Raftel (2) von sakemaki (The Rainbow Prism) ================================================================================ Kapitel 10: 10 - Plan B ----------------------- Die Gruppe beobachtete von ihrer Anhöhe aus eine recht lange Weile das Backsteingebäude, welches in den nächsten Stunden in den Mittelpunkt ihrer Aktivität rücken würde, und Tashigi verteilte die Rollen, die an sich relativ klar besetzt waren. Sie selbst war die Kopfgeldjägerin und würde die Verhandlung übernehmen, Chopper hatte die Umgebung im Auge zu behalten und Zoros Schwerter zu verwahren, Usopp sollte Tashigi begleiten und Kabuto bereit halten, und Zoro war das Opfer und hätte bei der Marine zu verharren, bis ihn seine Mitstreiter in einer wilden Aktion wieder abholten. Letzterer zweifelte das Talent seiner Nakama zwar nicht an, hatte aber berechtigte Bedenken, welche er jedoch lieber für sich behielt. Einwände seinerseits hätten bei einer leichtgläubigen Natur, wie das Rentier sie besaß, sofort dazu führen können, dass Chopper schnurstracks zum Schiff zurück galoppiert wäre. Der kurze Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Der Wind frischte nun wieder stärker auf als zuvor, trieb den Staub in den Himmel und verdunkelte ihn zusätzlich. Es bot sich an, den Standort ungesehen zu wechseln und sich näher bei dem Gebäude zu positionieren. Ein leer stehendes Holzhaus taugte als neue Operationsbasis. Dort angekommen nahm Tashigi einen der Stricke, knotete eine Schlaufe und begann den kleinen trockenen Klumpen an Pastellfarbe mit etwas Wasser aus einer Trinkflasche zu befeuchten. Dann schmierte sie die rote Pampe mit ihren Fingern einmal quer durch Zoros Haare, an seiner Schläfe entlang, über seinen Hals bis hinunter zu seinem Schlüsselbein. Die Farbe trocknete schnell und sah auf seiner Haut aus wie frisch verschorfte Wunden. Staub und Dreck aus der Wüste taten ihr übriges. Usopp lobte ihr Kunstwerk, und dass sie sich vielleicht einmal als Maskenbildnerin beim Theater bewerben könnte. Denn damals zu Luffys geplanter Hinrichtung in Loguetown hätten selbst sie als ehemalige Crewmitglieder Zoro mit seinen Kohle beschmierten, schwarzen Haaren zuerst nicht erkannt. Doch Chopper merkte mit seinem medizinisch geschulten Auge an, dass der Hanyô eher wie ein Unfallopfer aussähe, der vom Seezug überrollt worden war. Kampfspuren sähen anders aus. „Chopper, das ist doch egal. Aber wenn wir ihn ohne einen einzigen Kratzer abliefern, glaubt uns das dort keiner, dass wir ihn gefangen haben. So ganz blöde sind die da auch nicht...“, klärte sie das Rentier auf. „Das glaubt euch sowieso keiner“, zog Zoro sie auf und grinste schadenfroh. „Du wirst schon sehen. Los, Kopf dadurch!“ wehte es ihm bockig entgegen. Und noch ehe er sich versah, baumelte ein Henkersknoten um seinen Hals, den Tashigi so ungeschickt zuzog, dass es ihm für einen Augenblick schwarz vor Augen wurde. Doch in ihrer Linkshändigkeit war es ihr gar nicht aufgefallen, und so machte sie sich bereits mit dem unteren Strickende daran zu schaffen, seine Hände auf dem Rücken zu fesseln. Dann griff sie in das Seilstück zwischen Nacken und Hände und zog langsam ein wenig dran, bis er dem Druck auf seiner Kehle nachgeben musste und ein wenig in die Knie ging. Wie ein leicht gespannter Flitzbogen nach hinten gelehnt hatte er nun die perfekte Körperhöhe, dass sie ihre Wange an die seinige schmiegen konnte und flüsterte ihm zu: „Das du mir da keine Schande machst und selber abhaust. Kein Dämonen-Hokuspokus oder so was.“ Sie wandte sich zum Gehen, immer noch die Hand am Strick, dass er eine unbeholfene Halbdrehung machen musste, wollte er nicht eine unliebsame Begegnung mit dem Dreck des Bodens machen. Obgleich sie ihren knöchellangen, beigefarbenen Ledermantel trug, der sie vollständig umhüllte und von ihrem Gesicht nur ihre Augen freigab, konnte er ihre plötzlich aufkeimende Freude förmlich spüren. Vermutlich huschte eben gerade ein Lächeln über ihre Lippen, denn ihre Augen funkelten schamlos, als sie ihn so gefangen und augenscheinlich wehrlos hinter sich herzog. Sie fand Gefallen daran, mal für einen Moment die Oberhand über ihn zu haben. Wer wusste schon, was jetzt gerade noch so durch ihr kleines Köpfchen schoss. Solange sie nicht auf die Idee kam, ihn daheim auch so ans Bett zu fesseln, konnte man das mal für heute so stehen lassen. Einzig Usopps motzender Einwand an Tashigi, ihn nicht schon vorher umzubringen, bescherte ihm eine frische Portion Sauerstoff. Das Rentier in der Holzhütte zurücklassend, gingen sie zu dritt die wenigen Meter zum Backsteingebäude und öffneten die schwere Holztür. Sofort musterte Usopp aus den Augenwinkeln heraus das gesamte Innenleben des Hauses. Drei Soldaten saßen an einem Tisch und sahen, erstaunt über den späten Besuch, auf. An den Wänden reihte sich Aktenschrank neben Aktenschrank. Eine geöffnete Zimmertür hinter den Soldaten führte in einen Flur. Das Haus war einstöckig, dennoch schien am Ende des Flurs eine Treppe nach oben zu geben. Der Kanonier schätzte, dass es mit diesem Raum hier und dem Flur dort entlang noch vier, höchsten fünf weitere Räume im Erdgeschoss geben müsste. Das war übersichtlich und gut zu merken. Tashigi hingegen hatte keine Sekunde verschwendet, war an den Tisch herangetreten und schmiss Zoros Steckbrief in die Runde. Barsch forderte sie das Kopfgeld und blickte in überrumpelte Gesichter. In den letzten Jahren war es nicht mehr vorgekommen, dass hier ein Pirat abgeliefert wurde. Man fühlte sich überfordert und überlegte laut vor sich her, ob die insgesamt vier Mann, die hier stationiert waren, wirklich ausreichten, um einen einzigen Roronoa Zoro zu bewachen, oder ob das Anfordern von Verstärkung nicht sinnvoller wäre. Usopp konnte sich ein Lachen nur verkneifen, weil er sich auf die Lippen biss und sein Gesicht eh hinter einem Tuch verbarg. Und Zoro konnte nur genervt mit den Augen rollen. Immerhin hatte er die ganze Zeit regungslos und brav dort gestanden, wo Tashigi ihn abgestellt hatte. Man konnte sich wirklich nicht über ihn beschweren. Vielleicht sollte er mal gegen das Tischbein treten, damit Leben in die Bude kam? Am liebsten hätte Tashigi die drei Pfeifen vom Dienst gehörig gefaltet, doch sie musste Ruhe bewahren, sollte doch kein Verdacht geschöpft werden, dass hier Pirat und Kopfgeldjäger gemeinsame Sache machten und ein geldgieriges Team bildeten. Allerdings wurde dem Hanyô nun doch die ganze Sache zu langweilig und er machte das, was er gerade gedacht hatte: Ein kurzer Tritt und der Tisch rappelte. Der gewünschte Effekt trat ein: Sofort sprangen die drei Soldaten auf. Einer suchte das Auszahlungsformular, einer flitzte los zum Tresorraum und einer zog sein Gewehr, das er dem Gefangenen an die Schläfe hielt, weil er sich nicht traute, diesen, wie es die Kopfgeldjägerin getan hatte, an dem Strick vor sich her zu schieben. Sicherheitsabstand war sicher eine gute Sache. „Lass den Scheiß!“ formten sich Tashigis Lippen mahnend, als sie ihren Freund böse anblickte. Sie erkannte sofort, dass er etwas gefunden hatte, um seine schlechte Laune zu heben, indem er die Soldaten verschaukelte. Die unerwünschte Antwort zu ihr zurück war sein Grinsen. Es war schwer zusagen, ob Zoro nun den Flur voranschritt und der Soldat ihm mit dem Gewehr folgte. Oder ob der Soldat Zoro mit der Waffe am Kopf vor sich her schob. Usopp sah dem Gespann seufzend nach, wie es das Flurende erreichte und dann rechts abbog, und bewunderte die Sorglosigkeit seines Nakamas. Immerhin wäre so eine Kugel im Kopf keine lebensverlängernde Angelegenheit. Selbst ein Dr. Chopper würde da wohl an seine medizinischen Grenzen stoßen. Andererseits war Zoro häufig dermaßen pragmatisch veranlagt, dass Usopp oft an dessen Verstand zweifelte. Vielleicht war ja davon tatsächlich gar nicht so viel drin im Schädel, was man bei einem Kopfschuss reparieren müsste. Nein, der Gedanke war garstig und der Scharfschütze schob ihn grinsend beiseite. Zoros neues Zuhause auf Zeit war wenig einladend. Eine Gittertür öffnete sich nicht einladend in ein verstaubtes Zimmer ohne Fenster, aber mit schimmeliger Matratze. An der Zimmerdecke hatte eine ganze Kolonie an Spinnen ihre dicken Netze ausgebreitet. Mehr Freunde fand man hier zwar nicht, aber wären diese sicherlich treu und quatschten einen nicht mit unnützen Belanglosigkeiten zu. Er sank nahe der Gittertür an der Wand zu Boden und haderte dort der Dinge, die noch kommen würden. Als ob das Ganze nicht schon surreal genug wäre, knotete seine bewaffnete Begleitung den Strick um seinen Hals mit einem Seil an der Gittertür fest, damit er auch wirklich nicht fliehen könnte. Die Nerven des Soldaten würde es wohl ein wenig beruhigen, doch Zoro selbst kam sich vor wie ein Hund, der vom Herrchen vor dem Einkaufsladen an eine Hauswand gebunden wurde. Mach' schön Platz! Wie lange würde er hier sitzen müssen? Er kannte die Prozedur aus einer Zeit, als er sich selbst als Kopfgeldjäger über Wasser halten musste. Man bekam nicht unmittelbar das Geld ausgezahlt. Erst musste der Steckbrief samt eines aktuellen Bildes an das Marinehauptquartier übermittelt werden. Dort wurde entschieden, ob es sich auf beiden Bildern tatsächlich um ein und dieselbe Person drehte. Erst dann gab es bei einem positiven Bescheid eine Barauszahlung. Hatte die betroffene Marinestation nicht genug Geld in der Kasse, gab es einen Verrechnungsscheck, denn man irgendwo bei der nächstbesten Bank einlösen musste. Zusammengefasst konnte es von der Auslieferung bis zur Geldübergabe wenige Minuten, im schlimmsten Falle einige Tage dauern. Piraten zu jagen und abzuliefern war einfach, den Papierkram und den Amtsschimmel zu überstehen war schwierig. Er hatte den Gedanken nicht einmal zu Ende gedacht, da schob sich schon ein langer Arm durch das Gitter, ein Auslöser klickte und ein grellweißes Blitzlicht raubte ihm für lange Minuten das Augenlicht. Da war das Abgleichfoto. Er behielt die Augen geschlossen und überbrückte den ungewissen Zeitraum mit Schlaf. Der Soldat mit der Kamera in der Hand ging den kurzen Flur zurück. Zu ihm gesellte sich ein weiterer Soldat, welcher gerade die Treppe herunter kam. Dieser hatte Geräusche der Aufruhr gehört und wollte der Sache auf den Grund gehen. Die Schulterklappen seiner Jacke verrieten, dass es sich wohl um einen Leutnant handeln musste und er somit den Leiter der Gruppe darstellte. Er ließ sich die Sachlage schildern und schien im Gegensatz zu den anderen Dreien wenig Angst vor dem neuen Gast in der Zelle zu verspüren. Zurück in dem ersten Raum mit den Aktenschränken und dem Tisch angelangt, warteten dort immer noch eine Tashigi, welche gegen die aufsteigende Nervosität ankämpfte, und Usopp, dem es nicht viel besser ging. Die Schreibangelegenheiten zogen sich in die Länge wie Kaugummi. Ihre Augen verfolgten, wie eine Übertragungsteleschnecke Formular, Steckbrief und Abgleichfoto an das Hauptquartier scannten. Dann erhielten sie einen Durchschlag des Formulars. „Kommt mal morgen früh wieder. Die brauchen ihre Zeit im Hauptquartier“, sagte der Leutnant. Obwohl Tashigi bemüht war, mit niemanden der vier Marinesoldaten Blickkontakt zu haben, kreuzten sich die ihrigen Blicke nur für einen kurzen Wimpernschlag mit denen des Leutnants. Es durchfuhr sie schlagartig, als hätte sie ein Stromkabel angefasst, dass sie zur Salzsäule erstarrte. Nur für den Bruchteil der Sekunde blieb sie an den Augen des Offiziers hängen. Kreidebleich machte sie mit dem Zettel in der Hand auf dem Absatz kehrt und war froh, dass ihr Usopp unaufgefordert ebenso schnell folgte. Beide waren erleichtert, wieder draußen vor der Tür zu stehen. „Was war DAS denn?“ fragte der Kanonier scharf. „Was?“ wollte sie möglichst uninteressiert klingen, doch das Zittern in ihrer Stimme gewann die Oberhand. „Dass du aussiehst, wie ein gebleichtes Bettlaken und den Typen so angestarrt hast.“ „Der... Ich glaub, der hat mich erkannt. Damals von der Offiziersausbildung...“ „Na super!“ Usopp sah schon sämtliche Felle davonschwimmen, dass ihr Plan von diesem Zeitpunkt an tatsächlich noch aufgehen würde. Da hätte sie Zoro ja gleich mit durchtrennter Kehle abliefern können. Garantiert würde der Leutnant nun Verstärkung ordern und Zoro mir nichts dir nichts abknallen lassen. In ihrem Hals hingegen bildete sich ein großer Kloß und Tränen füllten ihre Augen. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Identität nicht aufgeflogen war und wollte sich selbst beruhigen, dass sich ihr Freund jederzeit auch selbst befreien könnte, wenn ihm danach beliebte. Auch ohne Schwerter. Hanyôs konnten das. Sie hatte nicht bedacht, dass sie hier weit weg von allen viel befahrenen Seerouten auf jemanden treffen könnte, der sie aus früheren Zeiten kannte. Mit diesem Stand der Dinge gesellten sie sich zum wartenden Rentier, welches knapp informiert wurde über das, was sich dort im Hauses abgespielt hatte. Bange Stunden der Angst folgten. Während seine Freunde draußen in dem Holzhaus hockten, der Dunkelheit, dem Staubwind und der Angst um ihn trotzten, war es für Zoro hingegen in seiner Zelle zwar windstiller, aber nicht minder staubig. Das Geräusch einer quietschenden Gittertür weckte ihn und er nieste sich den Dreck aus den Atemwegen. Im Schein einer Petroleumlampe trat ein noch für ihn unbekannter Soldat ein, musterte den Knoten in seinem Nacken und an seinen Handgelenken und zündete sich an die Wand gelehnt eine Zigarette an. Die nächsten Zigarettenzüge passierte nichts und Zoro rätselte, was dieser mitternächtliche Besuch hier sollte, da der Soldat so rein gar nichts tat, außer einem Gedanken nachzuhängen und ihn anzustarren. „Weißt du eigentlich, warum man einen Henkersknoten immer so knotet, dass man das Seileende genau sechsmal umschlägt?“, begann der Leutnant einen Monolog, tippte auf die Zigarette und die Asche fiel zu Boden. Er erwartete gar keine Antwort von seinem Häftling und fuhr unbeirrt fort. „Findige Menschen haben es einmal so herausgefunden, dass der Knoten dann wohl am Besten funktioniert, und es als Arbeitsanweisung in ein Lehrbuch geschrieben.“ In Zoros Kopf machte sich ein große „Hä?“ breit, konnte er doch nicht so recht dahinter kommen, was dieser Vortrag hier sollte. Einzig und allein, dass seine Seile scheuerten und sich in seine Haut gerieben hatte, um sich nun in seinen frischen Wunden mit dem Staub zu vermischen, war für ihn von Interesse. Denn es brannte am Hals und an den Handgelenken und würde sicherlich viel Wundwasser und Eiter mit sich bringen. Wenigstens hatte er es durch Scheuern des Seiles an den Gitterstäben geschafft, dass die Schlinge nicht mehr zu straff um seinem Hals lag. „Und weißt du, wo es so ein Lehrbuch gibt? So einen Knoten, wie deiner da. Der ist viel zu perfekt geflochten. Das flicht normalerweise nur jemand, der mal bei der Marine war.“ Wieder fiel Asche zu Boden, eine Tabakwolke füllte den Raum und benetzte die Spinnenweben an der Decke. Zoro schwante Übles. Daher wehte der Wind also. Kannte der Kerl vor ihm etwa Tashigi von früher? Nicht gut. Es hatte sich sicherlich schon auf den Blues herumgesprochen, dass sie in Verbindung mit der Strohhutbande stand. „Wie und wo haben die beiden Gestalten von vorhin dich eingesammelt? Unerklärlich …“, grinste der Offizier. „Das kleine Mädchen mit den großen, traurigen Kulleraugen. Wie alt ist sie heute? Lange habe ich nichts mehr von ihr gehört. Tashigi heißt sie, nicht wahr?“ Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten. Die brauchte er auch nicht. Er hatte das Spiel durchschaut. Für Zoro hingegen war die Begegnung noch nicht vorbei. Sie hallte in seinem Kopf nach und regte zum Nachdenken an. Da war etwas merkwürdig an diesem Leutnant. Der Typ war anders als ein normaler Mensch, doch ein Teufelsfruchtesser schien er auch nicht zu sein. Ein Gleichgesinnter? Konnte er sich nicht vorstellen. Und als sich das Bild des obszönen Grinsens im Gesicht des Offiziers in sein Gedächtnis schob, und wie dieser Typ Tashigis Name aussprach, bebte es in seinem Inneren. Was mochte wohl die Verbindung zwischen seiner Freundin und diesem dahergelaufenen Spinner sein? Pff, niemals würde er zugeben, dass er eifersüchtig wäre. Und schon gar nicht, dass er diesem Kerl genau deshalb einfach mal ebenso ein paar auf die Zwölf gegeben hätte. Vielleicht schlug's auch schon Dreizehn. Er schob seinen Kopf näher an das Gitter heran und spähte in die Richtung, in die der Leutnant samt Lampe gegangen war. Er war im wahrsten Sinne des Wortes in der Dunkelheit gefangen, doch ein schwacher Lichtschein deutete darauf hin, dass die Lampe sich im Aktenschrankzimmer befand. Vermutlich mit ihrem Träger zusammen. Vereinzelt konnte Zoro ein Rascheln von Blättern, das Quietschen von Schubladen und das Knarren eines Möbelstücks erlauschen. Über ihm musste ein Schlafraum sein, denn die dünne Decke über ihm war durchdrungen von Schnarchgeräuschen. Der Rest war Stille. Er wollte noch etwas weiter seinen Kopf durch das Gitter schieben, doch der Strick hinderte ihn daran und zog sich unweigerlich wieder enger zu. Dieser Strick! Wie sehr er das Stück Seil verfluchte. Und überhaupt war die ganze Lage zum Verfluchen unbequem. Seine drei Mitstreiter waren ausgeschlossen kampferprobt und den brenzligsten Situationen gewachsen, aber es war das eingetreten, was er schon zu Beginn befürchtet hatte: Diese Nummer war für die Drei wohl doch ein bisschen zu groß. Viele Banden hatten sich darauf spezialisiert, regelmäßig Kopfgelder zu kassieren und Komplizen von Galgen herunterzuschießen. Seine Drei aber waren das nicht. Zumal diese Banden auch nie den Fehler begehen und mit jemanden kooperieren würden, der ein derart hohes Kopfgeld besaß. Kleine Kopfgelder wurden umgehend ausgezahlt und auch umgehend in den Akten vergessen. Da fiel es nicht auf, wenn so eine Bande von Ort zu Ort zog und die Nummer tagtäglich von Neuem durchzog. Er atmete hörbar tief durch. Man könnte eben überall auf der Welt sein. Auf der Sunny beispielsweise in einem bequemen Bett und schlafend. Doch wo kauerte er? Mitten in einem verdreckten Abstellraum, der sich Zelle nannte, mit brennenden Wunden und einem Strick als Hundeleine um den Hals. Zoro wurde langsam übellaunig, um nicht gleich zu sagen: pissig. Es war Zeit zu gehen. Hochkonzentriert versank er in eine andere Welt. Ein warmes Zwielicht umschlang ihn und lud ihn ein, unbeschwert und leicht diesen kalten dreckigen Ort zu verlassen. Es war ein Gefühl, als wäre er eben noch auf einer spiegelglatten Wasseroberfläche getrieben und nun sackte er langsam ein und ging unter. Es war ein angenehmes Gefühl. Frei und schwerelos. Lange hatte er wieder und wieder trainiert, um seine dämonischen Kräfte zu beherrschen und nicht seine Erinnerungen zu vergessen. Er hatte den Schlüssel zum Zwielicht gefunden. Es war nur ein einziger Wunsch in seinem Innersten, der den Schlüssel umdrehte und das Zwielicht öffnete. Er war einst mal zufällig darauf gestoßen, welchen Gedanken er brauchte und seitdem klappte es. Auch wenn er wusste, noch lange nicht die Perfektion erreicht zu haben, so war das, was er nun beherrschte schon mehr als respektabel. Das Seil, das ihn am Gitter festhielt, verlor in Zoros Parallelwelt seine Materie. Ebenso das Gitter, die Zelle, das Backsteinhaus. Eine komplette reale Welt trennte sich in dieser Sekunde von seiner Welt im Zwielicht. Wie im Zeitlupentempo erhob er sich, ließ das Seil hinter sich, durchdrang das Gitter und schritt für alle weltlichen Wesen unsichtbar bedächtig den kurzen Flur zum Aktenschrankraum entlang. Dort angekommen, verharrte er in der Tür. Der Leutnant saß mit dem Rücken zu ihm und schrieb Berichte. Plötzlich hielt er inne, blickte auf und sprach mit ruhiger Stimme: „Du verlässt uns schon? Wirst du nicht abgeholt?“ Der Typ konnte ihn sehen? Oder war da ein Trick? Immerhin hatte er sich ihm von hinten genähert und keinerlei Geräusche verursacht. Es gab nun keinen Grund mehr, sich zu verstecken, also trat Zoro aus dem Zwielicht heraus und kehrte in die reale Welt zurück. Er lehnte sich an die Zimmertür und wartete ab, was sich hier nun ergeben würde. „Nein, die Azubis brauchen noch etwas Übung“, beantwortete er trocken die Frage in Bezug auf seine Befreiung. „Na denn“, kam es ebenso trocken zurück. Eine Hand erhob sich und wedelte mit einem Zettel. Es war das Antworttelegramm aus dem Marinehauptquartier. Die Auszahlung war abgelehnt, obgleich der Abgleich positiv bescheinigt worden war. Dort im Hauptquartier misstraute man der Gefangennahme. „Das wirst du wohl schon geahnt haben, oder? Allerdings wirst du trotzdem verstehen müssen, dass ich dich nicht einfach gehen lassen kann!“, fuhr der Leutnant bedächtig fort. Zoro nickte zustimmend. Die Sachlage schien sich leicht zu verkomplizieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)