Den Ärger wert von RedRidingHoodie ================================================================================ Kapitel 5: Freischwimmer ------------------------ Die Decke zeichnete sich im Morgenlicht, das durch die Rollläden ins Zimmer fiel, grau über mir ab. Da es draußen schon hell war, konnte es nicht mehr so früh sein, also hatte ich wohl länger geschlafen als sonst. Allerdings war ich auch schon eine Weile wach. Ich drehte träge den Kopf zu meinem Nachtkästchen, auf dem ein Buch - ´Lisey´s Story` von Stephen King - Eine Lampe in Form eines Globusses und mein Handy lagen. Das alles sah ich im Dämmerlicht schlecht, aber ich wusste millimetergenau, wo alles stand, weil sich schon seit meinem fünfzehnten Lebensjahr nichts mehr an meinem Interieur geändert hatte. Dann, endlich, ging der Wecker meines Handys. Ich streckte den Arm aus, beendete den Alarm, bevor er richtig losgehen konnte, und setzte mich auf. Ohne groß zu zögern schwang ich die Beine aus dem Bett, öffnete die Jalousien und die Fenster selbst. Ich hasste abgestandene Luft. Der Gestalt, die mich aus dem Spiegel an meiner Schrankwand heraus mürrisch anstarrte, gönnte ich nur einen kurzen Blick. Sie war dünn geworden; Die Männer-Boxershorts Größe XS hingen tief auf ihren Hüften und das Shirt schlabberte um ihren Oberkörper. Ich zog beides aus, um es gegen Sportkleidung zu tauschen. Kurzes Aufwärmen im Zimmer, dann die große, einstündige Runde durch das noch ruhige Viertel, in dem sich schon die Temperaturen für einen unangenehm heißen Frühsommertag ankündigten. Es war sechs Uhr, an einem Samstag. Um die Uhrzeit war noch niemand auf der Straße, was ich angenehm fand. Die Geräusche, die vereinzelte Autos oder Vögel machten, wurden von meinen Kopfhörern verschluckt, aus denen irgendein Dubstep-Song erklang. Ich wusste nicht, welcher es war, weil sie für mich alle gleich klangen; Eine große Musikliebhaberin konnte man mich wohl nicht nennen, aber zum Joggen gehörte es irgendwie dazu. Außerdem war es einfacher, Kraft zu konzentrieren, wenn wütende Bässe auf die Gehörgänge eindroschen - Zumindest für mich. Trotz dieses Motivationsschubs war ich heute nicht besonders gut drauf; Ich war in Gedanken bereits dabei, den Tag durchzuplanen, sodass ich für die Strecke, die sonst etwa sechzig Minuten beanspruchte, fast achtzig brauchte. Es war nicht so, dass ich mich in Tagträumen verlor, wenn ich kein minutiöses Timing hatte, aber ich wusste gerne, wann genau was erledigt sein musste, um zu einem optimalen Ergebnis zu kommen. Zeitverschwendungen waren mir einfach lästig. Verärgert über die Verzögerung beeilte ich mich auf die letzten Meter nochmal, aber es half auch nicht mehr viel. Als ich schließlich wieder nach Hause kam, war meine Familie bereits nicht mehr da, sodass ich in Ruhe duschen und eine Zeitung lesen konnte während ich einen Kaffee trank. Es war Samstag, aber mein Vater hatte schon immer das Wochenende durchgearbeitet und mein Bruder eiferte ihm auch in dieser Hinsicht nach, sodass ich die beiden oftmals nur an den Abenden zu Gesicht bekam. Ich trauerte der Familienidylle nicht nach, zumal ich heute auch so genug zu tun hatte; Meine Großmütter würden am Nachmittag zu Besuch kommen und weil ich ja ´Nichts zu tun hatte` - Zitat meines Vaters - War es meine Aufgabe, das Haus auf Vordermann zu bringen. Nicht, dass es mich störte, aber die zwei Herren hätten zumindest ihr Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine räumen können. Immer dasselbe mit ihnen. Seufzend machte ich mich also an die lästige Hausputz-Arbeit. Ich war gerade dabei, den Boden zu wischen, als mein Handy klingelte. Einen Moment überlegte ich, nicht hinzugehen; Ich musste mir meine Geduld heute streng einteilen und am Klingelton hörte ich, dass es eine recht anstrengende Freundin war. Schließlich nahm ich dann doch ab. "Karin.", begrüßte ich sie knapp. "Hey, Sasuke! Wie geht´s?" "Ich bin beschäftigt." "Oh, ich will dich auch gar nich aufhalten. Hast du deine Noten schon gelesen? Sie sind seit heut Morgen online!" Das hatte ich noch nicht gewusst, und ich hatte es auch gar nicht wissen wollen. Angst stieg in meinem Bauch auf und ich legte die Hand über meinen Nabel, wie um meinen Magen zu beruhigen. Es half nicht. "Nein.", sagte ich, vielleicht etwas langsamer als sonst, ansonsten aber ohne ein äußerliches Zeichen meiner Beunruhigung. "Ich weiß meine Ergebnisse noch nicht." "Meine Noten sind ganz gut, nur anorganische Chemie muss ich nächstes Semester wiederholen. Na ja, das wird schon... Aber du musst dir ja keine Sorgen machen. Ich wette, du hast überall Einser." Sie lachte und wartete auf eine Antwort, sprach aber weiter als keine kam: "Na ja... Sag Bescheid, wenn du dich informiert hast." Ich konnte mich kaum beherrschen, nicht einfach aufzulegen, als ich unhöflich sagte: "Ich habe zu tun, also komm auf den Punkt." "Oh... Ok, wie du meinst. Aber dann hast du wahrscheinlich eh keine Zeit. Ich wollte auch nicht stören oder so." Sie spielte betroffen, war es aber nicht wirklich, worüber ich die Augen verdrehte. Während ich darauf wartete, dass sie endlich zu Potte kommen würde, wischte ich den Boden weiter. Schließlich sagte sie, was los war: "Ich wollte Schwimmen gehen und die Jungs haben sich drangehängt, da wollte ich fragen, ob du auch mit möchtest. Bei dem Wetter... Und du müsstest ja nich lange weg bleiben, wenn du beschäftigt bist." Ich überlegte tatsächlich, ob ich mitkommen sollte. Schwimmen gehen stand auf meiner To-Do-Liste für diesen Tag. Allerdings wäre der Familienbesuch, der heute bevorstand, schon anstrengend genug, da brauchte ich danach nicht noch drei weitere Menschen um mich. "Nein.", beschloss ich knapp. Karin wartete eine Sekunde auf eine Rechtfertigung, erkannte aber schnell, dass keine kommen würde. "Oh, ok, kein Ding. Wir haben ja noch länger Ferien, vielleicht wann anders." Ich sagte nichts zu der Möglichkeit, trotzdem sagte Karin hoffnungsvoll; "Bis dann also!", bevor sie auflegte. Mit einem Seufzen schob ich diesen Zwischenfall aus meinen Gedanken. Es war nicht so, als wären Karin, Suigetsu und Jugo solche Absagen von mir nicht gewohnt, außerdem hatte ich wirklich zu tun. Ihre Enttäuschung dürfte sich in Grenzen halten. Das Haus war groß, und obwohl ich routiniert und schnell arbeitete, brauchte ich fast zwei Stunden, die sieben ebenerdigen Zimmer zu staubsaugen und zu wischen. Danach setzte ich mich an den Computer und ging, mehr aus Gewohnheit, auf Facebook. Eine Seite, die ich abonniert hatte, hatte ein paar neue Rezepte hochgeladen und ich beschloss, einen Kuchen, den sie vorgeschlagen hatten, für später vorzubereiten. Die einzig andere Neuerung war von Karin, die ihren Status aktualisiert hatte: "Schwimmbad mit Suigetsu und Jugo! :D Schade, dass Sasuke-kun nicht mit kann :( " Ich verstand wirklich nicht, wieso die Leute alles, was sie taten, sofort mitteilen mussten, und dann auch noch erwarteten, dass es ihre sogenannten „Freunde“ tatsächlich interessierte. Es kümmerte doch niemanden, wenn ich jetzt schriebe, dass ich putzte - Und es ging auch niemanden etwas an. Seufzend klickte ich die Seite weg und ging auf die Homepage, derentwegen ich überhaupt ins Internet gegangen war; Die Website der Uni. Ich war nervös, stöberte erst mal ein bisschen unter ´Neuerungen` und auf den Notizen für meine Kurse, aber es gab nichts, was ich noch nicht wusste, also blieb mir letztendlich nichts anderes übrig, als auf die Prüfungsergebnisse zu klicken, mich mit meiner Studenten-ID einzuloggen und meine Zensuren zu checken. Ich hatte insgesamt sechs Prüfungen geschrieben und zwei davon mit 1,0 bestanden, drei weitere mit 1,4. Es war die letzte Klausur, die mir den Atem in der Brust abschnürte, während mein Herz gleichzeitig zu Rasen anfing. 2,2. Eine zwei. Mir brach kalter Schweiß aus und meine Hand zitterte, als ich den Computer runter fuhr. Für ein paar Minuten saß ich einfach auf meinem Stuhl, unfähig, mich zu bewegen oder an irgendetwas zu denken als daran, dass ich versagt hatte. Ich war ein Versager. Nicht, weil meine Noten schlecht waren; Ich wusste, dass ich eine der besten Studentinnen meines Semesters war. Sondern weil ich trotzdem Angst vor der Reaktion meines Vaters hatte, widerliche, kriecherische Angst, ihm nicht zu genügen. Obwohl ich wusste, dass ich letztlich nur mir genügen musste. Oh ja, ich wusste das so gut... Erst nach fünf Minuten schaffte ich es, die Augen zu schließen und ein Mal, zwei Mal, drei Mal tief und bewusst durch zu atmen und dann aufzustehen. Ich konnte mir die gehässigen Kommentare meines Vaters und die schleimige Gönnerhaftigkeit meines Bruders schon zu genau vorstellen. Es war immer dasselbe in diesem Haus, ein stupider Kreis aus gegenseitiger Verachtung und trotzigem aneinander Festklammern aus Angst vor dem Verlust von Ansehen und Ruf. Itachi hatte immer jede seiner Prüfungen mit glatten Einsen bestanden, egal ob beim Abitur, in der Uni oder auch schon beim Malen im Kindergarten, so kam es mir zumindest oft vor. Er war so verdammt perfekt, dass ich mich oft fragte, ob er überhaupt ein Mensch war, aber mein Vater betete seinen Sohn an. Er war genau der Stammhalter, den er sich immer gewünscht hatte. Und dann hatte er noch mich, die noch nicht mal das Geschlecht hatte, dass er sich gewünscht hatte. Plötzlich rebellierte mein Magen und ich stürzte ins Bad, wo ich es gerade noch zur Toilette schaffte, bevor ich mich übergeben musste. Ich fühlte mich so schlecht, dass ich gleich noch mal erbrach, dann hing ich eine Weile zitternd über der stinkenden Schüssel, bis ich es schaffte, aufzustehen und mir die Zähne zu putzen. Ich starrte mich im Spiegel an, dieses hässliche, bleiche Mädchen, und hätte gleich nochmal kotzen mögen, aber es kam nichts mehr, also wusch ich mir einfach das Gesicht mit kaltem Wasser, kämmte mich und machte mich wieder an die Vorbereitungen für den Besuch meiner Großmütter. Ich hatte jetzt keine Zeit für einen Nervenzusammenbruch. Immerhin musste ich noch einen Kuchen backen. In der ordentlichen Küche roch es nach dem Schokoladenbisquit, der vor mir in einer Springform auf der Anrichte stand. Ich nahm eine der beiden Schüsseln zur Hand, die ich zuvor vorbereitet hatte, und gab einen Klecks weißen Quark auf den Teig. Dann tat ich dasselbe mit dem schwarzen Schokoladen-Quark, sodass die Massen sich gegenseitig auseinander schoben. Das ganze sollte eine gestreifte Optik ergeben und ich war guter Dinge, dass das auch passieren würde. Mit dem Handrücken strich ich mir das Haar aus dem Gesicht und warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst halb elf, also hatte der Kuchen bis zum Nachmittag noch mehr als genug Zeit, im Kühlschrank auszuhärten. Sehr gut. Einigermaßen zufrieden mit dem Ergebnis schob ich meine Arbeit in den Kühlschrank und machte mich daran, die zwei Schüsseln, die Arbeitsfläche und die Löffel sauber zu machen, sodass nichts mehr auf meine morgendliche Backeinlage zurückschließen ließ. Jetzt musste ich noch die Fenster putzen und dann würde mein Vater hoffentlich zufrieden sein. Obwohl er sich dafür auch eine Putzfrau hätte einstellen können, an Geld mangelte es in diesem Haus nicht unbedingt. Ich war gerade dabei, die Küchenfenster zu wischen, als ich hörte, wie die Haustür aufging. Leicht verärgert presste ich die Lippen aufeinander; Es wäre mir lieber gewesen, die Männer wären nicht im Haus, solange ich aufräumte. "Sasuke?" "Ich bin in der Küche, Itachi." Mein Bruder, groß und elegant wie immer, trat mitsamt seiner Straßenschuhe über den frisch gewischten Boden ins Haus und lächelte. Eine Sekunde lang verengte ich die Augen zu Schlitzen, doch dann senkte ich rasch den Blick, sodass ich nur seine Füße näher kommen sehen konnte und die Hand, die er mir auf die Wange legte, spürte. "Was ist los? Du wirkst so angespannt, Sasuke... Ist es wegen dem Besuch unserer Großeltern?" Nein, es ist, weil du mit deinen Dreckschuhen durch die Wohnung läufst. Weil ich mich hier um alles alleine kümmern muss. Und weil du deine Hände nicht bei dir behalten kannst. Statt all dessen antwortete ich nur mit einem Seufzen. "Es ist... Viel zu tun." Ich trat einen Schritt zurück und sah auf. "Mach dir keine Gedanken." "Dann beeile dich lieber. Immerhin musst du dich noch umziehen - So kannst du unseren Großeltern schließlich nicht gegenübertreten.", kommentierte Itachi mit einem schmalen Lächeln für meine aus T-Shirt und Jeans bestehende Garderobe. Er dagegen sah wie aus dem Ei gepellt aus in seinem dunklen Anzug und dem grauen Hemd. "Ich hab ja auch geputzt." "Was?" "Geh dich duschen, ich mach hier noch alles fertig. Vater kommt sicher auch bald." "Natürlich." Sein schmales Lächeln, das alle Welt so charmant fand, blitzte nochmal auf, bevor er sich abwandte, doch in der Wohnzimmertür blieb er noch mal stehen, als wäre ihm spontan etwas eingefallen. "Ach ja, ich habe übrigens Kuchen gekauft." Er deutete auf das Packet, das er auf die Küchenanrichte gestellt hatte. "Richte den doch hübsch an." Ich schwieg, weil es sowieso keinen Sinn hatte, sich aufzuregen. Stattdessen kümmerte ich mich um den Rest des Hausputzes. Eine halbe Stunde später glänzten die frisch geputzten Fenster, der Tisch war dekoriert, obwohl das nicht wirklich meine Stärke war, die Familienfotos waren abgestaubt und die Küche sauber. Unser Haus hatte nur ein Erdgeschoss und war so angelegt, dass das große Wohnzimmer direkt hinter dem Flur lag, welcher den Eingangsbereich bildete. Davon zweigte rechts die Küche ab. Im rückwärtigen Teil des Hauses lagen die Schlafzimmer, das Bad und das Büro meines Vaters. Ich glaube, diesen Raum hatte ich nur ein Mal in meinem Leben betreten, denn dort sorgte tatsächlich eine Reinigungskraft für Ordnung, wobei ich es interessant fand, dass er bei seinen privaten Unterlagen einer Fremden mehr vertraute als seiner eigenen Tochter. Dass er auch selbst hätte sauber machen können, wäre ihm sicher nie in den Sinn gekommen, immerhin war er der große Fugaku Uchiha. Als alles fertig und ich geduscht war, ging ich in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Ich war auf halbem Wege zu meinem Kleiderschrank, als mir etwas Ungewöhnliches auffiel und ich stehen blieb. Es lag da wie ein Eindringling, völlig unpassend auf dem dunklen Stoff meiner Bettwäsche, und ich musterte es wie ein Tier von dem ich noch nicht wusste, ob es gefährlich war; Auf dem Bett prangte ein Kleid in einem scheußlichen Lindgrün wie eine verirrte Alge. Ich hob es skeptisch hoch und drehte es hin und her. "Was ist das denn...?" "Ein Geschenk." Ich zuckte zusammen, als ich Itachis Stimme hinter mir hörte, und drehte mich um. Er lehnte in der Tür und beobachtete mich. "Ich glaube, das ist nicht meine Farbe.", widersprach ich und legte das Stück zurück an seinen Platz. Anstatt mich weiter mit dem ungewollten Kleidungsstück zu befassen, ging ich an den Schrank und nahm eine dunkle Bluse und eine schwarze Hose heraus, so, wie ich sie immer trug, wenn ich präsentabel sein musste. "Es ist ein Geschenk, Sasuke.", betonte mein Bruder, diesmal merklich gekränkt. "Ich möchte, dass du das zu würdigen weißt, also trag es bitte heute." Meine Zunge glitt über die Lippen, als ich ihn anblickte. Er meinte das ernst und er würde nicht davon abweichen. Außerdem fehlte mir die Kraft, mich mit ihm zu streiten; Letztlich wäre das auch kindisch gewesen und würde zu nichts führen als dazu, dass ich das Teil doch trug. Ich schloss die Augen, dann hängte ich das Outfit, welches ich gewählt hatte, zurück in den Schrank. "Ok." Ich wartete, doch anstatt sich zurück zu ziehen, lächelte Itachi über seinen kleinen Sieg. Als er mein Stocken bemerkte, zog er die Brauen hoch, doch dann lachte er herzlich. "Oh, verzeih. Ich vergesse immer, dass du nicht mehr sieben Jahre alt bist. Aber du brauchst dich vor mir nicht zu schämen. Komm, lass mich dir mit dem Reißverschluss helfen." Instinktiv wich ich einen Schritt zurück, was ihn aber nur noch mehr zu amüsieren schien. "Was hast du, Sasuke? Sonst bist du doch auch nicht so schüchtern." Ich starrte ihn wütend an, bevor ich mir ungehalten das schwarze Männer T-Shirt mit dem Nirvana-Emblem vom Oberkörper riss, sodass ich nur noch in BH und Jeans vor ihm stand. Auch die dunkle Hose landete auf dem Boden und ich wünschte, die Wut hätte mich nicht überkommen, denn als ich die Hand nach dem Kleid ausstreckte, sah ich, wie meine Finger zitterten. Hastig streifte ich den Stoff über, der eng saß wie eine zweite Haut. Das Ding war sicher nicht billig gewesen, aber der schmale Kragen gab mir das Gefühl zu ersticken und es war zu kurz für meinen Geschmack. Trotzdem drehte ich mich mit dem Rücken zu Itachi, hob mein sowieso nicht allzu langes Haar aus dem Nacken und ließ es zu, dass mein Bruder den Reißverschluss hochzog. Dabei streifte sein Finger wie zufällig die Linie meiner Wirbelsäule und bescherte mir eine unangenehme Gänsehaut. Schnell trat ich von ihm weg und strich imaginäre Falten im Stoff glatt, ehe ich zu ihm aufsah. Sein Blick glitt über mich und er lächelte sichtlich befriedigt. "Na also. Von wegen nicht deine Farbe, du siehst hinreißend aus. Aber du solltest dir wirklich die Haare wachsen lassen. So kurze Fransen sind nichts für ein Mädchen, hm?" "Wenn du meinst.", gab ich gereizt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust um zu verbergen, dass ich nach wie vor zitterte. "Ist alles ok? Du siehst blass aus." "Ich bin blass. Das ist jeder aus unserer Familie." Itachi schüttelte tadelnd den Kopf wie ein Grundschullehrer. "Sasuke... Was ist denn heute nur los mit dir?" "Ich... Entschuldige... Kannst du jetzt... Ich will noch..." "Natürlich. Aber denk dran, dass unsere Gäste bald kommen... Vielleicht schminkst du dich davor ein bisschen, hm?", schlug er sanft vor, dann zog er die Zimmertür mit einem Ruck hinter sich zu. Ich betrachtete mich in dem Spiegel neben meinem zum Bersten gefüllten Bücherregal, etwas, dass ich nicht allzu oft tat. Die Frau im Spiegel wirkte älter als neunzehn, fast schon wie dreißig. Einfach verbraucht. Und das Kleid gab ihrem Gesicht das Aussehen eines dürren Gespenstes. Ich zog am Kragen, um mir etwas Luft zu verschaffen, was aber nicht wirklich half. Erschöpft ließ ich mich auf das Bett sinken und starrte an die Decke. Sicher würde ich mich besser fühlen, sobald noch jemand außer mir und Itachi im Haus war, aber für den Moment war die Übelkeit von heute Morgen zurück und ich konnte mich nicht schon wieder übergeben. Als sich die Rebellion in meinem Magen etwas gelegt hatte kniff ich die Augen fest zu, weil sie verdächtig brannten. Nicht weinen. Das tun nur Kinder und schwache kleine Mädchen. Bist du ein kleines Mädchen? Nein... Dann hör auf, Herrgott. Du bist ein Uchiha. Uchiha sind stark und stolz und vor allem weinen sie nicht. Straff die Schultern, binde die paar fransigen Haare hoch und sei, wozu du geboren wurdest! Immerhin hast du ein Geschenk bekommen und nicht ausgeraubt worden, verdammt. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte ein strahlendes Lächeln vor meinem geistigen Auge auf, doch ich schob es beiseite. Strahlen war eindeutig nicht meine Aufgabe auf dieser Welt. Viel mehr Überleben... Geboren um zu überleben, das könnte ich mir auf die Fahne schreiben. Trotzdem gab mir schon der kurze Gedanke an dieses Frecher-Junge-Lächeln eine erstaunliche Kraft, obwohl ich es schon so lange nicht gesehen hatte. Diese Kraft reichte aus, damit ich aufstehen, mir die Haare machen, mich schminken und letzte Vorbereitungen für den Besuch treffen konnte. Was wohl wäre, wenn ich ihn wirklich sehen würde...? Aber ´Was wäre wenn...`-Hypothesen waren lächerlich, also verdrängte ich sie schnell wieder. Kurze Zeit später kehrte mein Vater nach Hause zurück und er zog, genau wie sein Sohn, die Schuhe nicht aus. Allerdings war ich von ihm nichts anderes gewohnt, weshalb ich ihm nur artig den Mantel abnahm und einen Kaffee an die Tür seines Büros brachte, in das er sich zurückgezogen hatte. Er verließ es erst wieder, als unsere Gäste eintrafen. Ein herzlicher Mensch war Fugaku Uchiha nicht, aber er war gebildet und erfolgreich; Entsprechend steif begrüßte er auch seine Mutter und Tante, welche ihm mit einer sanften Würde begegneten, die allen Frauen meiner Familie anzuhaften schien. Itachi war ganz in seinem Element; Der Strahlemann unserer Familie, ein richtiges Vorzeigekind. Er war stets gut gelaunt, charmant, intelligent und attraktiv, aber Letzteres traf auf die meisten Mitglieder unserer Sippe zu. Sogar meine Großmütter galten mit ihren mehr als siebzig Jahren noch gutaussehend. Nur ich war ein graues Entlein, aber das war mir auch ganz recht. An Entlein setzte man üblicher Weise nicht so hohe Ansprüche wie an schöne Schwäne, also konnten sie auch nicht so gravierend versagen. Höflich manövrierte ich die plaudernden Gäste und meine Familie an den Esstisch im Wohnzimmer, der vor der verglasten Veranda platziert war, sodass man durch die offene Tür die frische Sommerbriese genießen konnte ohne der direkten Hitze ausgeliefert zu sein. Keiner von uns war ein besonderer Sonnenanbeter, deswegen hatte ich davon abgesehen, unser Beisammensein nach draußen zu verlegen. "Was hast du denn da überhaupt an, Sasuke?" Es war das erste Mal seit er hier war, dass mein Vater mich direkt ansprach, und es ließ mich leicht zusammenfahren. In dem Versuch, meine Verunsicherung zu überspielen, strich ich die Falten meiner Kleidung glatt und sah ihn kühl an. "Ein Kleid, Vater." "Das sehe ich wohl. Werde nicht unverschämt, junge Dame. Noch dazu, wo dir der Fetzen überhaupt nicht steht... Los, zieh dich schon um." "Ja, Vater.", murmelte ich, dankbar für die Gelegenheit, mich aus dem Kleid zu schälen, aber da kam mir der Rest meiner Familie ins Gehege. "Ach, das kannst du doch keinem jungen Mädchen sagen, Fugaku. Sei etwas sensibler.", schalt meine Großmutter, deren kleine, verhutzelte Augen, die mich immer an tiefschwarze Murmeln erinnerten, auf mich gerichtet waren. "Außerdem finde ich, das Gewand steht ihr ganz ausgezeichnet. Damit sieht sie endlich mal wie eine Frau aus." Die beiden starrten sich eine Weile lang an, aber es war schon klar, wer diese Auseinandersetzung gewinnen würde. Offiziell mochte nämlich mein Vater das Oberhaupt der Familie sein, aber eigentlich war seine Mutter es, die die Fäden zog. Eine heimliche Patriarchin in geblümten Flanell. Stumm verfluchte ich sie und wünschte, Fugaku würde seine ehrfurchtgebietende Ader auch mal ihr gegenüber ausleben, nur dieses eine Mal, damit ich aus dem Kleid raus kam. Natürlich tat er das nicht. "Den Geschmack der Jugend muss man wohl nicht nachvollziehen.", seufzte er kopfschüttelnd und wandte sich ab, was meine Großmutter zu einem befriedigten Glucksen veranlasste. "Nein, das musst du wirklich nicht. Und jetzt reich mir mal ein Stück Kuchen, mein Lieber." Eine Weile konnte ich mich bedeckt halten, indem ich allen Kuchen auftat, Kaffee holte und mich höflich aus den Konversationen raushielt. Mich rauszuhalten hatte ich in der Pubertät gelernt, als ich noch heftige Meinungsverschiedenheiten mit meinem Vater ausgefochten hatte, die nicht selten in Ohrfeigen oder drakonischen Hausarreststrafen endeten. Natürlich war ich nie in meinem Zimmer geblieben; Durch mein Fenster war es leicht, auf die Veranda, die rund ums Haus verlief, zu klettern und von dort hatte mir die Welt offen gestanden... Oder so in der Art. Aber irgendwann hatte ich es einfach aufgegeben, in diesem Haus eine eigene Meinung zu haben. Ich hatte zu den wichtigen Themen aus Politik, Wirtschaft und Sozialem zwar einen klaren Standpunkt und eine strukturierte Meinung, machte mir aber meist nicht die Mühe, diese mit anderen zu teilen. Die Menschen hörten sowieso selten wirklich zu - Und wenn, interessierte es sie kaum. Als ich gerade den interessanten Ansichten meiner Großmutter väterlicherseits über die Umstände eines Krieges im Ausland zuhörte bemerkte ich den Blick meines Bruders. Er schien ehrlich erfreut darüber, dass ich tatsächlich das Kleid trug, welches er mir geschenkt hatte, doch seine Freude berührte mich nicht. Empathie war nicht meine Stärke. Trotzdem schenkte er mir, als ich ihn ausdruckslos ansah, das Gewinner-Lächeln, das ihm jede Tür öffnete. Er trank einen Schluck Kaffee, ohne die Augen von mir zu nehmen, dann stellte er gelassen die Tasse beiseite und fragte: "Sag Mal, Sasuke, hast du eigentlich schon die Noten für deine Klausuren?" Die Übelkeit von heute Morgen war wieder da, so heftig, als hätte er nicht ruhig mit mir Konversation gemacht sondern mich in den Magen geschlagen. "Ich... Vorhin hab ich auf der Website der Universität..." Mein Magen verkrampfte sich, ich schluckte, aber der Rest des Satzes passte einfach nicht mehr zwischen meinen Zähnen hervor. Ich stieß einen heftigen, flachen Atemzug aus, der kaum meine Lungen füllte. Innerhalb von Sekunden hatte ich das Gefühl, zu ersticken, aber ich durfte meine Angst nicht zeigen. Nicht zeigen, dass ich ertrank in einer heftigen Welle aus Panik. Als ich aufstand, wollte mein Oberkörper nach vorne kippen wie ein Kreisel und ich konnte ihn nur mit Macht zurück in die Senkrechte kämpfen. Nur nichts anmerken lassen. Es geht mir gut, lächelte ich alle an. Aber dieser bittere Geschmack auf der Zunge... Diese schwarzen Flecken, die vor meinen Augen tanzten... "Entschuldigt." Stolpernd, gegen die Löcher in meinem Sichtfeld ankämpfend, die den Weg zum Badezimmer zu einem Mienenfeld machten, torkelte ich den Flur hinunter. In der Toilette schloss ich hastig die Tür ab und dann klappten mir die Beine weg. Zitternd krümmte ich mich in Embryonalstellung zusammen, die Lippen zu einem stummen Schrei geöffnet in der Hoffnung, die Übelkeit würde aus meinem Körper kriechen wie eine Made. Ein weiteres Würgen beförderte zumindest ein bisschen Kuchen zurück ans Tageslicht, aber das flaue Gefühl blieb. Irgendwie hatte ich es geschafft, zur Toilette zu kriechen und jetzt umklammerte ich die Schüssel, wimmerte und wünschte, einfach hier bleiben zu können, aber irgendwann klopfte es an der Tür und die Stimme meiner Großmutter war zu hören: "Ist alles in Ordnung, Liebes?" "J-Ja, ich... Ich habe glaube ich zu viel Kuchen gegessen." Ein leises, gutmütiges Lachen, das mich ein wenig beruhigte, war die Antwort. "Oh weh. Aber ich bin auch sehr voll - Du kannst gut backen, Sasuke. Das hast du von Mikoto." Bei der Erwähnung meiner Mutter krampfte mein Magen nochmal, aber ich konnte mich nicht mehr erbrechen, weil ich nichts mehr im Bauch hatte. Ich war leer gepumpt bis auf die Übelkeit. Ich wartete, bis der Würgreflex nachgelassen hatte, dann rappelte ich mich umständlich auf. Angewidert von mir selbst bemühte ich mich, hastig mein Erbrochenes aufzuwischen und das Fenster zu öffnen, damit sie nichts von meinem Ausbruch bemerken würde. "Danke, Großmutter. Ich komme in einer Minute. Bitte entschuldige die Aufregung." "Du bist ein junges Mädchen, da passiert so etwas, mach dir keine Gedanken. Du bist sowieso viel zu steif für dein Alter.", beruhigte die alte Dame mich freundlich, immer noch mit der Tür zwischen uns. Meiner Bitte zu gehen kam sie jedoch nicht nach. "Aber sag... Hatte das eben etwas mit deinen Noten zu tun? Bist du unzufrieden, Liebes?" Es machte mir Angst, dass sie mich sofort verstanden hatte. Ich klammerte die Finger um das Waschbecken, an dem ich mich gerade frisch gemacht hatte, bis meine Haut an den Knöcheln so bleich war wie das Porzellan. "Ich... Ich habe eine 2,2 in einer Klausur." "Oh, das ist sehr gut!" Sie klang ehrlich erfreut, aber auch etwas besorgt. "Und in den anderen Fächern? Hast du eine schlechte Note?" Ich sah wieder halbwegs vorzeigbar aus - Zumindest auch nicht schlechter als vorher, und nach einer hastigen Reinigung mit der Zahnbürste roch ich wohl auch nicht mehr nach Erbrochenem - Und zog die Badezimmertür auf, um dem besorgten Blick der alten Frau zu begegnen. "Nein. Die anderen Noten sind Einsen." "Meine Güte, wirklich? Das ist ja hervorragend! Fugaku wird außer sich sein vor Stolz!" Ich nickte; Außer sich würde er sicher sein, aber eher vor Zorn. Trotzdem war ich dankbar für den ehrlichen Stolz, den ich für diesen einen Moment empfing. Scheinbar spürte meine Großmutter meine Zweifel, denn sie nahm mich in den Arm. Ich war verwirrt und verkrampfte mich völlig, denn solche Zuneigungsbekundungen waren in unserer Familie nicht üblich. Das höchste der Gefühle war es normalerweise, sich flüchtig am Arm zu berühren, aber eine richtige Umarmung war mehr als nur ungewöhnlich und ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte, also ließ ich sie einfach steif über mich ergehen. Als sie mich schließlich losließ, lächelte meine Großmutter warm. "Du darfst dich nicht kaputt machen lassen, Sasuke. Es ist schwer, eine Uchiha zu sein, denn die Männer werden immer auf dich herabblicken, gleichzeitig aber dieselben Leistungen von dir erwarten, die einer von ihnen bringt. Du wirst härter arbeiten müssen als jeder andere, vor allem, weil dein Bruder so erfolgreich ist, um Anerkennung zu bekommen. Aber du musst wissen, dass du eine starke Frau geworden bist und deine Sache gut machst. Ich bin sehr stolz auf dich, mein Liebes. Und ich weiß, dass meine Schwiegertochter es auch gewesen wäre." Entgegen dem Klischee hatten die beiden Frauen ein gutes Verhältnis zueinander gehabt, da sie beide die Marotten der Uchiha-Männer kannten, und dieselbe Zuneigung wie damals Mikoto brachte Mana Uchiha jetzt auch mir, ihrer Enkelin, entgegen. Ich empfand das als große Ehre und verbeugte mich vor ihr, als ich "Danke.", hauchte. Vermutlich wusste sie gar nicht, wie viel Kraft sie mir mit diesen wenigen Worten der Unterstützung geschenkt hatte. Gemeinsam kehrten wir zum Rest der Familie zurück wo ich die erwartete Reaktion meines Vaters erlebte. Dennoch fiel es mir nach der Ermutigung meiner Großmutter leichter, meine Versagensängste zu ertragen. Meine zweite Großmutter war merklich besorgt wegen meiner Abwesenheit und fragte, was denn der Grund dafür gewesen sein könnte, aber ich wollte nicht darüber reden. Ich jammerte nicht gerne und es war mir schon peinlich, dass Mana mich so zerstreut erlebt hatte. Zum Glück schaffte ich es, nach kurzem Gespräch über meine Klausuren und Noten das Thema von mir abzulenken und mich den Rest des Nachmittages in die Gastgeber-Pflichten zu stürzen. Nach dem sonst unspektakulären Familientreffen zog mein Vater sich wieder in sein Büro zurück und ich entledigte mich so schnell wie möglich dieses unsäglichen Kleides, sobald Itachi und ich aufgeräumt hatten. Am liebsten hätte ich es zerschnitten, aber das ging natürlich nicht, also würde ich es vielleicht der Wohlfahrt spenden. Oder ich fand eine Kommilitonin, der das gute Stück besser gefiel als mir, immerhin war es ein teures Markenkleid. Als ich gerade meine Schwimmsachen einpackte, kam mir eine noch bessere Idee und ich stopfte den Stofffetzen in meine Tasche. Itachi war noch mal zur Arbeit gefahren, deshalb gelangte ich unbehelligt außer Haus und von dort zur S-Bahnstation. Ich hatte große Kopfhörer übergestreift, deshalb hörte ich es nicht, aber dem Tag troff der Sommer mit Vogelgezwitscher, Grillengezirpe und Gelächter förmlich aus allen Poren. Die Hitze veranlasste die Frauen dazu, sich in unverschämt kurze Röcke zu zwängen und die Männer plusterten sich vor Testosteron förmlich auf wie eine Taube im Wind. Ich ignorierte dieses sommerliche Treiben, indem ich aus dem Fenster der Bahn in das tiefe, wolkenlose Babyblau des Himmels stierte und mich den Träumereien an Augen von derselben Farbe und Wärme hingab. Er hatte tatsächlich nicht angerufen. Ich wusste nicht, ob ich deswegen erleichtert oder enttäuscht war, aber ich schaffte es nicht, nicht mehr an ihn zu denken. Ja, ich vermisste ihn, ein Gefühl, das mir nicht allzu vertraut war. Die einzige, die ich mir sonst an meine Seite wünschte, war meine Mutter, und das war etwas anderes, schließlich hatte ich sie nie gekannt. Ich versuchte, an keinen der beiden zu denken, aber das war etwa wie mit dem berühmten rosanen Elefanten; Je mehr ich sie zu verdrängen suchte, desto stärker drängten sie sich in mein Bewusstsein, wie ein Schmerz ganz hinten in meinem Kopf, ein Ziepen, gegen das keine Aspirin half. Ich hatte doch gewusst, warum ich versucht hatte, ihn auf Abstand zu halten. Genervt von mir selbst seufzte ich, aber ich war ja selbst schuld und würde jetzt damit leben müssen, so lange es dauerte. Zumindest war ich überzeugt davon, dass diese Schwärmerei nicht allzu lange halten würde. Wieso sollte sie auch? Ich kannte ihn schließlich gerade mal einen Monat. Als ich aus der Bahn stieg, setzte ich eine tiefschwarze Sonnenbrille auf und vergrub die Hände in den Taschen meiner dunklen Bermuda-Shorts. Zumindest beachtete mich so niemand. Die Badeanstalt, die ich regelmäßig besuchte, lag in der Nähe der Uni, aber ich vermied es, die Lehranstalt zu betreten, nahm dafür sogar einen Umweg in Kauf. Das Campus-Café hatte nämlich auf und ich traute meinen Füßen zu, dass es ihnen einfallen würde, vielleicht dort vorbei zu laufen gegen meinen Willen. Das Bad war ein kleiner, hässlicher Betonklotz mit schmutzigen Fenstern. Es waren nie viele Leute dort und die, die kamen, taten das meist kein zweites Mal. Heute saß eine ältere Frau mit einem Groschenroman an der Kasse, die kaum von ihrem Buch aufblickte, als ich herein kam. Ich glaube, sie war die Frau des Besitzers, denn die Angestellten hielten es normalerweise kaum länger hier aus als die Badegäste, aber sie sah ich schon, seit ich hierher kam, was immerhin auch schon fünf Jahre waren. Zwischen uns herrschte eine Art stummer Wettbewerb, wer länger in dieses Loch zurückkehren würde, und ich war mir des Sieges recht gewiss; Sie rauchte viel, was ihr einen ungesund bellenden Husten beschert hatte, der sie auch jetzt, als sie meine drei Euro Eintrittsgeld in die fast leere Kasse legte, durchschüttelte. Anfangs hatte ich ihr ein paar Mal Hilfe angeboten, aber die hatte sie jedes Mal mit einem eisigen Blick abgelehnt, sodass ich mich jetzt ohne ein Wort abwandte und zu den Umkleiden ging. Mittlerweile war ich der Meinung, dass jeder für sich selbst verantwortlich war, also ließ ich die Frau in Ruhe. Trotz des etwas schmuddeligen Ambientes waren die Böden, Umkleiden, Duschen und auch das Badebecken selbst sehr sauber, sonst wäre ich wohl nie wieder hergekommen. Trotzdem widerstrebte es mir, meine Sneakers auszuziehen und es wurde nicht besser, als ich mich dem Rest meiner Kleidung zuwandte. Ein Grund, aus dem ich immer wieder kam, war, dass hier so wenige Leute waren. Obwohl ich nämlich wirklich gerne schwamm, stieß mich die Nacktheit dabei ab und fast schon beneidete ich islamische Frauen, die in einem verhüllenden Burkini ans Wasser gehen konnten. Ich zog mir rasch einen schwarzen Badeanzug an und darüber knielange Badehosen und kam mir trotzdem nackt vor. Dass andere Frauen in meinem Alter sich in kaum mehr als einem Streifen Elastan an den Stränden präsentierten war mir schleierhaft, aber das gehörte wohl zum Paarungstanz des modernen Menschen. Ich zog die lindgrüne Scheußlichkeit aus der Tasche und warf ihr einen letzten angewiderten Blick zu, bevor ich sie sorgfältig in der Umkleide drapierte, damit jemand sie mitnehmen konnte. Wegschmeißen wollte ich das Kleid einfach nicht, weil es, wie gesagt, bestimmt teuer gewesen war. Hier würde zwar niemand vorbei kommen, der das würdigen konnte, aber das war mir dann auch egal. Zufrieden mit meiner Arbeit schlüpfte ich in Badelatschen, räumte meine Tasche in einen dafür vorgesehenen Spind und ging zu den Schwimmbecken, froh, mit diesem kleinen Kapitel abgeschlossen zu haben. Ich würde einfach sagen, ich hätte das Kleid nicht mit meinen nassen Haaren ruinieren wollen und dann sei es liegen geblieben. Als ich es gesucht hätte, wäre es unglücklicher Weise schon weg gewesen. Natürlich würde Itachi sauer sein und mein Vater würde mich als schludriges, gedankenloses Ding beschimpfen, aber das war mir egal. Besser, als noch einen zweiten Nachmittag in dieser Aufmachung zu zubringen. Heute war außer mir nur ein Mann da, der mir zunickte und weiter seine Bahnen zog. Es wäre mir lieber gewesen, ganz alleine zu sein, aber da konnte man eben nichts machen, also räumte ich meine Tasche auf eine Liege und begab mich zum Beckenrand, wo ich mit den Zehen die Wassertemperatur checkte. Ich warf dem Fremden einen Blick zu, der ihn hoffentlich von zum Scheitern verurteilten Smalltalk-Versuchen abhalten würde, dann entkam ich mit einem technisch perfekten Hechtsprung ins Wasser. Ich blieb am Grund des Beckens sitzen und dachte darüber nach, ob es sich überhaupt lohnte, aufzutauchen. Bis zu meinem vierzehnten Geburtstag war ich in einer Schwimmer-Mannschaft und für mein Alter sehr gut gewesen, aber jetzt betrieb ich den Sport aus Gewohnheit und um aus dem Haus zu kommen. Das hieß, es gab keine Mannschaft, die mich unerwünscht aus dem Wasser ziehen würde. Vielleicht würde mir der fremde Mann, wenn ich ohnmächtig an der Oberfläche triebe, den Gefallen tun und mich ertrinken lassen. Gerade, als ich anfing zu schwindeln, überkam mich die Feigheit und ich stieß mich kraftvoll vom Beckenboden ab. Der andere Badegast beobachtete mich, aber ich beachtete ihn nicht, sondern zog in gleichmäßigen Kraulzügen meine Bahnen durch das Wasser. Vielleicht hätte ich ihn fragen sollen, was sein Problem war, aber auch dazu war ich zu feige; Was, wenn er mich oder jemanden aus meiner Familie kannte? Ich war zu gut erzogen, um ihn zu beleidigen, also ignorierte ich ihn, das half meistens genauso gut. Aber nicht immer, wie ein recht aktuelles Beispiel gezeigt hatte. Allerdings hatte ich es nicht geschafft, diesen besonderen Fall konsequent zu ignorieren, dazu war sein Charakter zu laut und schillernd. Ich glaube, er hat sogar noch versucht, sich mir gegenüber bedeckt zu halten, um mich nicht zu verschrecken mit seiner Zuneigung, aber sie war trotzdem mehr als offensichtlich in jeden seiner Blicke geschrieben gewesen. Der Gedanken ließ ein Lächeln auf meine Lippen treten, das ich jedoch sofort runter schluckte. Das war nicht der Ort für romantische Schwärmereien. So einen Ort gab es gar nicht. Immerhin hatte er trotz aller anfänglichen Beharrlichkeit aufgehört, anzurufen. Es war ihm zu anstrengend geworden oder er hatte endlich gesehen, dass ich diesen Aufwand gar nicht wert war. Andererseits hätte er, wenn das der Fall gewesen wäre, einfach aufgehört, sich um mich zu bemühen. Stattdessen hatte er angekündigt, mir nicht mehr lästig sein zu wollen und gesagt, ich solle mich melden. Das hatte ich nicht getan, weil heftige Angst vor Zurückweisung und mein Stolz mich gehindert hatten. Was, wenn er es sich anders überlegt hatte? Wenn ihm aufgefallen war, dass er in der ganzen Zeit unserer Bekanntschaft immer nur mir nachgelaufen war und es dafür eigentlich gar keinen Grund gab? Nein, er musste anrufen oder es wäre mir auch egal. Dass das eine Lüge gegen mich selbst war, war mir klar. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er seine Ankündigung wahr machen würde, ihm höchstens eine Woche gegeben, bis er wieder anrufen würde, aber bald wären es drei Wochen und ich hatte noch immer nichts von Naruto gehört. Dass ich überhaupt noch an ihn dachte - Und ihn wie gesagt vermisste - War kein gutes Zeichen. Inzwischen spielte ich sogar schon mit dem Gedanken, ihn tatsächlich selbst anzurufen und hatte mich nur mit der Ermahnung davon abhalten können, dass er inzwischen sicher froh war, mich los zu sein. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich erst mit einem Schlag merkte, dass mich die Kräfte verließen. Mein Rhythmus kam durcheinander, als ich ein, zwei schwächliche Züge machte, dann hatte ich meine Konzentration zurück und schwamm zum Beckenrand. Mühsam zog ich mich aus dem Wasser und sah mich nach meinem Handtuch um. Auf dem Weg zu meiner Liege besah ich angewidert meine Finger. Ich mochte es, zu Schwimmen, aber auf die schrumpelige Haut danach hätte ich verzichten können, denn ich hasste es, damit irgendetwas anzufassen. Vielleicht wollte ich mich mit diesem Widerwillen aber auch nur von der Schlussfolgerung ablenken, die meine Grübelei mir gebracht hatte. Denn ich vermisste ihn und genoss dieses Gefühl sogar, aber noch mehr hatte ich seine Nähe genossen. Und da er sich an sein Versprechen halten zu wollen schien, würde mir nichts anderes übrig bleiben, als ihn anzurufen. Wie lästig. In der Dusche und auch noch draußen überlegte ich, was ich sagen sollte und ob ich das tatsächlich tun wollte. Ich könnte mich nach seinen Noten erkundigen, die müssten langsam eintrudeln und immerhin hatte ich an ihnen einen nicht unerheblichen Anteil. Ich war in Gedanken so sehr mit Naruto beschäftigt, dass ich nicht mal mehr in Panik über meine eigenen Zensuren versinken konnte. Zufällig kam ich wieder in dieselbe Kabine, die ich schon zuvor genutzt hatte, was ich an dem grünen Kleid erkannte, das noch da hing. Ob es meinem blauäugigen Teilzeit-Nachhilfeschüler wohl gefallen hätte, überlegte ich, während ich mich anzog. Aber vermutlich hätte es das, immerhin hatte ich ihm sogar in meinen unauffälligen normalen Klamotten gefallen. Ich warf der grünen Monstrosität nicht mal einen letzten Blick zu, als ich zum Ausgang der Badeanstalt schlenderte, die Hoffnung im Herzen, das Kleid nie wieder zu sehen. Ich war schon auf dem Heimweg, als ich mitten auf der vollen, von sommerlich-leicht bekleideten Leuten bevölkerten Straße stehen blieb. Eigentlich wollte ich gar nicht nach Hause; Dort warteten nur Berge von Abwasch, die meine Mitbewohner sicher nicht weggeräumt hatten. Mein Blick wanderte zu einer Seitenstraße, die, wie ich wusste, zum Büchercafé führte. Gebäck wollte ich keines; Meine Familie hatte mir den Appetit verdorben, indem sie lieber den gekauften Kuchen, den Itachi mitgebracht hatte, gegessen hatte als meinen selbstgemachten. Aber ein Eistee wäre genau das Richtige. Natürlich sollte ich lieber meine Hausarbeit machen und mich auf mein Praktikum am Montag vorbereiten und mein Pflichtgefühl machte mir die Lösungsfindung nicht leicht. So ging ich ein paar Mal unentschlossen hin und her, bis ich mich schließlich für das Café entschied. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und ärgerte mich darüber, schließlich hatte ich alles für den Verwandtschaftsbesuch alleine vorbereitet und somit meine Pflicht bereits mehr als erfüllt. Schon von draußen sah man, dass es in dem Lokal sehr warm sein musste; Staub flirrte in der dunkelbraunen Luft und jeder andere hätte sich lieber mit einem Eis an einen See gesetzt. Genau das war letztendlich der Grund, aus dem ich die Klinke nach unten drückte. Ich wollte alleine sein. Nachdenken. Ich sah mich um, bis ich Akira, den Kellner, entdeckte, der gerade die Treppe runter kam. Er war ganz in Ordnung, vor allem, weil er, obwohl er offensichtlich einen Narren an mir gefressen hatte, nicht ständig versuchte, mich anzugraben. Ein spendierter Tee oder kostenloses Gebäck waren die einzigen Beweise seiner Zuneigung und diese Gunstbeweise nahm ich mit schweigsamer Dankbarkeit an. Schließlich könnte das genauso gut Aufmerksamkeiten an einen Stammgast sein. Heute begrüßte er mich jedoch nicht mit der üblichen, leise glühenden Bewunderung, sondern mit einer Art trotziger Distanz, fast so, als hätte ich ihn enttäuscht, was mich verwirrte, weil ich schon eine Weile nicht mehr hier gewesen war. "Hallo.", schmollte er widerstrebend. "Hi." Ich war versucht, ihn nach dem Grund für seine Laune zu fragen, ließ es dann aber doch bleiben. Es ging mich ja auch nichts an. Scheinbar fiel Akira ein, dass er trotz schlechter Stimmung immer noch zu arbeiten hatte, denn er fragte, was ich denn wollte. "Minz-Eistee. Kannst du ihn mir rauf bringen?" "Ne-Nein.", stammelte er und ich blieb, schon auf dem Weg zur Treppe, verwirrt stehen, um ihn fragend anzusehen. Sein Blick hetzte hin und her, sein Kopf lief rot an und er rang um Worte, bis sie schließlich aus ihm herauspurzelten: "Heiß. Oben ist es so heiß und... Setzt dich doch hier hin und... Oder draußen..." Leicht verärgert runzelte ich die Stirn. Wahrscheinlich hatte die Wärme schon sein Hirn angegriffen. "Ich sitze oben.", betonte ich bemüht gelassen. "Und ich hätte gerne einen Eistee gegen die Hitze, von der du sprichst." "Ich... Oh, ja, wie du meinst. Ich bring ihn dir gleich." Ohne weiter auf den Zwischenfall einzugehen, stieg ich die enge Wendeltreppe hoch, wo ich kurz zu dem hohen Milchglasfenster blickte, durch das Wärme von draußen, aber kaum Licht einfiel. Es war die optimale Umgebung für Bücher. Ich nahm mir eines meiner Lieblingsbücher aus dem Regal und wollte mich damit in die übliche Ecke setzen. Diese lag hinter einer der Trennwände und so kam es, dass ich durch die Lücken zwischen den literarischen Werken, die darin aneinander gereiht waren, sah, dass der Platz schon belegt war. Das Gesicht der Person konnte ich nicht sehen, aber dafür einen ganzen Wust von kurzem, honigblondem Haar. Also vermutlich ein Mann. Eine Weile blieb ich stehen, in der unbestimmten Hoffnung, der Eindringling würde gehen, aber dann akzeptierte ich, dass das nicht passieren würde. Ich seufzte und wollte mit einem verärgerten Blick an ihm vorbei, doch als ich sein Gesicht sah, blieb ich abrupt stehen. Fast hätte ich gelacht; Ich hatte also doch Recht gehabt mit meiner Vermutung, er würde sein Versprechen nicht halten können. Wie schon bei unserer ersten Begegnung glotzte er mich eine Sekunde lang an wie zurückgeblieben bevor er stolpernd auf die Beine kam und sich nutzloserweise das Haar glatt strich. Seine Mähne sträubte sich schon unter seinen Fingern in alle Richtungen und ich spürte ein Lächeln in mir aufsteigen, das ich mit einem Seufzen zurück in meinen Bauch verbannte. Es war schon lustig. Noch vor fünf Minuten hatte ich ihn mir so sehr her gewünscht, dass ich ernsthaft überlegt hatte, ihn anzurufen, und jetzt, wo er hier war, war es mir bereits zu viel. Nun, zumindest wusste ich jetzt, was Akiras Problem gewesen war; Eifersucht. Denn er hatte vom ersten Moment an erkannt, dass diese aufdringliche Nervensäge hier ernsthafte Konkurrenz für seine stille Bewunderung darstellte. "Hallo, Sasuke.", sagte Naruto ungewöhnlich ruhig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)