die Klasse verfiel für den Rest des Unterrichts in eisiges Schweigen. Und trotzdem konnte sich Takeda einfach nicht auf Yamamura-Senseis Ausführungen konzentrieren. Immer wieder kreisten seine Gedanken um Hirakawa und den Kendô-Club und als endlich die Glocke zur Mittagspause läutete, fing er Hirakawa an der Tür ab. »Wegen Kuroi«, begann er, während die anderen Schüler sich zwischen ihm und Hirakawa hindruch drängelten. »Wieso redest du eigentlich ständig von ihm?« Hirakawa hatte die Augenbrauen leicht angehoben, als erwartete er eine Antwort, die ihm nicht gefallen würde. »Na, weil ich mir Sorgen mache. Wenn du wegen mir nicht Vorsitzender des Kendô-Clubs werden könntest, würde ich mir das nie verzeihen«, gab Takeda in bemüht beiläufigem Tonfall zurück und ergänzte dann leicht säuerlich: »Bist du etwa eifersüchtig?« »Sehr witzig. Kommt mir vor, als wären das meine Worte gewesen«, gab Hirakawa trocken zurück und zog Takeda in eine ruhigere Ecke des Korridors. »Hör zu: Kuroi ist ziemlich skrupellos. Dem ist egal, was aus dir wird, Hauptsache er bekommt, was er will.« Ehe sich Takeda versah, fand er sich mit dem Rücken zur Wand wieder, Hirakawas Gesicht so nah bei seinem, dass er kaum noch zu atmen wagte. Sein Herz trommelte einen schnellen, nervösen Rhythmus gegen seine Rippen. »Das hat Ishida mir auch schon gesagt«, gab Takeda ausweichend zurück. »Dann solltest du vielleicht öfter auf ihn hören.« Hirakawas Stimme war gedämpft, nahe bei Takedas rechtem Ohr. »Du tust ja gerade so, als hätte ich Kuroi freiwillig geküsst.« Takeda wandte den Kopf zur Seite. Hirakawa war ihm so nahe gekommen, dass er seinen Atem auf der Haut spüren konnte. Er wollte weglaufen, sich der Situation entziehen. Er wollte bleiben und Hirakawas Gesicht berühren. Er wollte weglaufen. Er wollte bleiben. Einen Augenblick lang schien die Welt still zu stehen. Dann ließ Hirakawa von Takeda ab und lehnte sich neben ihm an die Wand, blieb eine Antwort schuldig. »Ich versuche ja nur herauszufinden, was Kuroi für ein Problem mit dir hat«, fuhr Takeda fort, den Blick auf die gegenüberliegende Wand geheftet. »Warum will er nicht, dass du den Club übernimmst? Es gibt doch niemanden, der das besser könnte als du, oder?« Aus dem Augenwinkel konnte Takeda sehen, wie ein heimliches Lächeln Hirakawas Mundwinkel umspielte. »Kuroi ist noch nicht im Abschlussjahrgang, wusstest du das nicht? Wenn ich Ende des Jahres zum Vorsitzenden gewählt werden sollte, müsste er noch ein ganzes Jahr unter meiner Leitung Trainieren. Das wäre ziemlich demütigend, oder?« Takeda antwortete nicht, doch er verstand. Vielleicht war Kuroi doch kein so schlechter Mensch, nicht per se. Wir alle benehmen uns wie Idioten, wenn wir uns in die Ecke gedrängt fühlen, fuhr es ihm durch den Kopf und er seufzte leicht. »Wenn du an dem Turnier gegen die Huan teilnehmen darfst, komme ich auf jeden Fall, um dich anzufeuern. Dann zeigst denen einfach, was du drauf hast und dann kann niemand mehr sagen, dass du kein guter Club-Vorsitzender wärst.« Hirakawas Augen leuchteten, doch seine Lippen formten die Worte: »Als wenn ich das nötig hätte.« Und während er sich allein auf den Weg in Richtung des Ausgangs machte, hatte Takeda zum ersten Mal das Gefühl, ihn durchschaut zu haben. Kapitel 21: ------------ Obwohl Hirakawa in den folgenden Tagen noch intensiver mit dem Kendô-Training beschäftigt war als sonst, fand er nebenbei noch die Zeit, Takeda wie versprochen Nachhilfestunden zu geben. Hauptsächlich in Mathematik und Physik. Manchmal fragte sich Takeda unwillkürlich, ob er auch ohne Hirakawas Hilfe an der Seikô Gakuen aufgenommen worden wäre. Doch was half es schon, sich darüber den Kopf zu zerbrechen? Viel wichtiger war doch die Frage, ob Hirakawa am Turnier gegen die Huan Oberschule würde teilnehmen können. Denn mit dem, was er Hirakawa an jenem Tag nach dem Unterricht anvertraut hatte, war es ihm bitterernst: Könnte Hirakawa seinetwegen nicht die Leitung des Kendô-Clubs übernehmen, würde er sich das nie verzeihen. Doch noch gab es darüber keine Gewissheit. Zwar begegneten Hirakawa und Takeda Kuroi jeden Tag während der offiziellen Treffen des Kendô-Clubs, doch er sprach mit keinem von beiden auch nur ein Wort und seine Miene glich der einer Statue. Als Takeda am Mittwoch nach dem Unterricht über den Campus schlenderte, bemerkte er eine ungewöhnlich große Ansammlung von Schülern vor der Sporthalle. Sofort begann sein Herz wild zu schlagen. Das konnte nur eines bedeuten… So schnell ihn seine Beine trugen, rannte Takeda in Richtung der Sporthalle. Die Schüler hatten sich in einer Traube dicht um das schwarze Brett neben dem Eingang gedrängt. Die meisten von ihnen kannte Takeda aus dem Kendô-Club. »Entschuldigung, darf ich mal?« Flink wie ein Eichhörnchen war Takeda zwischen den anderen Schülern hindurch geschlüpft und stand nun direkt vor dem Aushang, der hier für Furore sorgte. Es war die Liste mit den Namen der acht ausgewählten Kendô-Turnierteilnehmer. Takeda hielt den Atem an. Ganz langsam ließ er seinen Blick nach unten wandern. Yamato Kuroi Natürlich, als Club-Vorsitzender war Kuroi mit von der Partie. Schließlich war er ein hervorragender Kämpfer, auch wenn Takeda das nicht gern eingestand. Keiji Hinata Das war der Name des Mittelschülers, der häufig mit Hirakawa trainiert hatte. Obwohl er noch so jung war, konnten einige Oberschüler noch viel von ihm lernen. Ryo Hirakawa Mit einem erleichterten Seufzen entwich Takedas Lungen alle Luft. Hirakawas Name stand auf der Teilnehmerliste, den Göttern sei Dank. Als Takeda sich seinen Weg zurück durch die Menge kämpfte, fühlte er sich, als würde er schweben. Nun endlich, endlich würde alles gut werden. Kapitel 22: ------------ Das penetrant schrille Piepen des Weckers riss Takeda aus dem Schlaf. 6.30 Uhr, Sonntagmorgen. Takedas Laune hätte besser kaum sein können. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett und riss seinen Kleiderschrank auf, um eine der Schuluniformen hervor zu ziehen. Während er sich die Krawatte band, stellt er überrascht fest, dass Ishida keineswegs in seinem Bett lag und schlief, wie Takeda es angenommen hatte. Sein Mitbewohner war spurlos verschwunden. Wie eigenartig. Mit gerunzelter Stirn streifte sich Takeda das dunkelgrüne Jackett der Schuluniform über, als plötzlich die Tür aufschwang. »Morgen, Mann. Bist du auch schon wach? Wird aber auch langsam Zeit.« Ishida stand im Türrahmen und grinste breit. »Was ist denn mit dir los? Ich dachte, du wärst beim Frühsport oder so, aber in dem Aufzug jawohl kaum«, gab Takeda mit Blick auf Ishidas Schuluniform zurück. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er seinen Mitbewohner eigentlich immer nur in Trainingshose zu Gesicht bekommen hatte. Die Uniform ließ ihn ungewöhnlich respektheischend wirken. »Na, glaubst du denn, ich könnte es mir entgehen lassen zu sehen, wie unser Kendô-Team die Jungs von der Huan fertig macht? Ich komme natürlich mit! Wie geht es eigentlich deinem Handgelenk?« »Ach, ganz gut«, gab Takeda zurück. »Zumindest solange du nicht auf die Idee kommst, einen Drucktest zu machen.« »Werd ich mir verkneifen. Du solltest dich übrigens ein bisschen beeilen, der Zug nach Nagoya fährt schon in einer halben Stunde und du bist noch nicht mal angezogen.« »Wieso nicht angezogen?« Takeda ließ seinen verwirrten Blick an seiner Schuluniform hinab wandern, aber auch nach eingehender Prüfung konnte er beim besten Willen nichts erkennen, was Ishida auf die Idee gebracht haben könnte, dass er nicht angezogen war. »Na, du willst jawohl nicht in diesem Fummel fahren.« Ishida zog die Augenbrauen hoch und grinste dann. »Oder willst du nicht, dass dich jemand als Kendô-Club-Mitglied erkennt, weil du Angst hast, dass wir verlieren? Ganz schön egoistisch, oder? Unsere Jungs könnten ein bisschen moralische Unterstützung gut gebrauchen.« Takeda war verblüfft. Auf die Idee, in Kendô-Kleidung zu fahren, wäre er im Leben nicht gekommen. Aber Ishida hatte Recht – schließlich war er ein vollwertiges Mitglied des Clubs, auch wenn er nicht am Turnier teilnehmen würde. »Soll ich mich jetzt noch umziehen?«, wollte Takeda mit einem raschen Blick auf seine Armbanduhr unsicher wissen, aber Ishida winkte ab. »Natürlich nicht. Oder willst du zu Fuß nach Nagoya laufen? Du nimmst die Uniform mit und ziehst dich dann im Zug um. So einfach ist das.« Was würde Takeda nur ohne den guten Rat des weisen Ishida tun? In kürzester Zeit hatte er die Kendô-Uniform in seine Reisetasche gestopft und stand abmarschbereit an der Tür. Die Rüstung ließ er im Schrank zurück, schließlich würde er sie nicht brauchen. Und schon waren er und Ishida auf dem Weg zum Bahnhof, wo die Turnierteilnehmer des Kendô-Clubs bereits versammelt waren. Sofort gesellte sich Takeda zu Hirakawa, der ihn mit einem leicht irritierten Ausdruck in den Augen musterte. »Die Kendô-Uniform hab ich noch in der Tasche«, erklärte sich Takeda rasch und hob seine Reisetasche demonstrativ ein wenig an. Ein knappes Nicken Hirakawas war die Antwort. Die innere Anspannung war ihm deutlich anzusehen. Ganz offensichtlich war er mit seinen Gedanken bereits auf dem Turnierplatz. Takeda konnte es ihm nicht verdenken und so nutzte er die langwierige Zugfahrt nach Nagoya fast ausschließlich, um eine anständige Portion Schlaf nachzuholen. Kurz vor Ankunft des Zuges machte sich Takeda schließlich davon, um sich umzuziehen, und pünktlich zur Einfahrt stand er in Kendô-Uniform zwischen Hirakawa und Ishida an der Tür. Er war nun rein optisch von den Turnierteilnehmern nicht mehr zu unterscheiden und einen Augenblick lang fühlte er sich als Teil von ihnen. Ein angenehmes, wärmendes Gefühl. Dann öffneten sich die Türen und die Schüler traten auf den Bahnsteig hinaus. Kuroi als Club-Vorsitzender an ihrer Spitze, einen harten, starren Ausdruck auf dem Gesicht. Takeda wäre wohler gewesen, wenn er auf Kurois Anwesenheit hätte verzichten zu können. Doch was würde das schon nützen? Der Streit um die Club-Vorsitzenschaft war ein Kampf, der nur mit dem Schwert entschieden werden konnte. So oder so. Takeda blieb nur hoffen, dass Kuroi dieses eine Mal fair bleiben würde. Kapitel 23: ------------ In der Huan Oberschule waren die Vorbereitungen für das Turnier bereits in vollem Gange. Man hatte die Sporthalle zu einer Art Aufenthaltsraum für die Kämpfer beider Schulen umfunktioniert und während Takeda Hirakawa und die anderen Schüler der Seikô Gakuen dorthin begleitete, versammelten sich bereits einige Zuschauer draußen auf dem Hof, wo man eine große Show-Bühne für das Turnier aufgebaut hatte. Das Zusammentreffen von Seikô und Huan war offensichtlich ein richtiges Event. »Bist du nervös?«, fragte Takeda Hirakawa, der in der Sporthalle stehen geblieben war, statt sich auf einer der zahlreichen Sitzbänke niederzulassen und sein Bambusschwert zu prüfen schien. Er würde als einer der ersten auf der Bühne stehen. »Nein«, gab Hirakawa zurück, den Blick weiterhin auf sein Schwert geheftet. »Nervosität stört die Konzentration. Wer die Konzentration verliert, verliert auch den Kampf.« Takeda war überrascht, wie ruhig Hirakawas Stimme klang. Er schien tatsächlich zu meinen, was er sagte. »Alle, die nicht am Turnier teilnehmen, verlassen bitte sofort die Halle. Der erste Kampf beginnt in zehn Minuten«, dröhnte eine Frauenstimme künstlich verstärkt aus Lautsprechern in allen vier Ecken des Raumes. »Ich muss jetzt los«, bemerkte Takeda und warf einen letzten Blick auf Hirakawa. Er musste sich keine Sorgen machen, ihn allein zu lassen. Und doch, und doch... Bevor Takeda sich auf den Weg zum Ausgang machte, trat er einen Schritt näher an seinen Freund aus Kindertagen heran. Mit leiser Stimme, sodass nur Hirakawa es hören konnte, sagte er: »Viel Glück.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich um und ging halb, rannte halb, in Richtung Hof davon. Obwohl der Platz bereits voller Menschen war, fiel es Takeda nicht schwer, Ishida auszumachen. Sein blonder Haarschopf hob sich unübersehbar von der Menge um ihn her ab. »Hey! Wo bleibst du denn?«, rief Ishida Takeda zu sich, sobald er in Hörweite war. »Hatte noch was zu erledigen«, antwortete Takeda knapp. Er hatte keine Lust, Ishida alles lang und breit zu erklären. In diesem Augenblick betraten die ersten beiden Kämpfer die Bühne, gefolgt von einem Schiedsrichter in einem schwarzen Anzug. Er trug ein weißes Tuch in der linken und ein rotes in der rechten Hand, passend zu den Tüchern, die am Rücken der beiden Kämpfer befestigt waren. Ohne dieses Erkennungsmerkmal wären sie in der traditionellen Kendô-Kleidung und -Rüstung nicht zu unterscheiden gewesen. »Wir sind rot«, erklärte Ishida, als die beiden Kämpfer sich auf der Bühne gegenüberstanden und in die Hocke gingen. »Dann ist der mit dem roten Tuch also Hirakawa.« »Hajime!« Die Stimme des Schiedsrichters donnerte über den Hof und eröffnete das Turnier. Sofort standen Hirakawa und sein Gegner auf den Beinen. Es war eine ausgeglichene Partie. Hirakawa war zwar ein hervorragender Kendô-Kämpfer, hatte aber auch einen hervorragenden Gegner, wie es schien. Erst nach fast einer Minute gelang es ihm, den ersten Treffer zu erzielen. Ein sauberer Schwerthieb auf den Kopf, den der Schiedsrichter mit dem Heben des roten Tuchs quittierte. Doch der Kampf war noch nicht vorüber. Der Gegner von der Huan Oberschule schien fest entschlossen, zumindest einen Treffer zu erzielen. Hirakawa geriet in die Defensive, es gelang ihm jedoch, die Schläge des Angreifers immer wieder zu parieren. Dann, im richtigen Augenblick, ein gezielter Hieb mit dem Schwert zur Kehle. Das Rote Tuch erneut in der Luft. »Yame!« Der Kampf war vorüber. Takeda ließ sich dazu hinreißen, in das Jubeln der Menge um ihn her einzufallen. Wenn Hirakawa so weiterkämpfte, würde er am Ende des Schuljahrs den Kendô-Club der Seikô übernehmen, da war sich Takeda sicher. Aber das Turnier war noch lange nicht vorbei. Es folgten zahlreiche weitere Partien, von denen Hirakawa nur eine, gegen den Club-Vorsitzenden der Huan, wie Takeda vermutete, verlor. Als am Mittag die Sonne gnadenlos auf Kämpfer und Zuschauer niederbrannte, gab es endlich die erste Pause. Im Anschluss daran würde ein K.o.-Turnier folgen, bei dem der Gesamtsieger ermittelt werden sollte. In der ersten Runde würden die Schüler, die vor der Pause eine ähnliche Anzahl an Siegen errungen hatten, gegeneinander antreten. Hirakawa hatte sich mit seiner Glanzleistung einen harten Gegner erkämpft. Es würde nicht einfach werden, aber Takeda wusste, dass sein Freund es schaffen konnte. »Lass uns Hirakawa suchen«, schlug Takeda Ishida vor, als sich das Publikum um sie her allmählich zerstreute und war schon auf halbem Weg in Richtung der Sporthalle, als Ishida ihn zurück rief. »Hey, warte mal, Takeda! Du weißt schon, dass wir da eigentlich gar nicht rein dürfen, oder? Außerdem ist Hirakawa gleich nach der Pause wieder dran, der ist bestimmt sowieso nicht da. « »Ein Versuch kann ja nicht schaden, oder? Außerdem sind wir Angehörige. Irgendwie zumindest.« »Also manchmal weiß ich wirklich nicht, was ich mit dir machen soll«, gab Ishida mit einem breiten Grinsen zurück und war der erste, der die Tür zur Turnhalle aufzog. Seit dem Turnierbeginn hatte sich der Raum geleert. Viele der Kämpfer mussten die Pause nutzen, um frische Luft zu schnappen oder sich mit ihren Mitschülern auszutauschen. Eine Dreiergruppe von Huan-Schülern kam Takeda und Ishida entgegen und drängelte sich grußlos an ihnen vorbei und auf den Hof hinaus. Dann war es still in der Halle. »Ich hab dir ja gesagt, dass er nicht hier ist«, meinte Ishida leichthin und wollte sich gerade wieder der Tür zuwenden, als sich eine Stimme über die Halle erhob. »Habt ihr was verloren?« Erschrocken fuhr Takeda zusammen. Er hatte gedacht, außer Ishida und ihm sei niemand mehr hier. Umso überraschter war er jetzt, als Kuroi aus den Schatten zwischen den hellen Streifen Sonnenlichts trat, die die hohen, schmalen Fenster in die Halle warfen. Seit dem Tag, an dem er versucht hatte, Hirakawa vom heutigen Turnier ausschließen zu lassen, hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. »Ach so, verstehe. Hirakawa braucht wohl ein bisschen moralische Unterstützung. Das kann nicht schaden, mit seiner selbstgefälligen Art hat er sowieso keine Chance, das Turnier zu gewinnen.« Das Blut rauschte in Takedas Ohren. Mit einem Mal war alles wieder da – seine Wut darüber, von Kuroi instrumentalisiert worden zu sein, seine Abscheu, dass er ihn auf den Mund geküsst hatte, sein Hass, weil er ihn gegen Hirakawa ausspielen, weil er Hirakawa schaden wollte. Hirakawa... Takeda erwiderte Kurois kalten, harten Blick. Er würde keinen Millimeter vor diesem niederträchtigen Menschen zurückweichen. »Was hast du gesagt?« »Takeda, lass uns abhauen«, raunte Ishida ihm zu und tat einige Schritte in Richtung Tür, doch Takeda hielt ihn zurück. »Warte.« An Kuroi gewandt fuhr er fort: »Wovor hast du eigentlich Angst? Wenn du doch angeblich ein so viel besserer Club-Vorsitzender als Hirakawa bist, wieso lässt du ihn nicht einfach in Ruhe?« Als Kuroi antwortete, war seine Stimme ruhig und kalt: »Kämpfen wir doch darum. Hier.« Damit griff er nach einem der Kendô-Schwerter, die unweit von ihm entfernt an der Wand lehnten und warf es Takeda zu. Ohne sich bewusst dazu entschieden zu haben, griff dieser danach. »Wenn du gewinnst, mische ich mich nie wieder in eure Angelegenheiten ein. Du hast mein Wort.« »Und was ist das wert?«, mischte Ishida sich ein, doch Takeda schenkte ihm keine Beachtung. In diesem Augenblick wünschte er sich nichts sehnlicher, als Kuroi genauso zu demütigen, wie er ihn gedemütigt hatte. »Ich habe keine Rüstung«, stellte er fest, den Blick auf das Schwert gerichtet, das in seinen Händen ruhte. »Ich auch nicht«, gab Kuroi zurück. Ein schiefes Grinsen durchschnitt seine harten Züge. »Das ist fair, oder?« »Lass dich bloß nicht auf diesen Scheiß ein«, fuhr Ishida dazwischen, doch Takeda überging ihn abermals. »Also gut. Zwei Punkte zum Sieg.« Im selben Augenblick betrat Hirakawa draußen auf dem Hof die Show-Bühne. Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen, doch er konnte Takeda nirgends entdecken. Wo steckte dieser Kerl bloß? Aber was soll's, er brauchte ihn nicht, um diesen Kampf zu gewinnen. »Hajime!« Kurois Bambusschwert zischte nur knapp an Takedas linkem Ohr vorbei. Seine Schläge waren kräftig und gezielt, aber Takeda war flink und wendig. Seine Wut fokussierte all seine Kräfte auf den Kampf, auf seinen Gegner, sein Ziel. Vielleicht hatte er tatsächlich eine Chance, Kuroi hier und heute zu schlagen und die Machtkämpfe innerhalb des Kendô-Clubs ein für alle Mal zu beenden. Hirakawa parierte einige harte Schläge, versuchte selbst einen Angriff und wurde abgeblockt. Seine Augen schweiften über die Schulter des Gegners hinweg, hinüber zum Publikum. Vielleicht hatte Takeda sich in Schwierigkeiten gebracht. Zuzutrauen wäre es ihm, oder nicht? Kurois nächster Angriff verfehlte sein Ziel nicht. Mit der Kraft eines Raubtiers schlug er auf Takedas verletztes Handgelenk ein. Ein Schrei des Schmerzes entrang sich Takedas Kehle. Sein ganzer Körper vibrierte, doch er würde das Schwert nicht loslassen. Dieses Mal nicht. Hirakawas Gegner nutzte seine Chance und landete einen sauberen Treffer an Hirakawas Kehle. Verdammt, er musste sich zusammenreißen und sich wieder auf den Kampf konzentrieren. Mit dem nächsten Treffer würde Hirakawa nicht nur diese Partie sondern das ganze Turnier verlieren. Wie hatte Takeda nur auch nur eine Sekunde lang glauben können, dass Kuroi dieses Mal fair bleiben würde? Verzweifelt rang er nach Luft und versuchte, sich wieder zu voller Größe aufzurichten. Doch Kuroi ließ ihm dazu keine Zeit. Hirakawa sah das Schwert seines Gegners auf sich zurasen. »Hört sofort auf!« »Yame!« Ishida stürzte auf Kuroi zu, um ihn von Takeda fortzustoßen, doch es war zu spät. Mit der Kraft eines Löwen bohrte sich die Spitze des Schwertes in Takedas Bauch. Einen Augenblick lang erschütterte ihn ein Schmerz, weit jenseits von allem, das Takeda je gefühlt hatte. Dann wurde es schwarz um ihn. Kapitel 24: ------------ »Unsere Spieluhr ist weg.« »Wovon redest du?« »Unsere Spieluhr aus dem Antiquariat in Ginza.« »Dann hat sie wohl jemand gekauft.« »Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, sie würde für immer da sein.« »Ein Antiquariat kauft Sachen an, um sie zu verkaufen. So ist das eben.« »Ja, vielleicht...« Takeda schlug die Augen auf. Alles um ihn her war fremd und weiß und hell. Alles bis auf… Der Umriss eines hochgewachsenen Jungen löste sich vom gegenüberliegenden Fenster, durch das von weißen Vorhängen gefärbtes Sonnenlicht in den Raum flutete. Takeda konnte sein Gesicht nicht erkennen, bis er ganz nah an das Bett getreten war, in dem Takeda lag, sich über ihn beugte. Es war, es war… »Hirakawa.« Takedas Stimme klang leise, zerbrechlich, verklang zu schnell im Raum. Seine Hand fand wie von allein ihren Weg zu Hirakawas Jacke, klammerte sich an ihren Saum. Dunkelblau – immer noch die Kendô-Uniform. »Unsere Spieluhr… Als du mir damals gesagt hast, sie sei nicht mehr da… Da hattest du sie schon gekauft, oder?« Ein leises Lächeln kräuselte Hirakawas Lippen. Vorsichtig löste er Takedas verkrampften Griff von seiner Jacke, schloss seine Hand in seiner ein. Sanft, so sanft. »Ich wollte sie dir zum Geburtstag schenken.« Das Lächeln erstarb, machte diesem Blick Platz, dem Blick aus Takedas Traum. »Aber da hat sie dir schon lange nichts mehr bedeutet.« Takeda wollte protestieren, wollte behaupten, dass Hirakawa sich irrte, doch er konnte nicht. So nickte er nur langsam, verstehend, und wandte den Kopf ab, starrte auf die weiß getünchte Wand neben sich. Einen Augenblick lang war es so still im Raum, dass Takeda selbst durch das geschlossene Fenster das gedämpfte Gezwitscher von Vögeln hören konnte, viel zu still. Dann sagte Hirakawa: »Weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen um dich gemacht habe? Wenn ich dich auch noch verloren hätte... Ich hätte nicht gewusst, was ich tun sollte.« Takedas Augen weiteten sich. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass Hirakawa noch immer seine Hand hielt. Plötzlich war die alte Nervosität wieder da, die Unsicherheit, die Takedas Herz zum Rasen brachte. Doch dieses Mal kam sie nicht allein. Sie war begleitet von einer geborgenen Wärme, die von Hirakawas Hand auszugehen schien und sich mit einem sanften Kribbeln bis in die letzten Winkel von Takedas Körper auszubreiten schien. Was war das nur für ein Gefühl? Langsam wandte Takeda den Kopf, um Hirakawa in die Augen zu sehen. Noch nie waren sie ihm so warm erschienen, so tief. »Ich liebe dich.« Hirakawas Stimme war nur noch ein Hauch an seinem rechten Ohr. »Ich liebe dich.« Und dann berührten sich ihre Lippen. Vorsichtig, beinahe schüchtern, wie ein junger Vogel, der zum ersten Mal das Nest verlässt und all seine Hoffnung zum Himmel schickt, betet, dass er fliegen kann. Und während Takeda spürte, wie sein Körper leicht wurde, wie sein Herz schwerelos in seiner Brust umherflatterte, wurde ihm endlich bewusst, dass genau dieser Kuss es war, wonach er sich die ganze Zeit über gesehnt hatte. Endlich, endlich hatte er das Gefühl, seinen Platz in der Welt gefunden zu haben. Doch es war kein Ende, es war der Anfang einer großen, einer wahren Liebe. ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)