Ringrichter von Norden (Let's get ready to rumble. [TAITO]) ================================================================================ Kapitel 4: Zweite Runde, Linksauslage ------------------------------------- Manchmal erinnerte sich Taichi noch an diesen ersten Kuss. Es war nicht so, als hätte er ihn bewusst verdrängen oder gar vergessen wollen, aber mit den Jahren war dieser Schnipsel seiner Jugend einfach im grauen Nebel der rasenden Zeit verblasst. Anfangs waren da viele neue, wundervolle Momente mit Yamato an seiner Seite hinzugekommen, später hatte er sie mühselig wegschließen müssen, um ihre Trennung überhaupt ansatzweise verarbeiten zu können, ohne dabei seinen Verstand und den Glauben an irgendetwas auf dieser Welt – vor allem an die wahre Liebe – zu verlieren. In diesem Sinn holte ihn dieser erste, so unschuldige und kurze Kuss nur noch selten ein. Meistens ganz unerwartet. Manchmal sehr unpassend. Wobei es Taichi erschien, als gäbe es kaum noch passende Situationen, in denen man an solch Romantik, Unschuld und dem ersten Funken einer alles verändernden Beziehung zweier Menschen zurückdenken konnte, wurde denn bedacht, dass besagte Beziehung nicht länger existierte. Alles, was so eine Erinnerung noch mit sich brachte, war ein bitterer Geschmack in der Kehle, vielleicht noch ein Klingen in seinen Ohren und ein Brennen in seinen Augen. Es gab keine passenden Sekunden, die er an Yamato Ishida und irgendwelche Küsse mit ihm denken konnte – sollte. Auch nicht, während er in seinem Bett lag, die Decke anstarrte und gerade den letzten Schlaf aus seinen Sinnen verbannte. Sein Wecker hatte vor sicher zwanzig Minuten das erste Mal geklingelt, aber Taichi hatte es diesen Morgen nicht eilig. Er hatte schon drei- oder viermal die Snooze-Funktion missbraucht, hielt sein Handy, das er der Einfachheit halber als Wecker nutzte, nun noch immer in der Hand, die auf seiner Brust ruhte. Da die Schulferien den jungen Lehrer nicht mehr lange von seinen Pflichten befreien würden, wollte er jede freie Sekunde nutzen, entsprechend das Bett auch nie früher verlassen, als er es absolut musste. Natürlich hätte er sich gar nicht erst einen Wecker stellen müssen, aber leider tendierte er selbst in seinen fortgeschrittenen Jahren wie auch damals als Teenager dazu, den ganzen Tag zu verschlafen, verzichtete er komplett auf eine zeitliche Orientierung in Form seiner Familie, eines Partners oder eben eines Weckers. Und so gerne Taichi schlief und faulenzte, verbrachte er die gleiche Zeit ebenso bevorzugt im Freien, in der Sonne und gerne auch mit körperlicher Betätigung. Gerade nach einem Wochenende, wie er es gerade erst hinter sich gebracht hatte, musste sich Taichi mit Sport ein wenig den Kopf leeren. Zu gerne wäre er noch vor Ort, im Hotel, dieser Abhilfe nachgekommen, aber natürlich hatte sein Luftkopf nicht mitgedacht – also auch naiver Weise nicht damit gerechnet, dass er derartig aus der Bahn geworfen werden würde – und er entsprechend keine Sportkleidung in der kleinen Reisetasche verstaut. So hatte er also ohne Sport, aber mit einem wortkargen Frühstück an Hikaris Seite auskommen müssen. Anschließend waren sie fast direkt aufgebrochen, nachdem von Sora und angetrautem Gatten keine Spur aufzufinden gewesen war und sie beide einer weiteren Begegnung mit ihrer jeweiligen Vergangenheit aus dem Weg hatten gehen wollen. Ebenso war die Familie Takaishi dem Frühstück ferngeblieben und auch, wenn Taichi es kaum gewagt hatte einen Blick schweifen zu lassen, war ihm so gewesen, als hätte Yamato es seinem Bruder gleichgetan. Aber was hatte Taichi schon gewusst? Wahrscheinlich war einfach niemand außer Hikari und ihm so früh aus dem Bett gefallen und das trotz verkaterter Stimmung. Sie waren so gesehen auch die einzigen Gäste des Kreises gewesen, die ohne Begleitung, also der Möglichkeit auf einem gemütlichen Morgen im Bett zu zweit, angereist waren. Vage schüttelte Taichi den Kopf, schob seine freie Hand in das zerzauste Haar und strich es sich so aus der Stirn. Es war Zeit, dass er sich mal aufraffte und vor allem alle Erinnerungen an den vermeintlich schönsten Tag des Lebens seiner besten Freundin vergaß – zumindest solang bis er Sora treffen und mit ihr die Fotos durchgehen, eventuell auch das Hochzeitsvideo ansehen würde. Zum Glück hatte er bis zu diesem Moment aber noch etwa zwei Wochen, war das Brautpaar doch diesen Morgen in die verdienten Flitterwochen gefahren. Zu Taichis Glück. Er brauchte definitiv zunächst ein wenig Abstand von all dem, was binnen solch weniger Stunden aufgerüttelt worden war, was zudem so lang gebraucht hatte, um überhaupt verschüttgehen zu können. Er stemmte sich von der Matratze, verharrte einen Moment lang auf deren Kante, gähnte herzhaft. Vielleicht musste er sich inzwischen fast täglich zur frühen Stunde aus dem Bett quälen und dann vor seinen Schülern fit und frisch wirken, aber das bedeutete nicht, dass Taichi Yagami inzwischen zu einem leidenschaftlichen Frühaufsteher mutiert war. Er war lediglich willensstärker und besser im Schauspielen geworden, konnte damit den Zöglingen das verkaufen, was er seinen Lehrern damals selbst nie hatte abnehmen wollen: Dass es gut und vorbildlich war, früh den Tag zu beginnen und wissbegierig die folgenden Unterrichtsstunden zu begrüßen. „So ein Schwachsinn“, murmelte Taichi zu sich selbst. Es gab tatsächlich immer noch manche Momente, die er nicht recht glauben konnte, wohin ihn seine berufliche Laufbahn verschlagen hatte. Wer hatte auch damit rechnen können, dass er zu seiner eigenen Schule zurückkehren würde, nachdem er ihr so gerne den Rücken zugewandt und die Universität besucht hatte? Naja, selbst dieser Schritt war für alle Beteiligten ein wenig überraschend gekommen, aber irgendwie hatte er hier wenigstens sich selbst und den anderen noch versichern können, dass er sich eine Schule außerhalb suchen würde. Vielleicht eine Privatschule, die sich auf Sportstipendien spezialisierte oder etwas dieser Art. Nun letzten Endes war er wieder an der Odaiba High gelandet, leitete hier die Fußballmannschaft, für die er selbst einmal über den Rasen gefetzt war, gab dazu natürlich auch noch Sportunterricht und... Geographie. Der Junge, der nicht gewusst hatte, wer oder was genau dieses Australien darstellen sollte, war inzwischen dazu übergegangen, eben dieses Wissen anderen desinteressierten Jugendlichen aufzuzwingen und im Angesicht dieser Gewissheit fragte sich Taichi auch Jahre später noch, was da geschehen war. Natürlich hätte er lieber Fußballstar werden wollen, aber dieser Wunsch war irgendwann der Realität gewichen, ebenfalls der Gewissheit diverser Fuß- und Knieverletzungen, die mit den weiteren Jahren sicher nicht besser werden oder gar abheilen würden. Die Idee war jedenfalls zu Grabe getragen und der Weg zur Hochschule eingeschlagen worden und aus. Yamato hatte ihm nicht einmal lange damit in den Ohren gelegen, sich auch nur jeden dritten Tag über die Angelegenheit mit der Geographie lustig gemacht und ihn ansonsten artig und tatkräftig unterstützt, wie man das eben so tat in einer Partnerschaft. Taichi schlurfte gerade ins Badezimmer, als sich sein Anrufbeantworter einschaltete. Generell ging Taichi um so eine Uhrzeit – erst recht in den Ferien – nicht an sein Telefon, weswegen er die Maschine auf automatische Annahme schaltete und dann die Stimmen, die eintrudelten, weitaus leichter ignorieren konnte, als es mit einem nervtötenden Klingeln der Fall wäre. „Morgen Sonnenschein, ich weiß genau, dass du da bist“, Shin, sein On-Off-wie-auch-immer, „aber musst nicht rangehen. Schreib mir nur, ob heute Abend steht, sonst nehme ich mir nämlich etwas Anderes vor. Bis dann“, er stoppte hörbar und fügte eher zögerlich „Babe.“ hinzu. Sie tendierten eigentlich beide nicht unbedingt zu Kosenamen, aber irgendwie klangen Nachrichten ohne sie ab und an auch recht karg. Wahrscheinlich hatte Shin die Bezeichnung deswegen noch angehängt, ehe seine Stimme verebbt, die Nachricht durch das Piepen des Anrufbeantworters abgeschlossen worden war. Sie waren verabredet gewesen? Taichi glaubte Shin auch ohne seinen eigenen Kalender noch einmal zu kontrollieren. Shin konnte sich Termine viel besser merken als er und darüber hinaus war er dieses Wochenende mehrfach um seinen Verstand gebracht worden, so dass niemand mehr von ihm erwarten konnte, sich an irgendwelche Dates erinnern zu können. Das mit Shin war eh nichts Ernstes. Taichi konnte es nicht einmal benennen, auch wenn sie sich nun schon eine ganze Weile über regelmäßig trafen und gewissen Tätigkeiten zusammen nachgingen, die man durchaus als „Paaraktivitäten“ abstempeln könnte. Er glaubte aber auch nicht, dass es für Shin ernster war. Sie verbrachten einfach gerne Zeit miteinander und warteten miteinander auf das, was dann „echt“ sein würde. Das „Richtige“. Der „Richtige“. So lange würden sie sich eventuell miteinander treffen oder einfach bis zu dem Zeitpunkt, wenn sie keine Lust mehr aufeinander hätten. Wie es auch immer laufen würde, bisher war es angenehm und unkompliziert und sehr viel mehr hatte Taichi sicher seit knappen zehn Jahren nicht mehr gewollt. Wobei, was hieß „gewollt“? Natürlich wollte er eine Beziehung, die sein Leben erfüllen, sein Herz schneller schlagen und ihn sich vollkommen und ganz fühlen lassen würde, aber diese wuchsen nun einmal nicht auf Bäumen und alle Vorstufen schienen Taichi bislang mit zu viel Stress und Ärger verbunden gewesen zu sein. Irgendwann hatte er sie aufgegeben und aus seiner Zielgeraden gestrichen. Dann verblieb er lieber in On-Off-Wie-auch-immers. Sie waren simpel und es gab stets einen Ausgang. Fragen bezüglich der Theorie, dass die Beziehung mit Yamato ihn gezeichnet hätte, wies Taichi natürlich immer eisern von sich. Er sei nur sehr faul und generell war die schwule Datingszene nicht für innige, feste Beziehungen ausgelegt, pflegte er gerne zu sagen. Nach einem kleinen Fitness-Frühstück, einer Fitness-Einlage und der folgenden eher unsportlichen, reglos verharrten Zeit unter dem Duschstrahl, hatte Taichi sich auch tatsächlich dazu aufgerafft, Shin zu antworten und sich in Hinsicht auf das bevorstehende Treffen zum Einkaufen aufzumachen. Wenn sie gemeinsam zu Abend essen und einen Film schauen wollten, würde er auch Lebensmittel und besagten Film vor Ort haben müssen. So weit schafften es dann selbst seine verhangenen Gedanken, die sich selbst nach dem Sport und einer gefühlten Stunde der Wasserverschwendung nur langsam zu regenerieren schienen. Zumindest das milde Wetter und ein wenig Sonne, die ihm den Weg zum Supermarkt um die Ecke leiteten, ließen seine Sinne langsam wieder aufleben. So konnte man seinen Tag eigentlich gut beginnen und auch verbringen: Er war entspannt seinen Ritualen gefolgt und ging nun ebenso unbefangen, ganz ohne Stress, einigen Erledigungen nach. Das Leben konnte schlimmer sein. Zum Beispiel, wenn man bald wieder jeden Tag zur Arbeit gehen und damit auch früh aufstehen, sich dann nachmittags oder abends gehetzt, mit allen anderen Einwohnern Odaibas um die letzten Äpfel streiten musste. Ebenfalls konnte man an sonst freien und entspannten Wochenenden seinem Exfreund über den Weg laufen und– Taichi schnitt diese Gedanken rasch wieder ab. Da hatte er kaum knappe zwei bis drei Stunden mal nicht an die Ereignisse des vergangenen Wochenendes denken müssen und dann war dieses dämliche Gesicht mit den ebenso dämlichen, blauen Augen und dem noch viel dämlicheren Lächeln wieder aufgetaucht. Das Schnaufen, das Taichi ausstieß, galt sicher nicht der Ladentür, die er im gleichen Moment aufgeschoben hatte. Sicher auch nicht der älteren Dame, der er prompt den Weg räumen musste und die ihm einen skeptischen Blick zukommen ließ. Eigentlich hatte Taichi mit ihm nur sich selbst und seinen aufflammenden Unmut laut kommentieren, damit auch von sich schütteln wollen. Es konnte doch nicht sein, dass ihn Yamato nun noch den ganzen restlichen Tag – oder gar mehrere Tage? – verfolgen würde, nur weil sie sich so kurz wiedergesehen hatten und das nach zehn Jahren. Es konnte ebenfalls nicht sein, dass Yamato ihn wirklich verfolgte. Also wirklich-wirklich. „Hi Taichi.“ Fast hätte Taichi auf dem Absatz wieder kehrtgemacht, wäre da nicht der Einkaufskorb gewesen, zu dem er sich gerade hatte hinabbücken und den er hatte ergreifen wollen. Besagter entglitt ihm nämlich prompt seinen Fingern und purzelte über den Boden, bis vor zwei strahlendweiße Sneaker, aus denen natürlich nackte Knöchel hervorlugten. Er beobachtete Yamato ziemlich bedröppelt dabei, wie er sich nach dem Korb bückte, ihn aufhob und ihm schließlich entgegenhielt. „Du hast da etwas fallen lassen“, erklärte er mit einem – seiner dämlichen – Lächeln auf den Lippen, versteckte dabei seine Belustigung nicht einmal ansatzweise. Yamato trug selbst einen Einkaufskorb über dem anderen Arm, hielt zudem einen Einkaufszettel in der Hand, der beidseitig beschrieben und mit irgendwelchen Notizen versehen zu sein schien. Erkannt hätte Taichi solche sicher nicht so schnell und aus der Ferne, wäre er nicht selbst viele Jahre über der Packesel gewesen, der hinter Yamato und seiner sehr genauen Liste an benötigten Lebensmitteln hinterhergedackelt war und eben das geschleppt hatte, was der Herr als notwendig erachtet hatte. Für Yamato waren seine Einkäufe immer mehr einer Zeremonie nachgekommen als etwas Alltäglichem, was eben erledigt werden musste. „Danke.“ Taichi nahm den Korb entgegen, den Blick dabei nicht von Yamato abwendend. „Was ich hier tue?“ Er nickte sofort. Die Frage hatte ihm sicherlich auf der Stirn gestanden. „Nun, also erstens ist das hier auch meine Heimat, die ich besuchen kommen darf, wann immer ich möchte.“ „Und zweitens?“ Irgendwie glaubte Taichi nicht, dass Yamato nach so vielen Jahren plötzlich Heimweh verspürt hatte und sich nun wieder in irgendwelchen Supermärkten vor Ort herumtreiben wollte. „Und zweitens, mein Lieber, habe ich einen Auftrag angenommen, der mich einige Zeit hier in der Gegend halten wird. Gewöhne dich also dran.“ Woran sollte er sich gewöhnen? Und was zur Hölle hatte Yamato da gerade von sich gegeben? „Was?“ „Ich bleibe ein wenig. Hier in Odaiba, werde ich für eine Zeit bleiben. Verstehst du, was ich sage? Hallo?“ Taichi hatte sich einfach abgewandt und war weitergegangen. Diese Informationen waren einfach zu viel des Guten gewesen und mal abgesehen davon, hatte er ein Abendessen einzukaufen – Zutaten für ein Abendessen. Er musste sich noch ein Abendessen einfallen lassen. Was sollte er Shin und sich selbst kochen? Oder konnte es etwas aufwändiger sein und würde dann Shin das Kochen übernehmen? So richtig anspruchsvolle Gerichte wusste er selbst nämlich in der Küche noch nicht zu händeln. „Taichi?“ „Vielleicht eine Quiche.“ „Dafür brauchst du aber sicher keinen Eistee?“ „Ich habe keinen mehr.“ Tatsächlich hatte Taichi in dem ihm durchaus in- und auswendig bekannten Supermarkt ganz automatisch eine Richtung eingeschlagen und ebenso unbedacht nach einer Packung seiner Lieblingssorte Eistee gegriffen. „Früher hast du immer Apfel getrunken... oder Himbeere. Gerste konntest du nicht leiden.“ Richtig. Früher hatte er fast nur süße Softgetränke zu sich genommen und alles, was die Erwachsenen mochten, verachtet. Inzwischen hatte sich das geändert. Taichi beobachtete die Packung in seinem Korb und lächelte dabei ansatzweise. Yamato hatte immer schon „Erwachsenengetränke“ gemocht: Kaffee, herbe Teesorten und stilles Wasser. Unweigerlich blühte in Taichi die Neugierde auf; die Frage danach, ob sich daran etwas geändert hatte. „Wie wäre es mit Quiche Lorraine?“ Es mochte ein wenig dämlich aussehen, wie Taichi fast schon in Trance hinter Yamato her trottete und dieser ungefragt irgendwelche Lebensmittel in seinen Einkaufskorb legte. „Hm das sollte an Sahne reichen. Eier sind auch da, okay, dann noch Gouda und Gruyère. Hast du Weißwein daheim?“ „Was?“ „Weißwein.“ Taichi sah auf seinen Korb hinab, der sich die letzten Minuten über gut gefüllt hatte und entsprechend schwer geworden war. „Hast du Weißwein zu Hause?“ „Nein.“ Zumindest nicht, dass er sich entsinnen konnte. Was taten sie hier eigentlich? Suchte ihm sein Exfreund – der Exfreund – gerade das Gericht für sein heutiges Date aus? „Yamato—“ „Okay, dann erst der Käse und danach der Wein. Ich schätze, du kochst für Zwei? Dann sollte das so hinkommen.“ Yamato schien sich keineswegs an dieser abstrusen Situation zu stören und Taichi verwirrte sie viel zu sehr, als dass er sich ihr bezüglich hätte äußern können. Um genau zu sein, schwieg er einfach, zumindest bis sie vor der Käsetheke dank einer kleinen Warteschlange aus dem Fluss gerissen wurden. „Deswegen gehe ich gerne hier einkaufen: Sie haben den ganzen ausländischen Kram im Angebot. Wo sonst soll man Gruyère kaufen? Und das, obwohl der Laden eigentlich recht klein ist.“ Richtig, deswegen war das hier irgendwann „ihr“ Laden gewesen. Taichi räusperte sich und traute sich sogar, direkten Blickkontakt aufzubauen. „Du hast von einem Auftrag gesprochen“, begann er etwas stockend, zog damit aber wenigstens doch einmal Yamatos ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich, einschließlich dieses... Lächelns und seines eindringlichen Blickes. „Richtig?“ „Was ist das denn für ein Auftrag, dass du länger bleiben musst?“ „Ach“, Yamato winkte ab, „so ein größeres Projekt eines Hochhauses, in dem alle Wohnung gleich eingerichtet und gestaltet werden sollen. Also so, dass sie auch direkt vollmöbliert angemietet werden können, weißt du?“ Der kleine „Rockstar“ war irgendwann auf den Trichter gekommen, Innenarchitektur zu studieren und hatte sich seine schicke Privathochschule mit seiner Musik finanziert. Sicher existierten nicht viele Musiker, die mit einer kleinen Schulband angefangen hatten, die das von sich behaupten konnten. Yamato zumindest war irgendwie seinen Weg gegangen und das ganze ohne die Unterstützung anderer. Selbstverständlich. „Und da musst du dann hierbleiben?“ „Das muss dir ja wirklich zuwider sein, wenn du es einfach nicht begreifen können willst“, gluckste Yamato. „Und ja, ich habe mich vor Ort in ein Hotel eingemietet.“ Typisch Yamato, der sich nicht bei seinen Eltern einnistete, sondern es vorzog, in einem Hotel zu wohnen. Taichi nickte zögerlich. Es wollte wirklich nicht in seinen Kopf, dass er seinem Ex nun öfter und überall über den Weg laufen können würde. Für wie lange? Und wie würde er selbst damit umgehen? Er bemerkte nicht einmal, wie Yamato inzwischen an der Reihe war und einfach Käse für ihn bestellte, entgegennahm und schlussendlich in seinem Korb ablegte. Taichi sollte noch den ganzen Weg über bis hin zur Fleischtheke brauchen, bis er wieder das Wort ergriff. „Ich weiß nicht einmal, wie man das zubereitet.“ „Ich kann dir das Rezept schicken. Funktioniert wie jede andere Quiche auch. Das kann dein Freund doch sicher, oder? Immerhin hast du selbst etwas von einer Quiche gefaselt.“ „Ich denke...“ „Gib mir deine Nummer.“ Eigentlich realisierte Taichi erst, was er tat, als sie beide schon mit gezückten Smartphones vor der Fleischtheke standen und er Yamato seine Nummer gab, kurz darauf schon einen Link zu einem Artikel über Quiche Lorraine empfing. „Danke, ... denke ich.“ So genau wusste Taichi nämlich nicht, was hier vor sich ging. Waren sie nicht Erzfeinde? Gekränkte, getrennte Männer, die sich nur mit Schimpfworten und Spitzfindigkeiten entgegentreten konnten? Kaum lag der Speck in seinem Korb, nickte Yamato auch schon die nicht vorhandene „Quiche Lorraine Zutaten“-Liste ab, blickte nun erst wieder auf seinen eigenen benötigten Einkauf. „Ach ja, der Wein. Ich brauche eh auch etwas Roten.“ „Kochst du auch?“ Taichi hatte diese Frage nicht einmal stellen wollen, aber die Kälte der Fleischtheke, zwischen den Molkereiprodukten, die sich über die letzten zwei Jahre in jeden Supermarkt geschlichen hatte, war ihm anscheinend zu Kopf gestiegen. „Was sonst sollte ich mit den Lebensmitteln tun? Aber den Rotwein will ich tatsächlich einfach nur trinken.“ „Weil du meintest, du wohnst in einem Hotel.“ „Ja, und sehe ich so aus, als würde ich mich dann von diesem fürchterlichen Fraß vor Ort ernähren?“ Richtig. So sehr Yamato Luxus und Service schon immer geliebt hatte, so hatte er stets das bevorzugt, was von ihm selbst zubereitet worden war. Er traute seinen Kochkünsten wohl immer noch mehr, als denen anderer. Da konnten sich diese Hotelküche ihre Michelin-Sterne sonst wohin stecken. Michelin. „Erinnerst du dich an den—“, er stoppte sich und schüttelte rasch den Kopf. Das aller Letzte, was Taichi Yagami wollte, war mit Yamato Ishida im Supermarkt über vergangene Zeiten – Zeiten ihrer innigen und unzerstörbaren Liebe – sinnieren. Über die Liebe, die dann doch so laut und hallend zerbrochen war und eine ganze Stadt mit sich gerissen zu haben schien. — knapp zwanzig Jahre früher — „Wir haben den Eistee vergessen.“             „Echt?“             Was sicher daran gelegen hatte, dass sie etwa den gesamten Einkauf über—eigentlich den ganzen Tag schon kaum ein Wort miteinander gewechselt hatten. Es wunderte Taichi noch immer, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass er Yamato bei seinen Einkäufen geholfen und ihn anschließend noch nach Hause begleitet hatte. Gut, sie gingen nach der Schule eigentlich immer zu ihm oder eben Yamato, aber gerade heute? Es war doch immerhin so seltsam zwischen ihnen und sie hatten durchgehend geschwiegen. Aber, was sollten sie auch sagen nach dem, was zwischen ihnen geschehen war? Nach dem—             Taichi schaute wahrscheinlich mehr als nur dümmlich aus der Wäsche, als er plötzlich Yamatos Lippen auf den eigenen spüren konnte, seinen Körper so dicht an dem eigenen. Yamato überall.             Ganz automatisch schlang er seine Arme um die bekannte und plötzlich doch so fremde Gestalt da vor ihm. Im Gleichen erwiderte er den Kuss, während ihm die Gedanken durch den Kopf rasten. Er öffnete sogar kurz verwirrt seine Augen, schielte zu der Packung Reis runter, die anscheinend auf den Fliesen gelandet war. Hatte er nicht mit weiteren unangenehmen Stunden und irgendwann mit einer ebenso angespannten und nicht weniger seltsamen Unterredung gerechnet? Vielleicht Worten voller Reue und Verwirrung, weil sie beide nicht wussten, wie es zu dem Kuss gekommen war und was das Alles nun für sie und ihre Freundschaft zu bedeuten hatte? Yamato schien diesbezüglich irgendwie anders gedacht zu haben oder zumindest anders verfahren zu wollen.             Da sich Taichi plötzlich kindisch und wie ein Angsthase erschien, ärgerte er sich regelrecht darüber, wieso er nicht derjenige gewesen war, der Yamato gepackt und einfach geküsst hatte. Immerhin hatte er seit dem Kuss im Klassenzimmer an nichts mehr Anderes denken können. Er hätte der Stärkere und Forschere sein sollen.             Deswegen war er es nun, der sie noch während der Berührung in Bewegung setzte, nach vorne trat und Yamato damit von der Küchentür, in Richtung des Esstisches schob. Er mochte sich etwas ungeschickt anstellen, wie er seinen besten Freund bei der Hüfte packte und ebenso ungalant auf der Tischplatte absetzte, dabei einige Konserven von dieser beförderte. Ihr Kuss hatte sich dabei ebenso ungeplant gelöst und Yamato die Gelegenheit dazu gegeben, verwirrten Blickes auf den Tisch zu sehen.             „Taichi?“             Weiter sollte dieser ihn nicht kommen lassen, versiegelte er seine Lippen doch erneut zu einem intensiven Kuss, der langsam so vertraut schien, als hätten sie ihre gesamte Freundschaft über schon niemals mit anderen Aktivitäten ihre Zeit verbracht. Wahrscheinlich sollten sie über das hier reden. Sicher mussten sie das sogar, aber es würde warten müssen, denn so schnell würde Taichi dieses Gefühl nicht mehr aufgeben wollen, das jeden Zentimeter seines Körpers zu fluten schien.             Gefühlte Stunden später verharrten sie weiterhin in ihren Positionen, inmitten eines Chaos an Dosen, Papp- und Plastikverpackungen, die sich zu irgendeinem Zeitpunkt ihre Wege zu Boden gesucht haben mussten. Weder Taichi, noch Yamato hatte dies geschert. Nicht während sie sich fortwährend heftig geküsst und unkoordiniert, an jeder erreichbaren Stelle berührt hatten. Normalerweise wäre Taichi routinierter und gezielter vorgegangen. Yamato, der bekannte Schwerenöter, sicherlich ebenfalls. Sie wussten beide, wo sie Mädchen berühren würden, wie man einen Rock sachte über schlanke Schenkel schob und anschließend irgendwann die kleine Klammer des Büstenhalters öffnete. Diese Dinge waren schon so oft Teil ihres Vorgehens gewesen, dass sie sicher nicht mehr einen einzigen Gedanken der Planung an sie verschwenden mussten, aber das hier? Das waren fremde, starke Hände und ein ebenso fremder, harter Körper, der in Bundfaltenhosen, Hemd und Jackett der Schuluniform steckte. Taichi war nicht in der Lage dazu gewesen, auch nur die Krawatte, geschweige denn irgendwelche Knöpfe von Yamatos Hemd zu öffnen. Vielleicht hatte er soweit aber auch noch gar nicht denken können.             Sein Gesicht ruhte inzwischen in Yamatos Halsbeuge. Noch immer stand er vor dem Tisch, hielt den anderen Jungen mit beiden Armen fest umschlungen, dabei wiederum dessen Arme um sich spürend, seine Beine, die ihn gefangen hielten. Wirklich bequem standen und saßen sie so sicherlich nicht, aber das interessierte sie ebenso wenig, wie die Lebensmittel auf dem Boden. Er spürte Yamatos Finger in seinem Nacken, zwischen dem Hemdkragen und seinem Haaransatz, wie sie über den schmalen Streifen der freigelegten Haus geisterten, während ihr Besitzer schwer und heiß in der Umarmung zu ruhen schien, sich ansonsten kaum einen Zentimeter bewegte. Sie schwiegen abermals, bis—             „Ich habe Hunger“, erklärte Taichi mit einer rauen Stimme, die zwischen trockenen und fast schon wundgeküssten Lippen hervortrat und einem lauten Brummen seines Magens folgte.             Als Yamato gluckste, spürte Taichi jede kleine Bewegung seines Körpers an dem eigenen, nahm abermals so deutlich wahr, wie nahe sie sich waren.             „Dann sollte ich wohl mal meinen Pflichten nachkommen und dich verköstigen, nicht?“             Wie in Zeitlupe lösten sie sich ansatzweise voreinander, ließen vielleicht ganz bewusst ihre Blicke aufeinandertreffen und Taichi hatte das Gefühl in Angesicht der glasigen, blauen Augen, der roten Lippen und ebenso erröteten Wangen zerfließen zu müssen. Hatte die Vorstellung von seinem Yamato zusammen mit irgendwelchen Weibern ihn stets schon unbewusst und unbegründet gewurmt, so konnte er gerade kaum mehr in Worte fassen, welche Größe seine Eifersucht vereinnahmte. Niemand sollte ihn so zu Gesicht kriegen dürfen. Niemand außer ihm selbst.             Yamato schob ihn noch ein Stück von sich und ließ sich langsam von der Tischplatte rutschen. Obwohl sie allein in seiner eigenen Küche standen, richtete er sogar ein wenig sein Hemd und die Hose, legte aber wenigstens rasch das Jackett beiseite und hing es über einen der Küchenstühle. Ein Moment, den Taichi nutzte, um die Hände seines besten Freundes abzufangen und ihn an diesen erneut zu sich zu ziehen.             „Ich kann dich nicht gehen lassen.“             „Sei nicht albern, Taichi. Ich will doch nur zum Herd. Dein Essen macht sich nicht alleine.“             „Du wirst wieder zu jemand anderes gehen.“             Yamatos Lachen wurde von einem skeptischen, verwirrten Blick begleitet. Er wand sich ein wenig in Taichis Griff, wenn auch nicht voll ernsthafter Planung, sich loszureißen.             „Zu wem sollte ich gehen? Ich will dir etwas kochen. Dir. Keinem anderen.“             „Yamato.“             Endlich stockte dieser in seinem Grinsen, Grienen und Lachen, in seinem sich Winden und Zetern. Er sah zu Taichi rüber, legte seinen Kopf ein winziges Stück schiefer und die Stirn dabei in kleine Falten.             „Hey, was ist denn los?“, fragte er ihn, so als hätte er nun die Ernsthaftigkeit der Situation erkannt. Sie schien ihn zu beunruhigen, denn Taichi konnte ein Funkeln in den bekannten Augen erkennen, das er stets mit Unruhe im blonden Schopf in Verbindung hatte bringen können.             „Das hier ist kein Experiment für mich.“             Woher diese Worte kamen? Taichi hatte sie sich sicher nicht zurechtgelegt oder gar zweimal durchdacht. Sie purzelten ihm ebenso über die Lippen, wie auch alles andere, was er den ganzen lieben langen Tag so von sich gab. Meistens handelte es sich hierbei stets um Unfug, dumme Witzeleien und fiese Jungenssprüche, aber gerade hätten diese Definitionen nicht ferner liegen können.             „Ich bin keine von deinen vielen Errungenschaften.“             „Was redest du denn da? Natürlich bist du das nicht? Und was für ein Experiment—“             „Na, ein Experiment mit Jungs halt.“             Sie hatten vorher – zumindest Taichis Wissensstand nach – beide bislang nur sexuelle Erfahrungen mit Mädchen gesammelt und so gesehen konnte es doch durchaus sein, dass sie nun miteinander ein wenig herumprobieren wollten. Taichi allerdings störte die Existenz dieser Möglichkeit. Er wollte sie schnell aus der Welt schaffen, denn etwas in ihm versuchte in dieser Sekunde verzweifelt, Yamato von der Außenwelt abzukapseln. Der Außenwelt, in der er diese intimen Momente mit Sora oder, schlimmer noch, irgendwelchen unbekannten und unwichtigen Fans teilte.             „Taichi? Jetzt sag halt etwas. Du machst mich gerade voll nervös.“             „Ich kann es nicht genauer erklären.“             „Was kannst du nicht erklären?“             „Was hier passiert“, schloss er und seufzte schwer, schloss für einen winzigen Moment die Augen, in dem er versuchte, sich und seine Gedanken zu sortieren.             „Ich habe plötzlich eine panische Angst davor, dich zu verlieren.“             Inzwischen hatte er Yamatos Hände dennoch losgelassen, die eigenen an seinen Seiten herabfallen lassen. Wenn Yamato wirklich gehen wollen würde, könnte er dies nun tun. Stattdessen verweilte er aber direkt vor ihm, schob nun selbst seine Hände Taichis Arme hinauf, bis sie auf seinen Schultern verweilten.             „Schau mich an.“             Auch, wenn er nicht genau wusste, was nun kommen würde und wieso Yamato angesehen werden wollte, folgte er der Aufforderung ohne zu Zögern.             „Ich werde dich niemals verlassen. Nicht dich. Niemals dich. Verstanden?“             Etwas in Taichi lachte und erklärte sie beide vollends für wahnsinnig. Sie waren nicht einmal ein festes Paar, hatten nie über eine solche Möglichkeit gesprochen oder nur nachgedacht und nun schworen sie sich eine Ewigkeit in Zweisamkeit? Das ergab doch alles keinen Sinn.             Und dennoch erwischte sich Taichi dabei, wie er erleichtert die Anspannung in seinem Körper ziehen ließ, dabei nickte und nun einen kleinen Kuss auf eine Hand Yamatos drückte, die er von seiner Schulter gepflückt hatte.             „Was ist das nun?“, fragte er anschließend leise.             „Das ist erst der Anfang.“ Yamato hatte sein typisches, zwielichtiges Lächeln aufgesetzt und zwinkerte ihm zu. „Glaub mir.“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)