Ringrichter von Norden (Let's get ready to rumble. [TAITO]) ================================================================================ Kapitel 1: Erste Runde, erster Schlag ------------------------------------- Es war nicht so, dass Taichi Soras Wunsch nicht nachvollziehen konnte. Wahrscheinlich würde er diesen sogenannten „schönsten Tag im Leben“ auch gerne mit all seinen Freunden und Verwandten verbringen wollen. Er sollte ihr wohl keinen Strick daraus drehen, dass sie einfach nur alle hatte wiedersehen wollen. Taichi selbst hatte sich die letzten zwei Stunden ununterbrochen mit Koushirou und Jou unterhalten, also in knappen einhundertzwanzig Minuten bestimmt „mal eben“ um die fünf bis sieben Jahre aufgeholt, die sie einander kaum gesehen oder auch nur gesprochen hatten. Sogar mit Miyako aus Soras alter Volleyballmannschaft, der er früher vielleicht nur ein- oder zweimal über den Weg gelaufen war, hatte er einige höfliche Worte ausgetauscht. Man konnte dementsprechend nicht behaupten, dass er die Gelegenheit nicht zu ergreifen und zu genießen wusste. Nur konnte Sora denn nicht verstehen, dass diese netten Minuten des Austauschs mit einem hohen Preis einhergingen? Der Tag für ihn von dunklen Sturmwolken der Vergangenheit überschattet wurde? Während er so zwischen Koushirou und Jou saß, in ihrem Schutz ab und an mal das Buffet oder den Balkon aufsuchte, konnte er sich sicher fühlen. Aber noch hatte er sich nicht dazu überwinden können, auch nur einen Schritt alleine zu tun, eventuell sogar durch den großen Festsaal zu streifen, alles in der Befürchtung, Yamato begegnen zu können und dann keine Ausrede für eine sofortige Flucht parat zu haben. Der Nervenkitzel, der ihm die Nackenhaare zu Bergen stehen ließ, während er am Geländer des Balkons lehnte, die anderen Gäste beobachtete und die Sekunden zählte, ehe sein Begleitschutz von der Bar zurückkehren würde, reichte ihm vollkommen aus. Er wusste, dass, würde er auch nur eine Sekunde lang nicht aufpassen, das Treiben um sich herum nicht mehr verfolgen, etwas Schreckliches geschehen, ihm seine Nachlässigkeit also heimgezahlt werden würde. Leider half ihm dieses Wissen nicht gegen seine Neugierde aus, die ihren eigenen Weg einschlug, als ein lautes Klirren ertönte und prompt die panischen Entschuldigungen eines jungen Kellners folgten. Dieser hatte ein ganzes Tablett mit gefüllten Champagnergläsern zu Boden fallen lassen, nachdem er über die Schleppe des Kleids von Soras Tante gestolpert war.             „Hallo Taichi.“             Taichi fuhr zusammen und sah zwangsläufig zum Urheber der Worte, der weichen und klingenden Stimme rüber.             „Mimi— hi.“             Es brachte Taichi kein wirkliches Gefühl des Triumphs ein, dass er Recht behalten hatte. Keine ganze Sekunde lang hatte er einmal nicht aufgepasst und – BAM – schon war er überfallen worden. Nur, anscheinend meinte es das Universum nicht ganz schlecht mit ihm, da es immerhin „nur“ Mimi war und nicht etwa Takeru oder – Gott bewahre. – der Ex persönlich.             „Wieso lächelst du so?“             Sie gluckste leise und stieß ihm gegen die Schulter. Taichi war gar nicht aufgefallen, dass er sie und schließlich auch ihren kleinen Sohn beobachtet, ein warmes, wenn auch etwas schiefes Lächeln nicht weiter hatte unterdrücken können. Ja, natürlich konnte er die Gefühle seiner Schwester nachempfinden und er wollte ihr durchaus den Rücken stärken, aber nichtsdestotrotz hatte ihm Mimi immer schon sehr am Herzen gelegen und Takeru war sogar ein noch größerer Teil seines Lebens gewesen.             „Entschuldige.“             Sie winkte ab und lachte leise, zuckte anschließend mit den schmalen, nackten Schultern. Taichi hatte sich stets gefragt, wie Frauen ärmellose Kleider und Oberteile tragen konnten, ohne darum fürchten zu müssen, von einer Sekunde auf die nächste plötzlich vollkommen entblößt dastehen zu können, aber er hielt es für unangebracht, eben diese Gedanken genau jetzt zu verbalisieren. Es gab für alle Fragen eine Zeit und einen Ort und beides war hier und jetzt nicht gegeben. So viel hatte selbst er, Taichi Yagami – seines Zeichens ein Meister der unangebrachten und unangenehmen Fragen –, dazu gelernt.             „Ich weiß, ich weiß. So reagieren eigentlich alle. Man sollte meinen, die letzten Jahre, die Takeru und ich nun schon zusammen sind, hätten dazu ausgereicht, dass sich die Leute an die Lage gewöhnen konnten.“             Wo sie recht hatte. Wahrscheinlich verhielten sie sich alle ausgenommen lächerlich und kindisch.             „Wie lange seid ihr nun schon verheiratet?“             „Drei Jahre.“             „Und der Kleine ist jetzt?“             „Drei.“             Sie lachte wieder, zwinkerte frech.             „Es passiert, wie es passiert, richtig? Aber immerhin waren wir vorher schon eine Weile lang zusammen. Sonst hätte es sicher etwas— unschön gewirkt, wenn man es so sagen will.“             Taichi nickte, sah zu dem Jungen hinab, den er automatisch als seinen „nahezu“-Neffen betrachtete. Natürlich waren Yamato und er nun schon eine halbe Ewigkeit über kein Paar mehr, aber aus alten Gepflogenheiten konnte man sich für gewöhnlich nur schwer lösen.             „Wie heißt du denn?“             Der Kleine war aber auch zu niedlich, mit seinen blonden Locken und den großen, braunen Augen, wie er sich hinter seiner Mutter zu verstecken versuchte, die in ihrer zierlichen Gestalt keinen sonderlich guten Schutz abgab. Anstatt ihm zu antworten, schob er sich nur weiter hinter Mimi, reagierte auch nicht auf ihre Worte, die ihn eigentlich dazu aufforderten, sich Taichi doch vorzustellen.             „Er ist schüchtern“, erklärte Mimi Taichi schließlich. „Aber sein Name ist Taichi.“             „Taichi?“             Gut, jetzt gehörte ihr all seine Aufmerksamkeit. Ebenso auch seine Skepsis. Wieso sollten Takeru und Mimi ihren Sohn nach ihm benannt haben?             „Was? Es ist ein schöner und starker Name und du besitzt kein Monopol oder sonst etwas auf ihn.“             „Monopol?“             „Was, sehe ich aus wie ein Wörterbuch? Du weißt schon, was ich meine: Nur weil du Taichi heißt, bedeutet das nicht automatisch, dass niemand sein Kind so nennen darf.“             Taichi nickte, wenn auch unschlüssig. So ganz wollte es nicht in seinen Kopf, dass das junge Paar gerade einen Namen wählen würde, den ein alter Bekannter trug. Allerdings durfte er in diese Begebenheit auch nicht zu viel hineininterpretieren, weswegen er die Gedanken beiseite schob und nickte.             „Guter Name auf jeden Fall.“             „Danke.“             Sie schwiegen einen Moment, betrachteten einander. Nie hatte sich Taichi mit der Behauptung gerühmt, Menschen, ihre Gesten und Ausdrücke besonders gut lesen zu können, aber selbst er erkannte die Wehmut, die in ihren Augen schimmerte. Sie hatten einander eine lange Zeit über sehr nah gestanden und nun konnten sie kaum fünf Minuten der Konversation aufrecht erhalten.             Mimi räusperte sich und versuchte zu lachen, aber das Geräusch klang nicht aufrichtig.             „Nun, deine Schwester versucht mich also mit ihren Blicken umzubringen?“             Es wunderte Taichi etwas, dass sie das Thema nicht weiträumig umfuhr, sondern sogar direkt ansprach.             Er nickte und lachte nun selbst.             „Komm schon, du hast ‚ihren’ Takeru geheiratet und einen Sohn mit ihm. Was hast du erwartet?“             „Ja, soweit komm ich selbst noch mit, aber mal im ernst: Das ist zwölf Jahre her. Zwölf Jahre lang sind sie schon kein Paar mehr. Sie hatten anschließend kaum noch Kontakt miteinander, mal ganz davon abgesehen, dass sie ihn für Daisuke verlassen hat – aus dem Nichts heraus. Sie hat ihm das Herz gebrochen.“             Da konnte Taichi allerdings auch nichts gegen sagen, denn Mimi präsentierte durchaus eine korrekte Darstellung der Geschehnisse.             „Ich weiß es nicht, aber wahrscheinlich gibt es einfach einige Menschen, die—  also die uns im Herzen bleiben und von denen wir nicht— wegkommen, vielleicht?“             Er war kein grandioser Wortakrobat, aber Mimi zumindest auch nicht, weswegen sie eigentlich schon immer auf einer gemeinsamen Ebene miteinander hatten kommunizieren können. Sie nickte auch sofort, schien seine Gedanken nachvollziehen zu können.             „Schade ist es trotzdem. Ich habe, naiv wie ich manchmal bin, gehofft, dass wir weiterhin Freundinnen sein könnten. Naja, wenigstens alte Bekannte.“             Sie ergriff Taichis Hand, der dies keineswegs zu verhindern gedachte. Eher erwiderte er den sanften Druck kurz, bevor die Berührung auch schon wieder gelöst wurde. Mimi wollte wahrscheinlich beteuern, sie würde sie vermissen. Aussprechen musste sie diese Worte allerdings nicht, empfanden sie wohl das Gleiche und brauchten keine genaue Definition oder Beschreibung eines genauen Ausmaßes dieser Gefühle.             „Nun“, brach Mimi nach einigen Minuten die Stille und Melancholie, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, „ich schätze mal, du hast noch nicht mit Yamato gesprochen?“             Die Frage brachte Taichi zum Lachen. Mimi stimmte mit ein und wieder verstanden sie sich, ohne weitere Worte zu benötigen.             „Ist in Ordnung, ich wollte nur mal gefragt haben. Es ist zu schade—“             „Lass gut sein, Mimi.“   -   „Kannst du mir sagen, was das sollte?“             Taichi tat automatisch einen Schritt – eigentlich fast schon eher einen Satz – zur Seite, als Hikari ihn plötzlich abfing, grob am Arm ergriff.             „Was was sollte?“             Eigentlich wusste er sehr wohl, worauf seine kleine Schwester anspielte, aber das bedeutete nicht automatisch, dass er auch dazu stehen musste. Bislang hatte es ihn schon aus einigen unbequemen Situationen retten können, sich einfach ein wenig dümmer oder wenigstens langsamer zu stellen, als er es in Wirklichkeit war.             „Wieso redest du mit der?“             Hikari, obwohl sie gemeinsam aufgewachsen waren, war diese Masche von ihm anscheinend nie durchstiegen. Wenn Taichi es sich genau überlegte, hatte ihn eigentlich niemand je so hundertprozentig durchschauen können. Das hieß, niemand außer Yamato natürlich, der, wenn Taichi auch nur versucht hatte, sich dämlich zu stellen, selbst noch dümmer getan hatte. Ein Wechselspiel, das Stunden hatte andauern und Taichi letzten Endes zumeist in den Wahnsinn hatte treiben können. Er war es dann meistens gewesen, der verzweifelt – oft sogar verzweifelnd lachend – aufgegeben hatte.             „Kari, übertreib nicht. Es ist jetzt nicht so, als hätte sie dir deinen Ehemann ausgespannt oder so. Sie ist eine alte Freundin und ich darf mich mit ihr unterhalten, wenn ich das will.“             Er schenkte ihr einen vorwurfsvollen Blick.             „Und du solltest auch mit ihr reden.“             „Ach, sollte ich das?“             „Ja.“             „Ja?“             „Ja.“             „Was weißt du schon, Herr ‚Ich verstecke mich schon seit Stunden vor meinem Ex’?“             Taichi schnaufte. Sicher würde er nun nicht von sich weisen, dass er sich vor Yamato versteckte, aber Hikari war diesbezüglich die letzte Person, die ihn rügen durfte.             „Also hast du schon mit Takeru gesprochen und ihm nachträglich zur Hochzeit oder der Geburt seines Sohnes gratuliert?“             Hikari rümpfte die Nase. Sie schüttelte ihren fein frisierten, haselnussbraunen Schopf und schenkte ihrem großen Bruder keinen zweiten Blick mehr. Lieber stöckelte sie wortlos auf ihren Pfennigabsätzen davon, ließ Taichi zurück, der in seiner Position verharrte und zusah, wie sie verschwand. Wieso musste er jetzt eigentlich ausbaden, dass Hikari eine Entscheidung in Frage zu stellen schien, die sie vor zwölf Jahren getroffen hatte? Und darüber hinaus: Seit wann meinte sie eigentlich, mit ihrer Entscheidung nicht mehr zufrieden zu sein? Bis zu dem Moment, an dem sie erfahren hatten, dass Takeru und Mimi ebenfalls zu den Hochzeitsgästen zählten, hatte Hikari eigentlich keine Sekunde über gezweifelt.             Taichi schüttelte nur noch seufzend den Kopf. Er verstand Frauen nicht, seine Schwester nicht und andere weibliche Geschöpfe erst recht nicht. Es gab einen Grund dafür – eigentlich mehrere Gründe –, wieso er sich ausschließlich für andere Männer interessierte, denn deren Idiotie konnte er wenigstens noch aus seinem eigenen Verhalten ableiten und damit in ihren Ansätzen nachvollziehen. Wieso konnte das Leben nicht simpler sein? Andauernd musste alles kompliziert und verstrickt, zermürbend, ermüdend, maßlos in die Verzweiflung und den bodenlosen Wahnsinn treibend— Nun, auf jeden Fall war es anstrengend. Eigentlich wollte Taichi nicht die restliche Hochzeit über auf dem Flur fristen, sich den Kopf darüber zerbrechen, ob er wohl der einzige Mensch auf dem Planeten Erde war, der einfach nur nach einer einfachen, angenehmen und liebevollen Beziehung suchte. Während der Hang zur Dramatik und dem zusammenhangslosen, unsinnigen Verhalten verteilt worden war, schien er anscheinend gerade beim Buffet gewesen zu sein.             Er verwarf seine wirren Gedanken, die anscheinend ansteckend jeden Gast der Hochzeit heimzusuchen schienen, wollte gerade wieder den Festsaal anpeilen, als ihm die Tür der Herrentoilette ins Auge fiel und ihn spontan daran erinnerte, dass er ursprünglich mal hergekommen war, um einer – ausnahmsweise sehr menschlichen und nachvollziehbaren – Handlung nachkommen zu können: Selbst ein trainierter Biertrinker, der neunzigminütige Fußballspiele, inklusive Halbzeit und zweifacher Verlängerung, durchzuhalten wusste, ohne auch nur ein einziges Mal die Couch zu verlassen, konnte von knapp zehn Gläsern Champagner, den ausgleichenden zehn Gläsern Wasser und zwei Tequila Shots irgendwann in die Knie gezwungen werden.             Er griff nach der Türklinke, lief damit fast in einen weiteren Gast hinein, der die Herrentoilette gerade hinter sich lassen wollte. Sie verbeugten und entschuldigten sich beide knapp und Taichi wartete einen Moment, bis der Fremde von dannen gezogen war, bis er ein weiteres Mal nach dem goldenen Knauf langte und die Tür öffnete. Der positive Aspekt einer so überzogen pompösen Hochzeit gestaltete sich durchaus in den Bädern, die, trotz der knapp zweihundert Gäste, noch immer in ihrer Sauberkeit blitzten und funkelten. Taichi zumindest fühlte sich fast schuldig dabei, die glänzenden Fliesen mit seinen dreckigen Sohlen zu betreten, aber soweit, dass er sich vor dem Klogang seiner Schuhe entledigte, war es dann doch noch nicht gekommen. Zumal man ja auch nie wusste, wie treffsicher die anderen Herren der Schöpfung noch waren, so spät am Abend und auf einer Hochzeit, deren kostenloser Ausschank aller alkoholischer Getränke, die man sich nur vorstellen konnte, auch lebhaft genutzt wurde.             Entsprechend der Regeln, dass auf einer Männertoilette stets der Blickkontakt gemieden und einfach, so flink es ging, das erledigt werden sollte, was zu erledigen anstand, achtete Taichi keineswegs auf eine etwaige Gesellschaft innerhalb der edlen Räumlichkeit. Er wich einem weiteren Gast aus und peilte geradewegs die Urinale an. Ganz am Rand vernahm er die Tür, die sich öffnete und schloss, nebenbei auch das laufende Wasser von einem der Waschbecken, die sich zur Linken des Pissoirs befanden. Er schenkte ihm keine weitere Aufmerksamkeit, überlegte inzwischen – entsprechend viel Alkohol später – nicht einmal mehr, ob er nicht doch lieber eine der abgeschlossenen Kabinen aufsuchen sollte. Ab einem gewissen Pegel interessierte es wohl selbst den größten Skeptiker des Pissoirs in der Öffentlichkeit nicht weiter, wer sehen oder hören konnte, wie man der Natur Folge leistete. Taichi selbst war meistens unentschlossen, wie er zu diesen Einrichtungen stand. Zwischen anderen angeheiterten Fußballfans oder gar seinen Freunden konnte ihn eigentlich nichts weniger interessieren, aber in so einem feinen Hotel unter fremden, pikfeinen Leuten war das ein wenig anders.             Er versuchte gerade, seine Gedanken in Richtung eines verlassenen Wasserfalls zu lenken, als zu allem Überfluss das Rauschen des laufenden Wassers verebbte und absolute Stille im Waschraum eintrat. Einen Moment schloss er die Augen und wollte sich ablenken, allerdings trug die unangenehme Ruhe sicher nicht zu seiner Entspannung bei. Ebenso wenig das Geräusch, dass teure Ledersohlen auf den Fliesen auslösten, als sie sich vom Waschbecken wegbewegten. Wollte der Besitzer der Sohlen den Raum verlassen, würde er zwangsläufig an Taichi vorbeigehen müssen, was diesen gleichermaßen beunruhigte und doch auf einen baldigen, ungestörten Moment der absoluten Isolation hoffen ließ.             Ein wenig unangenehm blieb es dabei natürlich, wie er regungslos vor dem Urinal verharrte, krampfhaft die Fliesen vor sich anstarrte und darauf hoffte, bald allein sein zu können. Das Gefühl sollte nicht verebben, als die Sohlen sich näherten und— nicht etwa an ihm vorbeizogen, sondern einen knappen Meter von ihm verharrten. Ultimativ sah sich Taichi zwischen seiner Neugierde darüber, was die ungewünschte Gesellschaft aufgehalten hatte, und seinen eigenen beruhigenden Worten gefangen, mit denen er sich selbst erklärte, dass er sich gerade viel zu viel in diese Situation hineindichtete und der Fremde jede Sekunde abziehen würde. In diesen Gedanken, seiner Starre und fast schon mit angehaltener Luft verharrte Taichi, wartete einfach nur ab, bis es ihm doch unsinnig erschien, was hier gerade ablief. War der Kerl etwa hinter ihm stehengeblieben, um ihn nervös zu machen, oder was – zur Hölle – trieb er mitten in einem Raum, in dem definitiv kein einziger Grund dafür existierte, untätig und länger als nötig zu verharren.             „Hi Taichi.“             Wahrscheinlich konnte man kaum so schnell gucken, wie der Angesprochene sich wieder vollständig bedeckt und sogar den Reißverschluss seiner Hose hochgezogen hatte. Er tat sich ein wenig schwer mit dem schmalen Ledergürtel, der sich nicht schließen lassen wollte, während er sich vom Urinal abwandte und damit direkt Yamato gegenüber finden konnte. Da stand er nun also, der Ex.             „Kannst du immer noch nicht pinkeln, wenn du dich beobachtet fühlst?“             Taichi brummte, verfluchte seine Verlegenheit, die ihn so panisch hatte reagieren lassen.             „Bist du unter die Stalker gegangen?“, fragte er zurück, anstatt die dämliche Frage des Anderen mit einer Antwort zu würdigen. „Oder hast du es so nötig, dass du Männern nun schon im Badezimmer auflauerst und versuchst, einen Blick zu erhaschen?“             Während er versuchte, so garstig wie möglich zu klingen, widerstand Taichi gleichermaßen der Versuchung, Yamato direkt ins Gesicht zu sehen. Der Moment war seltsam genug und da musste er sich nicht auch noch von einem Blick in die bekannten blauen Augen verwirren lassen.             „Hm, nein, eigentlich war ich hier, weil mir Taichi aufs Hemd gespuckt hat.“             „Ich habe überhaupt nicht—“             Taichi unterbrach sich selbst abrupt, hatte er noch im gleichen Moment verstanden, dass es sich kaum um ihn handeln konnte, sondern Yamatos Neffe gemeint gewesen war.             „Tz“, inzwischen hatte Taichi seinen Gürtel halt Gürtel sein lassen und lieber sein Hemd ansatzweise gerichtet, das er allerdings später definitiv noch einmal ordentlich in seine Hose zurückverbannen müssen würde. „Das erklärt nicht, wieso du hinter mir stehen bleibst.“             „Ach so, das war zu meiner persönlichen Erheiterung. Ich wusste immerhin, wie wahnsinnig es dich machen würde.“             „Witzig.“             „Schon ein wenig, ja. Aber bitte, bitte, lass dich von mir nicht stören. Ich glaube, du wolltest dich gerade erleichtern.“             Schnaubend schüttelte Taichi seinen Kopf. Es war wohl nur zu erwarten gewesen, wie ein erstes Aufeinandertreffen mit Yamato ablaufen würde, bedachte man ihre letzten Stunden miteinander oder eher, wie sie diese verbracht hatten. Als frisch verknallter Teenie oder aufrichtig verliebter Langzeitfreund hätte sich Taichi niemals träumen lassen können, zu welchem Rosenkrieg „sein“ Yamato und er fähig wären.             „Du hast keine Vorstellung davon, was mich gerade alles erleichtern würde“, murmelte Taichi in diesem Sinne unter seinem eigenen Atem. Er wollte ungerne eine Prügelei auf der Herrentoilette anzetteln und dazu gehörte auch, dass er Yamato nicht provozieren, geschweige denn einen ersten Hieb langen würde. Sie hatten sich im Laufe ihrer Vergangenheit beide nicht sonderlich mit Ruhm bekleckert, was ihre Handgreiflichkeiten gegeneinander betraf, so viel stand schon einmal fest.             „Nun, wir sind inzwischen über dreißig, richtig?“             „Hm?“             Deutlich irritiert linste Taichi zu Yamato rüber, der weiterhin bei ihm verharrte, allerdings keinen Blickkontakt suchte, sondern sich selbst gerade im gegenüberliegenden Spiegel betrachtete, nonchalanter Art seine teuer wirkende Krawatte richtete.             „Worauf willst du hinaus?“             Er hatte es immer schon gehasst, sprach Yamato in Rätseln mit ihm, stellte sich damit über ihn und seine stockende, langatmige Bereitschaft dazu, zwischen unsinnigen Zeilen und Floskeln zu lesen.             „Glaubst du wirklich, du hättest dich so stark verändert? Wir haben gut zehn Jahre jeden Tag miteinander verbracht—“ Yamato stockte und schüttelte den Kopf. „Sogar über zehn Jahre“, verbesserte er sich schließlich, „und das verschwindet nicht einfach so. Ich weiß, dass du dir gerade gewünscht hast, mir Eine zu verpassen, dich dann aber zur Vernunft gerufen hast, weil du Soras Hochzeit nicht fortführend ruinieren möchtest. Das Fiasko auf der Treppe hat aber auch wirklich gereicht.“             „Und was hat das bitte mit unserem Alter zu tun?“             Es sollte ihn wahrscheinlich nicht wundern, dass Yamato ihn selbst nach zehn Jahren der Trennung noch wie ein offenes Buch lesen konnte, aber das bedeutete nicht gleichermaßen, er müsste seine dämlichen, tragenden Reden verstehen... oder gar ertragen.             Yamato zuckte mit den Schultern. Er hatte sich Taichi wieder zugewandt, die Arme dabei vor der Brust gekreuzt, wie er es immer zu tun pflegte, wollte er sozusagen einen emotionalen Abstand zwischen sich und seinen gegenüber bringen. Anscheinend war nicht nur Taichi seiner Marotten treu geblieben.             „Ich meine ja nur. Wir sind keine Teenager mehr, die keine Kontrolle über sich halten können und sich deswegen schon aufgrund einer kleinen, unwichtigen Auseinandersetzung prügeln müssen. Wir waren doch immer eher— nun— impulsiv, wenn man es so nennen möchte.“             Taichi wusste nicht, ob er es wirklich so nennen wollte. Waren sie impulsiv gewesen? Er selbst, so kitschig es auch klingen mochte, hatte es immer als ein Ausmaß ihrer Leidenschaft füreinander betrachtet, waren sie aus dem Nichts auf hundertachtzig gefahren und hatten einander entweder verprügelt oder aber noch an Ort und Stelle ihrer Kleidung entledigt – oder eben beides auf einmal – oder nacheinander zumindest.             „Tu nicht so, als könntest du meine Gedanken lesen. Das war nie niedlich.“             „Niedlich?“             „Du weißt schon, wenn du so tust, als wärst du pfiffig. Mich konntest du damit sowieso nie reinlegen. Ich war immerhin dabei, als du unsere Stromrechnung kaum durch zwei teilen konntest.“             „Mathematik hat nichts mit Menschenkenntnis zu tun, Taichi. Du wusstest nicht, dass Australien kein Teil Amerikas ist.“             „Das stimmt nicht einmal.“             Wurmten Taichi Yamatos alberne Sprüche schon, so trieb es ihm regelrecht die Glut in die Brust, als sie gleichzeitig mit der Zunge schnalzten und einen trotzigen Laut von sich gaben.             „Wärst du ach so erwachsen, würdest du mir übrigens nicht im Bad auflauern.“             „Wärst du so erwachsen, hättest du mich anständig begrüßt, anstatt direkt das Weite zu suchen.“             „Ich habe nie behauptet, erwachsen zu sein. Du hast mit irgendetwas von ‚über dreißig’ angefangen. Und mal ganz davon abgesehen bist du immer noch zehn Monate älter als ich.“             Er ließ seinen Blick demonstrativ an Yamato auf und ab gleiten, verbot sich dabei selbst, tatsächlich wahrzunehmen, was er da sah. Es ging hier nicht darum, wie sein Ex aussah, was er trug, wie er sich bewegte – selbst zehn Jahre und eine hässliche Trennung später war Taichi nicht ignorant genug, um von sich weisen zu können, dass Yamato für ihn den Inbegriff von Eleganz und Ausstrahlung verkörperte und immer verkörpern würde. Ja, er war kein Model, hatte sie ewig schon über seine schmalen Lippen und zu dominanten Wangenknochen, das spitze Kinn beschwert; ganz zu schweigen von den Augenringen, die er niemals ausschlafen konnte und die immer noch recht düster unter blonden Wimpern lagen. Für Taichi war er dennoch immer perfekt gewesen. Für ihn und generell hatte doch nie jemand abzustreiten gewusst, dass kein Junge ihrer Nachbarschaft sich graziler bewegte, adretter auftrat und eine gewisse Ausstrahlung der Unerreichbarkeit und Erhabenheit ausstrahlte. „Suchst du etwas bestimmtes?“ Aber dieses Mal wollte sich Taichi von Yamatos schnippischer Art nicht beirren lassen, wenigstens diese Sekunden in seinen Gedanken, seiner tunlichst gemiedenen Inspektion verbringen, die ein vollständiges Eigenleben entwickelt zu haben schien. Fehler? Von welchen Fehlern hatten sie eigentlich immer gesprochen? Schmale Lippen waren männlich, spitze Wangenknochen wirkten erwachsen und edel und wer sich noch über tiefe Augenringe beschweren konnte, die ein blasser Teint nun einmal mit sich bringen konnte, der sollte doch bitte ein paar Millimeter aufsehen und sich davon überzeugen lassen, dass sie die tiefblauen Augen nur intensiver unterstrichen.             Taichi schüttelte sich diese Gedanken aus dem Kopf und rief sich in besagten rasch zurück, wieso er Yamatos Gestalt kritisch hatte beäugen wollen. Er zischte.             „Selbst wenn wir uns prügeln würden, hättest du wohl kaum mehr eine Chance. Das Fitnessstudio scheint nicht unbedingt dein Freund zu sein?“             „Nicht jeder stopft so viel Essen in sich hinein, dass er morgens, mittags und abends ganz zwangsläufig zum Training muss, um nicht binnen eines knappen Monats die Silhouette einer Rumkugel angenommen zu haben, nicht? Oder doch besser die Bibendums?“             Das war auch sehr typisch für den Yamato, den Taichi kannte. Er hatte immer schon gerne mit Begrifflichkeiten und Fremdworten, oder eben einfach nur unnützen Wissen um sich geworfen, einfach, weil er es konnte und sich gerne intelligent fühlte. Für gewöhnlich hatten ihn Gesprächspartner schließlich immer um Erklärungen gebeten, oder sich beim Überspielen ihrer Unwissenheit blamiert und Yamato dann ein kleines, überhebliches, aber auch gleichermaßen befriedigtes Lächeln entlocken können.             „Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der denkt, unnützes Wissen ließe ihn intelligent und attraktiv erscheinen.“             Yamato lachte, ließ Taichi seine Stirn kritisch in Falten legen. Was hatte er nun wieder gesagt?, fragte er sich.             „Was?“             „Nun, kennen wir uns eigentlich noch?“             „Hast du nicht gerade gesagt, du kannst mich noch immer auswendig?“             „Eigentlich meinte ich, ich kann dich und dein Verhalten immer noch lesen.“             Taichi zuckte mit den Schultern. Das war für ihn gehüpft wie gesprungen und es nervte ihn unbeschreiblich, dass Yamato die Unterhaltung so schnell abtuen zu wollen schien, wie er sie so salopp begonnen hatte: Er peilte gerade schon die Tür der Toilette an und schenkte Taichi nur noch einen letzten Blick, als im gleichen Moment ein fremder Hochzeitsgast durch die Tür und ins Innere trat. Er riss Taichi aus allen Gedanken, die er gerne noch geäußert hätte, ließ ihn unbefriedigt und dämlichen Blickes vor dem Urinal zurück.   -- knapp zwanzig Jahre früher --   „Was trägst du da?“             Unterstrichen mit einem, für Yamato seht typischen, skeptischen Blick, klang diese Frage nicht nach einer solchen sondern eher nach einem Vorwurf.             „Wie, was trage ich da? Ist dir aufgefallen, wie kalt es ist?“             Taichi schnaufte. Man sollte meinen, dass er diesen einen einzigen Morgen mal abholen könnte, ohne von ihm in irgendeiner Art kritisiert zu werden.             Er selbst sah nun an Yamato herab, begutachtete seine schwarze Carbanjacke, die keinen sonderlich wärmenden Eindruck erwecken konnte, zumindest auf Taichi nicht.             „So willst du raus?“             „Was? Die ist warm.“             So ganz konnte Taichi das nicht glauben, aber inzwischen wusste er es eigentlich besser, als sich schon am frühen morgen auf eine Diskussion mit einem unausgeschlafenen, stinkigen Yamato anzulegen.             „Da musst du gar nicht so gucken.“             Wobei seine Ausweichstaktik natürlich nur dann funktionierte, ritt der gute Ishida nicht selbst weiterhin auf der Thematik herum, während er die Tür der Wohnung von sich und seinem Vater ins Schloss zog und anschließend verriegelte. Dass er dabei nicht unbedingt leise und bedacht vorging, signalisierte Taichi, dass Yamatos Vater momentan anscheinend Frühschichten schob, entsprechend also nicht noch oder wieder schlief und dementsprechend nicht geweckt werden sollte. So ganz blickte er nie durch den Arbeitsplan des— Taichi wusste nicht einmal, was Hiroaki Ishida genau arbeitete, aber auf jeden Fall variierten seine Schichten und er war nur selten einmal zu Hause anzutreffen. Natürlich könnte er durchaus bei Yamato nachhaken, welchem Beruf diese Abwesenheit zu verschulden war, aber jeder, der Yamato kannte, wusste, dass es gewisse Themen gab, die man in seiner Gegenwart allgemein meiden, geschweige denn gezielt ansprechen sollte.             Taichi schüttelte den Kopf und drehte sich um, um vor Yamato das Treppenhaus anpeilen zu können, das wie der Flur nach außen gelegen war. Er wollte die Hand seines Freundes, die in eine gesteppte Rolle seiner Daunenjacke griff, von sich schütteln, Yamato und das seltsame Geräusch, das er von sich gab, gleichermaßen ignorieren, aber anscheinend war diesem nicht danach, Ruhe zu geben.             „Du siehst aus wie Bibendum.“             „Wie wer?“ Er griff erneut nach Yamatos Hand und zog sie aus dem Stoff seiner Jacke, konnte sie mit dieser Aktion aber lediglich knappe drei Sekunden davon abhalten, nur wieder an ihm herumzudrücken.             „Du weißt schon, dieses weiße, dicke Schaumgummieding mit den Ringen.“             Sie stiegen die Treppenstufen zusammen hinab, störten sich dabei, wie so oft, anscheinend keineswegs daran, dass es nicht sonderlich schneller ging, schoben sie sich nebeneinander die engen Flure hinab. Seltsamerweise kamen sie keinen Morgen mal auf die Idee, einfach hinter- oder voreinander zu gehen.             „Du meinst das Marshmallowding von den Ghostbusters?“             „Das ist Stay Puft Marshmallow Man, ich meine—“             „Ach ich weiß, das Reifenmännchen von Michelien?“             „Mi-che-lin— Michelin heißt das, Taichi. Das ist französisch.“             Er sah an sich herab und drückte selbst an den Ringen der Daunenjacke herum. Ein wenig den Eindruck des Männchens machte er durchaus, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Yamato mit inhaltslosen Wissen um sich warf, anstatt einfach zu sagen, die Jacke trüge auf und ließe Taichi moppelig aussehen. Was war so verkehrt an einer einfachen Aussage?             „Tu nicht so, als könntest du französisch.“             „Ich war immerhin schon ein paar Mal in Frankreich.“             Schnaubend schob Taichi Yamato gegen das innenliegende Geländer der Treppe, nahm selbst die folgenden Stufen schneller, um dem Gegenangriff ausweichen zu können, der auch prompt folgen sollte. Er konnte sich kaum so flink Yamatos Händen entziehen, wie sie nach seinem Rucksack griffen und ihn an diesem gegen das äußere Geländer beförderten. Er sah, wie es dieses Mal Yamato war, der an ihm vorbeieilte und schon bald am Fuß der Treppe stand, hier gerade seine schwarze, ledernde Umhängetasche richtete.             „Hör auf so zu trödeln, Bib.“             „Nenn mich nicht so. Wenigstens friere ich nicht.“             „Ich friere gar nicht.“             Selbstredend glaubte Taichi seinem besten Freund kein Wort. Er hob aber trotzdem knapp abwehrend seine Hände hoch und blieb brav still, während er neben Yamato ihren gemeinsamen Schulweg einschlug. Seine Ruhe bedeutete allerdings nicht, dass er den Anderen aus den Augen ließ, nicht beobachtete, wie er mit seinen schicken, schwarzen Turnschuhen jedem kleinsten Haufen Schnee auswich und die Hände unnötig fest um den Riemen seiner Schultasche klammerte. So schick der gute Junge auch aufzutreten pflegte, so empfand Taichi sein Verhalten bei solchen Temperaturen doch eher als lächerlich. Er selbst stand ja auch nicht unbedingt auf seine leuchtend rote Daunenjacke und die klobigen, altbackenen Winterstiefel, die ihm seine Mutter ungefragt gekauft und aufgezwungen hatte, aber wenigstens konnte er ganz unbedacht dem Wind entgegentreten, dabei seine Aufmerksamkeit auf Yamato haften, anstatt auf den Gedanken, der den Kopf seines Freundes sicher kaum mehr in Ruhe ließ: Ich will nicht erfrieren. Ich will nicht erfrieren. Ich will nicht erfrieren.             Taichi seufzte leise. Er schob sich neben Yamato und ergriff den Gurt seiner Tasche, hielt ihn an diesem zurück.             „Warte mal. Willst du dir wirklich nicht noch etwas—“             Er stoppte, runzelte die Stirn, während er Yamatos Tasche anhob. Schon war die Temperatur und Yamatos wirre Priorität, lieber krank zu sein und gut auszusehen, als gesund zu bleiben und vielleicht ein wenig plumper zu wirken, wieder vergessen.             „Hast du hier überhaupt irgendetwas drin?“             „Natürlich.“             Der Gurt wurde seiner Hand entzogen. Yamato brummte missmutig, rückte die Tasche richtig, nahm hierbei seinen Schritt wieder auf.             „Das ist seltsam, denn ich schleppe mich gerade an den drei Geschichtsbüchern tot, die wir für die nächsten Stunden organisieren und mitbringen sollten.“             Yamato zuckte mit den Schultern, schmunzelte, als sein Blick auf den Taichis traf.             „Ich habe doch deine. Im schlimmsten Fall müssen wir sie uns teilen. Im besten Fall wirst du sowieso wieder nach fünf Minuten vor die Tür gesetzt und ich kann ganz in Ruhe und anständig arbeiten.“             „Jetzt pokerst du schon darauf, dass die Alte mich rauswirft?“             Es stimmte durchaus, dass sich Taichi nicht mit ihrer garstigen Geschichtslehrerin verstand, aber bislang wäre er nicht auf die Idee gekommen, dass sich sein bester Freund schon einen Spaß aus dieser Gesamtsituation machte, sie sogar für sich selbst zu nutzen wusste. So wenig der Herr Ishida auch im Unterricht aufzufallen pflegte, so war er den Lehrern durchaus manchmal ein Dorn im Auge, dafür, dass er einfach keine Schulbücher mitbrachte, immer die seiner Sitznachbarn benutzte oder vielleicht auch knapp vor der Stunde welche von Freunden aus anderen Klassen organisierte.             „Es wäre nicht so, als lägen sie nicht bei dir daheim herum.“             „Du weißt, wie ungerne ich schleppe. Das ist außerdem ungesund für die Schultern.“             „Du könntest einen Rucksack benutzen.“             „Ih, ne, ich hasse Rucksäcke.“             „Du kannst so ein Mädchen sein, Yama.“             Und einmal mehr erwischte Taichi dabei, wie es in seinem Kopf glasklar feststand, dass Yamato seine Freundin wäre, wäre er denn ein Mädchen. Es war ein wirrer Gedanke, aber kein unbekannter mehr, den Taichi zu akzeptieren gelernt hatte. Yamato war sein bester Freund und wer wollte seinen besten Freund nicht zur Freundin haben? Es gab sicherlich niemanden, der ihn besser verstand, zu lesen und akzeptieren wusste.             „Woran denkst du schon wieder?“             Taichi merkte erst, dass er stehengeblieben war, als Yamato ebenfalls in seinem Schritt verharrte und sich zu ihm drehte.             „Bib?“             Eine Hand, genauer gesagt Yamatos Hand, griff nach dem längeren Ende seines Schals, das nicht in die Bibendum-Jacke gestopft worden war, sondern frei hing.             „Hey du, schläfst du wieder?“             Anstatt zu antworten, löste Taichi seinen Schal, zog ihn auch aus Yamatos Hand, um ihn diesem schließlich umbinden zu können.             „Wie kannst du ohne Schal rausgehen, wenn du schon so eine dünne Jacke trägst?“             „Mir ist nicht kalt.“             Vielleicht hätte Taichi ihm geglaubt, wären seine Wangen und seine Nasenspitze nicht binnen der ersten Sekunden an der frischen Luft schon rot angelaufen und würden seine Lippen nicht leicht zittern. Er kannte Yamato aber inzwischen auch lange und gut genug, um genau zu wissen, dass die Worte „Ich friere.“ niemals besagte Lippen verlassen würden. Er wollte nicht frieren und erst recht wollte er nicht irgendeine Form der „Schwäche“ zugeben. So war Yamato eben.             Er zog den Schal ein wenig fester, sortierte ihn um Yamatos Hals, wobei er sich dabei nicht eine Sekunde lang vom Blick des Anderen lösen konnte. Erst recht dann nicht, als seine Fingerspitzen den blassen Hals seines Freundes berührten, einen kleinen Teil heißer und direkt darüber eiskalter Haut spürten.             „Yama, du bist eiskalt.“             Eigentlich erwartete er eine Verneinung, einen verstimmten und bissigen Kommentar, aber beides sollte ausbleiben. Yamato beobachtete ihn, ergriff langsam seine Hände, sobald sie „Mission Schal“ beendet hatten und drückte seine Lippen kurz auf ein frei gelegtes Handgelenk Taichis. Manchmal taten sie solche Dinge. Sie sprachen nicht darüber, aber sie geschahen eben. Und sie ließen Taichis Herz schneller schlagen, ihn lächeln – eher strahlen.             „Wir sollten weiter, sonst kommen wir zu spät“, sagte er leise und löste sich fast etwas unwillig von Yamato, als dieser seinen Gedanken mit einem Nicken bestätigte.             Sie liefen wieder nebeneinander her, schwiegen in einer angenehmen Stille und es sollte Taichi sein, der sich von der Wärme zwischen ihnen übermannen ließ und einen Arm um Yamato legte, ihn näher zog und ihm nun seinerseits einen Kuss auf die Schläfe drückte.             „Wir sollten dir demnächst mal eine wärmere Winterjacke kaufen gehen.“             „Okay.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)