The Heart Collector von Gouda-kun ================================================================================ Kapitel 7: Kapitel 7: Das Wiedersehen 2 --------------------------------------- Maxime stand am Montagmorgen in der Türe der gut gefüllten Schulcafeteria und sah ungeduldig auf seine Armbanduhr. Vom Kirchturm her hatte es gerade zwölf Uhr geschlagen und er wusste, dass Marcel immer pünktlich zur gleichen hierher Zeit kam. Maxime starrte nach vorne in den Gang. Gestern Nacht hatte er einen Entschluss gefasst: Heute würde er Marcel ansprechen, für diese Pause würde er ihn Gesellschaft leisten. Der Flur war rappelvoll, so überlaufen, dass die einzelnen 5-Klässer in der Masse wie Stecknadeln verschwanden. Nur ab und zu, wenn einer der Riesen den Kindern Platz machte, erschien ein junges Gesicht im fahlen Licht der Deckenbeleutchung. Um fünf Minuten nach zwölf glaubte Maxime einen schlanken Körper zu sehen, der sich durch die Leiber der anderen Schüler quetschte und die Eingangstüre der Cafeteria ansteuerte. Schließlich verlief alles nach Plan. Maxime drückte seinen Rücken neben die Türe an die Wand, und Marcel rauschte an ihm vorbei, ohne seinen Beobachter wahrzunehmen. Auf Zehenspitzen schlich Maxime dem Anderen hinterher. Mit angehaltenen Atem nahm er die Verfolgung auf und bemühte sich, auf den Rest der Jugendlichen und Kinder nicht wie ein verrückter Stalker zu wirken. An einen Tisch im hintersten Viertel der Schulkantine sank Marcel auf einen Stuhl. Zugleich sprang Maxime hinter einen Mülleimer und wendete dem Jüngeren prompt seinen Rücken zu. Natürlich wollte er sich nicht sofort zeigen. Er wollte nur ganz zufällig an Marcel vorbei laufen und ihn dann total überraschend wiedererkennen und dann, ja dann, würde er ihn wie einen Kaugummi an den Schuhsohlen kleben. So klang zumindest der Plan. Als Marcel sein Mittagessen ausgepackte, lief Maxime an ihm vorbei und ein kleines, gemeines Feixen huschte über sein heute besonders sorgfältig geschminktes Gesicht. Erst nachdem er Marcel eine Hand auf die zierliche Schulter gedrückt hatte, bemerkte der Kleine seine Anwesenheit und zuckte ängstlich zusammen. Marcel fuhr wie von einer Tarantel gestochen herum. Er erstarrte, als seine blauen Augen auf Maximes ebenfalls blaue Seelenspiegel trafen. „Hey Marcel, es ist ja schon eine Weile her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben! Was für ein Zufall dass ich dich heute wieder sehe. Wie ist es dir in der letzten so Zeit ergangen?“ Darauf war Marcel nicht gefasst gewesen. „Ma...Maxime?!“, fiepte der Junge leicht hysterisch. „Was... Was machst du denn hier?“ „Auch Mittagspause. Hast du was dagegen, wenn ich mich zur dir setze? Hier ist es so voll, dass ich keinen anderen Tisch mehr finde.“ Marcel nickte skeptisch. Nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte, rutschten seine Mundwinkel nach unten. Eine jähe Eingebung ließ ihn Böses ahnen: Anscheinend wollte sich dieses rosahaarige Mädchen schon wieder an ihn ran machen... „Was möchtest du von mir?“, fragte Marcel nach einigen Sekunden mit fester Stimme. „Kannst du dich nicht mehr an meine Warnung erinnern? Ich möchte, dass du gehst. So leid es mir auch tut und so nett du auch bist, aber wir können keine Freunde sind. Ich würde dich nur in Schwierigkeiten bringen...“ Seufzend verdrehte Maxime seine Augen. Geht das schon wieder los, dachte er leicht beleidigt. Er hatte schon fast vergessen, dass ihm Marcel gleich bei ihren ersten Treffen einen Korb verpasst hatte. Jetzt wusste Maxime vielleicht, warum Marcel so verklemmt war, aber er konnte und wollte diese Entscheidung in keinster Weise akzeptieren. „Es ist mir egal, dass du gemobbt wirst. Falls du es genau wissen möchtest, ich werde auch gehänselt.“ „Du?! Das glaube ich dir nicht!“, Marcel schüttelte energisch seinen blonden Haarschopf. „Warum sollte man dich mobben? Du bist doch ein Mädchen...! Und du bist sogar hübsch...! Was sollte man an dir denn nicht mögen?“ „Die Tatsache, dass ich ein Junge bin?“ „Was?! Das... das kann nicht sein! Willst du mich verarschen? Du bist doch kein Junge!“ „Nein? Soll ich es dir beweisen?“ Maxime beschloss, dass es an der Zeit war, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Er lehnte sich nach vorne und griff mit dem Zeigefinger nach seiner weißen Rüschenbluse, wo er den Ausschnitt weit nach unten zog. „Siehst du? Da sind keine Titten... Ich bin ein waschechter Kerl. Aber wenn du mir nicht glauben willst, kannst du gerne mit auf die Toilette kommen und dann kann ich dir zeigen, was ich stattdessen habe.“ Energisch hob Marcel seine Hände und drückte sie auf sein rot glühendes Gesicht. Wimmernd bat er Maxime, den Finger aus seiner Bluse zu nehmen und sich wieder richtig hinzu setzen. „Okay, ich glaube dir! Ich glaube dir wirklich, aber hör auf der ganzen Welt deine nackte Brust zu zeigen. Du bist vielleicht ein Junge, aber du trägst Frauenklamotten und solltest dich dementsprechend auch wie eine benehmen!“ Summend nickte Maxime. Zufrieden lehnte er sich wieder zurück und trat dem wimmernden Nervenbündel liebevoll gegen das Schienbein. „Sehr schön. Jetzt weißt du, was Sache ist. Ich werde auch gemobbt, ich bin ein Mann so wie du... also was spricht noch dagegen, dass wir miteinander befreundet sind? Ich glaube nichts.“ „Und ob!“ Überraschenderweise sprang Marcel auf die Beine. Er schlug seine Hände auf die Tischplatte und wischte sein Frühstück mit einer raschen Bewegung in seine Tasche zurück. „Du willst es einfach nicht verstehen, oder?! Es ist mir egal, ob du ein Junge bist oder ein Mädchen. Die anderen Schüler werden dir den Hals umdrehen, wenn du mit mir abhängst! Ich möchte nichts mit dir zu tun haben, kapiert!?“ Maxime begann zu schmollen und streckte dem Anderen im Anflug spontaner Unreife die Zunge raus. „Hast du einen an der Waffel? Du kennst mich doch gar nicht. Woher willst du denn wissen, dass ich mich nicht gegen diese Mistkerle wehren kann? Was auch immer du von mir denkst, aber ich bin kein kleines Püppchen, was sich von jedem hin und herschubsen lässt.“ Anstatt zu antworten presste Marcel die Lippen zusammen und unterdrückte ein fieses Lachen. „Du bist es, der hier einen an der Waffel hat. Weißt du eigentlich, wer ICH bin? Und weißt du eigentlich, WER meine Geschwister sind? Schon die Tatsache das meine Familie, meine Familie ist, sollte dich auf Abstand halten.“ Während Marcel auf den Absätzen kehrt machte und auf den Ausgang zu lief, erinnerte sich Maxime auch wieder daran, wieso er Marcel damals überhaupt angesprochen hatte: nicht weil er ihn so sympathisch fand, sondern weil ihn sein schönes Äußeres aufgefallen war. Und das war nämlich das Paradoxe an der ganzen Sache: Maxime, welcher eigentlich nur auf dominante Männer stand, hatte plötzlich gefallen an einen so femininen Jungen wie Marcel gefunden. Vielleicht sollte er ihm das sagen. Natürlich konnte dieses Geständnis auch leicht nach hinten los gehen. Aber wenn Marcel schon keine Freundschaft wollte, konnte er ihn womöglich immer noch ins Bett kriegen... Da Maxime schon öfters mit fremden Männern geschlafen hatte, stellten One-Night-Stands kein Problem für ihn dar. Er war vielleicht erst 15 Jahre, trotzdem besaß er in Sachen Sex schon mehr Erfahrung wie Gleichaltrige. Aber Marcel war da offenbar anders gepolt; er wirkte nicht gerade wie eine sexhungrige Bestie, welche mit jedem dahergelaufenem Kerl in die Kiste hüpfte. Eher wie ein prüdes Mauerblümchen ala Scarlett. Außerdem war es immer noch fraglich, ob Marcel wirklich auf Männer stand. Grummelnd hob Maxime seine Augen. Beim Anblick der langen blonden Haare, die beim Gehen über seinen schlanken Rücken wehten, und Marcels knackigen Hinterteil, verscheuchte er schnell sein schlechtes Gewissen und folgte dem Jüngeren in den Korridor. Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, beschleunigte Maxime seine Schritte und schnappte sich Marcels Handgelenk im Vorbeigehen. „Bleib gefälligst hier, wenn du mit mir redest! Dann sag mir doch, wer du bist? Ich weiß es nicht.“ Knurrend riss sich Marcel los. „Ich habe nie behauptet, dass ich dir das Erzählen werde. Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?!“ „Weil... du mir leid tust!“, gestand Maxime wütend und zugleich verletzt. „Ich will dein Mitleid nicht haben. Du bist doch genau so oberflächlich wie alle Anderen!“ Marcel, der nun endgültig seine Beherrschung verlor, schubste Maxime heftig nach hinten. „Denkst du, dass ich mit dir befreundet sein möchte, nur weil wir uns ähnlich sind? Weil du gehänselt wirst und auch sehr schmächtig bist? Ich hasse es, in eine Schublade gesteckt zu werden. Und jetzt hau ab, oder wirst mich von einer anderen Seite kennenlernen!“ Es gab einen kurzen Knall und Maxime krachte mit den Rücken gegen einen Schulspind. In den ersten Sekunden sah er nur Sterne aufblitzen, dann hörte er auf einmal die Aufschreie einiger Menschen. Als Maxime die Augen öffnete, stand Jaromir plötzlich in seinem Sichtfeld und betrachtete Marcel herablassend. Diesmal war er ohne Sebastian erschienen. Doch das änderte trotzdem nichts an der Tatsache, dass Jaromir genau so gemein und aggressiv werden konnte, wie sein bester Freund. Der dunkelhaarige Schüler zischelte etwas Unverständliches und rammte Marcel dann ohne Vorwarnung, seine geballte Faust gegen denn Kiefer. „He, ich wusste gar nicht dass du so gewalttätig bist!“, grölte Jaromir lauthals, seines Zeichens Schläger und Unruhestifter, während Marcel wie ein nasser Sack zu Boden ging. „Steh auf du Würstchen! Komm schon, beeil dich! Ich will ein bisschen Spaß haben. Zeig mir was du drauf hast!“ Marcel wagte es nicht, sich zu rühren. Mit einem schmerzverzerrten Gesichtsausdruck blieb er auf dem Boden sitzen, doch lange sollte ihn diese Pause nicht vergönnt sein; eine große Hand packte ihn am Kragen und zog ihn wieder auf die Füße. Kurz darauf musste Marcel einen weiten Schlag einstecken und die Wucht des Aufpralls riss ihn schon wieder von den Füßen. Marcel rollte sich auf den Rücken, die Lippen zusammengepresst und vor Schmerz verzerrt. „W- Was soll das? Ich... habe, habe dir doch gar nichts getan.“ „Denkst du? Dann erinnere ich dich mal an unseren Deal von letzter Woche. Ich warte immer noch auf MEIN Geld, das du mir versprochen hast, und so langsam werde ich echt ungeduldig.“ Oh, natürlich. Anscheinend meinte Jaromir das Geld, welches er schon bei seinem letzten Überfall nicht erhalten hatte. Und so wie es aussah, war Marcel seinen Feinden bis jetzt entkommen. Aber nun hatte ihn Jaromir entdeckt und zugleich in die Mangel genommen. Ächzend rappelte sich Maxime auf die Beine. Seine Knochen schmerzten unter der jähen Belastung, doch das allgemeine Getuschel und Gemurmel im Flur war so laut, dass niemand seine Klagelaute vernahm. „Hey, sind schon wieder die Geldeintreiber unterwegs?“, zischte er knurrend. Jaromir, der gerade zum nächsten Schlag gegen Marcel ausholte, verharrte kurz in seiner Bewegung. Als er Maxime entdeckte, zog sich ein schmutziges Grinsen über sein blasses Gesicht und die mit Ringen geschmückten Lippen fuhren in die Höhe. „Oh, wie schön. Ist unser kleines Dornröschen wieder aufgewacht?“ Nun ließ Jaromir von Marcel ab und ging stattdessen zu Maxime rüber. Bei ihm angekommen, schlug er seine flache Hand gegen den Schulspind, welche nur wenige Zentimeter von Maximes Gesicht entfernt auf der Metalltüre landete. Zischelnd beugte der Fiesling seinen Oberkörper nach vorne. „Seit wann bist du mit der kleinen Zwergnase da hinten befreundet? Ist er etwa ein neues Mitglied in deinen abnormalen Freundeskreis, oder ist da sogar noch mehr? Dein neues Bettkätzchen vielleicht...“ Bevor Maxime antwortete, schaute er flüchtig in Marcels Richtung; der schmächtige Junge saß zusammen gekauert und mit Tränen in den Augen auf den Boden. Jaromirs Äußerung musste zu ihm vorgedrungen sein: Beschämt wendete er das Gesicht ab und schluckte geräuschvoll. Diese kleine Geste gab für Maxime den Startschuss, um etwas ganz Neues und ganz Verrücktes auszuprobieren... „Na und? Bist du neidisch, weil ich so einen süßen Freund habe?“ Maxime nutzte seine geringe Größe und tauchte geschickt unter Jaromirs Arm ab und schenkte dem etwas verdutzt blickenden Jungen, ein breites Lächeln. Langsam ging er zu Marcel und drückte ihm sanft die Hand auf die zitternde Schulter. „Lass dich doch nicht von so einem Idioten ärgern.“, sagte Maxime weich. „Er ist doch nur eifersüchtig, weil du zu mir gehörst und er jetzt einpacken kann...“ Verwirrt schaute Marcel zu ihm hoch. Von der einen auf die andere Sekunde waren seine Tränen komplett versiegt. „Was?“, hauchte er flüsternd. „Dass Jaromir Pech hat!“, wiederholte Maxime und zog den Jüngeren mit einem kräftigen Ruck auf die Beine. „Komm mit, Schatzi. Vielleicht finden wir noch einen leeren Klassenraum, wo wir die letzten Minuten der Pause ungestört verbringen können. Ich möchte noch ein bisschen mit dir alleine sein, wenn du verstehst, was ich meine...“ Marcel nickte, ohne den Blick zu heben. Irritiert starrten ihnen die anderen Schüler hinterher, als er Marcels Hand ergriff und erhobenen Hauptes abmarschierte. Nach 2 Minuten, die Maxime allerdings wie zwei 2 Stunden vorkamen, hatte er endlich den Pausenhof erreicht und gab Marcel seine Hand zurück. Doch Marcel wirkte alles andere als erleichtert. Im Gegenteil. Seine großen, blauen Augen sprühend vor Wut. „Warum hast du das getan?“, zischte Marcel schließlich angriffslustig. „Wieso hast du so etwas Idiotisches gesagt!? Jetzt hast du mir mit deinem dummen Gerede noch mehr Feinde gemacht. Vielen Dank!“ Maxime glaubte, nicht recht zu hören. Hallo? Er hatte Marcel doch gerettet! Konnte der Weg denn nicht egal sein? Je länger Maxime über diese undankbaren und frechen Worte nachdachte, desto rasender wurde sein Zorn. „Bist du blind oder einfach nur blöd?“, fauchte er ungehalten. „Ich habe dich vor Jaromir gerettet! Ohne mein Eingreifen, hätte der Mistkerl dich schon 3-mal zu Brei geschlagen!“ „Vielleicht wäre das besser gewesen. Jetzt denken alle, dass ich schwul bin... und etwas mir DIR habe! Sehr schön.“ „Ach, findest du dass so schlimm?“, erwiderte Maxime schnaubend und verengte seine Pupillen zu Schlitzen. „Ich dachte, dass du mich hübsch findest. Warum zierst du dich so? Stört es dich, weil ich ein Mann bin?“ Doch Marcel blieb standhaft und wich keinen einzigen Zentimeter zurück. Er schüttelte seinen Kopf. Wie immer, wenn der schmächtige Junge vor einen Problem stand, welches er nicht zu lösen wusste, begannen alle Muskeln in seinen Körper zu zittern. „Ich hasse dich. Noch nie hat mich jemand so gedemütigt wie heute. Mit deiner tollen Idee hast mich zum Gespött der ganzen Schule gemacht. Das... Das werde ich dir niemals verzeihen! NIEMSALS!“ Als Marcel ihm einen wütenden Blick zu warf, hatte sich Maximes Gesicht in eine Fratze verwandelt. „Weißt du was? Du kannst in deinem Selbstmitleid doch ertrinken! Mann, ich weiß zwar nicht was du für ein Problem hast, aber lass dir helfen! Was habe ich dir getan, dass ich so eine Behandlung verdient habe?“ Und plötzlich hatte Maxime alle Freundlichkeit vergessen. Er genoss Marcels ängstlichen Gesichtsausdruck und bekam auch keine Gewissensbisse für seine spitzen Bemerkungen. „Als wir uns vor einigen Tagen kennenlernen haben, warst du total freundlich zu mir und hast dich richtig lieb und süß verhalten. Und jetzt? Jetzt benimmst du dich wie eine kleine, kaputte Diva, die nur eine starke Schulter braucht, an der sie sich ausheulen kann! Ich entspreche wohl nicht deinen Vorlieben.“ *xXx* „Maxime?“ Nein, so hieß er heute nicht... „Maxime?!“ Lalalalala, er konnte niemanden hören. Der Angesprochene stellte seine Ohren auf Durchzug und marschierte einfach weiter. „BLEIB AUF DER STELLE STEHEN, MAXIME RAVANELLO!! ODER ICH BRÜLLE DEN GANZEN KORRIDOR ZUSAMMEN!!“ Okay, das war allerdings ein überzeugendes Argument. Knurrend drehte Maxime seinen Kopf nach hinten und sah einen buschigen Haarschopf auf sich zu fliegen. Nur einen halben Meter vor ihm kam Charlotte schließlich zum Stehen und funkelte ihn zornig an. Mit einem Mal war der Größen- und Stärkenunterschied in Vergessenheit geraten – das kleine, zierliche Mädchen plusterte sich auf wie ein kampfwütiger Gockel. „Warum ignorierst du mich?“, fragte sie gekränkt. „Weil ich alleine sein möchte?“, erklärte Maxime kühl und unbeeindruckt. Eigentlich wollte er seine schlechte Laune nicht an seinen Freunden auslassen – das war asozial – aber offenbar wollte man ihn in Ruhe lassen. „Was ist den passiert? Hattest du Ärger?“ „Kannst du nicht gehen, Charlotte? Wie du siehst, bin ich im Moment alles andere als gut drauf. Möchtest du den Sündenbock spielen und meine schlechte Laune ertragen?“ Noch bevor Charlotte antworten konnte, drehte sich Maxime um und ging weiter. Aber nicht mit ihr. Sie wirbelte ebenfalls herum und ergriff seinen Arm noch in der gleichen Bewegung. Rasch umrundete Charlotte den rosahaarigen Jungen und knallte ihm unsanft die Hand auf die Schulter. Als Maxime seinen Blick senkte, bemerkte er die Tränen in ihren Augen. „Wenn du mir sagst, was los ich, dann kann ich dir vielleicht helfen. Ich bin doch deine Freundin! Mir kannst du alles erzählen.“ Zuerst wollte Maxime Charlotte ein zweites Mal abwimmeln, aber dann siegte seine Vernunft über die Wut. Es wäre ungerecht, wenn jemand Unschuldiges seinen ganzen Zorn zu spüren bekam. Das hatte Charlotte nun wirklich nicht verdient! Schwerfällig erzählte Maxime seiner Freundin dann von dem Streit mit Marcel. Nachdem er die ersten Silben über seine Lippen gebracht hatte, konnte er seine Emotionen nicht länger unterdrückten und erklärte ihr danach alles von Anfang an. Wo er Marcel im Bus kennenlernte, als dieser von Sebastian und Jaromir ausgeraubt wurde – von seinem schlechten Gewissen, weil er Marcel im Stich gelassen hatte – von gestern Nachmittag im Buchladen, wo dieser unheimliche Albino an Marcels Seite war, und auch von der gerade erlebten Situation. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, füllten sich Maximes Augen plötzlich mit brennend heißen Tränen. Gottseidank war Charlotte, Charlotte und nicht Raphael. Das Mädchen besaß genug Taktgefühl, um keine dummen Bemerkungen zu machen und brachte Maxime stattdessen in einen leeren Klassenraum. Dort angekommen drückte die ihn erstmal auf einen Stuhl und dann ein Taschentuch in seine Hand. „Danke...“, schluchzend Maxime und schluckte hart. Mit dem Tuch wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und nahm einen tiefen Luftzug. Charlotte seufzte leise. Sie breitete ihre Arme aus, und ließ sich auf Maximes Schoss sinken. „Schon gut, Maxi. Du musst dir keine Gedanken machen. Marcel wird sich sicher wieder beruhigen, und vielleicht, kannst du es denn noch mal mit ihm versuchen.“ „Wie denn? Bis jetzt hat er mich doch immer abgewiesen. Langsam bin ich echt am Verzweifeln...!“ Das braunhaarige Mädchen lächelte nachsichtig. „Du darfst ihn nicht so bedrängen. Marcel scheint eine ganz sensible und vorsichtige Person zu sein. Mit deiner offenen Art hast du ihn wahrscheinlich verschreckt, deshalb ist er auf Abstand gegangen. Er ist ein bisschen so, wie ich damals war: Schüchtern und zurückhaltend.“ „Na toll, dann bin ich ja mit Anlauf ins Fettnäpfchen gesprungen.“ Maxime biss sich auf die Unterlippe und senkte die Augenlider. „Ich kann mich aber auch nicht verstellen, und auf einmal ruhig und leise werden. Kann mir Marcel nicht ein bisschen entgegen kommen?“ „Hmmm. Das wird sich noch zeigen. Du magst ihn, oder?“ Maxime nickte errötend. „Du magst ihn ein bisschen sehr sogar...“ Es folgte ein weiteres Nicken, dann ein leichter Hieb in die Rippen und Charlotte stand wieder auf ihren Beinen. „Sprich es aus, und du bist tot!“, knurrte er bitterernst. Wenige Minuten später hatte Maxime seine Emotionen wieder unter Kontrolle und fühlte sich dazu bereit, um zurück auf den Flur zu gehen. Solange er nicht seinen Lieblingsfeinden oder Marcel über den Weg lief, war alles in Ordnung. Draußen auf dem Gang trafen sie zwar keiner von ihnen, aber dafür Charlottes Klassenlehrer. Der ältere Mann, um die Vierzig wirkte wie immer ein bisschen neben der Spur und fragte die beiden Jugendlichen, ob sie ihn helfen konnten. „Ich brauche dringend die Anatomiebücher aus dem E-Trakt. Könnt ihr rüber gehen und mir die Bücher holen?“, fragte der Mann und lächelte das ungleiche Duo flehend an. „Ich muss noch ein paar Vorbereitungen für meine nächste Stunde treffen... Ihr beiden würdet mir wirklich einen großen Gefallen tun.“ Die Teenager seufzten leise und nickten dann artig. Das städtische Gymnasium von Bergedorf bestand aus 2 großen Schulgebäuden, welche in verschiedene Bereiche aufgeteilt war. Trakt A und B waren im ersten Gebäude untergebracht und reichte von der 5. bis zur 8. Klasse. In Trakt C gingen die Schüler, die die 9. und 10. Klasse besuchten - der Trakt, in dem auch Maxime und seine Freunde ihre meiste Zeit verbrachten. Hier ließ es sich gut leben. Außerdem gehörte zu diesem Trakt auch die große Schulcafeteria, schon mal ein Grund, warum hier in den Pausen die beste Stimmung herrschte. Trakt D, der vorletzte Bereich, lag im zweiten und alten Schulgebäude, welches Maxime bis jetzt nur selten gesehen hatte. Dort war die gymnasiale Oberstufe vertreten, die 11.- bis 12. Klasse. Dort lag der Geruch von gestressten Menschen in der Luft, die schon Monate lang keine Diskothek mehr von innen gesehen hatten. Alle anderen wichtigen Räume, wie zum Beispiel der Biologiesaal, die große Schulbücherei, oder den Physikraum waren im Trakt E. Und hier lernten auch die Schüler der Sonderklasse. Dies war eine keine gewöhnliche Klasse, da sich die Lehrer und Professoren etwas ganz Besonderes für ihre Schützlinge ausgedacht hatten: Hier bekamen die Schüler, die Medizin studieren wollten, noch mal eine spezielle Lerneinheit geboten, bevor sie im nächsten Jahr das langjährige Studium begannen. Alle Einheiten, die ihnen die Lehrer dort vermittelten, waren fast identisch mit den Themen für das 1. und 2. Semester. Eine bessere Vorbereitung für die angehenden Ärzte konnte es also nicht geben... Maxime betrachtete die blinden Fenster des alten Schulgebäudes und öffnete für Charlotte die Eingangstüre. Es war kein Geheimnis, das sie sich in diesem Gebäude als Neunt- und Zehntklässler nicht gerade wohlfühlten. Schon viel zu oft waren die jüngeren Schüler mit den „alten Hasen“ einander geraten, die ihrer nach Meinung nach, auch mal von ihrem hohen Ross runter steigen konnten. „Weißt du, wo die Bücherei ist?“, fragte Maxime in diesem Moment und warf einen besorgten Blick in die verwinkelten Gänge. Er bildete sich ein, dass es im E-Trakt wirklich anders roch, als wie in ihrem Trakt. Irgendwie unheimlich... „Ja, das weiß ich“, antwortete Charlotte nüchtern. Sie bog um eine Ecke – und erstarrte noch in ihrer Bewegung. Doch es war bereits zu spät. Der braunhaarige Junge vor ihr konnte nicht mehr stoppen und krachte mit voller Kraft gegen das zierliche Mädchen. Ein kurzes Rumpeln ertönte und dann lag Charlotte auf dem Boden. Ohne einen weiteren Gedanken an den Geruch zu verschwenden, ging Maxime neben Charlotte in die Knie. Vor ihnen stand ein nur allzu bekannter Geselle; Sebastian. Im ersten Moment sah seine Miene noch schuldbewusst aus, er wollte Charlotte sogar seine Hand reichen, um ihr auf die Beine zu helfen, doch als er Maxime an ihrer Seite erblickte, zog er sie schnell zurück. „Was machst du denn hier? Das ist nicht dein Trakt.“, zischte Sebastian so unfreundlich wie immer, der mit Abstand gemeinste Schüler weit und breit. „Na und? Deiner ist das auch nicht!“, knurrte Maxime und half Charlotte wieder hoch. Schlechter konnte es die beiden Schüler eigentlich kaum erwischen. Nur zu zweit, ohne Raphaels Hilfe und meilenweit vom Lehrerzimmer entfernt, standen sie alleine mit Sebastian auf dem Flur im E-Trakt. Aus diesen Grund gab es auch nur eine Möglichkeit, die als Rettung infrage kam: Sich umdrehen und die Kurve kratzen. Wie in Zeitlupentempo machte Maxime auf den Fersen kehrt, griff nach Charlottes Handgelenk und stürmte mit ihr zum Ausgang. Doch mehr als 15 Meter kamen sie nicht, denn auf einmal standen plötzlich zwei Mädchen im Gang, die den beiden den Weg versperrten. Und Maxime kannte die Mädchen. Er kannte sie besser, als ihm lieb war. Das waren zwei von diesen aufgetakelten Modepüppchen, die er vor einigen Wochen im Flur seines Traktes getroffen hatte und mit denen er zusammengestoßen war. „So sieht man sich also wieder.“, knurrte eines der Mädchen und ihre knallroten Lippen verzogen sich zu einem hässlichen Feixen. Maxime zuckte nach hinten. Scheiße, verdammte Scheiße! Kurz schaute er über die Schulter und zog Charlotte an seine Seite. „Was auch immer passiert; du bleibst hinter mir!“ Danach blickte er wieder zu dem grimmig aussehenden Mädchen. „Ich wüsste nicht, was du von mir willst... Also wenn ihr mich nun entschuldigt, ich habe noch eine Aufgabe zu erledigen.“ Schnaubend machte das große Mädchen einen Schritt nach vorne. „Nicht so schnell! Du bleibst hier, kapiert? Wir haben noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen. Ich nehme mal an, du weißt, wer ich bin. Erinnerst du noch an unserem Zusammenstoß vor einiger Zeit? Ja? Schön. Durch den Sturz ist mein Handy damals kaputt gegangen. Ich erwarte eine Entschädigung von dir! Wenn du mir die Reparaturkosten bezahlst, sind wir quitt.“ Charlotte griff reflexartig nach Maximes Arm. „Das... Das stimmt doch nicht. .. oder?" „Natürlich nicht!“, stieß der Angesprochene hervor und schaute das Mädchen mit weit aufgerissenem Mund an. „Und wo sind die Beweise dafür, wenn ich bitten darf? Woher soll ich nicht wissen, dass du das Handy selbst kaputt gemacht hast und mir nun die Schuld in die Schuhe schieben möchtest?!“ „Ganz einfach, weil ich Zeugen habe. Meine Freundinnen waren dabei, als ich kurz darauf mein Handy herausgeholt habe und sie das Unglück bemerkt haben. Die ganze Hülle ist zerkratzt und das Display in tausend Stücke zersprungen. Wenn du mir die Kosten nicht bezahlst, werde ich das dem Direktor melden und dich bei der Polizei anzeigen.“ Alle Augen waren nun auf Maxime gerichtet. Der Junge fühlte sich wie einem Labyrinth gefangen. Das Mädchen log von vorne bis hinten! Diese ganze Story war ein riesengroßer Bluff...! Aber leider würde ihm das niemand glauben. Ihre Freundinnen hätten sicher keine Hemmungen vor der Polizei zu Lüge. Die Beamten würden es dann für einen Unfall halten, und Maxime um sein Erspartes bringen...! Sebastian, der Maxime und Charlotte gefolgt war, hielt abrupt an und stemmte die Hände in seine Hüfte. Anscheinend gefiel es ihm gar nicht, dass er nicht mehr im Mittelpunkt stand. „Hey ihr zwei...! Habt ihr mich etwa schon vergessen! Und was ist hier eigentlich los?“ „Das würde ich auch gerne wissen.“ Leichtfüßig löste sich ein Schatten aus der gegenüberliegenden Ecke und der Junge, der dort schon längere Zeit gestanden haben musste, zog seine schmalen Augenbrauen nach oben. „Ich habe zwar nur mit einem Ohr zugehört, aber wie es mir scheint, gibt es hier Ärger und als ein Mitglied der Schülervertretung, kann ich so was nicht ignorieren.“ Als sich Maxime zu den Jungen umdrehte, fielen ihm zunächst mal alle Emotionen aus dem Gesicht. Das... das war jetzt aber WIRKLICH ein schlechter Scherz! ...Eine Haut so rein und weiß wie frisch gefallener Schnee.... ...Haare so schwarz wie die Nacht... ...ein Blick so unangenehm und spitz wie tausend Nadelstiche... Offenbar war Maxime jedoch nicht der Einzige, der sich ziemlich überrumpelt vorkam: auch Sebastian bekam tellergroße Augen. Charlotte stieß ein schockiertes Fiepen aus. Und die beiden Mädchen verfielen in eine Art hysterischen Kicheranfall. „Es... es ist alles in O-Ordnung, Ki- Kim. Wir hatten... hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit... a-aber jetzt ist die Sache... ge-geklärt.“, stotterte das Mädchen mit dem Handy eingeschüchtert und rote Flecken brachten ihr Gesicht zum Glühen. „Gerade klang das aber noch ein bisschen anders. Da war von einem kaputten Handy und einer Anzeige die Rede. Was ist denn nun wahr?“ Kiley Sandojé fuhr sich genervt durch die rabenschwarzen Haare und verschränkte die muskulösen Arme vor seiner Brust. Er sah, obwohl er grimmig und hochmütig schaute, einfach umwerfend aus und man würde keine Sekunde daran zweifeln, dass er viele Fans besaß, obwohl er nach außen hin wie ein lebendig gewordener Kühlschrank erschien. Jetzt schaute Kiley in SEINE Richtung. „Und was hast du dazu zu sagen? Wenn ich mich nicht irre, bist du derjenige, der die Schuld an dem Unglück trägt. Wie ist deine Version der Geschichte?“ Maximes Herz begann vor Aufregung zu klopfen. Wenn er daran dachte, dass er Kiley erst vor einigen Tagen auf seiner Facebook-Seite gestalkt hatte, schoss im die Röte in die Wangen. „Sie ist wahr... naja, nicht ganz... Es ist meine Schuld, dass sie hingefallen ist... a-aber ich wurde... geschubst... und dann ist es passiert. Irgendwie ist das alles... ziemlich blöd gelaufen.“ „Dann ist die Sachlage also geklärt.“, schlussfolgerte Kiley monoton. „Du musst denn Schaden bezahlen, egal ob es nun ein Unfall war oder nicht. Soll ich euch zum Schulleiter begleiten, damit ihr denn Vorfall melden könnt, oder schafft ihr das alleine?“ „Oh nein!“, rief das brünette Mädchen plötzlich und wedelte wie wild mit ihren Händen in der Luft herum. „W... Wie gesagt, wir... wir haben das schon ge - geklärt! So.... ich glaube das es langsam Zeit wird, dass wi-wieder in unsern Trakt zurück gehen. Es ist schon spät... u- und gleich ist die Pause vorbei!“ Maxime und Charlotte beobachteten fassungslos, wie sie sich den Ärmel ihrer Freundin schnappte und Hals über Kopf davon rannte. Was auch immer der Anblick von Kiley bei ihr ausgelöst hatte, es hatte Maxime vor dem finanziellen Ruin bewahrt. Sogar Sebastian schien ganz vergessen zu haben, dass er den beiden Jugendlichen bis gerade noch die Pause vermiesen wollte und verschwand kopfschüttelnd im nächsten Flur. Nun waren die beiden alleine. Alleine mit Kiley Sandojé. „Was... was war das... denn?“, flüsterte Charlotte irritiert. Als ihr Blick wieder auf Kiley fiel, bildete sich in ihren Magen sofort ein Knoten und sie spürte, wie sie zu schwitzen begann. „Keine Ahnung, aber sie kam mir schon von Anfang an unseriös vor.“, murmelte Kiley nachdenklich. „Und was macht ihr beiden hier? Ihr seid auf jeden Fall viel zu jung, das ihr in diesem Trakt lernen könnt.“ „Wir...wir... also... wir sollten. ..ähm, wir wollten gerne...“ „...Bücher holen.“, ergänzte Maxime um seiner stotterten Freundin aus der Klemme zu helfen. „Wir sind hier, weil wir für einen Lehrer die Anatomiebücher aus der Bibliothek holen sollen." „Kriegt ihr zwei das hin? Die Anatomiebücher sind nicht gerade leicht zu transportieren.“ Maxime unterdrückte ein leises Knurren und wickelte seiner zitternden Freundin einen Arm um die Taille. Er ärgerte sich über Kileys überheblichen Tonfall, versuchte aber, sich seine Laune nicht allzu sehr anmerken zu lassen. „Natürlich schaffen wir das.“ „Ich kann euch auch helfen, wenn ihr schön bitte sagt“, erwiderte Kiley und lächelte charmant. „Nein danke, kein Bedarf. Sehen wir etwa so aus, als wir nur ein paar Schwächlinge wären?“ „Ehrlich gesagt, ja.“ „Dann besorgt dir mal eine Brille, du Blindschleiche!“, fauchte Maxime gereizt. Ohne dass der eingebildete Schnösel noch einen weiteren Ton erwidern konnte, zog er Charlotte aus dessen Reichweite und verschwand mit ihr, wie schon Sebastian zuvor, in einem der Flure. Nun legte Kiley seine Stirn in Falten. Der skeptische Zug ließ seine Ausstrahlung noch arroganter erscheinen, als sie ohne hin schon war. „... oh ho, das ist aber ein temperamentvolles Kerlchen.“ *xXx* Um 14.15 Uhr erklang die Schulglocke das letzte Mal für heute und alle Schüler stürmten, einen Fischschwarm gleich, in die Freiheit. Während Maxime immer noch auf hundertachtzig und zu wütend war, um das Treffen mit Kiley Sandojé zu vergessen, hatte Charlotte sich schon dreimal davon erholt und eine Diskussion mit Raphael über das heutige Mittagessen begonnen. Unglaublich. Dieses Mädchen war die Ruhe in Person! Fast jeden Montag, wenn die drei Freunde zur gleichen Zeit Unterrichtschluss hatten, gingen sie in eines der vielen Cafés von Bergedorf und verbrachten dort ihren Nachmittag. So auch heute. „Ich kann nicht verstehen, warum du schon wieder so gut drauf bist“, sagte Maxime zu Charlotte und sprang flink in den Linienbus, der sie in die Altstadt fuhr. „Dieser miese Typ hat mir die ganze Laune verdorbenen. Ich wusste ja schon von euch beiden, dass er total eingebildet ist, aber so...? Unfassbar!“ Raphael nickte zustimmend. Er führte seine Freunde nach hinten und ließ sich in der letzten Reihe auf die Sitzbank gleiten. „Wir haben es dir ja von Anfang an gesagt: Mit den Sandojé-Brüdern hat man nur Schwierigkeiten. Du kannst froh sein, dass sich Kiley offenbar nicht mehr an dich erinnert. Sonst hätte er dir garantiert eine reingehauen.“ „Das kann immer noch passieren, so wie du ihn angeschnauzt hast.“ Charlotte zog eine mitleidige Grimasse. „Mich... Mich hat er auf jeden Fall schon mit seiner ganzen Erscheinung umgehauen. Kein Wunder, das die beiden Mädchen von vorhin einfach... ab- abgehauen sind. Der kann einen ja schon mit seinen Blicken töten.“ „Tzz, Großmaul, sage ich ja. Könnt ihr mir mal sagen, wie alt der Kerl eigentlich ist? Der ist sicher nicht mehr minderjährig, so groß und muskulös, wie er aussieht.“ „Kiley ist ein Jahr älter wie ich, also 17“, antwortete Raphael gedehnt. „Aber wenn ich mich nicht irre, hat er dieses Jahr noch Geburtstag. Er und sein Zwilling schmeißen zum Sommerende immer eine riesengroße Party, wo sie die halbe Schule eingeladen - natürlich nicht so Außenseiter wie wir, sondern alles nur die coolen und beliebtesten Leute aus der Oberstufe. Und falls es deine nächste Frage sein sollte; nein, Kiley ist nicht mehr in der regulären Schule. In der siebten oder achten Klasse hat er eine Stufe übersprungen, deshalb ist er mit seinem Abitur schon fertig geworden. Dieses Jahr ist er in die Sonderklasse gekommen. Wahrscheinlich will er so was Protziges wie Arzt werden. ..“ „Passt ja gut zu ihm. Auf den Kopf scheint er mir nicht gefallen zu sein...“ „Dito.“, gähnte Charlotte herzlich. „Sein Bruder ist aber noch in der 12. Klasse, oder? Beim Sportunterricht sehe ich ihn zu mindestens immer zusammen mit den Zwölftklässlern trainieren.“ Wieder nickte Raphael. „Ich glaube schon, ich meinte etwas davon gehört zu haben. Tja, ganz so toll scheinen diese Geschwister also doch nicht zu sein, was? " In der Altstadt angekommen, bemerkten die Teenager, dass ihr Stammplatz heute Mittag ziemlich überfüllt war und dass sie sich schon die Hälse verrenkten müssten, um über die Köpfe der Menschen hinweg, einen Blick in das Innere des Cafés zu werfen. Unglücklicherweise, oder eher, glücklicherweise waren die meisten Gäste weitaus jünger wie sie und die machten ihnen angesichts Raphaels wütender Miene, schnell Platz. Da Maxime im Moment sowieso schlecht drauf war, hielt er ihm deshalb keine Moralpredigt. Charlotte aber schämte sich in Grund und Boden. „Ey, was ist hier los? Warum sind heute so viele Puten in unserem Café? Haben die Grundschulen etwa einen eigenen Feiertag bekommen?!“ Grummelnd griff Raphael nach der Speisekarte und schlug sie energisch auf. Auch Maxime und Charlotte schauten sich verstohlen um. Das Café „Magic Moon“ war ein japanisches Café, mit einem traditionellen Ambiente und japanischen Mitarbeiterinnen. Von innen sah der Raum aus, als hätte man ein asiatisches Wohnzimmer genommen und direkt nach Bergedorf gebracht: Kleine, viereckige Tische aus Echtholz mit kurzen Beinen standen überall auf der Erde verteilt, worauf regelmäßig Tee oder andere Leckerbissen serviert wurden. Die Gäste saßen nicht wie gewohnt auf einen Stuhl, sondern auf einem flauschigen Kissen, welches auf dem Teppichboden lag. Auch die Schuhe musste man sich beim Betreten der Gaststätte ausziehen und durch sandalettenartige Hausschuhe ersetzen. Die Japanerinnen, die auf flinken, schlanken Beinen durch den Raum wuselten, trugen silberne Tabletts mit kleinen, landesüblichen Köstlichkeiten von Tisch zu Tisch. Ein junges Mädchen mit glänzenden, schwarzen Locken und mandelförmigen Augen erschien an ihren Tisch, an lächelte die wartenden warmherzig an. „Ah! Charlotte-chan, Maxime-chan, Raphael-san. Konnichiwa!“, rief sie fröhlich und machte eine kleine Verbeugung vor den Dreien. „Ko... Konnichiwa, Sakura“, erwiderte Charlotte mit einigen Schwierigkeiten. Die Japanerin hieß Sakura, war ungefähr 16 Jahre alt und jobbte in ihrer Freizeit im Magic Moon. Raphael, Charlotte und Maxime kannten das Mädchen schon seit ihrem ersten Arbeitstag vor zwei Jahren und pflegten seitdem eine enge, freundschaftliche Beziehung zu ihr. Vom Charakter her war Sakura etwas zurückhaltend und schüchtern - also das perfekte Kriterium, um sich wunderbar mit Charlotte zu verstehen. Aber nun musste das Mädchen erst mal Arbeiten und verschwand nach einem kurzen Plausch mit der Bestellung zur Theke. In dem Gespräch hatten Maxime und seine Freunde auch erfahren, wieso im Magic Moon heute so reger Betrieb herrschte: In der Grundschule war am Morgen ein Feuer ausgebrochen und so durften die Kinder heute früher nach Hause gehen. Verletzte gab es gottseidank keine. Nur ein gewaltiger Sachschaden war durch den Brand entstanden. „Ob das Brandstiftung war?“, überlege Charlotte laut und warf den Grundschülern von ihrem Platz aus, einen langen Blick zu. Raphael runzelte seine Stirn. „Wahrscheinlich, oder? Ein Feuer entfacht sich mal nicht eben von alleine. Es ist wirklich ein Glück, dass alle Schüler und Lehrer noch mal mit dem Schrecken davon gekommen sind.“ „Aber wer macht denn so was?“ Maxime verzog seine Lippen zu einer schmalen Linie. „Spaß an Feuer und Zerstörung haben ist eine Sache, aber um dabei das Leben von anderen Menschen aufs Spiel zu setzen, eine andere. ..“ In diesem Moment brachte Sakura die Getränke und strich sich eine ihre langen Locken aus dem Gesicht. „Es gibt auch schon einen Verdächtigen. Kurz nachdem die Schule evakuiert wurde, haben ein paar Leute von der Feuerwehr eine vermummte Gestalt um das Gebäude schleichen gesehen. Jedoch ist die Person geflohen, als die Männer näher kamen und ihn ansprechen wollten. Er war so schnell, dass die Beamten ihn nicht mehr einholen könnten - jetzt ist er wie vom Erdboden verschluckt. Die Polizei hat schon die ganze Gegend abgesucht, aber sie haben keine Hinweise bekommen.“ Charlotte, Raphael und Maxime tauschten einen ratlosen Blick. Ein Brandstifter in Bergedorf klang nach Gefahr.... Hoffentlich hatte der Übeltäter nach dieser Tat schon die Lust verloren und zündete keine weiteren mehr Schulen an. Oder Wälder. Irgendwie wurden die drei Freunde nämlich das Gefühl nicht los, dass die Wilderer etwas mit diesem Brandstifter zu tun haben könnten. Beide schienen eine große Leidenschaft für Feuer zu hegen. Und in Sachen abtauchen und Spuren verwischen, waren beide Täter ebenfalls große Meister. Ob das nur ein dummer Zufall war? Die Freunde waren sich einig: Nein, das war kein Zufall! „Und?“, fragte Raphael leise als Sakura zum nächsten Tisch gegangen war. „Macht es bei euch auch Klick?“ „Du denkst an die Wilderer, stimmts?“, antwortete Maxime ebenso leise und lehnten sich nach vorne. „Sie und der Brandstifter könnten unter einer Decke stecken - beide haben für ihre grausamen Taten Feuer als Mittel benutzt. Und das, innerhalb so kurzer Zeit, ist auffällig.“ „Genau, das habe ich mir auch gedacht. Tja, wie es aussieht, werden wir drei noch zu richtigen Juniordetektiven. Yeah! Dann machen wir irgendwann sogar dem werten Sherlock Holmes Konkurrenz!“ Charlotte und Maxime zogen ihre Augenbrauen hoch. Was Raphael an diesem Fall reizte, lag doch klar auf der Hand: die Belohnung der Polizei. „Sherlock Holmes hat sich aber nie für Geld interessiert so wie du!“, sagte die beiden einstimmig wie aus einem Mund. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)