Where the arrow hits von Flordelis ================================================================================ Starting the Quest: The Archer and the Beast -------------------------------------------- Der Regen hatte eingesetzt, kurz nachdem er St. Maria's verlassen hatte und inzwischen war er vollkommen duchnässt. Für kurze Zeit hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich unter einer Brücke auf der Rice Street unterzustellen. Aber als er sich dieser genähert hatte, war ihm ein sich bewegender Schatten aufgefallen, ein Weeping Bat, wie er jene Wesen nannte, die er zuerst in der Mine getroffen hatte. Auch wenn es ihm, rein logisch gesehen, durchaus möglich wäre, dagegen zu kämpfen, wollte er das in seinem derzeitigen Zustand lieber vermeiden. Die Axt in seinen Händen wurde bereits immer schwerer und seine Schritte stetig langsamer, während er die Rice Street hinunterlief. Von seinen Kämpfen in St. Maria's hatte er eine Wunde auf seiner rechten Wange zurückbehalten, die zwar nicht mehr blutete, aber immer noch einen pochenden Schmerz aussandte. Außerdem schien ihm ein Sturm aufzukommen, in der Ferne hörte er bereits das Donnergrollen. Während eines Gewitters wirkten die auf den Straßen umherstreifenden Gestalten wesentlich aggressiver, wie ihm bereits aufgefallen war. Deswegen, so schloss er, wäre es wohl schlauer, sich erst einmal in einem Haus in Sicherheit zu bringen, einen Erste-Hilfe-Kasten zu suchen und sich auszuruhen. Er war zwar nicht mehr weit von den Piers entfernt, wo Ricks' Boot liegen sollte – sofern er der Karte trauen durfte – aber eine kurze Pause, die dann garantierte, dass er es auch wirklich dorthin schaffte, würde er sich durchaus erlauben können. Dabei fragte er sich, warum er immer noch von dieser Stadt festgehalten wurde, was diese Wesen noch von ihm wollten. Er hatte eingesehen, falsch gehandelt zu haben, was Napier anging und dass er Charlie auf diese Weise nie zurückbekommen würde. Er war mit sich selbst im Reinen, er war der Bogeyman gewesen – aber das war nun vorbei. Was wollte diese Stadt noch von ihm? In der Ferne hörte er bereits das Schreien eines Screamers, als er sich entschied, das Haus am Ende der Straße aufzusuchen. Dabei folgte er lediglich einem Gefühl, statt einer ausführlichen Inspektion von außen. Wie erwartet war der, aus dunklem Holz gefertigte, Eingangsflur leer, abgesehen von einigen losen Blättern, die auf dem Boden verteilt lagen. Die Blumen in der Vase, direkt neben der Eingangstür, waren verwelkt, wie auch alle andere, die er bislang in den verschiedenen Häusern gesehen hatte. Eine Treppe führte nach oben, recht gab es einen Raum und geradeaus, den Flur hinab, existierte auch noch eine Tür. Den Gang in die Küche könnte er sich sparen. Alle Lebensmittel, die er bislang in dieser Stadt gesehen hatte, waren verdorben, nicht mehr zu genießen und auf eine Lebensmittelvergiftung konnte er gut verzichten. Im Wohnzimmer – er schätzte, dass die rechte Tür dorthin führte – wollte er sich auch nicht ausruhen. Im Erdgeschoss könnten die Wesen auf den Straßen ihn durch das Fenster sehen und versuchen, das Haus zu stürmen, solange es noch gewitterte. Der Regen prasselte gut hörbar gegen das Fenster, es würde also noch eine ganze Weile so weitergehen. Er ging die Treppe hinauf, hörte das Knarren der Stufen unter seinen Schritten, dachte sich aber nichts dabei. Bislang war er in jedem Wohnhaus allein gewesen und er sah keinen Grund zur Annahme, dass sich das jemals ändern sollte. Im ersten Stock fand er ein Badezimmer, in dem sich auch ein Erste-Hilfe-Kasten befand. Diesen nutzte er sofort, um die Wunde in seinem Gesicht zu reinigen und zu desinfizieren. Auf einen Verband verzichtete er vorerst. Stattdessen betrachtete er sie im fleckigen Spiegel des kleinen Bads. „Tss, schmerzt weniger als ein Schnitt mit einem Rasierer“, brummte er. Er nahm die Axt, die er zwischendurch gegen die Badewanne gelehnt hatte, und trat wieder auf den Flur hinaus. Der obere war enger als der im Erdgeschoss, zwei weitere Türen waren noch zu sehen. Hinter einer von ihnen musste das Schlafzimmer sein und darin gab es sicher ein Bett, auf dem er sich für kurze Zeit ausruhen könnte. Obwohl ihm auch ein Sofa genügen würde, die Hauptsache war lediglich, dass er für eine Weile liegen könnte. Jedenfalls bis das Gewitter aufhörte. Im selben Moment, als wolle jemand ihn daran erinnern, dass draußen immer noch ein Unwetter tobte, erleuchtete ein heller Blitz durch die Fenster das Innere des Hauses. Nur wenige Sekunden danach grollte ein aggressiver Donner, der schon viel mehr an einen Erdrutsch erinnerte. „Das wird wohl noch eine Weile anhalten“, murmelte er. In der Einsamkeit, in der er unterwegs war, nur unterbrochen von kurzen, oft zufälligen Begegnungen mit anderen Menschen, war es tröstlich, hin und wieder zumindest seine eigene Stimme zu hören. Da er sich vollkommen allein wähnte, öffnete er arglos die nächste Tür, die ihn allerdings, zu seiner Enttäuschung, nicht in ein Schlafzimmer führte, nicht einmal in einen Raum mit einem Sofa. Gleichzeitig verspürte er eine gewisse Ernüchterung, als er wieder einmal feststellte, dass die Bewohner dieser Stadt allesamt ein wenig seltsam sein mussten. Dies war nicht das erste Haus, in dem er etwas vorfand, das darauf hinwies, dass der Besitzer auf der fanatischen Suche nach irgendetwas gewesen war. Hier war eine Karte der Stadt mehrfach vergrößert und an die Wand gepinnt worden. An einem Steg, in der Nähe des Hauses, war ein Pfeil aus Papier befestigt, der irgendetwas ausdrücken sollte. Aber allein vom Anstarren konnte er es nicht sagen. Als er sich weiter umsah, entdeckte er ein aufgeschlagenes Buch auf dem Tisch. Es musste sich um ein Kinderbuch handeln, wie er feststellte, als er es genauer betrachtete. Auf der einen Seite befand sich die Schwarz-Weiß-Zeichnung eines Bogenschützen, der mit angelegtem Pfeil einer echsenartigen Bestie gegenüberstand. Auf der anderen Seite war der Text dazu vorhanden. Seiner Erfahrung nach hatte es immer etwas zu bedeuten, wenn er so etwas in der Stadt fand. Er hatte schon einige Umwege für derartige Sachen in Kauf genommen und es nie bereut, deswegen vertiefte er sich rasch in den Text, um mehr darüber herauszufinden. Als er das hörte, sagte der mit Pfeil und Bogen bewaffnete Jäger: "Ich werde die Eidechse töten." Aber als er mit seinem Gegner zusammentraf, schrak er zurück und sagte spöttisch: "Wer fürchtet ein Reptil?" Daraufhin zischte die wütende Eidechse: "Ich werde dich mit einem einzigen Bissen verschlingen!" Dann griff die riesige Kreatur mit aufgerissenem Maul an. Genau das wollte der Mann. Ruhig seinen Bogen spannend, schoß er in das weit aufklaffende Maul der Eidechse. Mühelos flog der Pfeil, den schutzlosen Rachen durchbohrend, und die Eidechse fiel tot zu Boden. Das brachte ihn nicht wirklich weiter. Fast war er davon überzeugt, dass die Existenz dieses Buches eigentlich keine weitere Bedeutung in sich trug. Auch wenn das sämtliche Regeln der Stadt brach. Aber vielleicht irrte er sich auch und es gab keine Regeln. „Hmpf“, sagte er leise, um sich selbst davon zu überzeugen, dass alles nur Schwachsinn war. „Als ob eine Stadt Regeln hätte. Ich drehe wahrscheinlich nur durch.“ Als hinter ihm ein Knarren erklang, fuhr er herum, die Axt bereits im Anschlag – doch er sah sich keinem Monster gegenüber, sondern einem normalen Menschen, der in der Tür stand. Das schmutzig-blonde Haar des fremden Mannes, das bis zu seinem Nacken reichte, war sorgsam gekämmt worden, die grauen Augen glitzerten hinter einer Brille, die aus einem dünnen, silbernen Rahmen bestand. Seine Kleidung bestand aus einer schwarzen Stoffhose und einem einfachen weißen Hemd. Er sah weder so aus, als sei er im immer noch anhaltenden Regen gewesen, noch als wäre er in einen Kampf verstrickt gewesen, also musste er sich irgendwo im Haus befunden haben. „Sorry, ich wusste nicht, dass hier noch jemand ist. Ist das Ihr Haus?“ Der Fremde nickte bedächtig, den Blick auf die Axt gerichtet, die er rasch sinken ließ. Dann erst kam der andere näher und reichte ihm sogar die Hand. „Fletcher, Art Fletcher.“ „Murphy Pendleton“, erwiderte er knapp, ohne ihm ebenfalls die Hand zu reichen. Schließlich ließ Fletcher seine wieder sinken. Er ging um Murphy herum. „Ich habe Sie noch nie in der Stadt gesehen, Mr Pendleton.“ „Mir scheint, die Stadt ist groß genug, dass man sich hier nicht über den Weg laufen muss.“ „Das ist allerdings wahr.“ Mit gemächlichen Schritten kam Fletcher schließlich bei der Karte an. Er warf einen kurzen Blick darauf, dann fuhr er zu Murphy herum. „In letzter Zeit ist es aber ein wenig einsam, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben. Was führt Sie in unsere schöne Stadt?“ Murphy runzelte die Stirn, beobachtete jede Bewegung von Fletcher genau, ehe er die Frage beantwortete. Er hätte erwartet, dass der andere ihn eher fragen würde, wie er ins Haus gekommen war und was er hier wollte. Da das noch nicht geschehen war und er sich ihm gegenüber sogar derart freundlich verhielt, empfand er als ungutes Zeichen. Außerdem waren alle Menschen, die er bislang in dieser Stadt getroffen hatte, eigentlich eher … gestört. Oder zumindest irgendwie seltsam und geheimnisvoll, wenn er an Howard zurückdachte. Wo der Postbote wohl gerade war? Sollte er Fletcher nach ihm fragen? Nein, besser nicht, er konnte diesen Mann vor sich immerhin nicht einschätzen. Schließlich antwortete er aber noch auf Fletchers Frage: „Eigentlich bin ich nur durch Zufall hier gelandet und suche grad den Weg nach draußen. Ich wollte mich nur kurz ausruhen.“ Immerhin war er durch die ganze verdammte Stadt gelaufen, mit kaum einer Pause dazwischen. War es da so verwunderlich, dass er sich erschöpft fühlte? Fletcher lächelte daraufhin, jedenfalls verzog er seine Lippen zu etwas, das wohl ein Lächeln darstellen sollte, ihm aber mehr wie eine Grimasse anmutete. „Mi casa es su casa, Mr Pendleton.“ Murphy zog die Brauen zusammen, nickte aber nur, statt etwas darauf zu sagen. Lieber deutete er auf die Karte. „Haben Sie vor, da ein Haus zu bauen?“ Fletcher lachte amüsiert, ein Laut, der klang, als würde jemand Nägel über eine Tafel ziehen. „Nein, ich suche nach etwas, genau wie Sie. Nur suche ich nicht den Weg nach draußen, sondern einen Weg tiefer hinein.“ Er breitete die Arme aus. „Diese Stadt ist ein ganz außergewöhnlicher Ort.“ „Das habe ich auch schon bemerkt“, kommentierte Murphy abfällig. Fletcher beachtete ihn gar nicht erst und fuhr einfach fort: „Aber im Kern dieser Stadt gibt es wundervolle Dinge zu entdecken.“ Murphy bereute bereits, sich ausgerechnet dieses Haus ausgesucht zu haben. Ein anderes wäre vermutlich sicherer gewesen. Er wollte sich gerade umdrehen, als Fletcher ihn direkt ansprach: „Mr Pendleton! Wäre Ihnen nicht auch daran gelegen, einen Schatz zu finden?“ Abwehrend hob Murphy die Hände. „Hören Sie, Mann, das einzige, was ich finden will, ist der Weg aus dieser Stadt hinaus. Ich verstehe ja, dass es ein Fehler war, hierher zu kommen, aber-“ „Ihnen wurde etwas Kostbares gestohlen, nicht wahr?“ „Was?“ Fletcher verschränkte die Arme vor der Brust und hob dann eine seiner Hände an sein Kinn. In dieser Haltung musterte er Murphy, der inzwischen die Hände sinken gelassen hatte, interessiert. „Also stimmt es. Oh, grämen Sie sich nicht, Mr Pendleton, man sagte mir schon oft eine gute Menschenkenntnis nach. Ein Blick – und ich weiß sofort, was es mit Menschen auf sich hat.“ Verrückt. Das war alles komplett verrückt. Aber dennoch konnte Murphy nicht den Blick abwenden und sah Fletcher immer noch an. Dabei sagte seine Vernunft, dass er ohne jedes weitere Wort dieses Haus verlassen und sich direkt zu den Piers begeben sollte, um das Boot zu besteigen. Aber Fletchers entschlossener Blick hielt ihn geradewegs gefangen. Das bemerkte der Mann offenbar, denn seine Mimik wurde wegen der Zufriedenheit ein wenig weicher. „Wenn Sie das, was Sie verloren haben, zurückhaben wollen, müssen Sie nur das Innerste dieses Ortes finden und die Prüfung bestehen.“ Murphy erschauerte bis ins Innerste. Der Gedanke, er könnte Charlie zurückbekommen, wenn er nur noch einmal einen Umweg machte, verhinderte, dass er an den Schlüssel in seiner Tasche und das Boot an den Piers dachte, das gerade nur auf ihn wartete. Eigentlich glaubte er nicht daran, dass irgendwer oder irgendwas Tote zurückholen könnte – aber wenn es möglich war, befand es sich eindeutig in dieser Stadt. „Ich sehe, Mr Pendleton, wir verstehen uns“, sagte Fletcher zufrieden lächelnd. „Sie gehen dort hinunter, bestehen die Prüfung und bringen mir den Schatz, der jeden Wunsch erfüllen kann. Dann bekommen Sie zurück, was Ihnen gestohlen wurde und ich auch.“ Aber sein Misstrauen war noch nicht gänzlich aus der Welt geschafft. „Warum gehen Sie nicht selbst?“ Fletcher ließ die Arme sinken und deutete an sich herab. „Sehe ich so aus, als könnte ich ein Ungetüm töten? Daraus besteht die Prüfung immerhin vermutlich.“ Tatsächlich wirkte er nicht im Mindesten wie ein Kämpfer gleich welcher Art. Nicht einmal wie jemand, der im Notfall einen Angreifer außer Gefecht setzen könnte, weil er gar nicht wusste, wie so etwas überhaupt funktionierte. Aber außer dieser Tatsache lockte Murphy die Aussicht, Charlie wiederzubekommen. Alles würde wieder gut werden, seine Welt würde sich weiterdrehen, wenn er erst einmal seinen Sohn wieder in den Armen halten könnte. Und dann würde er nie wieder zulassen, dass so etwas noch einmal geschah. Er fokussierte Fletcher. „Was muss ich tun?“ Als er wenig später am Steg hinter dem Haus stand, war das Gewitter vorbei. Wasser tropfte noch immer von den verdorrten Bäumen, das Holz des Stegs war nass und glitschig, weswegen er nur vorsichtig auftreten konnte. Der Wind fuhr ihm durch das Haar, während er auf den See hinausstarrte, der von Nebel umhüllt war. Das Wasser wirkte grau, trüb, alles andere als einladend und eigentlich gar nicht so, wie man sich das kühle Nass vorstellte. Auf Bildern wurde es immer blau oder grünlich dargestellt, niemals grau. Aber was jedes Gewässer gemeinsam hatte, war die Tatsache, dass, je tiefer man hinabstieg, es umso schwärzer wurde. Auch dieses hier. Aber laut der Markierung und laut Fletchers Aussage war er hier genau richtig. Auf dem Steg selbst wurde ihm das auch noch einmal bestätigt: Ein Pfeil war mit Kreide aufgemalt worden und er deutete direkt ins Wasser hinein. Nicht einmal der heftige Regen hatte ihn wegwaschen können und als Murphy versuchte, die Markierung zu verwischen, gelang ihm das nicht. Es war möglich, dass sie von Fletcher selbst erstellt worden war, wobei das nicht erklärte, wie er es schaffte, dass die Kreide sich nicht wegwischen ließ. Außerdem gab es für ihn keinen Grund, Murphy umbringen zu wollen – und dieser konnte noch dazu schwimmen. Selbst wenn er also umsonst ins Wasser springen würde, war er nicht automatisch verloren. Außerdem hatte er in dieser Stadt schon wesentlich schlimmere Dinge durchgestanden, als eine gemütliche Schwimmpartie. Noch einmal ließ er den Blick schweifen, direkt über den See und erinnerte sich dabei an den Tag, an dem Charlie starb, an dem er alles verloren hatte, was ihm in dieser Welt etwas bedeutete. Doch wenn er das hier tat, würde er Charlie wiedersehen, so oder so. Also atmete er noch einmal tief ein, dann machte er einen großen Schritt vorwärts und verließ den Steg. Im nächsten Augenblick schloss sich der Wasserspiegel bereits über ihm und die Schwerkraft zog ihn in die Tiefe, hinein in die Schwärze. Fulfilling the Quest: Illusion in Me ------------------------------------ Für lange Zeit kam es Murphy so vor, als ob er fiel. Um ihn herum existierte nur Dunkelheit. Aus weiter Ferne konnte er Stimmen hören, die er nicht kannte, die sich aber miteinander unterhielten, vielleicht über ihn, vielleicht über andere. Er konnte den Sinn der Worte nicht ausmachen, aber ihm blieb auch gar keine Zeit dafür. Gerade als er nämlich damit anfangen wollte, schien sein Fall zu enden. Er fand sich auf dem Boden wieder, umgeben von hohen schwarzen Mauern, an denen Wasser herunterlief. Allerdings war es kaum genug für den ganzen See, es war eher ein Plätschern, wie ruhige Bäche, die von einem schmelzenden Gletscher einen Berg herabrieselten. Als er den Kopf in den Nacken legte, bemerkte er, dass weit über ihm ebenfalls Wasser zu sehen war. Jedenfalls fiel das Sonnenlicht durch einen Wasserspiegel, der sanfte Wellen schlug. Er befand sich wirklich am Grunde des Sees – aber ohne all die Nachteile, wie fehlender Sauerstoff. Netterweise existierte direkt vor ihm ein Gang, der einzig verfügbare Weg, also folgte er diesem. Unter seinen Füßen befand sich ebenfalls eine seichte Wasserschicht, so dass jeder Schritt von einem leisen Plätschern begleitet war. Allerdings erklang keinerlei Echo. Das widersprach sich jedoch mit dem leisen Lachen, das von den Wänden widerzuhallen schien und das er eindeutig kannte. „Carol ...“ Hier unten hätte er nicht mit einem weiteren dieser Spielchen gerechnet und erst recht nicht mit Carol. War er seine Sünden nicht bereits losgeworden? Hatte er den Bogeyman nicht bereits getötet und seine Schuld gegenüber Charlie wieder wettgemacht? Warum musste er noch mehr davon durchleben? Seine Hand griff in seine Tasche und umfasste den Schlüssel in die Freiheit. Wäre er doch nur einfach weitergegangen oder hätte ein anderes Haus betreten … Aber, wie er bereits gelernt hatte, nichts geschah in dieser Stadt ohne Grund. Also gab es auch hierfür einen und ihm blieb nichts anderes übrig, als aus diesem Spiel ebenfalls wieder siegreich hervorzugehen. Der Gang mündete in einen weiteren Raum wie jenen zuvor, aber diesmal war er nicht leer. Er sah sich selbst, als er noch jünger gewesen war, und Carol, wie sie miteinander zu einer unhörbaren Melodie tanzten. Er erkannte die Szene wieder, es war ihre Hochzeit gewesen, nur ein kleines, bescheidenes Fest, mit wenigen Freunden, die inzwischen kein Wort mehr mit Murphy wechselten, die ihn nicht einmal mehr zu kennen schienen. Aber am wichtigsten war ihm ohnehin stets Carol gewesen. Sie lachte amüsiert, sie hatte ganz offensichtlich Spaß – und er fragte sich unwillkürlich, wann diese Zeit verlorengegangen war. War wirklich nur Charlies Tod daran schuld? Oder hatte er noch weitere Fehler begangen, die sich aufgetürmt hatten, bis Carol keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, sofern sie nicht von all diesem Ballast begraben werden wollte? Gerade als er das dachte, lösten die beiden Figuren sich auf, verschwanden in einem Glühen, als hätte man Feuer an ein Stück Kohle gelegt. Nur langsam setzte er seinen Weg fort, in Gedanken immer noch bei den tanzenden Figuren, die glücklich gewesen waren. Wo war dieses Glück hinverschwunden? War es am Ende doch nur noch Charlie gewesen, der sie beide zusammengehalten hatte? Sollte Charlies Tod ihm das vor Augen führen? „Wenn ich Charlie zurückbekomme“, murmelte er leise, „bekomme ich dann auch Carol zurück?“ Aber wollte er das überhaupt? Vielleicht war es besser, wenn er Charlie dann für sich behielt, sich mit ihm an einen Ort zurückzog, wo niemand sie beide kannte und er niemandem erklären müsste, wie ein toter Junge plötzlich wieder unter den Lebenden sein konnte. Vielleicht könnten sie sogar eine eigene KFZ-Werkstatt aufmachen … Bevor er sich in diese Gedanken verlieren konnte, erreichte er den nächsten Raum und blieb mit gerunzelter Stirn stehen. Vor ihm befanden sich zwei der Monster. Ein Screamer, wie er diese weiblichen Wesen aufgrund ihrer Angewohnheit, laut zu schreien, nannte, und ein Prisoner Minion, das, abgesehen, von seiner ungesund blassen Hautfarbe eigentlich jenen Gefängnisinsassen ähnelte, die gern für andere die Drecksarbeit erledigten. Sie standen sich gegenüber, fast so als wollten sie ebenfalls miteinander tanzen, so wie Murphy und Carol zuvor, das schmutzige Kleid des Screamers und das strähnige schwarze Haar bewegten sich sacht in einem nicht spürbaren Windhauch, also waren sie keine Statuen. Sie beobachtend, wartete er darauf, dass sie sich bewegten, sei es nun um wirklich zu tanzen oder ihn anzugreifen, aber sie blieben weiterhin vollkommen regungslos stehen, was ihn zu der Frage führte, ob er nicht einfach auch stehenbleiben könnte. Doch als wolle ihm die Stadt eine Antwort geben, spürte er, wie das Wasser stieg und ihm dabei unangenehm in die Schuhe lief. Ich sollte wohl mal weiter. Mit schnellen Schritten zog er an den beiden Kreaturen vorbei, die sich nach wie vor nicht rührten, als seien sie Statuen, die einzig zum Zweck der Ansehnlichkeit aufgebaut worden wären. Sofern man an ihnen denn etwas auch nur annähernd faszinierend finden könnte. Ein weiterer enger Gang folgte, das Wasser schien glücklicherweise nicht mehr zu steigen. Dafür hörte er wieder Carols Stimme, diesmal erzählte sie etwas, doch der Sinn der Worte verlor sich im unendlich erscheinenden Hall. Es war doch genug, dass er die Sehnsucht nach seiner Frau verspürte. Einer Frau, die noch am Leben war, im Gegensatz zu seinem Sohn. Vielleicht, durchfuhr es ihn, ist das eigentlich der Schatz, von dem Fletcher sprach. Nicht Charlie, sondern die Aussicht, Carol zurückzubekommen. Aber gab es dafür überhaupt noch eine Aussicht? Er erinnerte sich deutlich an den Brief, den er von ihr im Gefängnis erhalten hatte. Vielleicht war es schon viel zu spät. Der Gang mündete wieder in einen Raum wie zuvor, diesmal sah er aber nicht sich selbst und Carol, auch nicht zwei reglose Kreaturen, sondern einen quicklebendigen Screamer, eingesperrt in einen Käfig. Dieser schien aber zumindest verschlossen, auch wenn das Wesen sich unruhig hin und her bewegte und immer mal wieder, ein wütendes Fauchen ausstoßend, mit den rasiermesserscharfen Klauen gegen die Stäbe stieß. Wäre er mit ein wenig mehr Geduld gesegnet oder noch ganz am Anfang seiner Flucht, hätte er nun zu eruieren versucht, ob es eine tiefere Bedeutung besaß, aber stattdessen lenkte er seine Schritte direkt am Käfig vorbei, um weiterzukommen. Der Screamer beobachtete ihn dabei mit milchigen Augen, rammte erfolglos die Stäbe und taumelte jedes Mal wieder zurück. Das Gefängnis hielt ihren Versuchen stand. Doch kaum war er auf derselben Höhe wie der Käfig, sprang dieser ohne Vorwarnung auf. Der Screamer nutzte seine Gelegenheit sofort und stürmte heraus. Nur eine Armlänge von ihm entfernt blieb er wieder stehen, holte tief Luft und stieß ein markerschütterndes Kreischen aus. Es fuhr durch Murphys gesamten Körper und brachte ihn dazu, sich die Ohren zuzuhalten. Egal wie oft er diese Laute hörte, er gewöhnte sich einfach nicht daran, stattdessen knirschte er schmerzhaft mit den Zähnen, um es zumindest irgendwie zu übertönen. Sie schloss den Mund wieder und rannte auf ihn zu. Er fing sich wieder, hob die Axt und wehrte die drei Schläge damit ab. Die scharfen Krallen hinterließen tiefe Kratzer in dem hölzernen Stiel, aber noch blieb die Waffe verwendbar. Der Screamer wich zwar zurück, aber mit ein wenig Schwung schaffte Murphy es dennoch, ihr die Axt direkt in den Kopf zu rammen. Sie gab noch einen letzten, kläglichen Schrei von sich, der im Vergleich zu ihrem ersten geradewegs verblasste. Noch während sie fiel, löste sie sich auf, so wie zuvor das Bild von ihm und Carol. Murphy wollte sich gerade entspannen – als er eine Bewegung hinter sich wahrnahm. Er fuhr herum, riss instinktiv den Arm hoch und bemerkte im nächsten Moment schon einen stechenden Schmerz. Der Minion gab einen zufriedenen Laut von sich und tänzelte wieder rückwärts. Von seinem improvisierten Messer tropfte Blut. Statt darüber nachzudenken, woher er wohl gekommen war, und sich gleichzeitig darüber zu ärgern, dass er ihn nicht bemerkt hatte, hob Murphy die Axt, um sie auf den Minion niederfahren zu lassen. Doch dieser hob seinen eigenen Arm, um den Angriff abzuwehren – und schaffte das sogar. Die Klinge schleifte an seinem Arm entlang, als wäre dieser aus Metall, dann rutschte er ab und fiel fast zur Seite. Er fing sich noch einmal und nutzte die Gelegenheit, als der Minion nach ihm stechen wollte. Murphy zog die Axt hoch, rammte sie der Kreatur direkt in die Achselhöhle und riss ihm damit geradewegs den Arm mit der Waffe ab. Der Minion gab einen schmerzerfüllten Schrei von sich. Murphy setzte bereits nach und trieb ihm die Axt in die Brust, so tief er nur konnte. Im nächsten Moment löste sich auch dieser Feind bereits auf, bis nichts mehr von ihm übrig war. Murphy blickte sich in alle Richtungen um, ehe er aufatmete. Es kam kein weiterer Feind, also konnte er die Axt erst einmal absetzen und an sein Bein lehnen, dann betrachtete er die Wunde an seinem Arm. Es war eine Stichverletzung, aber sie blutete kaum und schmerzte auch schon nicht mehr wirklich. Kein Muskel oder Knochen war verletzt, er könnte weitergehen und sich im Anschluss um diese Verletzung kümmern. Die Axt sah aber nicht gut aus. Sie könnte lediglich noch ein paar Schläge ertragen, ehe sie mit Sicherheit splitterte. Besser bereitete er sich darauf schon einmal vor. Wegen der eingesetzten Stille vorsichtig geworden, setzte er seinen Weg fort, kam wieder zu einem sich verengenden Gang. Doch als er diesen durchschritten hatte, stand er nicht in einem neuen Raum, sondern vor einem steil abfallenden Weg, das Wasser rauschte daran hinunter. Was genau sich am Fuß davon befand, konnte er von hier aus nicht sagen. Die letzten zwei Male, hatte eine derartige Rutschpartie gut für ihn geendet – wenn er auch bei der letzten Gelegenheit an einer Turmuhr hing am Ende. Wenn es aber bislang gut gegangen war, könnte er es noch einmal versuchen. Vielleicht hatte er wieder Glück, besonders wenn die Stadt noch etwas mit ihm plante. Er atmete tief durch und sprach sich selbst Mut zu: „Komm schon, du kannst das. Gib jetzt nicht auf, Murphy.“ Wieder einmal glaubte er, Franks Stimme in seinem Inneren zu hören: „Manchmal müssen wir einfach einen Schritt ins Ungewisse wagen, um neue Möglichkeiten zu entdecken.“ Das ließ ihn schließlich in die Hocke sinken, dann begab er sich, nach einem letzten guten Zureden, auf die improvisierte steile Wasserrutsche. Obwohl er darauf vorbereitet gewesen war, entfuhr ihm ein Schrei, als ihm Wasser ins Gesicht peitschte und der Wind in seinen Ohren pfiff. Er wusste, dass er bei dieser Geschwindigkeit eigentlich Schäden davontragen müsste, aber bislang war er immer unbeschadet aus diesen Dingen herausgekommen, wie auch immer das geschehen war. Während er an den Wänden vorbeijagte, bemerkte er, dass Bilder darauf abgebildet waren. Ihm blieb keine Gelegenheit, sie näher zu betrachten, aber er konnte erkennen, dass es sich um ihn und Carol handelte, in den verschiedenen Stadien ihrer Beziehung, vom Kennenlernen über ihre Hochzeit, bis zu Charlies Tod, nach dem er allein in seiner Zelle saß, einen Brief in seiner Hand. Die Erinnerungen stachen wie Messer in seiner Brust und ließen ihn unfähig, sich davon zu erholen, zurück. Es gab keinen Weg, Charlie zurückzuholen, das war ihm nun klar, die reine Hoffnung war naiv gewesen, aber Carol war noch da. Vielleicht sollte er doch … Der Sturz endete abrupt, stolpernd kam er auf dem Boden auf, kämpfte um sein Gleichgewicht und fand es wieder, ehe er selbst stürzen konnte. Das Wasser floss durch ein Gitter, so dass er endlich wieder auf dem Trockenen stand. Seine Kleidung war noch durchnässt und klebte unangenehm an seinem Körper, aber das kümmerte ihn gerade nicht weiter. Wichtiger war, wo er sich nun befand. Er folgte dem kurzen dunklen Gang, der nur notdürftig von seiner Taschenlampe erhellt werden konnte. Schließlich kam er in einen Raum, dessen Größe er nicht abschätzen konnte. Obwohl an allen vier Ecken lodernde Fackeln Licht spendeten, erstreckte sich jenseits ihres Feuerkreises undurchdringliche Dunkelheit. Auf dem Boden war ein orangefarbenes Zeichen abgebildet, das er schon öfter gesehen hatte, es musste ein religiöses Symbol sein, dessen Bedeutung er allerdings nicht kannte – und genau genommen hatte er auch keinerlei Interesse daran, sie jemals zu lernen. An einer Seite befand sich eine kompliziert aussehende Apparatur, die ihn an eine überdimensionierte Armbrust erinnerte, ein spitz zulaufender Bolzen von der Größe eines Mannes war bereits eingelegt. Unwillkürlich dachte er wieder an das Buch zurück, die Geschichte mit der Eidechse – und im selben Moment hörte er ein leises Grollen, das aus den Tiefen der Dunkelheit kam. Murphy fuhr herum, die Axt schützend vor sich halten, ließ er den Blick schweifen. Noch war nichts zu sehen, aber er hörte, dass sich das Grollen näherte. Er wich ein wenig zurück, wobei er gegen die Armbrust stieß, aber seine Augen waren auf die Dunkelheit gerichtet. Zuerst wurden rasiermesserscharfe Zähne sichtbar, die den Schein der Flammen reflektierten, dann die dazugehörige langgezogene Schnauze – aber der Körper war nicht der einer Eidechse. Stattdessen sah es eher aus wie ein Krokodil, das auf zwei Beinen lief und dessen Maul senkrecht, statt waagerecht, geöffnet war. Die schwarzen Schuppen glänzten im Schein der Fackeln wie eine undurchlässige Rüstung aus Damast, hart genug, um selbst Diamanten an sich abbrechen zu lassen. Das Wesen stieß einen markerschütternden Schrei aus, den ein Schwall fauligen Atems begleitete, wegen dem die Flammen einen kurzen Augenblick flackerten, als erlöschten sie jeden Moment. Im geöffneten Maul konnte Murphy, ganz hinten im Rachen, eine gerötete Stelle entdecken, die nicht von Schuppen oder Hornhaut geschützt zu werden schien. Wenn er sich richtig an die Geschichte erinnerte – und dieses Ding wirklich dazugehörte – war das die einzige Chance. Einen Ausgang konnte er hier nämlich nicht entdecken. Murphy murmelte einen leisen Fluch und sah noch einmal auf seine Axt hinab. Diese könnte ihm wohl kaum helfen, gegen einen solchen Gegner anzukommen, außer er passte den richtigen Moment ab. Das bedeutete aber auch, dass ihm nur eine einzige Chance dazu blieb. Hätte ich nur ein Gewehr dabei. Aber Schusswaffen waren noch nie seine erste Wahl gewesen, also musste er sich nun mit dem, was er bei sich hatte, abfinden. Das Monster näherte sich ihm auf mehrere Schritte und riss noch einmal das Maul auf, um ihn zu verschlingen. Murphy wich zur Seite aus und griff mit der Axt an – doch wie erwartet, glitt er an den schwarzen Schuppen ab, ohne jeden Schaden zu verursachen. Auch die wenigen Funken, die bei Kontakt sprühten, trugen lediglich dazu bei, dem Wesen einen Laut zu entlocken, der an ein Lachen erinnerte. Als wäre es gekitzelt worden. Murphy fuhr herum und hielt gerade rechtzeitig noch die Axt vor sich, um den hart zuschlagenden Schwanz des Gegners abzufangen. Das Holz des Griffes splitterte noch weiter, hielt aber vorerst noch stand. Einen weiteren direkten Angriff sollte er damit jedoch nicht mehr wagen, und auch das Verteidigen funktionierte mit Sicherheit nicht noch einmal. Also wich er weiter zurück, den Blick nicht von dem Krokodil nehmend, das sich wieder zu ihm umdrehte. Mit schweren Schritten glich es die Distanz zwischen ihnen wieder aus. Bei jedem einzelnen schien der Boden ein wenig zu erbeben, so dass es aussah als bewegte sich auch das Symbol in der Mitte im selben Rhythmus. Murphy wich zurück, bis er beinahe in die Schwärze jenseits des Feuerscheins getreten wäre. Gerade rechtzeitig hielt er noch inne, zu ängstlich vor dem, was sich in der Finsternis noch verbergen könnte. Wenn dort überhaupt noch etwas existierte. Er zweifelte sogar daran, dass sich dort ein Boden befand und war auch nicht sehr erpicht darauf, es herauszufinden. Stattdessen blieb seine Konzentration auf dem Krokodil vor sich fixiert, das ihm immer näherkam. Und schließlich – gerade als Murphy daran dachte, noch einmal auszuweichen – riss es sein Maul wieder auf. Er zögerte nicht lange und schleuderte die Axt, ohne zu zielen, direkt in den geöffneten Schlund – doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Es schloss das Maul wieder, noch ehe die Klinge auch nur in der Nähe der empfindlichen Stelle gekommen war, und zermalmte die Axt unter der Wucht seiner kräftigen Kiefer. Mit einem triumphierenden Laut preschte das Krokodil vor, Murphy wich zur Seite aus, ließ den Blick nach einer neuen Waffe schweifen, aber er fand nur Leere – abgesehen von der riesigen Armbrust auf der nun anderen Seite des Platzes. Murphy rannte los, sprang über den Schwanz hinweg, als das Reptil ihm diesen wieder entgegenschleuderte, überquerte das Symbol. Plötzlich spürte er, wie er den Boden unter den Füßen verlor, hart prallte er auf der Erde auf, die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst, ein scharfer Schmerz zuckte durch seinen Brustkorb. Im ersten Augenblick glaubte er, das Krokodil hätte ihn irgendwie erwischt, weil es doch flinker war als angenommen, doch es befand sich noch weit hinter ihm. Seine Hand fuhr über die nahen Linien des Symbols. „Eis ...“ Sie sahen aus wie flüssige Flammen, aber eigentlich handelte es sich hierbei um gefrorenes Wasser und er war darauf ausgerutscht. Nichts weiter. Kein Grund zur Panik. Die Schritte des Reptils kamen näher. Er rappelte sich wieder auf, jeder Atemzug schmerzte, auch sein rechter Fuß protestierte, aber er ignorierte das alles und humpelte voran. Nur quälend langsam schien er der Armbrust näherzukommen, hinter ihm stieß das Krokodil wieder einen Schrei aus, der nicht im Mindesten mit dem eines Screamers konkurrieren konnte und ihn deswegen auch nicht dazu brachte, stehenzubleiben. Ein Blick über die Schulter verriet ihm aber zumindest, dass dieses Wesen offenbar auch nicht erpicht war, über das Eis zu laufen und deswegen jeden Schritt dort nur mit Bedacht setzte. Das gab Murphy einen geringen Vorsprung, den er auch gut gebrauchen konnte, wie er feststellte, als er an der Armbrust angekommen war. Der Mechanismus war, wie er erwartet hatte, kompliziert, und nicht einfach zu durchschauen. Er verfolgte die angebrachten Drähte und Seile von der Abschussvorrichtung zurück und fand endlich die Kurbel, die er betätigen musste, um die Armbrust zu spannen. Auch das funktionierte nur quälend langsam und währenddessen bemerkte Murphy, dass auch sein rechter Arm von dem Sturz in Mitleidenschaft gezogen worden war, jede Drehung erfüllte ihn mit Agonie, die auch vom Adrenalin nicht völlig verdrängt werden konnte. Das Krokodil kam derweil unaufhaltsam näher, behielt aber seine Bahn bei. Schließlich rastete die Armbrust ein. Murphy bemerkte erst jetzt, wie sehr er gerade schwitzte, wischte sich rasch über Stirn und Augen und folgte weiteren Drähten und Seilen zur Abschussvorrichtung. Das Reptil hatte ihn fast schon erreicht und stieß ein lautes Grollen aus. Ein unscheinbarer Hebel an der Seite des Geräts schien alles in Gang zu setzen. Er schickte ein knappes Stoßgebet an welche Gottheit auch immer für dieses Höllenloch verantwortlich war, dass sie ihn gerade in diesem Moment nicht im Stich ließ. Das Krokodil, nun direkt vor der Maschinerie angekommen, riss das Maul auf. Murphy betätigte den Hebel. Ein lautes Klicken ertönte, gefolgt von einem Zischen, als der Bolzen aus der Vorrichtung geschleudert wurde. Er fuhr direkt in das Maul des Reptils und durchstieß den wunden Punkt. Blut spritzte in einer Fontäne heraus, das Wesen gurgelte, während sich seine Lungen mit Flüssigkeit füllten. Und dann fiel es, geradezu lautlos – was bei dieser Masse schon erstaunlich war – , zu Boden. Als es so auf dem Bauch dalag, konnte Murphy auch erkennen, dass der Bolzen aus dem Rücken des Wesens herausragte. Selbst die harten schwarzen Schuppen hatten dem Projektil nicht standhalten können. Während das Reptil sich auflöste, machte sich Murphys gesamter Körper, der zuvor verletzt worden war, wieder bemerkbar. Sein Arm schmerzte, sein Fuß wollte ihn noch immer zum Hinsitzen zwingen, sein Brustkorb stach. Aber er lebte und im Moment war das alles, was zählte. Denn solange er lebte könnte er sich bewähren und alles wieder zu seinem Vorteil wenden. Zumindest, wenn ich hier herauskomme. Noch immer wagte er sich nicht in die Dunkelheit vor, doch das war auch gar nicht notwendig. Schlagartig erloschen die Fackeln und ließen ihn in einer Finsternis zurück, die nicht einmal von seiner Taschenlampe durchdrungen werden konnte. Und wieder war es Franks Stimme, die er in seinem Inneren hörte: „Denk immer daran, Murphy: Die dunkelsten Nächte können die schönsten Dämmerungen hervorbringen.“ Ending the Quest: Heaven Won't Hold It Against You -------------------------------------------------- Es schien Murphy eine Ewigkeit zu vergehen, in der er nur in dieser undurchdringlichen Dunkelheit stand, darauf wartend, dass er einen Hinweis bekam, wie er weiter vorgehen sollte. Zuerst kehrten die Geräusche zurück. Er hörte das Glucksen von Wasser, kein Meer, aber mindestens ein See. Wellen schwappten gegen Holz, das leicht knarrte. Dann spürte er, dass er lag, statt aufrecht zu stehen. Alles, was zuvor geschmerzt hatte, schien nun vollständig verheilt zu sein, jedenfalls war es nicht mehr spürbar. Zuletzt war da Licht. Er sah es hinter seinen geschlossenen Augenlidern, spürte, wie es direkt auf ihn fiel und dennoch gedämpft war, als käme es von hinter einer Wolkendecke. Als er die Augen öffnete, war er nicht überrascht, den stahlgrauen Himmel von Silent Hill über sich zu sehen. Er wunderte sich auch nicht darüber, dass er auf dem Bootssteg lag, von dem aus er zuvor ins Wasser gesprungen war, um dieses kleine Abenteuer zu erleben. Die Abwesenheit seiner Axt war das einzige Zeichen, dass die Geschehnisse kein Traum gewesen waren. Diese Stadt besaß ihre ganz eigenen Gesetze, wie er nun zum wiederholten Mal feststellen musste. Inzwischen hatte er sich widerwillig daran gewöhnt, aber sein Verlangen, von hier fortzukommen, war noch immer ungebrochen. „Es gibt da aber eine Sache, die ich noch tun muss“, murmelte er und setzte sich in Bewegung, um das Haus wieder zu betreten, in dem er Fletcher getroffen hatte. Das Gefühl war immer noch genau dasselbe wie zuvor, es fühlte sich nicht so an, als befände sich außer ihm niemand in diesem Haus. Murphy hatte sogar das Gefühl, dass es verlassen war und das schon seit Monaten. Weswegen hielt Fletcher sich dann darin auf? Vielleicht hat er sich nach dem Verschwinden der richtigen Bewohner hier nur eingenistet. So ähnlich wie ich, als ich mich hier ausruhen wollte. Ohne seine Axt fühlte er sich wesentlich schutzloser, was ihn sich wünschen ließ, dass er ein anderes Haus gewählt hätte, um sich auszuruhen, dann besäße er sie immerhin noch. Diesmal war das obere Zimmer nicht leer, Fletcher saß auf einem abgewetzten Sofa – das zuvor nicht dagewesen war – und blickte lächelnd auf, als die Tür beim Öffnen knarrte. Auch wenn er versuchte freundlich zu lächeln, fuhr es Murphy eiskalt über den Rücken, das zu betrachten. Deswegen wollte er es lieber schnell hinter sich bringen: „Es gab keinen Preis.“ Das Monster hatte sich einfach aufgelöst, aber nichts hinterlassen und er war auch zu keinem anderen Ort mehr gekommen, an dem er einen solchen hätte bekommen können. Aber Fletcher ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Sind Sie sich da so sicher, Mr. Pendleton?“ Murphy runzelte die Stirn, sein Gegenüber deutete auf seine Tasche. „Schauen Sie genau nach.“ Wenngleich immer noch misstrauisch, griff Murphy in seine Hosentasche – und zog zu seinem eigenen Erstaunen einen Schlüsselbund heraus, an dem nur ein rohrförmiger Anhänger befestigt war. Er sah aus, als könne man ihn aufschrauben. Da Fletcher bereits die Hand danach ausgestreckt hatte, reichte Murphy ihm dieses Röhrchen. Der andere musterte diesen Gegenstand eine Weile, immer noch ein furchtbar unheimliches Lächeln auf den Lippen. „Ist das nicht wundervoll, Mr. Pendleton?“ „Das liegt im Auge des Betrachters.“ Für Murphy war es immerhin einfach nur irgendein wertloser Gegenstand, der kaum irgendetwas Gutes beinhalten konnte, selbst wenn er auf diese mysteriöse Weise in seine Tasche gekommen war. Fletchers Lächeln schien sich noch ein wenig zu vergrößern, was es noch unheimlicher machte, er schraubte den Deckel des Röhrchens ab und zog einen kleinen, abgegriffenen Zettel heraus. „Das hier ist natürlich der eigentliche Schatz.“ Murphys Blick streifte den nun wertlos gewordenen Stadtplan auf dem Tisch. „Noch eine Schatzkarte?“ War das etwa Fletchers Hobby? Karte um Karte suchen, um irgendwann an einen wirklich großen Schatz zu kommen, mit dem er sich niederlassen konnte? Er lachte leise, was einen hohlen Ton erzeugte, Murphy wieder Schauer über den Rücken jagte. „Mr. Pendleton, Sie missverstehen das. Das hier ist der Schatz. Ja, schauen Sie nicht so, ich meine es vollkommen ernst.“ Fletcher wedelte mit dem Zettel, der so aussah, als zerbrösele er jeden Moment, ohne es wirklich zu tun. „Das hier ist eine Anleitung, um glücklich zu sein.“ Murphy schnaubte. „Eine Glückskeksweisheit, vermutlich.“ „Sie glauben wohl nicht an das Glück.“ Fletchers graue Augen blitzten belustigt. „Sind Sie nicht gegangen, um etwas zurückzubekommen, das Sie verloren haben? Warum wollten Sie es denn zurück, wenn Sie nicht glücklich sein wollten?“ Darauf konnte er nichts erwidern, denn es stimmte. Er hatte Charlie wiederhaben wollen, um glücklich zu sein, dann war es Carol gewesen, die er sich wieder an seine Seite gewünscht hatte. Aber … „Das bedeutet nicht, dass ich an eine Anleitung dafür glaube.“ „Das ist auch sicher das Beste, normalerweise. Aber das hier ist die ultimative Wahrheit. Glauben Sie mir ruhig, Mr. Pendleton.“ Doch Murphy zuckte betont gleichgültig mit den Schultern. „Selbst wenn, ich wüsste nicht, warum mich das interessieren sollte. Es ist Ihr Schatz, so war die Abmachung.“ Fletcher hob einen Zeigefinger und wackelte damit vor seinem Gesicht. „Das mag sein, aber da es mein ist, kann ich damit tun, was ich will – und ich hatte Ihnen außerdem auch einen Preis versprochen, nicht wahr?“ Er reichte Murphy den Zettel. „Ich habe das Geheimnis nun gelesen, also sollten Sie den Zettel bekommen, damit ich Ihnen nichts mehr schuldig bin.“ Die Versuchung, ihn wirklich an sich zu nehmen, war groß, aber dieses unheimliche Lächeln, das Glitzern in den Augen und auch Fletcher an sich, waren derart irritierend, dass Murphy es vorzog, nichts von diesem Mann anzunehmen. „Vergessen Sie's. Ich gehe einfach weiter und-“ „Nehmen Sie ihn endlich!“ Der finstere Unterton in Fletchers Stimme unterstrich den plötzlich ernsten Gesichtsausdruck, der nicht weniger beunruhigend war als sein Lächeln. Statt zurückzuweichen, zog Murphy die Brauen zusammen. Er wollte erneut ablehnen, aber er glaubte nicht, dass Fletcher das gut aufnähme, also streckte er die Hand aus und nahm den Zettel an sich, wobei er nur einen flüchtigen Blick auf diesen warf. „Danke. Ich lese ihn draußen.“ Er wollte keine weitere Sekunde mit diesem Mann im selben Haus verbringen und war deswegen erleichtert, als Fletcher dem mit einem Nicken zustimmte. „In Ordnung. Viel Erfolg auf Ihrer weiteren Reise. Mögen Sie finden, was Sie suchen.“ Murphy wandte sich bereits ab, um erst das Zimmer und dann das Haus zu verlassen, hielt aber doch noch einmal inne. Was er auf diesem Zettel gesehen hatte, irritierte ihn doch derart, dass er nachhaken musste. „Wer sind Sie eigentlich, Fletcher?“ Wieder dieses unheimliche Lächeln, die Lippen eine Fratze, die fast bis an die Ohren zu reichen schienen. „Ich denke, diese Antwort wollen Sie eigentlich gar nicht erfahren, Mr. Pendleton. Vermutlich können Sie es sich ohnehin bereits denken.“ Mehr musste Murphy nicht wissen. Er fuhr herum und verließ das Haus nun wirklich. Kaum stand er vor der Tür, spürte wieder die schwere, feuchte Luft und die Elektrizität eines nahenden Gewitters, fühlte er sich wesentlich sicherer als im Inneren. Von diesem Mann weg zu sein, über den er lieber nicht mehr nachdenken wollte, war eine Erleichterung, als wäre er bereits längst aus der Stadt draußen. Er hielt den Zettel noch immer in seiner Hand, war sich nicht sicher, ob er ihn wegstecken oder wegwerfen sollte. Wenn er wirklich das Rezept für Glück war, gab es eigentlich nur noch eine Sache, die ihm blieb, um es umzusetzen. Sofern er daran glaubte. „Ich muss aus dieser Stadt raus.“ Sein Blick ging die Straße hinunter, der er nur folgen müsste, um endlich zum Hafen und Ricks' Boot zu kommen. Sobald er wieder in Freiheit war, könnte er überlegen, wie er weiter vorgehen sollte und was er alles brauchen könnte, um das zu erfüllen. Während er sich in Bewegung setzte, verstaute er den Zettel in seiner Tasche; den Zettel aus dem Röhrchen, auf dem Carols neue Adresse stand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)