Between the Lines von Karo_del_Green (The wonderful world of words) ================================================================================ Kapitel 17: Die Krux mit Stolz und Vorurteil…und Rothaarigen ------------------------------------------------------------ Kapitel 17 Die Krux mit Stolz und Vorurteil…und Rothaarigen Beschäftigt mit meinen rasenden Gedanken schiebe ich die Flaschen auf der Küchenanrichte hin und her. Rum. Gin. Tequila. Es ist der Braune, den ich nicht mag. Ich finde den Wodka und fülle das Glas zur Hälfte mit dem klaren Alkohol. Ich nehme einen großen Schluck, spüre, wie das Brennen in meiner Kehle beginnt und erst in meiner Brust endet. Es folgt keinerlei Befriedigung. Sina stellt sich neben mich. Ich bemerke sie erst gar nicht, da ich zu sehr damit beschäftigt bin, dieses grässliche Gefühl aus meinem Körper zu bekommen. Erst, als sie direkt neben mir steht und ihre Schulter gegen meinen Arm neigt, beachte ich sie. Zunächst blicke ich auf ihre schmalen Finger, die sich über das funierte Holz bewegen. Spielend. Fast tänzelnd. Dann sehe ich sie direkt an und nehme einen weiteren Schluck der beißenden Flüssigkeit. „Und hast du Kain gefunden?“, fragt sie und wendet ihren Blick von mir ab. „Der war beschäftigt…“, antworte ich knapp. „Du wirkst zerknirscht. Kann ich dich wieder aufmuntern?“ Hätten ihre Worte eine Farbe, dann wären sie rosa. Ein sehr betrunkenes Rosa. Sie lallt etwas. Ich hebe meine Augenbraue und mustere die Blondine. Auf ihren sanft glänzenden Lippen bildet sich ein verführerisches Lächeln. Sina dreht sich zur tanzenden Menge, lässt ihre blauen Iriden über die Körper der anderen wandern und wippt selbst im Takt der Musik mit. „Sina, was willst du?“ Ich kann mir nicht erklären, wo ihr plötzliches Interesse für mich herkommt. Zu dem fehlt mir gerade das Nervenkleid, um ihre Annäherungen in irgendeiner Form anzunehmen. Sie dreht sich wieder zu mir, stellt sich auf Zehenspitzen und kommt mir ein Stück entgegen. „Das weißt du nicht?“ Ihre Hand streicht über meine stoppelige Wange, weiter zu meinem Hals und bleibt dort liegen. „Soll ich es dir zeigen?“, flüstert sie mir mit rauer Stimme zu, legt mir ihre Arme vollends um den Hals und ich lasse sie für diesen Moment gewähren. Normalerweise hätte ich keine Sekunde gezögert. Sie entspricht zwar nicht meinem üblichen Beuteschema, aber sie ist willig und das hätte ich gnadenlos ausgenutzt. Heute nicht. Ich greife nach ihren Armen und schiebe sie beiseite. Unverständnis und Wut. Sie blitzen durch ihre Augen wie sekundenschnelles Gewitter. „Autsch, das trifft mich trotz Alkohol“, kommentiert sie knautschig, streicht sich durch die blonden Haare und leckt sich trotz alledem deutlich neckend über die Lippen. Sie will mich wissen lassen, dass ich etwas verpasse. Seltsamerweise interessiert es mich nicht. „Du kommst drüber hinweg“, sage ich und drehe mich wieder zur Küchenzeile, fort von der feiernden und zufriedenen Menschenmasse, die mich mehr und mehr abstößt. Die Blondine zieht sich ein Glas mit Salzstangen heran, greift sich drei und beginnt fahrig daran zu knabbern. „Weißt du, ich frage mich, ob er dir meine Idee ausgerichtet hat“, ergreift Sina erneut das Wort, vertilgt die Reste des Gebäckes. „Wer?“ „Kain. Ich habe ihm vor ein paar Wochen einen Vorschlag gemacht.“ Augenblicklich denke ich an das Bild von ihm und der Blonde im Flur. Wie sie ihm etwas zu flüsterte. Sein verschmitztes Lächeln. Kains Gesichtsausdruck sprach damals für mich Bände. „Einen Vorschlag?“, hake ich nach und wende mich ihr unbewusst wieder zu. Ihre manikürten Finger streichen über den weichen Stoff meines Pullovers. Ihre Lider bleiben gesenkt, verdecken das klare Blau ihrer Augen. „Ja! Ein Bett. Du und ich…und er…“ Ihre Stimme ist nur ein leises Raunen und ihre schlanken Schultern bewegen sich rhythmisch hin und her. Bei jedem Wort. So als könnten sie dem Gesagten zusätzliche Spannung verleihen. „Was? Wie kommst du darauf…?“ Ich versuche es trivial klingen zu lassen, doch es gelingt mir nicht. Ich höre mich derartig überrascht an, dass nur noch fehlende Schamesröte das Bild komplettieren würde. Sina sieht auf, leckt sich ein weiteres Mal über die Lippen und lächelt. „Ich habe euch gesehen. Dich und Kain. Er ist auffällig oft bei dir im Zimmer.“ „Weil Jeff und Abel…“, setze ich rechtfertigend an, doch Sina unterbricht mich. „Ja ja, jeder weiß, wie wild es Jeff und Abel treiben!“, sagt sie abschmetternd „Aber ich erkenne bestimmte Gesten und Blicke und die sind bei dir und Kain eindeutig. Ihr seid mehr als Bettnachbarn!“ Ich spüre, wie sich mein Herzschlag verdreifacht und ich unwillkürlich schlucke. Meine Gedanken rasen. Wann will sie uns gesehen haben? „Ach, es ist doch nichts dabei. Wir sind jung, gutaussehend und können es so bunt treiben, wie wir wollen“, kommentiert sie, als wäre es völlig normal, dass jeder mit jedem schläft. Das perfekte dumme College-Klischee amerikanischer Sitcoms und Ärzteserien. „Ich weiß nicht, was du gesehen haben willst, aber das ist lächerlich“, sage ich letztendlich und klinge erstaunlich fest. Es täuscht. Sie greift nach einer weiteren Salzstange und sieht mich an. „Wirklich? Dann frage ich mich, warum dir Kain nichts von meinem Angebot erzählt hat. Auch wenn es nur zu eurer Belustigung gewesen wäre.“ Ein gutes Argument. Ich frage mich dasselbe. Sina beißt vom Gebäck ab und wischt sich kauend kleine Krümel von der Lippe. „Na gut, vielleicht täusche ich mich ja und Merenas Versuche, Kain zurück zu gewinnen, fruchten besser, als ich dachte.“ Da ist er wieder. Der Name dieses rothaarigen Miststücks. Sina muss gewusst haben, wo und bei wem ich Kain finden würde. Unbewusst lasse ich meine Zähne knirschen und kippe die Reste der klaren Flüssigkeit meine Kehle runter. Obwohl ich weiß, dass es keine Linderung bringt und keine gute Idee ist. In meinem Magen beginnt es, unangenehm zu brennen, während ich Sina durch eine unschöne Geste deutlich machen, was ich von ihren halbgaren Intrigen halte. Sie lässt sich davon nicht beeindrucken. Erst das Vibrieren meines Handys stoppt weitere törichte Versuche der Blondine, mich in irgendeiner Form für sich zu gewinnen. Mittlerweile ist der neue Tag angebrochen und ich sehe mich nach dem Geburtstagskind um. Jeff wird bereits belagert, als ich ihn finde. Ich mache keine Anstalten, mich in das Getümmel zu werfen. Stattdessen beobachte ich die freudigen, betrunkenen Gesichter, vernehmen die überschwänglichen Bekundungen, die so viel Rosa und Schein beinhalten, dass ich mich übergeben möchte. Ich halte mich im Hintergrund. Als Jeff mich sieht, kommt er auf mich zu. Ich nehme meinen Freund in den Arm, spreche währenddessen ein paar wenige, aber aus dem Herzen kommende Glückwünsche aus und entlasse ihn in die durchaus fähigen Hände der anderen Gratulanten. Danach bin ich mir uneins. Ich lasse meinen Blick schweifen und verspüre keine Lust, noch länger hier zu bleiben. Andererseits merke ich deutlich, wie der Alkohol und auch das beißende Gefühl in meiner Magengegend dafür sorgen werden, dass ich nicht schlafen kann. Ich besorge mir einen Becher Wasser und kämpfe mich dafür extra durch den Ansturm an kurzzeitig wegen des Gratulierens trockengelegten Kommilitonen. Nachdem ich keine Flasche abbekomme, begnüge ich mich mit dem Sprudelquell aus der Leitung. Doch die neutrale Flüssigkeit hilft nicht so gut, wie ich es gehofft habe und missmutig mache ich mich auf den Weg ins Zimmer. Einen zweiten Becher Wasser trinke ich nebenbei in kleinen Schlucken weiter. Unwillkürlich senke ich meinen Blick, als ich den Flur betrete, da ich mir einen Blick auf die schwarz- rote Knutschparade ersparen will und laufe prompt gegen einen Widerstand. „Huch“, entflieht es mir erschrocken und ein paar Tropfen Wasser landen auf meiner Hand. Ich sehe auf und schaue in vertrautes Braun. Kain lächelt und verkneift sich dieses Mal einen Kommentar über meine selten dämliche Schreckreaktion. „Wo kann ich das Geburtstagskind finden?“ „Wird es heute noch was?“ Die Rothaarige taucht hinter ihm auf und schiebt sich energisch an Kain vorbei. Dieser rumpelt nach vorn. Ich zurück und dabei landet ein Schwall des Wassers auf meinem Pullover und der Hose. „Uups“, gibt sie scheinheilig von sich und fixiert mich mit ihren blauen Augen. Kain seufzt und deutet mir an, dass er etwas zum Abtrocknen holen wird. „Ist doch nur Wasser“, setzt sie nach, als Kain in der Menge verschwunden ist. „Wow, dein geistiges Alter ist gesunken auf Niveau Lilifee.“ „Und wenn schon. Ich könnte dir auch jeder Zeit irgendwelche hochtrabenden Fachbegriffe an den Kopf werfen und mich darüber lustig machen, dass du ihre Bedeutung nicht kennst.“ Die Rothaarige mustert mich abschätzig. „Ich bitte darum“, provoziere ich, „Verblüffe mich wenigstens ein einziges Mal.“ „Nein, den Gefallen tue ich dir nicht. Das habe ich nicht nötig.“ „Nicht nötig? Mit dir zu reden ist, als würde man Popcorn für Tierversuche benutzen und danach erwarten, dass die Laborratte Cornflakes scheißt. Selbst Gespräche mit Hunden sind ergiebiger. Keine Ahnung, wieso Kain sich mit dir abgibt.“ „Er weiß nun mal, was ihm gut tut.“ Mir entfährt ein mildes Lachen. „Hast du dich jemals gefragt, wieso sich Kain von dir getrennt hat? Und glaubst du wirklich, dass er dich zurück will?“, frage ich reizend, sehe, wie sich ihr Körper augenblicklich anspannt und ihre schmalen Lippen zu einem einheitlichen Strich werden. „Glaubst du, nur weil du mit Kain Zeit verbringt, dass du ihn kennst? Du hast keine Ahnung, wie er tickt und schon gar nicht verstehst du die Gründe unserer Trennung. Also was interessiert es dich, ob er zu mir zurückkommt?“ „Tut es nicht. Ich genieße es nur, dabei zu zusehen, wie du dich lächerlich machst.“ „Ich habe Qualitäten, die er sehr zu schätzen weiß. Auch heute. Sogar bis vor wenigen Minuten.“ Sie streicht sich eine rote Strähne zurück und positioniert ihren schlanken Körper versucht aufreizend. Unwillkürlich denke an die vergangenen Minuten, die mich Sina in der Küche vollgequatscht hat. Es war genügend Zeit für eine schnelle Nummer und der Gedanke daran verursacht mir heftige Magenschmerzen aus Wut, Ekel und vielem anderen. In einer Kurzschlussreaktion kippe ich ihr die Wasserreste meines Bechers demonstrativ entgegen. „Spinnst du?“, entsetzt sieht sie mich an, wischt sich Feuchtigkeit vom Hals und dem durchtränken Oberteil ihres Kleides. An den nassen Stellen wird der Stoff ihres Kleides sofort durchsichtig. Sie trägt keinen BH. „Was denn, es ist doch nur Wasser“, ahme ich sie nach, „Und Qualitäten erkenne ich keine“ Mit Genugtuung sehe ich dabei zu, wie sich ihre schmalen Lippen fassungslos öffnen und wieder schließen. Ein paar Mal, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie ringt mit einer passenden Erwiderung und ich winke gelangweilt ab. „Chance verpasst, mich zu verblüffen. Vielleicht beim nächsten Mal, Prinzessin.“ Ich sehe, wie sich Kain durch die Menge schiebt und verschwinde, bevor er das Drama mitbekommt. Ich habe wenig Lust, mich auch noch mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Vor allem aber verspüre ich keinerlei Bedürfnis, diesen dummen Ausbruch zu erklären. Auf dem Flur holen mich die ersten Auswirkungen des zu schnell getrunkenen Wodkas ein. Ich gerate ins Wanken. Nur für einen Moment. Der Alkohol in meinem Blutkreislauf lässt meine Gedanken rasen. Qualitäten? Von wegen. Sie ist flach wie ein Brett. Ohne das ganze Make up wäre sie kein bisschen feminin. Was findet er an ihr? Scheiß drauf. Scheiß auf Kain und sein scheinheiliges Gerede. Soll er sie doch ficken. Es ist mir egal. Warum gerade dieses rothaarige Miststück? Zum Teufel mit meinem Gedanken. Es ist mir egal. Alles. Jeder. Vor allem Kain. Im Zimmer angekommen werfe ich Jeffs Geburtstagsgeschenk auf sein Bett und nehme in Kauf, dass er es im schlechtesten Fall erst in ein paar Tagen finden wird. Ich zerre mir die Kleider vom Leib und lasse mich ungewöhnlich leicht bekleidet ins Kissen fallen. Nach einem Moment drehe ich mich ruckartig zur Seite und starre gegen die Wand. Wie befürchtet, ich finde keine Ruhe. Ich höre mein Blut rauschen, spüre, wie sich der Alkohol mahnend und bedrohlich durch meinem Körper bewegt und wie sich das Zimmer ab und an zu drehen scheint. Unerfreulich. Mein Handy beginnt zu vibrieren und aus den Augenwinkel heraus sehe ich, wie das Display aufleuchtet. Ich mache keine Anstalten, es zu holen, sondern höre nur dabei zu, wie es wiederholt vibriert. Dreimal. Nach ein paar Minuten weitere zwei Mal. Sicher ist es Kain. Ich rühre mich nicht. Auch nach einer weiteren Stunde, in der ich mir aktiv einrede, dass mir Alles und Jeder egal ist, schlafe ich nicht ein. Jeffs Bett bleibt verwaist. Ich setze mich auf und fahre mir genervt durch die Haare. Von unten dringt noch immer Musik herauf. Ich ziehe mein Schlafshirt hervor und bette meinen Kopf gegen die kühle Zimmerwand. Irgendwann am frühen Morgen lande ich ermattet in der Horizontalen und schlafe mit schmerzenden Rücken weiter. Nur nicht lange. „Abel fliegt mit mir in die Südsee!“, jolt mein Mitbewohner, lässt meine Matratze hüpfen und mich missmutig murren. Ich ziehe mir mein Kissen über das Ohr, da Jeffs Rumgegröle noch lauter und penetranter zu sein scheint als sonst. Ich bin hundemüde, verkatert und mausere mich langsam zu einem eifersüchtigen Verrückten. Keine gute Kombination. Jeffs Zirkusnummer kann ich nicht gebrauchen. Er hüpft ein weiteres Mal munter auf mir rum und lässt sich dann fallen. Ich richte mich schwerfällig auf, höre mir an, wie er über Sonne, Kokosnüsse und süße Cocktails schwadroniert und wundere mich mehr und mehr darüber, wieso er um diese Uhrzeit schon so quietschfidel ist. „Wieso bist du schon wach?“, frage ich während einer seiner Atempausen und nach einem Blick auf die Uhr. Es ist halb 10. „Ich konnte einfach nicht mehr pennen. Ich freue mich so“, sagt Jeff. Wieso hat er keinen Ausschalter? Als hätte er mich gehört, legt er plötzlich seinen blonden Haarschopf auf meiner Schulter ab und schweigt. Ich schließe müde meine Augen. „Gegen 16 Uhr kommen die Schnapsleichen zu Kaffee und Kuchen. Oh oh oh… Robin, der Kuchen sieht einfach nur klasse aus. Ein Traum. Danke. Danke. Danke.“, schwärmt Jeff, schlingt mir seine Arme um den Hals. Er meint es ehrlich, drückt mich fest an sich und ich kann fast spüren, wie sich die gute Laune meines Kindheitsfreundes in meinem Schädel hämmert. Ich bekomme Kopfschmerzen. „Ja. Ja. Schon gut.“ Ich tätschele seinen Arm und winde mich danach aus der Umklammerung. In der Senkrechten rächt sich mein gestriger Alkoholschnellschuss schon wieder. Bis zum Kleiderschrank brauche ich eine gefühlte Stunde, weil sich die 5 Schritte anfühlen, als würde ich sie dreimal so oft im Kreis vollführen. Ich lehne meine Stirn gegen das kühle Holz der Schranktür und schließe meine Augen. „Oh my Dear. Du verträgst echt nix“, höre ich Jeff sagen. Statt des Versuches, verbal zu kommunizieren, strecke ich ihm meinen gut trainierten Mittelfinger entgegen und klaube mir ein frisches Handtuch aus dem Schrank. Die kalte Dusche ist Pein und Wohltat zugleich. Erst nach 5 Minuten drehe ich den Regler auf eine genießbare Temperatur und habe nach einer Weile das Gefühl, dass das Wasser meine Kopfschmerzen und auch meine Gedanken davonschwemmt. Diesen Zustand hätte ich gern länger. Immer wäre am besten. Als sich das Wasserrauschen legt, beginnt es wieder in meinem Kopf. Abtrocknen und Anziehen erledige ich wie in Trance. Ich schließe meine Augen und sehe Kain bei der Rothaarigen. Wie seine Hand über den schmalen Rücken streicht und wie sich ihre Lippen auf seine legen. Ich habe den Geschmack seiner Haut im Sinn und empfinde keine brodelnde Wut, sondern zentnerschwere Ernüchterung. Wieso lässt es mich nicht kalt? Wieso überrascht es mich? Es war doch zu erwarten. Nach dem Duschen lasse mich von Jeff zu einem Film überreden, den er als Geschenk bekommen hat. Nur heute. Immerhin hat er Geburtstag. Ich frage nicht nach dem Inhalt des Films. Wenn ich Glück habe, ist es einer mit spannender Handlung und ein paar Toten. Im schlechteren Fall ist es ein Film von Jane Austin samt schnulzigen Liebesszenen und Geschwafel. Mit Kissen und den letzten Resten des Popcorns vom letzten Mal, lassen wir uns auf Jeffs Bett nieder. Bereits in den ersten 2 Minuten des Films verdrehe ich die Augen, während Jeff jokerartig lacht. Wir schauen die filmische Adaption eines Jane Austin Klassikers. Stolz und Vorurteil & Zombies. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Also betrachte ich es als eine gute Möglichkeit, um noch etwas zu schlafen. Ich döse bereits, als sich in der ersten Hälfte des Films Jeffs Mama Marlis meldet. Aus meiner Einschlafhoffnung wird eine überdrehte Face-Time-Sitzung mit erzieherischen Mahnungen und zu vielen kindlichen Kosenamen, Gratulationen und einer Unmenge an digitalen Küsschen. Ich kriege Zahnschmerzen. Seine Mum ist sehr fürsorglich und liebevoll. Auch mir gegenüber. So war es schon immer. Jeff ist ein Einzelkind. Seine Eltern sind geschieden und sein Vater ging vor etlichen Jahren zurück nach England. Die very britische Macke hat mein lieber Kindheitsfreund dennoch abbekommen. Soweit ich es weiß, haben sie nur noch selten Kontakt zu einander. Was nicht an meinen Freund liegt. Jeff ist Marlis Ein und Alles. Sie erfüllt ihn jeden Wunsch. Nur den einen nicht. Mehr Kontakt zu seinem Vater. Die letzten Minuten des Telefonats sind gedrückt fröhlich, nachdem Jeff anmerkt, dass sein Vater sich noch nicht gemeldet hat. Weitere digitale Küsschen und das Display wird schwarz. Er legt das Handy beiseite und sieht mich an. Sein Lächeln ist nur ein nicht überzeugender Versuch und ich schubse sanft seinen Kopf zur Seite. Väter. Wir sparen uns weitere Kommentare und schalten den Fernseher wieder ein. Für Jeff halte ich die letzte Hälfte des Filmes im wachen Zustand durch. Gegen 15 Uhr beginnt mein Mitbewohner in Panik zu verfallen und beruhigt sich nur, weil er durch Zufall mein Geschenk findet. Ein paar Hopser und ernste mahnende Blicke später, tänzelt er zwischen Teeküche und Zimmer hin und her und bereitet die große Kuchenschlacht vor. Ich folge ihm, als ich sicher bin, dass er keine Hilfe mehr braucht und bin bei der Betrachtung des Kuchens tatsächlich kurz Stolz auf mich. „Hey, Robin…“, grüßt mich Abel und sieht sich in der kleinen Teeküche um. Ich deute Richtung Zimmer, doch da schwebt Jeff bereits mit einem langgezogenen Hi durch den Türrahmen. „Ooh, du riechst aber gut…“, säuselt Abel Jeff ins Ohr und nimmt ihn in den Arm. Seine mattblauen Augen beobachten mich, während er ihm weitere Worte ins Ohr säuselt. Ich mache einen Schritt von den Zweien weg, greife mir einen Becher mit Wasser und ignoriere das übertrieben glückliche Rumgeknutsche der beiden Männer. Ich trinke in winzigen Schlückchen, so, als würde sich der Inhalt meines Bechers sonst in den russischen Namenspedanten mit Prozenten verwandeln, was ich in keiner Weise verkraften könnte. Außerdem möchte ich tunlichst vermeiden, noch mal aufstehen zu müssen, denn das könnte als Interaktionswunsch ausgelegt werden. Auch das will ich vermeiden. Nach und nach trudeln die anderen der prophezeiten Schnapsleichen ein. Ein paar haben sich das Wort Leiche tatsächlich verdient. Nur Kain nicht. Er sieht aus, wie der frische Morgen. Lächelt und scherzt. Ich hasse ihn. Er kommt ohne die Rothaarige. Doch ich merke deutlich, wie sich die Gedanken der Nacht erneut hervortun. Wie sie durch meinen Kopf wabern und meine ohnehin schon schlechte Stimmung weiter kippt. Kain lässt sich mit einem gefüllten Teller neben mir nieder. Er tippt mich mit seinen breiten Schultern an. Aus Mangel an Reaktion meinerseits macht er das Gleiche noch mal mit seinem Knie. Keine Ansprache wegen der Rothaarigen, stattdessen vertilgt er schweigend den halben Teller mit Kuchen. Ich höre ihn leise Brummen. Fast schnurren. Das macht er auch beim Sex öfter. Ich bekomme Gänsehaut und sehe bewusst weg. „Der ist vorzüglich“ „Und warum erzählst du das mir?“, gebe ich unbeeindruckt von mir und sehe weiter zu Jeff, der sich mit einem seiner Steinchenschmuser unterhält, während der weniger intelligente Part der Beziehung daneben steht und versucht, nicht den Faden zu verlieren. „Man dankt doch dem Bäcker für das leckere Mahl, oder?“ Nun reagiere ich doch, sehe Kain kurz an und kann nicht verhindern, dass ich danach weniger neutral zu meinem Zimmergenossen schaue. Jeff hat gequatscht. Niemand sollte es erfahren. Schon gar nicht Kain. „Bleib geschmeidig. Ich weiß es von Abel. Aber sag, Spatz, was muss man tun, um solche Nettigkeiten von dir zu bekommen? Ich stehe auf Kuchen.“ Kain neigt sich dichter zu mir. „Machst du für mich auch mal so was Süßes?“ Ein Flüstern. Mein Puls steigt und auch die unterdrückte Wut kommt wieder nach oben. „Ja, zu deiner Beerdigung und dann auch mit flüssiger Schokoladenfüllung.“ „Autsch, deine Laune ist ja wieder zum Weglaufen.“ „Tu mir den Gefallen und lauf!“ „Nein, ich bin erwachsen genug, um anders mit solchen Dingen umzugehen.“ Kain schlägt die Beine übereinander und stellt den Teller auf seinem Knie ab. „Im Gegensatz zu dir“, hängt er mit ran und streicht sich etwas Schokolade aus dem Mundwinkel. „Lass mich in Frieden, Kain“, murre ich, greife in meine Hosentasche und ziehe die Packung Zigaretten hervor, genauso wie eine der Timeout-Karten. Mein Puls beschleunigt sich weiter. „Und wenn nicht? Verweigerst du mir dann den Sex?“, witzelt er mir verwegen entgegen und grinst. Für ihn ist es nichts weiter als ein Spaß auf meine Kosten. „Fick dich“, sage ich aufgebracht und diesmal so laut, dass es auch die anderen hören. Gleichzeitig drücke ich dem Schwarzhaarigen die Karten gegen die Brust. Kain greift danach und für einen Moment berühren sich unsere Hände. Durch die hektische Bewegung fällt der Teller zu Boden und zerbricht. Jeff macht ein paar Schritte auf uns zu. Ich werfe ihm einen eindeutigen Blick zu und will mich nicht noch mit ihm beschäftigen müssen. Ich greife das Päckchen Zigaretten fester und stehe auf. Ohne auf die anderen zu achten, verlasse ich die Teeküche. Das Blut rast heiß durch meine Adern und sorgt dafür, dass sich meine Glieder seltsam taub anfühlen. Auch mein Kiefer schmerzt und ich merke erst, als ich das Wohnheim durch den Nebeneingang verlasse, dass ich meine Zähne schmerzhaft aufeinander presse. Ach verdammt! Warum regt es mich eigentlich so auf? Kain kann machen, was er will und auch mit wem er es will. Warum um alles in der Welt ist es mir nicht egal? So, wie sonst auch? Ich stecke mir eine Zigarette an, führe sie an meine Lippen und nehme keinen Zug. Der Geschmack in meinem Mund ist bereits bitter. Die Tür öffnet sich mit einem durchdringenden Klicken und ich schaue auf. Kain. Er will wieder reden, äfft es im meinem Kopf. Er hätte Psychiater werden sollen. Reden. Reden. Reden. Bla. Bla. Bla. Er kann mich mal. Unbewusst setze ich mich in Bewegung, um der Situation zu entfliehen. „Robin, warte….“ Kain holt mich schnell ein. Er ist eben nicht Jeff. Der kriegt mich nie. „Was soll das denn? Bist du sauer, wegen dem dämlichen Spruch eben? Okay, entschuldige, ich finde gut, dass du das für Jeff machst.“ „Lass mich in Ruhe!“ Meine Finger zucken erneut zur Hosentasche. Kain hält mich zurück, nachdem ich einfach weiterlaufe. „Komm schon, ich dachte, wir hätten diesen Ignorieren- und Abweisen-Scheiß langsam hinter uns gebracht?“, setzt er fort. Ich bleibe stehen, ziehe die restlichen Karten heraus und werfe sie ihm vor die Füße. Kain stoppt, macht eine hilflos Geste mit seinen Händen und beugt sich runter, um sie wieder auf zu heben. Statt die Chance zu nutzen um abzuhauen, bleibe ich stehen. „Robin, was soll das?“, fragt er ruhig und ordnet die Karten in seinen Händen. Ich weiß einfach nicht, wie ich ihm mein Problem deutlich machen kann, ohne wie ein eifersüchtiger Idiot zu klingen, also schweige ich. „Geht es um das Küssen? Okay, hör zu. Ich gehöre zu der Sorte Menschen, die ab und an mal jemand umarmen oder küssen will. Ich mag das. Ich finde Nähe ganz schön. Aber,…“ Ich unterbreche ihn bevor er sein Aber weiter ausführen kann. „Ja, du bist der Traum einer jeden Prinzessin oder entdeckst du gar dein feminine Seite?“, kommentiere ich bewusst verletzend. Ich weiß mir nicht anders zu helfen, als mit sinnlosen Klischees um mich zu werfen. Keine Meisterleistung. „Verklag mich! Nur weil du dich gegen alles sperrst, muss ich doch nicht verzichten“, knurrt er mir zu. Natürlich nicht, echot es sarkastisch in meinem Kopf. „Natürlich nicht. Für dich ist es immer so schön einfach, weil dir das rothaarige Flittchen und alle anderen hörig die Beine breit machen. Und selbst, wenn es nicht so ist, du nimmst dir ja, was du willst. Dein Leben muss wahrlich ein Elysium sein.“ „Wie bitte? Du hast doch deutlich gemacht, dass du nicht Küssen willst und wenn ich mir das bei jemand anderen suche, wirst du sauer, obwohl du es mir sogar vorgeschlagen hast?“ Aus Kain spricht deutlich die Verständnislosigkeit. „Also kriechst du zurück zu deiner Ex-Freundin für eine feuchtfröhliche Orgie? Erbärmlich.“ „Momentmal Spatz, Merena ist dein Problem?“ „Ja, verdammt und ich bin verfickt noch mal kein Plüschtier, dem du niedliche ornithologische Spitznamen geben kannst“, belle ich ihm entgegen, werde selten so ausfällig und ärgere mich mehr über mich selbst, weil ich nun doch mehr preisgegeben habe, als mir lieb ist. Ich bin eifersüchtig auf die dumme Rothaarige und nun weiß es auch Kain. Grandios. „Es geht nur um sie? „Ja!“ „Bei jeder anderen wäre es dir vollkommen egal?", hakt er nach. „Fick weiterhin mit so vielen, wie du willst und lass mich in Ruhe" Ich bin vor Wut zu blind, um zu erkennen, dass es völliger Quatsch ist, den ich da von mir gebe. Es ist mir nicht egal und es geht nicht nur um sie. „Warte mal! Was denkst du denn, mit wem ich alles ins Bett gehe?“, fragt Kain entgeistert. „Tu doch nicht so, du fühlst dich doch bei der Hälfte der Fachschaft wie zu Hause.“ Gibt es eine Steigerung für fassungslos, Kain beherrscht sie. Der Blick, den er mir entgegen bringt, matert selbst mich. „Glaubst du das wirklich?“, fragt er hinterher. Ich schweige, spüre langsam, wie die extreme Wut der Einsicht Platz macht. Es ist zu spät für rationales Handeln. Kain ist sauer. Ich sehe es deutlich. „Was, Robin, was ist eigentlich dein Problem? Du bist derjenige, der förmlich nach Zuneigung schreit und stößt doch jeden von dir, der dir auch nur zu nahe kommt. Also, was? Was willst du eigentlich? Ernsthaft, du bist manchmal anstrengender, als es Merena je war.“ „Fick dich!“, entfährt es mir aufgeregt. Ein direkter Vergleich mit ihr? Er will mich doch verarschen. Meine Wut nimmt wieder Oberhand. „Wie originell“, gibt er mir Retour. Ich knurre ihm ein weiteres unschönes Schimpfwort an den Kopf. Der Versuch, mich von dem Schwarzhaarigen zu entfernen, verhindert er gekonnt. Kain greift nach meinem Oberarm, hält mich fest und damit bei sich. „Lass mich eines klarstellen. Ich schlafe nicht mit ihr und mit niemand anderen!“ Der Griff um meinen Arm wird etwas fester. „Lügner!“, entgegne ich diesmal. Die Verärgerung in seinem Blick wird zur Enttäuschung. Damit drückt er mir die Karten in die Hand. Diesmal löse ich mich mit Leichtigkeit aus seinem Griff und trete die Flucht an. Erst nach ein paar hundert Metern halte ich inne. Ich ziehe mir eine Zigarette aus der Tasche, zünde sie an und verspüre das dringende Bedürfnis, meinen Kopf gegen eine Wand zu befördern. Mein Verhalten war irrational. Es war dumm. Und obwohl ich es niemals laut aussprechen würde, muss ich Kain rechtgeben. Ich sperre mich gegen Alles und Jeden. Ich tue Kain Unrecht. Ich werfe ihm Dinge vor, zu denen ich nicht das Recht habe. Es gibt keine Verbindlichkeit. So haben wir uns geeinigt. Wieso verlange ich sie jetzt von ihm? Tu ich es denn? Wieso mache ich es? Ich kriege Kopfschmerzen. Blind laufe ich weiter, bis ich an einer vertrauten Ecke erneut Halt mache. Noch immer brennt Licht in dem kleinen Café. An der Tür bleibe ich kurz stehen und sehe hinein. Keine Menschenseelen sind zu erkennen. Nur die zarte Italienerin, die gelangweilt ein paar Verpackungsmaterialien sortiert. Wie immer trägt Luci ihre Haare zu einem dichten Zopf zusammengebunden. Mittlerweile reicht er ihr fast bis zum Knoten ihrer Schürze. Sie reagiert nicht auf das leise Klingeln, welches die Tür beim Öffnen erzeugt. Auch nicht auf meine Schritte. „Hey, Eisprinzessin! Was muss ich machen, um einen Burggraben voll mit deinem preisgekrönten Eis zu bekommen?“, begrüße ich die italienische Schönheit und lehne mich auf den Verkaufstresen. So, wie ich es immer mache. Luci lächelt, greift sich eines der Probierstäbchen und taucht es in einen der Metallkasten, bevor sie zu mir an den Tresen kommt. „Ein ganzer Burggraben gleich?“, fragt sie skeptisch und reicht mir das Stäbchen mit einer sanft grünen Farbe. „Ich gestehe. Ich träume heimlich davon, einmal in einem See aus Speiseeis zu schwimmen“, beantworte ich die Frage nach meiner maßlosen Bestellung und setze noch eine weitere Zügellosigkeit dazu. Luci kichert und verdreht ihre schönen Augen. Ich schnuppere, bevor ich mit der Zungenspitze über die kalte Milchspeise gleite. Waldmeister. Ich bin entzückt. „Welche Geschmacksrichtung möchtest du für dein eiskaltes Badeerlebnis haben?“ Luci lässt ein weiteres Stäbchen durch eine quietschpinke Sorte wandern, während ich die Reste des Waldmeistereises vertilge. Sie reicht es mir. „Etwas Fruchtiges. Vielleicht Himbeersorbet oder Schlumpf…Ich steh auf den Geschmack von Farbstoffen“, fantasiere ich, während ich die andere Probe teste. Frucht und viel Säure. Es ist gut. Erfrischend und anders. Ich kann nicht identifizieren, was es ist. „Blaues Schlumpfeis? Das ist zu plakativ“, schmettert sie meinen Vorschlag ab und lehnt sich zu mir auf den Tresen. Luci lächelt. Sie riecht nach Sommer. Nach frischem Gras und Wärme. Es lässt mich lächeln. „Ja, du hast Recht. Dann lieber Nougat und Schokolade“ Die Italienerin verzieht das Gesicht bei dieser Vorstellung. Ich grinse nur und lecke die Eisreste vom Holz ab. Ihre grünen Augen sehen mich aufmerksam an, suchen nach dem erhellenden Augenblick, bei dem ich mir sicher bin, dass er heute ausbleibt. Ich weiß nicht, wonach das pinke Zeug schmeckt. „Klär mich auf!“, fordere ich und halte ihr das leere Stäbchen hin. „Keine Idee?“ „Nicht wirklich. Barbiegeschmack?“ „Barbiegeschmack? Du warst schon mal kreativer, Eisnarr.“ Die Umformung meines sonstigen Spitznamens trifft mich hart, aber statt wie üblich eine passende Erwiderung zu finden, lächele ich nur. Mir ist nicht nach weiteren Streitereien und Diskussionen, auch wenn man im Fall von Luci gar nicht davon sprechen kann. Es sind nur lieb gemeinte Schlagabtäusche und Witzeleien, die mich sonst eher positiv stimmen. „Drachenfrucht“, erklärt Luci, nachdem auch sie merkt, dass keine spitzbübische Erwiderung von mir kommt. „Sind das nicht diese seltsam aussehenden Eierfrüchte mit weißen Fruchtfleisch?“, erkundige ich mich irritiert, weil das krasse Pink für mich nicht zum Obst passt. „Und kleinen schwarzen Kernen. Ja, genau die.“, ergänzt sie und deutet auf eine Schale voller Früchte. Auch eine Drachenfrucht ist dabei. Nun erklärt sich mir auch die wenig attraktive Farbe. Sie ist Pink. „Was ist los mit dir?“, fragt Luci nach einem Moment und beobachtet meine Reaktionen aufmerksam. „Nichts. Was soll los sein?“ Das Klischee einer ausweichenden Antwort. Meine Kreativität hat wirklich enorm gelitten. Die schöne Italienerin glaubt mir kein Wort und hält damit auch nicht hinterm Berg. „Dieses Nichts also. Möchtest du darüber reden?“ „Luci, chiudiamo tra 5 minuti“, ertönt es aus dem Küchenbereich und erspart mir eine weitere ausweichende Ausrede. Es folgen weitere Aufforderungen, wie Fegen und Wischen. Luci spart sich jegliche Übersetzung. Sie muss sie mir auch nicht geben, da ich schon öfter dieses ladenschließende Prozedere miterlebt habe. „Ricevuto!“, antwortet Luci und verdreht demonstrativ die Augen. Danach lächelt sie mir zu. Sie greift nach einem der Pappbecher, füllt mir diesen komplett mit Eis und schiebt mich übertrieben meckernd aus dem Laden heraus. Ich lasse es willig geschehen und mache mich draußen über die schmackhafte Süßigkeit her. Wie beim letzten Mal setze ich mich auf die gemauerte Baumscheibe, schlage die Beine übereinander und lehne mich zurück. Die sahnige Masse schmilzt auf meiner Zunge und der Geschmack von Vanille und salzigem Karamell breitet sich in meinem Mund aus. Ich atme zum ersten Mal an diesem Tag wirklich durch. Ein neues Eis, aber ein vertrautes Gefühl. Ich denke an Kain und seinen vertrauten Geschmack. Das Chaos in meinem Inneren gefällt mir nicht. Ich möchte diese Gefühle nicht. Es soll wieder genauso sein, wie es vorher war. Ich will meine ignorante Blase der Einsamkeit zurück. Jeff soll nicht mehr schwul sein und ich nicht mehr darüber nachdenken müssen. Ich rede mir ein, dass es dadurch besser wird und merke selbst, wie lächerlich es ist. Der Becher ist leer, bevor es Luci endlich aus dem Laden schafft. Ihr Vater ist noch nicht zu sehen. Im Halbdunkel erkenne ich, wie ihre schlanke Silhouette auf mich zukommt. Sie trägt eine sommerliche weite Bluse und enge graue Jeans. Darüber eine senfgelbe Jacke mit groben Strickmuster. Als sie sich setzt, fallen ihre offenen Haare sanft über ihre Schultern. „Schon leer?“ Die Frage ist nur rhetorisch, denn die Leere in dem Becher ist unübersehbar. „Wie läuft es in der Schule?“, erfrage ich. Meine Stimmung ist noch gedrückter als vorher. Ich versuche es zu überspielen. „Muss“, antwortet sie knapp, streicht sich eine Falte ihrer Bluse glatt und sieht mich eindringlich an. „Deinen Sieg ordentlich gefeiert?“, komme ich ihr zuvor. „Ausgiebig, mit einer Unmenge chinesischem Essen und Robbie Bubble.“ Bei der Erwähnung des Kindersektes fange ich unvermittelt an zu lachen. Lucis Gesichtsausdruck wandelt sich von empört zu beschämt amüsiert. „Ach sei still.“ „Das ist hart. Dein Vater glaubt wohl, dass du nicht älter wirst, wenn er es nicht zulässt.“ „Hoffen kann er das ja.“ Die hübsche junge Frau grinst trotzig, verschränkt die Arme vor der Brust und zieht dabei ihre Strickjacke dicht um ihren schlanken Körper. „Er geht mir manchmal ganz schön auf den Keks“, sagt sie ehrlich und sieht kurz zum Laden hinüber. Noch immer ist das kühle Licht der Küche zu erkennen und ich höre, wie sie leise seufzt. „Das ist sein Job. Du bist sein kleines Mädchen. Sein geliebter Augenstern…“, gebe ich neckend von mir, bis Luci mein Gequatsche mit einem Stoß gegen die Schulter beendet. Sie trifft genau die Stelle, die letztens erst Shari malträtiert hat. Ich reibe mir den schmerzenden Punkt und spiele danach mit dem leergegessenen Pappbecher herum. „Was ist los?“, fragt sie nach einem Moment schweigen. Ihre grünen Augen mustern mich gründlich. Seit wann bin ich so einfach zu durchschauen? Ich zerdrücke den feuchten Rand des Eisbechers. So weit kommt es noch, dass ich mein Gefühlschaos mit einer 16-jährigen teile. „Nichts weiter. Ich wünschte die Dramödie meines Lebens würde sich auch in einer Eisdiele abspielen. Wäre unterhaltsamer“, gebe ich theatralisch von mir und falte den Eisbecher wieder auseinander. „Das glaubst auch nur du!“ „Und ob, schließlich arbeitest du lieber im Café, als deine Ferien zu genießen. Hast du keine quietschenden Freundinnen mehr?“ „Doch, aber die hängen nur noch mit ihren Kerlen ab und darauf habe ich keine Lust. Außerdem haben die Ferien noch nicht begonnen, du Joghurteisesser“ Eine Strähne verschwindet hinter ihrem Ohr und fällt zurück, als sie ihre Hände wieder in den Schoß legt. „Gut, deine Freizeit und ich verstehen dich. Verliebte Menschen sind ekelhaft“, sage ich und sehe dabei zu, wie Luci leise kichernd meinem Blick ausweicht. „Ich gönne es ihnen ja, aber ich würde ihnen zu gern mal zeigen, wie dämlich sie sich verhalten.“ „Brauchst du dafür noch einen Freund? Ich mime einen guten Badboy“, frage ich scherzhaft. Sie reagiert nicht, wie ich es erwartet habe. Kein frecher Spruch. Kein Augenrollen. Ihre Hand streicht über ihren nackten Arm, so, als könnte diese einfache Geste das unangenehme Gefühl davonwischen. „Das ist nicht witzig, Robin“, sagt sie nach kurzem Zögern und dreht ihr Gesicht weg. Ich brauche einen Moment, um diese Reaktion zu verstehen und merke, wie sich meine Hände mit einem Mal eiskalt anfühlen. „Oh Luci, nicht doch...", entflieht es mir im ersten Moment des Verstehens wenig einfühlsam. Meine Feinfühligkeit ist die eines Eisbergs in Titanicnähe. „Sei einfach still...", blockt sie mich ab. Ich schlucke schwer und halte mich nur kurz an ihre Aufforderung. „Ich kann dir tausend Gründe nennen, die eindeutig gegen mich sprechen.“ „Ich nenne dir tausend und einen“, wehrt sie mich erneut angreifend ab. „Ich bin zu alt.“ Ein weiterer Versuch. „Du meinst, ich zu jung.“ Treffer. Ich schlucke ertappt. „Du hast jemand besseren verdient“, sage ich platt, aber aus tiefsten Herzen. „Ich weiß“, entflieht ihr mit gedrückter Stimme und dem Hauch eines absurden Kicherns. Ein kurzer Blick und eine Träne, die sie von ihrer Wange streicht. Ich ziehe sie an der Schulter zu mir heran. Mehr brüderlich tröstend, als Hoffnungen weckend. Sie gluckst, bettet ihren Kopf für diesen Moment in meine Halsbeuge und weiß selbst, dass ihre Gefühle für mich nur Ausdruck jugendlichen Wahnsinns sind. Ich spüre eine Beklemmung gigantischen Ausmaßes und frage mich, wieso gerade heute alles so elendig schiefgeht. Bevor sie sich von mir löst, flüstere ich ein Sorry, drücke meine Lippen auf ihr weiches, wohlduftendes Haar und sehe dabei zu, wie sie sich eine letzte Träne aus den Augenwinkeln tilgt. „Ich erwarte, dass du nach deinen Klausuren wieder öfter da bist. Wir haben beträchtliche finanzielle Einbußen durch deine Eisabstinenz.“ „Der Sommer hat doch erst begonnen. Es wartet also noch viel Eishunger auf euch. Ich bin danach aber erstmal in der Heimat.“ „Gut, dann danach!“ „Versprochen!“ „Ich sollte los!“ Ihre warmen Finger berühren meine Hand und verschwindet mit einem einfachen Winken zurück in den Laden. Ich bleibe sitzen, spüre deutlich, wie sich meine Brust zusammenzieht und schließe meine Augen. Erst, als es dunkel wird, setze ich mich wieder in Bewegung, wandere noch eine Weile durch die Stadt und steige danach in die U-Bahn zurück zum Campus. Ich fühle mich ruhelos. Von draußen verschwinde ich direkt in die Waschräume. Zähneputzen und Katzenwäsche. Unser Zimmer ist dunkel und obwohl es mich nicht überrascht, verspüre ich eine seltsame Unzufriedenheit. Ein Zettel auf meinem Schreibtisch, teilt mir mit, dass Jeff und Abel diese Nacht in einem Hotel verbringen. Allein an der ausschweifenden und schwungvollen Handschrift kann ich erkennen, wie sehr er sich freut. Happy Birthday, Jeff, echot es in meinem Kopf und ich lasse mich mit einer seltsamen Stimmung ins Bett fallen. Schlafen kann ich jedoch nicht. Nach eine halbe Stunde apathischem Rumliegens ziehe ich meine Schlafklamotten an und wälze mich weitere Stunden umher, bis ich aufstehe und meinen PC anmache. Ich schreibe einfach drauf los. Zusammenhangslos. Teilweise nur Wörter. Halbe Sätze. Selbst, als ich auf die Shift-Lock-Taste komme, ignoriere ich die permanenten Großbuchstaben, die mit einem Mal den gesamten Bildschirm füllen und schreibe weiter. Nach drei Seiten Gefühlsausbruch halte ich innen. Ich sehe zu der kleinen Häkelpuppe, die mir skeptisch fixiert. Danach hole ich von meinen Gefühlen überfordert mein Portmonee aus der Hosentasche und ziehe das zerknitterte Bild hinter meinem Personalausweis hervor. René sieht mir mit ebensolchen blau-grünen Augen entgegen, wie meine eigenen. Er fehlt mir. Sehr. Auch nach all den Jahren noch. Mit ihm wäre vieles anders gelaufen. Deutlich anders. Ob er Kain gemocht hätte? Hätte Kain ihn gemocht? Der Gedanke daran versetzt mir einen Stich. Ruckartig stehe ich auf, laufe ein paar Mal zwischen Bett und Kleiderschrank hin und her. Unschlüssig und mit mir selbst uneins. So sehr ich mich auch dagegen wehre, aber ich mag das, was Kain und ich haben. Es ist ungezwungen und der Sex mit ihm befriedigt mich derartig, dass allein das 100 Pluspunkte auf der Spring-über-deinen-Schatten-Liste bringt. Ein letztes Mal wandere ich zwischen Bett und Kleiderschrank umher, ziehe mir auf halben weg Hose und Pullover über und nehme beim Verlassen des Zimmers noch die Reste von Jeffs Geburtstagskuchen mit. Es ist mitten in der Nacht, als ich vor Kain und Abels Zimmertür stehen bleibe. Ich klopfe. Zweimal. Es dauert eine Weile, bis Kain die Tür öffnet. Er hat bereits geschlafen. Trägt nur eine dünne Stoffhose und sieht mir mit einem wachen Auge entgegen. Im ersten Augenblick überrascht, dann strafft sich sein müder Körper und er lehnt sich in den Türrahmen. Er gibt keinen Ton von sich, sondern sieht mich einfach nur an. „Darf ich kurz reinkommen?“, frage ich, lasse meinen Blick über seinen nackten Oberkörper wandern und senke ihn auf seine ebenso baren Füße. „Besser nicht. In meinem Bett liegt gerade ein Teil der Fachschaft", sagt er schnippisch und verschränkt seine Arme. Ich habe es nicht anders verdient. Seine Brustmuskeln spannen sich an und ich spüre bereits jetzt, wie sehr ich auf seine bloße Anwesenheit reagiere. „Was ist das?“ Kain sieht er auf den Teller in meiner Hand. „Der Rest von Jeffs Geburtstagskuchen“, antworte ich wahrheitsgemäß, blicke kurz auf die Schokoleiche. Appetitlich ist anders. „Ich glaube kaum, dass es Jeff gefällt, wenn du ihm sein Geburtstagskuchen klaust.“ „Ich tue ihm damit einen Gefallen“, entgegne ich. Kains Augenbraue wandert nach oben. „Genaugenommen tue ich dir, Abel, mir und alle anderen armen Seelen, denen Jeff nach dem Verzehr vorjammern wird, dass er fett wird, einen Gefallen. Glaube mir, das Drama erlebe ich jetzt seit mehreren Jahren.“ Kain steigt nicht auf meinen Scherz ein, auch wenn seine Mundwinkel für einen winzigen Moment nach oben zucken. Wir bleiben schweigend voreinander stehen. Ich sehe nach rechts und links. Im Flur ist es leer und dunkel. „Darf ich nun reinkommen?“, lasse ich meine vorige Frage aufleben. Kain macht einen Schritt zur Seite und mir damit Platz. Das Zimmer der beiden höheren Semestler hat einen ähnlichen Aufbau, wie Jeff und meines. Nur spiegelverkehrt. Zudem herrscht das blanke Chaos. Überall liegen und hängen Klamotten. Ausdrücke von Seminaren und Bücher verteilen sich gleichmäßig auf das gesamte Zimmer. Nichts scheint einen wirklichen Platz zu haben. Ich werde Jeff nie wieder den Vorwurf machen, dass er unordentlichen ist. Einzig Kains Schreibtisch ist übersichtlich. Ein weiteres Mal checke ich den Raum ab, bevor ich einschätze, dass ich nicht weiter darüber nachdenken sollte. Immerhin liegen nirgendwo Essensreste. Hinter mir höre ich seine Bewegungen. Die Tür, wie sie sich schließt und wie Kain ein weiteres Licht anknipst. Ich drehe mich zu ihm um, halte noch immer den Teller mit den Kuchenresten in meinen Händen, während er sich schweigend gegen den Kleiderschrank lehnt. Entschuldigungen liegen mir nicht. Ich bin nicht gut in sowas. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Weiß keinen Anfang. Kain nimmt es mir ab. „Ich küsse gern..." setzt er an. „Du wiederholst dich...", quatsche ich dazwischen. „Mund halten!“, unterbricht er mich energisch und stößt sich vom Schrank ab. Er kommt auf mich zu und ich weiche etwas zurück. „Ich hatte einfach das Bedürfnis nach Nähe. Menschlichen Kontakt und Wärme. Und ja, du hattest Recht, mit Merena habe ich es mir leicht gemacht. Unteranderen, weil ich nicht will, dass du dich andauernd genervt fühlst.“ „Aus Rücksicht?“, spotte ich. Er deutet mir erneut an, dass ich meine Klappe halten soll. Ich gehorche ausnahmsweise. „Ich bin vielleicht manchmal etwas großspurig, gewiss anstrengend und auch zu ehrlich, aber eines bin ich definitiv nicht. Ein Lügner.“ Unwillkürlich weiche ich beschämt seinem Blick aus und starre auf den Haufen Kalorien in meinen Händen. Ich umgreife den Rand des Tellers fester. Kain zieht die Karte mit der 5 hervor. Die, die ich ihm in der Teeküche gegen die Brust gedrückt habe. Daran habe ich nicht mehr gedacht. „Ich will eine Erklärung. Eine Ehrliche.“ „Ich kann sie nicht leiden.“ „Das weiß ich bereits. Das zählt nicht.“ „Ich befürworte nicht, dass du dich mit jemanden wie ihr abgibst“, formuliere ich meine Aussage einfach nur um, ohne ihr eine bessere Erklärung hinzuzufügen. „Ehrlicher“, fordert er und deutet mir an, dass ich ihn ansehen soll. Diesmal muss er mich nicht zwingen. Es widerstrebt mir. Jede Faser meines Körpers ist angespannt. Die Keramik des Tellers ist mittlerweile warm. Ich hadere mit der ehrlichen Antwort und weiß auch, dass ich nicht drum herum komme. „Ich will nicht, dass du sie küsst.“ Und dass er sich mit ihr trifft, nett zu ihr ist und dass er sie fickt. Doch das denke ich nur. Es ist zu einfach. Keine wirkliche Erklärung und schon gar keine Entschuldigung für mein mehr als eigenartiges Verhalten. Kain nimmt mir den Teller mit dem Kuchen aus der Hand, schiebt ihn unachtsam auf den Schreibtisch und unterbricht nicht für eine Sekunde den Augenkontakt. „Ich schlafe nicht mit ihr.“ „Ist mir egal“, antworte ich wieder ein kleinwenig zu schnell. Zu offensichtlich. Kain fasst mir an die Schulter und beugt sich dicht zu mir runter. „So siehst du aus“, sagt er durchschauend, „Mir war gar nicht bewusst, wie eifersüchtig Steine werden können.“ Ein neckisches Flüstern, während sich seine Hand von meiner Schulter zu meinem Hals schiebt. Bevor ich auch nur die Chance habe, meinen Unwillen gegen seine Aussage zu erklären, verschließen seine Lippen meine. Im ersten Moment ist der Kuss fordernd. Deutlich und ein kleinwenig neckend. Er soll mich Besänftigen und schafft es ohne große Mühen. Kains warme Hand an meinem Hals. Der vertraute Geschmack seiner Lippen und die immer sanfter werdende Berührung. Das Alles hüllt mich in eine seltsame Zufriedenheit. Einer Ruhe, die ich selten spüre und die ich mit jedem Mal mehr genieße. Zugleich erfasst mich dieses beruhigende Gefühl, dass sich Kain, trotz meines irrationalen Ausbruchs, nicht von mir abwendet. Wie kann ein Mensch nur so nachsichtig sein? „Gut, oder?“, flüstert Kain, als er den Kuss löst. Er leckt sich selbst demonstrativ über die Lippen, so, als würde das bereits seine Frage beantworten. Ich schnaufe verächtlich und bleibe ihm eine Antwort schuldig. Kain braucht sie nicht. „Ich werde aus dir nicht schlau", entgegne ich leise und wende meinen Blick ab. „Du bist auch nicht gerade ein offenes Buch.“ „Ich meine es ernst.“ „Frag mich einfach", schlägt er vor. Ich schweige, obwohl sich tausende Fragen in meinem Kopf formulieren. Sie bilden eine unendliche Kette, an der mir bald der Anfang verloren geht. Nur eine Frage bleibt deutlich zu erkennen. Wieso ich? Ich stelle sie nicht, weil ich seine Antwort darauf bereits kenne. Kain gab sie mir schon vor ein paar Wochen, doch ich glaube sie nicht. Daran wird auch eine Wiederholung nichts ändern. Es gibt genügend andere. Attraktivere. Angenehmere. Und wieder hallt die Frage nach dem Warum durch meinen Kopf. Ich verstehe es einfach nicht. „Vielleicht darf auch ich dich irgendwann besser verstehen.“ Kain streckt seine Hand nach mir aus, streichelt mit den Fingerspitzen über meinen Kiefer, meine Wange und lässt sie wieder sinken. Mit einem Lächeln wendet er sich ab und macht einen Schritt auf den Schreibtisch zu. „Okay, jetzt sag mir, was du gegens Küssen hast? Du machst das eigentlich echt gut", fragt er mich ruhig und zieht eine Ecke der Frischhaltefolie vom Teller des Kuchens. „Eigentlich? Und ich habe nichts gegens Küssen ", antworte ich wahrheitsgemäß, aber nicht vollständig. „Was ist es dann?", fragt Kain, lässt seinen Finger durch die Schokoganache wandern und nimmt ihn in den Mund. Er saugt sich die Schokolade von der Haut und verursacht dabei ein leises schmatzendes Geräusch. Ich schließe zum anderen Mann auf, bleibe neben ihm stehen und entferne die Folie vorständig vom Kuchen. „Es ist sehr intim für mich“, erkläre ich zögernd und klaube mir selbst eine Himbeere mit Teigresten vom Teller. Ich mag die Säure auf meiner Zunge, die hin und wieder durch Süße unterbrochen wird. Kain sieht mich überrascht an und streicht sich Creme aus den Mundwinkeln. Ich warte nur darauf, einen ins Lächerliche ziehenden Kommentar von ihm zu hören, doch dieser bleibt aus. Stattdessen bricht Kain ein weiteres Stück des Kuchens ab, lässt ihn sich schmecken und macht den Anschein, als würde er tatsächlich darüber nachdenken. „Intim“, wiederholt er, „Wir schlafen miteinander", stellt er mit einem Lächeln auf den Lippen fest und lehnt sich mit dem Rücken zum Schreibtisch. Sex. Für die meisten ist das der Inbegriff für Intimität. Für mich nicht. Ich hatte oft genug welchen, ohne auch nur das Geringste dabei zu empfinden, außer dem, was ich bezweckte. Körperliche Befriedigung. Ich kann es nicht erklären, stecke mir ebenfalls ein Stückchen Kuchen in den Mund, um nicht antworten zu müssen. Ohne Appetit kaue ich mühsam darauf herum. „Intimer als Sex?", fragt er weiter. Ich nicke nur, verspüre plötzlich das dringende Bedürfnis, zurück in mein eigenes Wohnheimzimmer zu verschwinden und mir die Decke über den Kopf zu ziehen. Kain neigt sich zu mir. „Der Gedanke gefällt mir“, flüstert er mir zu, verhindert meinen erdachten Fluchtversuch, indem er mir den Arm vor die Brust legt und mich an der Schulter dichter an sich heran neigt. Seine Lippen legen sich auf meine. Sanft und ruhig. Kains Augen sind geschlossen, während er zärtlich an meiner Unterlippe nippt. Danach die Obere liebkost und meinen Mund vollends verschließt. Auch ich schließe meine Augen, genieße das feine Prickeln, welches sich auf meine Haut bildet. Neckend sucht seine Zunge meine. Stupst. Verlangt. Der Geschmack der Schokolade weicht mit jeder weiteren Berührung einer anderen Süße. Einer intensiveren. Wie macht er das nur? Ein elektrisierendes Kitzeln in meinem Bauch. Es wandert tiefer. Kain zieht mir den Pullover über den Kopf, blickt auf das Schlafshirt, dass ich noch darunter trage und auf seine Lippen legt sich dieses feine Schmunzeln, so, als würde er in diesem Moment genau verstehen, was mich hier her getrieben hat. Die Schlaflosigkeit, resultierend aus schlechten Gewissen und der inneren Unruhe, die mir mein Gegenüber verursacht. Ein kurzer Kuss und auch mein Shirt fällt. Seine warmen Hände streichen sich über die freigelegten Partien meines Körpers. Ich fühle die rauen, beanspruchten Stellen seiner Haut und spüre das Verlangen, ihn ebenfalls zu berühren, immer stärker werden. Auch der Rest meiner Kleidung verschwindet zwischen intensiven Küssen und mein Gehirn schaltet nun endgültig auf Verlangen um. Ich greife nach dem einzigen Stück Stoff das Kain an seinem Körper trägt, weiche weiteren Lippenkontakte aus und drücke ihn in die Richtung seines Bettes. Ein Stapel Bücher kippt, als Kain mit dem Hacken dagegen stößt. Einige Ausdrucke erhalten einen knittrigen Abdruck meines linken Fußes. Ich drücke ihn aufs Bett. Der Schwarzhaarige lässt es geschehen, sieht dabei zu, wie ich die Stoffhose langsam von seinem Körper ziehe. Ich kann mir einen eindeutigen Blick auf seine harte Erregung nicht verkneifen, als ich mich über ihn begebe. Kain packt mich am Hals. Kurz vor meinen Lippen stoppt er, lässt stattdessen seine Zungenspitze nach vorn gleiten. Sie trifft meine Oberlippe und schickt einen erregenden Schauer durch meinen Leib. Ein Keuchen entflieht meinen Lippen, welche Kain durch einen Kuss dämpft. Er genießt es. War es doch das, was ihm eindeutig die letzten Mal gefehlt hat. Die Küsse sind intensiv. Wechseln zwischen liebevollen Necken und leidenschaftlichen Drängen hin und her. Ich gebe mich seinem Tempo hin, nehme jede Berührung unserer Lippen als Einladung, aber nicht als Vorgabe. Auch ich verlange und locke. Als ich mich aufrichte, spüre ich mit Genugtuung, wie er mir augenblicklich folgt. Wie er meine Lippen sucht und meinen Körper umfängt. Unaufhörlich bewegen sich seine Hände über meine Haut, in meinen Nacken und zu meinem Hintern. Die Hitze zwischen uns wird unerträglich. Ich brauche mehr. Genießerisch wandern meine Fingerspitzen über die definierten Muskeln seines Brustkorbs, zeichnen sich über seinen Bauch und finden zielstrebig den Ort, der uns beiden Befriedigung bieten kann. Kains Spitze ist feucht, als ich meinen Daumen darüber gleiten lasse. Er keucht und unterbricht den Kuss für wenige Millisekunden. Damit gebe ich mich nicht zufrieden, sondern umfasse ihn vollständig. Noch sind seine Augen geschlossen. Ich mache eine pumpende Bewegung über seine gesamte Länge. Kontrolliert und wohlwissend. Mit einer Tendenz nach links für mehr Reibung an der Spitze. Das nächste Keuchen ist tiefer. Wohliger. Ich wiederhole es und blicke in verhangenes Braun. Kains Hände stoppen an meiner Hüfte. Sein Daumen bewegt sich über meinen Beckenknochen und ehe ich mich versehe, drückt er mich mit dem Rücken ins Laken. Ich keuche erschrocken auf, als sich sein Bein zwischen meine schiebt. Er übt nur sanften Druck aus und doch durchfährt mich ein überschwängliches Kitzeln, als er zusätzlich meine Arme nach oben zwingt. „Du erträgst es nicht, wenn ich oben liege, oder?“, kommentiere ich. Kain grinst. So sehr ich auch den Anschein erwecke, dass es mich stört, so sehr genieße ich insgeheim das Gefühl, dominiert zu werden. Das hat bisher nur er geschafft. Ich mache einen Versuch, unsere Position wieder zu ändern, doch gegen Kains Körperkraft komme ich nicht an. „Nein, ich mag es nur, zu sehen, wie du die Kontrolle verlierst“, erwidert er neckend und mehr als zweideutig. Kain drückt meine Handgelenke fester ins Laken. Seine Lippen kosten sich über meine Brust mit winzig kleinen Küsschen. Federleicht und hauchzart. Sie schaffen genau das, was er will. Ich reagiere heftig. Meine Brustwarzen erhärten sich und meine Lendengegend vibriert. Doch er lässt sich Zeit. Wandert mit seinen Lippen bis zu meinem Bauchnabel, ignoriert dabei meine deutliche Erregung und küsst sich zurück. Bis in die Mitte meines Sternums. Mit geschlossenen Augen verweilt er dort und scheint den heftigen Schlag meines Herzens mit den Lippen zu ertasten. Unwillkürlich beginne ich mich unter ihm zu winden. Ich presse mein Becken nach oben und spüre Kains warmen Körper dadurch noch deutlicher. Keine Spielereien. Er sieht mich an und kommt wieder höher. Ein Kuss und er lässt meinen rechten Arm los, um unterm Bett nach einer Kiste zu greifen. Ungeduldig versuche ich einen Blick zu erhaschen, während er darin herumkram. Doch bevor ich etwas erkennen kann, drückt mich wieder zurück und schüttelt mit dem Kopf. Neugier durchfährt mich, ebenso wie Erregung. Ich kann nicht lange darüber nachdenken. Kain verschließt meinen Mund mit seinem. Es ist ein lieblicher Kuss. Fast unschuldig. Erst, als ich seine warme Hand an meinen Schwanz spüre, merke ich, dass es nichts als Ablenkung ist. Er ist so geschickt darin, mich vorzubereiten, dass ich jedes Mal von der ersten Sekunde an derartig entspannt bin, dass ich alles genieße. Kains Lippen an meinen Brustwarzen. Das feine Saugen und bewusst reizende Knabbern. Er ist ein wahrer Multitasker. Während er mich dehnt, bewegt sich seine Hand streichelnd über meine Härte. Steigert meine Lust, aber schubst mich nicht über die Klippe. Ich gebe mein Bestes, ihm währenddessen ebenfalls etwas Verlangen zubereiten, aber meine Sinne sind so beansprucht, dass ich keinen geeigneten Rhythmus finde. Kain merkt es, drückt sich wieder höher und küsst mich leidenschaftlich. Mein Körper scheint überall zu kribbeln und mein Gehirn schwimmt in Dopamin. „Du heute oben, ja?“, flüstert er fragend. Ich gebe nur ein fahriges Nicken von mir und richte mich mit ihm zusammen auf. Kain setzt sich ans Kopfende und streckt seine Hand nach mir aus. „Umdrehen“, fordert er mich auf und ich zögere. Nur das Schreibtischlicht erhellt den Raum. Durch mein Zögern richtet sich Kain etwas auf. „Ich genieße immer mit geschlossenen Augen, versprochen.“ Er nippt an meinen Lippen und obwohl das Kitzeln in meinem Inneren für einen Moment unangenehm wird, willige ich ein. Ich lasse mich führen, knie mich rücklings über ihn und spüre, wie er seinen Lippen gegen mein Schulterblatt legt, als er in mich eindringt. Er umfasst meinen Bauch mit beiden Armen und schmiegt sich dicht an mich, während wir beide das wohlige Gefühl genießen, die Hitze des jeweils anderen zu spüren. Es ist ein sehr gutes Gefühl. Ein vertrautes. Ich lasse meine Hüfte kreisen, höre sein Stöhnen, das mit jeder intensiven Bewegung tiefer und rauer zu werden scheint. Die Vibrationen, die es verursacht, scheinen zusätzlich in mich einzudringen. Ich brauche mehr. Ich will es heftiger. Kain lehnt sich mit mir zurück und unwillkürlich stelle ich die Füße auf, so dass ich fast über ihm hocke. Überrascht fasse an die Wand und suche dort Halt. Ich komme aus dem Rhythmus, doch das ist genau das, was Kain bezweckt. Er übernimmt die Kontrolle, bewegt sein Becken nach oben und stößt tief. Nun entflieht auch mir ein tiefes Stöhnen. Erst sind seine Stöße kontrolliert, während sich seine Hände über meine Brust arbeiten. Dann werden sie schneller und Kain beginnt mich im selben Takt zu pumpen. Meine Atmung wird immer hemmungsloser. Hektischer. Ich werde lauter. Kain küsst sich über meinen Hals, während er seine Stöße drosselt. Die Intensität nimmt nicht ab. Er neigt mein Gesicht zur Seite und verschließt meine Lippen. Ich weiß nicht mehr, was ich zuerst spüren soll und komme heiß und heftig in Kains Hand. Zu meinem Leidwesen auch überraschend. Ein Kuss, den ich kaum erwidere und Kain hält mich dicht in Position. Nur für einen kurzen Moment zügelt er sich, gibt mir die Chance zu atmen. Das Gefühl ist noch immer so intensiv, dass ich mich nicht auf den anderen Mann konzentrieren kann. Kain kommt leise, atmet gegen meinen Rücken und hinterlässt ein paar Nagelabdrücke an meinem Hüftknochen. Meine Beine zittern und mein Herz rast. In meiner Halsbeuge spüre ich Kains Atmen und seine Lippen. Ich muss dringend meine Beine entlasten. Ich drücke mich mit Hilfe der Wand in eine aufrechte Position und brauche eine Weile, bis ich meine Gliedmaßen sortiert bekomme. Alles kribbelt und ich lehne mich zu Kains Füßen gegen die Wand. Er beobachtet mich und bewegt sich selbst keinen Zentimeter. „Hey, wie kommt es eigentlich, dass du nach dem Sex nie rauchst?“, fragt er. Ich zucke erstmal mit den Schultern, bevor ich eine ebenso unnütze Antwort präsentiere. „Keine Ahnung. Vielleicht, weil ich nicht so süchtig bin, wie alle glaube.“ „Vielleicht solltest du dann einfach aufhören.“ „Du klingst schon wie Jeff und meine Mutter“, kommentiere ich und sehe mich im Zimmer um. Mein Körper ist voller Endorphine und Oxytocin und ich verspüre keinerlei Lust auf eine Zigarette. Nur nach Schlaf und Ruhe. Ich rutsche von der Wand weg, fahre mir durch die Haare und sehe mich nach meinen Klamotten um. Keine leichte Aufgabe. Kain setzt sich auf. Auch ihm sehe ich den plötzlichen Abfall des Adrenalins an, der jeden Kerl nach dem Koitus ereilt. Es ist wie ein kleines befriedigendes Hämmerchen. „Bleib hier. Ich räume für dich mein Bett. Nur das brauch ich.“ Kain greift sich eines der beiden Kissen und steht auf. Er wankt zu Abels Bett und lässt sich einfach fallen. Er schläft sofort. Ohne sich meine Grundsatzrede zum Thema fremde Betten anzuhören. Nur zögerlich lege ich mich ins übriggebliebene Kissen. Es riecht so intensiv nach Kain und Sex, dass ich das Gefühl habe, der Restalkohol in meinem Blut kocht wieder auf. Doch der enorme Abfall des Adrenalins in meinem Leib lässt mich schnell schlafen. Irgendwo im Hintergrund höre ich ein Klingeln. Es ist so leise, dass ich es gekonnt ignoriere. Erst das durchdringende Fluchen lässt mich reagieren. „Fuck. Fuck. Fuck.“ „Wie spät ist es?“, frage ich und sehe dabei zu, wie sich Kain eilig ein paar Klamotten überwirft. „Halb 8 Uhr morgens.“ Noch reagiere ich nicht und verstehe noch weniger, wieso der andere Mann so hektisch hin und her rennt. „Ich schreibe gleich eine Klausur zum Thema Genomsequenzierung.“ „Oh, shit“, entfährt es nun auch mir. „Klausur. Danach Vorbereitung beim Frosch und ich habe keinen Kaffee. Drück mir die Daumen, dass ich nicht einschlafe." Das koffeinhaltige Getränk betont er besonders. „Ich drücke dir die Daumen, dass dir beim Frosch nicht die Ohren bluten.“ Kain grinst und verschwindet aus der Tür. Für einen kurzen Augenblick verspüre ich Mitleid. Der Frosch ist einer unserer gemeinsamen Dozenten. Ein Franzose. Ich kann ihn nicht leiden. Ich bette meinen Kopf zurück ins Kissen. Mein Körper ist herrlich befriedigt, doch trotz des kribbelnden Lebens bin ich hundemüde. Als ich das nächste Mal meine Augen öffne, ist es kurz nach 10 Uhr. Hektisch falle ich aus dem Bett und klaube meine Klamotten zusammen. Hose und Pullover finde ich schnell. Von den anderen Sachen fehlt jede Spur. Wahrscheinlich erkenne ich sie nur mangt des Chaos nicht. Ich entdecke eine Socke neben dem umgeworfenen Stapel Bücher und stutze, als ich einen bekannten Namen auf einen der Buchrücken lese. Eines von meinen. Es bildet sich ein seltsames Gefühl in meiner Brust. Ein Kribbeln aus Ärger und etwas, das ich nicht bestimmen kann. Ich habe es ihm nicht verboten. Ich greife danach und sehe, dass im letzten Drittel etwas zwischen die Seiten geschoben ist. Ich öffne die Stelle und ziehe ein Bild hervor. Eine jüngere Version von Kain hält eine junge Frau mit dunklen Haaren im Arm. Sie ist ein ganzes Stück kleiner als er und lächelt verhalten. Kain lächelt für sie mit. Ich schiebe das Foto wieder zurück. Achte nicht darauf, dass es an der gleichen Stelle steckt und lege das Buch einfach wieder auf dem Boden ab. Auf dem Weg zur Tür zerre ich mir ein paar der Klamotten über. Barfuß steige ich in die Schuhe. Die entgegenkommenden Gesichter sind mir unbekannt und dennoch sehe ich in jedem Einzelnen, dass sie erkennen, dass ich nicht in dieses Wohnheim gehöre. Ein ungewöhnliches Gefühl. Okay, es ist einfach nur peinlich. Im Foyer sehe ich Abel, der mit einem anderen Studenten vor dem Automaten steht. Ich mache auf dem Absatz kehrt und nutze einen der vielen Nebeneingänge. Ich schleiche mich am Haupteingang vorbei und habe das Gefühl, erst wieder richtig zu atmen, als ich zielstrebig auf mein eigenes Wohnheim zu schlürfe. Zu früh gefreut. „Hey…Guten Morgen, Robin.“ Abels Stimme. Ich schalte nicht schnell genug, um ihn zu ignorieren und drehe mich ertappt um. Seine mattblauen Augen mustern mein Outfit und bleiben an meinen sockenlosen Füßen hängen. „Morgen. Schönen Abend gehabt?“, frage ich und ziehe die Aufmerksamkeit wieder von meinen Schuhen weg. „Ja, fantastisch. Toller Zimmerservice und unglaublich guter Wellness-Bereich. Solltest du auch mal probieren“, sagt er und gibt ein übertriebenes Zwinkern von sich. „Schön für euch“, kommentiere ich und versuche tunlichst das Kopfkino zu vermeiden, welche sich jedes Mal einen verstörenden Weg in mein Gehirn sucht. Ich wende mich von ihm ab und bin erleichtert, dass er anscheinend nicht mitbekommen hat, dass ich aus seinem Wohnheim gekommen bin. „Hey, warte kurz. Von dir hat Jeff das Parfüm bekommen, oder?“ Abel greift nach meinem Arm und hält mich fest. Ich ziehe meine Hand zurück. „Und?“ „Es ist ganz schön teuer, oder?“ „Und?“, frage ich ein weiteres Mal und habe das dringende Bedürfnis nach einer Zigarette. Abels Fragerei irritiert mich. Wir reden im Grunde nie mit einander und ich habe auch keine Lust, das zu ändern. „Na ja, wie kannst du dir das leisten?“ „Seit wann interessieren dich meine finanziellen Angelegenheiten?“ Seine Schultern zucken nach oben. „Ich frag nur. Du hast ihm immerhin ein ziemlich teureres Geschenk gemacht.“ „Und?“, frage ich erneut und verstehe den Sinn hinter seiner Frage nicht. Dann war das Geschenk eben teuer. Jeff bekommt nur einmal im Jahr etwas von mir und da darf es auch mal hochpreisiger sein. „Ich frage nur“, wiederholt er, schiebt sich die Hände in die Hosentasche. „Hast du ein Problem damit? Dann spuck es aus!“ Abel nimmt abwehrend die Hände nach oben und schüttelt seinen Kopf. Ich verstehe seine Fragerei noch weniger. Ich habe keine Lust auf Diskussionen und mich interessiert noch weniger Abels seltsame Gedankenwelt. Außerdem wird mir langsam kalt, da ich bei meinem nächtlichen Ausflug nicht an eine Jacke gedacht habe. Ich laufe weiter, ohne eine Reaktion abzuwarten. „Sag mal, kamst du nicht gerade aus unserem Wohnheim?“, fragt er hinterher. Ich zucke minimal zusammen. Nur einen Sekundenbruchteil lang. „Ach, das ist eures?“, frage ich gespielt überrascht, führe es nicht weiter aus und wende mich zum Gehen. Mein Kiefer kribbelt verräterisch. Abel fragt und folgt nicht. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit finde ich mich nach einer Dusche, frischen Klamotten und einer Frühstückszigarette vor dem Coffeeshop mit dem von Jeff, wie auch Kain gutbefundenen Kaffee wieder. Ich ziehe mir einen weiteren Glimmstängel hervor und sehe eine Weile dabei zu, wie immer mehr komplett umnachtete Gestalten in den Laden schleichen. Ich schnipse meinen Zigarettenstummel in die angrenzende Hecke und sehe mich kurz nach Micha um. Man weiß ja nie. Als ich mich zwischen einer Horde Koffein-Zombies hindurchquetsche, um an die Bestelltheke zu kommen, schaut mir ein Haufen müder Augen dabei zu. Ihre leeren Blicke verfolgen mich und ich schlucke ein paar der bissigen Kommentare runter, die sich auf meine Zunge sammeln. Klausurenzeit ist Zombiezeit. Eine genervte Frauenstimme fragt nach meiner Bestellung. „Einen Chai-Latte und einen großen Mokka.“ Unbewusst greife ich nach zwei Tütchen braunem Zucker. Ich stocke, atme tief ein. Ich hasse mich gerade selbst dafür, dass ich es noch weiß. Der regelmäßige Sex besänftigt mich. Das ist nicht gut. Aus Frust gönne ich mir noch einen Blaubeermuffin, den ich mir auf den Weg zum Hauptgebäude genüsslich einverleibe. Schon im Flur nehme ich die akustisch verstärkte Stimme des Redenden wahr. Der französische Akzent. Der Frosch. Ich beginne mich unwillkürlich etwas zu schüttelt. Der Dozent beglückte mich im letzten Semester. Methoden der Biochemie und Molekularbiologie. Untrennbar verbunden mit dem Rest meines Studiengangs. Ich konnte mich trotzdem nie damit anfreunden. Fast widerwillig öffne ich die Tür zum Hörsaal. Ein kurzer Blick über die Hinterköpfe der Studenten und ich entdecke Kain in einer der hinteren Reihen. Zu meinem Glück. Ich beuge mich zu ihm, stelle den Kaffee vor ihm ab und weiße ihn gestisch an, den Mund zu halten. Kain sieht verwirrt zwischen mir und dem Becher hin und her, tippt mit den Fingerspitzen der geschlossenen rechten Hand gegen sein Kinn und schwingt sie nach vorn. Ein gestischer Dank. Er deutet auf den Platz neben sich, doch ich lehne ab. Ich ertrage keine weitere Vorlesung zu diesem Thema. Ich will mich wieder zurückziehen und obwohl ich alles Menschenmögliche versuche, um keine Geräusche zu machen, bemerkt mich der Dozent dennoch. „Monsieur Quinn.“ Der gut gekleidete Franzose verschränkt seine Arme vor der Brust und ich spüre, deutlich, wie sich meine Schultern straffen. „Leider muss isch Ihnen mitteilen, dass sie etwas schpät dran sind, um meinen Kurs zu wiederholn. Das Semester ist nun mehr fini.“ Der französische Akzent verursacht mir Gänsehaut. Auch der Rest des Hörsaals dreht sich um. Prima. Für einen Moment beißt sich Kain auf die Unterlippe, während ich von ihm zum Dozenten und wieder zurück schaue. „Du hast echt überall Freunde, oder?“, flüstert mir Kain zu und nimmt einen Schluck vom Kaffee. „Ach halt die Klappe“, murre ich zurück. „Sie dürfen natürlisch gern, wenn Ihnen langweilisch ist, erneut an der Klausur teilnehmen und misch verblüffn“, kommentiert er weiter und ich sehe deutlich das feine Funkeln in seinen Augen. „Nein, vielen Dank, denn ich durchforste noch immer die Lehrbücher, um Ihre kryptische Ansicht über die Methoden für die biophysikalische Charakterisierung von natürlichen und künstlichen extrazellulären Matrices zu verstehen.“ Wir sind uns nicht grün. Schon damals in seinen Vorlesungen haben wir uns gern hitzige Diskussionen über die Bedeutung der physikalischen Chemie im Gesamtchorus der Biochemie geliefert. Physik ist Scheiße. Meine Meinung. Da ich damit nicht hinter dem Berg halte, haben wir einfach keine gemeinsame Basis für neutrale Kommunikation gefunden. Meine Klausur war zu seinem Leidwesen auch noch makellos. Also drückte er seine Überlegenheit in anderer Form aus. In meiner Hausarbeit zerrupfte er den frei interprätierbaren Teil, um mir keine wirklich gute Note geben zu müssen. „Vielleicht sollte ich zu diesem Thema doch noch eine zweite Meinung einholen.“ Eine kleine Drohung, denn bisher habe ich wegen der versauten Note keine Einwände eingelegt. Ein arrogantes Lächeln schwebt über seine Lippen. Mein Kiefer ist mittlerweile so angespannt, dass ich das leise Knirschen meiner Zähne hören kann. Kain greift mir an die Jacke, doch ich sehe ihn nicht an. „Isch werfe gern bei Gelegenheit einen Blick auf Ihren neuen Analysen, Monsieur Quinn.“ „Mit Sicherheit“, murre ich halblaut. „Nun, dann wollen wir fortfahren.“ Damit wendet er sich ab und ich sehe zu Kain. Ich werfe ihm einen nicht für ihn gedachten genervten Blick zu und verschwinde aus dem Hörsaal. An der frischen Luft angekommen, ziehe ich mir eine Zigarette hervor und zünde sie an. Ich nehme nur einen kurzen Zug und halte dann wieder inne. Im selben Moment denke ich an den Schwarzhaarigen. An die gestrige Nacht. Ich atme ein weiteres Mal tief ein und widerstehe den Drang, mich irgendwo zu erhängen. Nachdem ich eine weitere Zigarette angezündet und im nächsten Moment wieder ausgedrückt habe, reihe ich mich in die magengrummelnden Futterschlangen der Mensa ein. Die Entscheidung fällt mir heute seltsam leicht. Spaghetti mit Hackfleischpamps a la Küchenchef. Er nennt es original italienisch und ich unterlasse den Versuch, ihm zu verdeutlichen, dass die Kombination von Spaghetti und Bolognesesoße in Italien historisch nicht existiert. Es heißt nicht einmal so. Das Essen schmeckt trotzdem und niemand lässt sich gern die Illusionen nehmen. Mit einem zu gutgemeinten Berg Nudeln suche ich mir einen Platz am Fenster und ignoriere, dass an dem Tisch bereits zwei Leute sitzen. Ich ziehe mir die Kopfhörer auf und lasse dieses Mal Gary Jules Lied über die Facetten unbegrenzter Verrücktheiten dieser Welt und innerer Leere laufen. Ich denke an Kain. Die Lust auf den Geschmack seiner Lippen. Die Welt muss wahrhaftig verrückt sein. Der winzige Anflug von Hunger verschwindet und mein Blick richtet sich auf die Straße. Immer mehr Studenten strömen in die Mensa. Die Mehrheit wirkt gestresst und ausgelaugt. Einige verstecken ihre Gesichter unter Kapuzen und Mützen. Als ich beschließe, das Weite zu suchen, weil mein Hungergefühl vollends verendet ist, lässt sich Jeff auf den Stuhl neben mir nieder. Er lächelt und ich frage mich, wie er es immer wieder schafft, mich aufzuspüren. Als hätte er einen Radar. Vielleicht bin ich verwanzt? Abel folgt und setzt sich Jeff gegenüber. Ich greife nach meiner Gabel drehe sie missmutig und mehr zur Ablenkung in dem roten Nudelhaufen umher. Auch Abel hat eine Portion und ich warte augenblicklich darauf, dass der darwin´sche Kampf beginnt. Wer von beiden macht sich seine evolutionäre Entwicklung eher zunutze? Wer wird sich anpassen? Wer wird sich weiterentwickeln? Nudel oder Abel. Kohlenhydrat oder Kohlkopf. Ich hoffe sehnlichst auf Ersteres. Jeff stupst mich von der Seite an. Ich beende mein erwartendes Starren nur zögerlich und ziehe meinen rechten Kopfhörer vom Ohr. „Alles okay?“, flüstert er fragend. „Ja. Wieso?“, antworte ich und schiele zurück zu Abel und seinem Teller. „Du siehst angestrengt aus.“ Nun sehe ich doch direkt zu meinem Mitbewohner. Jeffs blaue Augen mustern mich gründlich. „Ach wirklich? Nein, alles gut.“, murmele ich beschwichtigend. Abgelenkt schiele ich zurück zu Abel, der gerade den ersten gedrehten Löffel Spaghetti in seinen Mund schiebt. Genaugenommen versucht er es, denn gern wird überschätzt, wie weit sich die menschliche Futterluke öffnen lässt. Bis heute habe ich nicht rausbekommen, woran es eigentlich liegt, dass bei vielen die Langnudelaufnahme vollends schief läuft. In der Theorie denke ich, dass es daran liegt, dass sich bei diesem Gericht der klassischen Kindheit die adolenszenztypischen Eigenschaften im Gehirn abschalten. Die Erfahrung lehrt mich jedoch, dass es den meisten Kerlen egal ist, ob sie danach wie ein schlechtgeschminkter Clown aussehen. Hauptsache die Speise landet auf schnellstmöglichen Weg im Magentrakt. Die Erkenntnis setzt sich auch bei Abel fort. Nachdem er die Gabel in normaler Position nicht in den Mund bekommen hat, versucht er es quer. Ich verkneife mir angesichts der enormen Logik ein lautes Lachen, schaffe es jedoch nicht vollständig. Über meine Lippen fließt ein erheitertes Glucksen und zu meinem Leidwesen habe ich damit Jeffs Aufmerksamkeit zurück. Er weiß sofort, worüber ich mich beeimere. „Wehe du sagst etwas beleidigendes“, flüstert er prompt zu mir gelehnt. „Hab ich nicht vor“, murre ich zurück. Ich versau mir doch meine Feldforschung nicht. Die Portion tomatenbenetzter Teigware findet ihren Weg in den Mund des blonden Mannes und hinterlässt deutliche Spuren an der Oberlippe und in beiden Mundwinkeln. Abel dreht munter eine weitere Gabel auf, ohne sich an den Hinterlassenschaften zu stören. Ich bin wenig überrascht und sehe mit freudiger Erwartungen dabei zu, wie er eine weitere überdimensionale Ladung fertigt. „Honey, mach mal so.“ Jeff will ihn retten oder sich selbst die Peinlichkeit ersparen. Er deutet Abel die beschmutzten Mundwinkel an, doch dieser wischt sich einfach fahrig über die Oberlippe. Zu meiner Erheiterung auch nur über die noch saubere Stelle und widmet sich wieder seinem Essen. Ich verkneife mir ein weiteres Lachen und genieße Jeffs Kopfschütteln, bis er mir freundschaftlich gegen die Schulter boxt. Dann lache ich laut und reiße Jeff alsbald mit. Abel schaut uns fragend entgegen und hat wie immer nicht verstanden, was eigentlich passiert. Es ist mir auch egal. Wir lachen immer noch, als Kain mit Kaffee hinter Abel auftaucht. Ich habe mittlerweile Bauchschmerzen, bemerke Kains verwunderten Blick und versuche noch etwas mehr, mich wieder einzukriegen. „Wie lief deine Klausur?“, fragt Jeff Kain, während dieser seine Beine übereinanderschlägt und sich einen großen Schluck Kaffee genehmigt. Es ist noch immer derselbe Becher, den ich ihm vorbei gebracht habe. Der Inhalt muss mittlerweile kalt sein. „Na ja, ich werden sie nicht wiederholen müssen, aber glanzvoll ist anders.“ Ein kurzer Blick zu mir. „Das heißt er schreibt eine 1,3 statt 1,0“, nörgelt Abel in seinen Nudelberg und wischt sich nun wirklich einige der Tomatenspuren von den Lippen. Kains Augenbrauen kräuseln sich. Jeff lacht vergnügt, während sich mein Gegenüber versucht herauszureden. Kains Noten sind tadellos und das liegt nicht nur an seiner beharrlichen Lernerei. „Ich wäre auch besser, wenn ich mir alles, was ich lese, sofort merken könnte. Die Kopfschmerzen kannst du aber behalten.“ Ich horche auf, während Abel seine Gabel vor Kains Nase rum schwenkt. Kopfschmerzen? „Wann hast du denn das letzte Mal in ein Buch geschaut?“, kommentiert Kain und zeigt plötzlich großes Interesse an meinem unangetasteten Mittagessen. Ich schiebe ihm den Teller zu, freue mich darüber, ein weiteres Studienobjekt zu haben und lehne mich zurück. „Oh Robin, du musst übrigens selbst nach Hause kommen“, erklärt Jeff zwischen zwei Happen und mir vergeht jeglicher Forschungsdrang. --------------------------------------------- Ps vom Autor: Seit Oktober bin ich wieder Student und hoffe ganz schnell, ganz viel Zeit zu finden um all die Kapitel nachzuholen, die ich euch Schulde!! Für alle Geschichte. Ich bin fleißig am Tippen und Grübeln! Bitte entschuldigt, diese ewige Warterei!!! Ihr seid alle großartig und ich danke euch für jedes Wort, für jeden Klick und jeden auch nur gedachten Arschtritt!! Vielen lieben Dank!! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)