The Heart Collector von Gouda-kun ================================================================================ Kapitel 5: Kapitel 5: Der Ausflug nach Hamburg ---------------------------------------------- Das laute Schrillen der Eieruhr hallte durch den Raum. Augenblicklich legte sich eine blasse Hand auf das elektronische Gerät und schmale Finger drückten den Knopf, welcher die tobende Uhr sofort zum Schweigen brachte. „Hmm, ja das sieht gut aus....“ Mit einem Murmeln ging Maxime vor dem Backofen in die Hocke und ein warmes Lächeln zauberte sich auf seine Lippen. Er warf einen Blick in den Kasten und summte zufriedenen, als ihm der leckere Duft von der selbstgemachten Lasagne in die Nase stieg. Heute war Freitag, der beste Tag in der Woche, und jetzt lagen erst mal zwei volle Tage der Faulheit und des Nichtstuns vor ihm. Vor knapp 2 Stunden war Maxime von der Schule nachhause gekommen und bis jetzt hatte er die ganze Zeit in der Küche gestanden, wo er brav das Mittagessen vorbereitete. Im Gegensatz zu anderen Männern war Maxime in diesem Haus für das Kochen zuständig. Seine beiden Mitbewohner verstanden davon nämlich so gut wie nichts – jedes Mal, wenn Scarlett oder Yukiko den Herd anschalteten, endete das in einem großen Durcheinander und ER durfte hinterher das Chaos beseitigen. Es war Maxime wirklich ein Rätsel, wie sich die Mädchen dann trotzdem so gesund ernähren konnten; woher kam das Essen bloß, wenn sie es nicht selber machten?! Die Sache am Dienstagmorgen mit Marcel hatte er dagegen schon fast verdrängt. Es passierte ständig, dass irgendjemand in ihrer Schule verprügelt oder ausgeraubt wurde. Das war bei Weitem nichts Neues... Und doch fühlte sich Maxime miserabel in seiner Haut. Er hatte förmlich danebengestanden und trotzdem hatte er nichts anderes getan, außer wegzuschauen und sich später dafür zu schämen. Sobald Maxime von da an die Augen schloss, sah er Marcels verweintes Gesicht wie ein Spiegel aus der Dunkelheit hervor blitzen. Es verfolgte ihn Regelrecht. Beim Schlafen gehen, wenn er den Bus betrat, in der Schule... es war einfach Überall, wo Maxime es nicht haben wollte! Vielleicht ging ihm diese Sache ja so nahe, weil Maxime solche Situationen selbst kannte. Aber im Gegensatz zu Marcel, stand er selten alleine da. Seine Freunde Raphael oder Charlotte befanden sich meistens in der Nähe... Aber bei Marcel gab es anscheinend niemanden, der ihm half. Maxime bohrte bei diesen Gedanken die Zähne in seine Unterlippe und horchte auf, als er plötzlich ein leises Klicken aus der Ferne hörte. Zuerst ertönte nur das sanfte Quietschen der Eingangstüre, dann das Schleichen leichter Füße über ebenerdigen Laminatboden und zum Schluss, das Schnaufen einer weiblichen und unglaublich müde klingenden Stimme. „Geschafft... Endlich Wochenende... “ Das Schnaufen veranlasste Maxime dazu, in seiner Bewegungen inne zu halten. Er drehte seinen Kopf nach hinten und entdeckte ein Mädchen mit dunkelblonden Locken im Hausflur stehen, welches sich gerade die schwarzen Lackschuhe von ihren Füßen streifte. Mit einem neugierigen Ausdruck im Gesicht, schob Scarlett Nemesis ihren Kopf durch die Küchentüre und reckte erwartungsvoll die Nase in die Luft. „Hast du gekocht. ..?, fragte sie monoton. Der neckende Ton in ihrer Stimme, der erschöpfte Blick ihrer runden Augen, die dunkeln Schatten auf ihrer Porzellanhaut... Das alles zusammen sorgte dafür, dass Maxime ruhig blieb und nickte. „Natürlich. Ich koche doch immer für uns, wenn ich dafür Zeit habe.“ Mit flinken Fingern löste Scarlett den obersten Knopf des schwarzen Jacketts und atmete erleichtert auf; der scharfe Kragen der Bluse schnitt sich wie immer unangenehm in ihre Haut. Genauso unangenehm saß der eng anliegende Faltenrock auf ihrer Hüfte – der Rand des schwarzen Rockes rieb beim Gehen, immer wieder über ihren Beckenknochen. Scarlett trug eine klassische Schuluniform und besuchte die St. Lilium Girls ‘Academy, eine private Mädchenschule, wo noch viel Wert auf alte Traditionen und Moralvorstellungen gelegt wurde. Hier lernten die Schülerinnen neben gewöhnlichen Fächern wie Mathematik und Deutsch auch noch Singen und Tanzen. Ihnen wurde nahe gelegt, dass sie sich in der Öffentlichkeit stets höflich und zuvorkommend verhalten sollten; Ein Mädchen der St. Lilium Girls Academy hatte schließlich einen Ruf zu verlieren! Die Schülerinnen bekamen regelmäßig Gesangsunterricht, gingen jeden Morgen vor Schulbeginn zur Andacht, und wurden nicht von normalen Lehrern unterrichtet, sondern von Nonnen. Wie Scarlett sich wiederum so eine Schule leisten konnte, war für Maxime unbegreiflich. Woher nahm sie bitteschön das Geld um die teuren, monatlichen Gebühren zu bezahlen, wenn sie doch keinen Nebenjob hatte? Außerdem verlangte das Schulsystem einen überirdischen guten Notenabschnitt von ihren Absolventen... Natürlich hatte Maxime schon oft bemerkt, dass Scarlett alles andere als dumm war, aber war sie wirklich so intelligent, dass sie diesen strengen Auflagen erfüllen konnte? Doch so genau wollte Maxime das eigentlich gar nicht wissen. Auf der einen Seite hatte er Mitleid mit ihr, auf der Anderen, bewunderte er sie für ihren Ehrgeiz und Mut. Ihr Unterricht begann jeden Tag um 7.45 Uhr und endete um 15.10 Uhr – manchmal sogar erst um 17.00 Uhr, da die Mädchen nach dem regulären Unterricht noch verschiedene AGs oder Workshops besuchten. „Was gibt es denn zu essen?“, murmelte Scarlett plötzlich leise. „Lasagne.“ Das Mittagessen schmorte fröhlich in der Teilzeit-Hölle und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Mahlzeit angerichtet werden konnte. Die verbleibende Zeit wollte Maxime jedoch nicht verstreichen lassen, sondern sinnvoll nutzen. Es gab da noch eine gewisse Sache, die er gerade stellen musste... „Scarlett?“, durchbrach Maxime ihre Gedanken. Nach ein paar Sekunden trat er an den Tisch heran und lächelte die Angesprochene unsicher an. „Hör mal... ich weiß jetzt, warum du am Dienstagmorgen so wütend auf mich warst. Du... hast mir am Montag eine SMS geschickt und ich habe dir nicht geantwortet. Ich wollte mich dafür entschuldigen.“ Verdutzt hob Scarlett ihren Kopf. „Wie bitte?“ Maxime deutete mit einen Nicken auf das Handy in seiner Hand. „Am Montag hast du mich gefragt, ob ich Lust habe, mit dir nach Hamburg zufahren. Heute hätte ich Zeit für dich...“ „Ach ja.“ Nickend bestätigte Scarlett, dass sie nun verstand, was Maxime von ihr wollte. Aber anscheinend passte ihr dieses Gespräch im Moment gar nicht – ein aggressives, unmenschliches Knurren schoss aus ihrer Kehle und jagte dem Anwesenden einen eisigen Schauer über den Rücken. Das war es also? Das war ihre Reaktion auf seine ernst gemeinte Entschuldigung? Erst motzte Scarlett ihn an Dienstag total unvermittelt an und jetzt war sie zu stolz, um Maxime zu verzeihen? Aber von so einem kleinen Rückschlag ließ er sich nicht entmutigen. Er konnte Scarletts Missmut ja sogar verstehen; er selbst wäre auch angepisst und sauer, wenn er jemanden eine Nachricht schrieb, und die Person tagelang mit seiner Antwort wartete. Und wenn Charlotte sich am Montag nicht arg verguckt hatte, dann wollte Scarlett ihn sogar von der Schule abholen, da sie des Nachmittags plötzlich vor dem Gymnasium stand. Seine Freundin und Schulkameradin hatte das blondhaarige Mädchen nach ihrer letzten Unterrichtsstunde zufällig am Eingangstor entdeckt. Tief seufzend kniff Maxime die Augen zusammen, während er sich gleichzeitig so feste auf die Zunge biss, dass der körperliche Schmerz den Seelischen für einen Moment verdrängt. Das war alles Marcels schuld! Er hatte Maxime mit seinem Auftauchen im Bus total aus der Bahn geworfen. Und damit wäre er auch schon wieder bei dem zierlichen Jungen angekommen, der ihn ein seit Tagen durch den Kopf spukte... „Ich kann verstehen, dass du sauer auf mich bist.“ Auch wenn Maxime versuchte ehrlich zu sein, wollte das Lächeln einfach nicht seine Augen erreichen. Die Erkenntnis, dass er Scarletts Gefühlslage verstehen konnte, führte nicht unbedingt dazu, dass er sie gleich sympathischer fand. „Aber ich habe deine Nachricht am Montag wirklich nicht gesehen. Ich werde meinen Fehler wieder gut machen und gleich mit dir nach Hamburg fahren. Ist das okay für dich?“ „Nein, das ist nicht okay. Ich habe heute keine Zeit. Am Mittwoch schreibe ich einen Test, wofür ich jetzt gleich lernen wollte...“ „Sei nicht immer so eine Spaßbremse!“, unterbrach Maxime sie unwirsch. „Du hast noch 5 Tage Zeit, da musst du nicht unbedingt heute mit den lernen anfangen! Du fährst ja nicht gerne alleine mit S-Bahn, habe ich recht? Dann nimm mein Angebot doch an! Ansonsten kommst du nie in die Stadt.“ *xXx* Eine dreiviertel Stunde später hatten die beiden Teenager das Mehrfamilienhaus verlassen und steuerten den Bahnhof von Bergedorf an. Normalerweise legte Maxime die Strecke zur S-Bahn mit einem kurzen Sprint zurück, doch mit Scarlett an seinen Fersen musste er sein Tempo zügeln. Trotz Maximes Bemühungen, die angespannte Atmosphäre etwas zu lockern, blieb Scarlett eisern und ihre Stimmung im Keller. „Wenn ich wegen dir den Test versaue, kannst du dein blaues Wunder erleben...“ Mit einen für sie typisch eiskalten Blick starrte Scarlett auf den Boden und ignorierte Maxime den ganzen Weg zum Bahnhof über. Erst als sie das große, graue zum Teil aus Fenster bestehende Gebäude erreicht hatten, entspannte sich ihre Körperhaltung etwas und Maxime konnte beobachten, wie Scarletts Augen über die einzelnen Zeilen der Leuchttafel huschten, welche an der Decke hing. „Wir müssen die S21, in Richtung Hamburg Elbgaustraße nehmen. Dann sind wir in knapp 30 Minuten am Hauptbahnhof angekommen.“, murmelte Maxime leise. Er hatte bemerkte, dass Scarlett aus der Leuchttafel nicht schlau wurde und das herzförmige Gesicht verzog. Maxime dagegen kannte sich bestens mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus. Bevor er an dem Sozial-Projekt des Kinderheims teilnahm und nach Bergedorf zog, lebte er mitten in Hamburgs Innenstadt und war jeden Tag auf die Bahn angewiesen gewesen. Woher Scarlett ursprünglich kam, wusste er nicht. Im Grunde genommen wusste Maxime fast gar nichts über seine beiden Mitbewohner; Sie sprachen doch so gut wie nie mit ihm! Sie gegen ihren Willen herzuschleppen, war nicht gerade die schonendste Methode gewesen, aber Maxime wollte sein schlechtes Gewissen Scarlett gegenüber beruhigen und ihr ihren Wunsch erfüllen. Sie wollte mit ihm nach Hamburg fahren? Dann würde er das auch machen. „Ja... wenn du das sagtest wird es wohl so stimmen. Immerhin... kennst du dich besser damit aus als ich.“, meinte Scarlett und zupfte nervös an einer ihrer langen Locken. Die Situation fühlte sich komisch an; normalerweise war sie die starke und gefasste Person welche immer wusste, wo es langging, doch die Aufregung ließ sie viel unsicherer und schwächer erscheinen als sonst. Ungläubig wischte sich Maxime eine Haarsträhne aus seinen Augen. Sollte das ein Kompliment sein? „Wir müssen nach Süden gehen. Dann sind wir gleich beim richtigen Gleis angekommen.“ Während die anderen Passanten fluchend und gehetzt durch die Bahnhofshalle flitzen, blieben die zwei Teenager ruhig und liefen zielstrebig zu der Treppe mit der großen Ziffer 3 am Eingang. Der ekelige Duft von verschwitzten Körpern und abgestandenem Nikotin hing in der Luft, doch die Wenigsten störten sich an dieser Begebenheit. Nur Maxime und Scarlett schenkten dem jungen Mann Beachtung, der wie von einer Tarantel gestochen an ihnen vorbei rannte, Maxime mit der Schulter anrempelte und so schlimm stank, als hätte er schon seit Wochen kein Wasser mehr gesehen. „So ein Idiot!“, zischte Scarlett dem Mann hinterher und griff nach Maximes Oberarm - Gerade rechtzeitig, denn sonst wäre er womöglich auf die Nase geflogen. „Darum hasse ich diese überfüllten Orte. So viele Menschen auf einem Haufen ist die pure Hölle!“ Danach wendete sie ihr Gesicht von dem Mann ab und schaute zu Maxime, der keuchend ausatmete und versuchte, sich wieder auf die Beine zurückzukämpfen. Besorgnis überzog ihr feines Gesicht. „Bist du okay?“ „Ja, mir geht es... gut.“ Maxime warf ihr ein kurzes Nicken zu, welches seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen sollte. „Das ist nun mal das harte Bahnhofsleben, hier scheißen die Leute auf Respekt und Höflichkeit. Wenn der Zug einfährt, vergessen die meisten irgendwie schlagartig ihre Erziehung.“ „Traurig.“, kommentierte Scarlett das Gesagte monoton. Keine zwei Minuten später bestiegen die beiden die Treppe zu ihrem Bahngleis und staunten nicht schlecht, als sie sahen, dass hier oben mindestens doppelt so viele Menschen standen, wie unten durch die Halle liefen. Scarlett hielt erschrocken die Luft an und musterte ängstlich die Masse. „Ist das normal, dass hier so viele Leute sind?“ „Jap. Es ist Freitagmittag, was erwartest du? Erstens kommen die ganzen Arbeiter von Hamburg nach Hause und zweitens wollen viele Jugendliche des Abends in die Altstadt gehen. Feiern, Party machen.“ Ihre Fingern zitterten leicht, als Scarlett die Hand anhob, um ihre Augen vor dem hereinfallenden Sonnenlicht zu schützen. „Ich wusste es doch. Ich hätte zuhause bleiben sollen...“ Es dauerte noch eine Weile, bis der Lautsprecher an der Decke ertönte und alle Passanten aufforderte, von dem Gleis weg zugehen, da in Kürze die Bahn einfahren würde. Natürlich hörten die wenigstens Menschen auf die Warnung und viele der Anwesenden drängelten sich schon mal nach vorne, damit sie auch möglichst schnell eine der Türen erreichen konnten. Maxime wartete etwas abseits der Masse und stieß Scarlett seinen Ellbogen in die Seite: vor lauter Nervosität sprang sie wie ein gescheuchtes Huhn hin und her. „Beruhige dich, Mann.“, zischte Maxime genervt und zog das Mädchen zurück an seine Seite.. „Du benimmst dich, als ob du das erste Mal mit dem Zug fährst.“ „Tue ich auch !“, piepste Scarlett. Sie bedauerte es jetzt schon, Maximes Angebot angenommen zu haben. Schnell schüttelte sie seine Hand ab und verschränkt die Arme so lange vor ihrer Brust, bis sich Maxime in Bewegung setzte. Wenige Minuten später erreichte der Zug den Bahnhof und mit einem Schlag brach die Hölle aus. Alle Menschen verfielen in Panik. Sie fanden sich vor den Türen zu einer großen Traube zusammen, packten ihre Ellbogen aus und drängelten, was das Zeug hielt. Mit Gewalt versuchten auch Maxime und Scarlett einen der Eingänge zu erreichen. Mittlerweile saß schon die Hälfte der Passagiere im Zug und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er abfuhr. In der Masse mussten Maxime und Scarlett einige Ellbogenstöße einstecken, eine Entschuldigung dafür erhielten sie aber nicht. Nach einigen Minuten gelangten sie schließlich in das Innere des Zuges und Maxime nutze seine jahrelange Erfahrung als Bahnkunde und schlängelte sich mit Scarlett zu einer freien Sitzreihe hindurch. Keuchend ließen sich die beiden auf die Sessel fallen. Den schlimmen Teil der Geschichte hatten sie nun überstanden. jetzt durften sie erstmals eine halbe Stunde mit dem Zug durch die Walachei düsen und hoffen, dass es keine Zwischenfälle gab. Draußen vor dem Fenster zogen inzwischen die vertrauten Gebäude und Häuser vorbei. Ihre Heimat Bergedorf war sehr einfach zu beschreiben. Es gab viel Landfläche, schöne und teure Häuser, die prächtige Altstadt mit ihren kleinen Schlössern und Cafés in der Fußgängerzone, saftige Grünanlagen und natürlich der bekannte Hafen an der Bille, einer der Nebenflüsse der Elbe. Am Wochenende oder nach der Schule joggte Maxime dort gerne am Fluss entlang. Besonderes im Sommer, wenn die Sonne kräftig genug schien und alles in helles Licht tauchte, gab es keinen schöneren Ort als diesen hier. Die Straßen wirkten im Gegensatz zu Hamburgs Innenstadt ziemlich leer und verlassen - in Bergedorf war die Bevölkerungsdichte sehr gering. Hier lebten durchschnittlich nur 7 Menschen auf einem Hektar. Plötzlich wurde Maxime mit einem Ruck aus seinen Gedanken gerissen. Scarlett griff nach seinem Arm, wobei sie ihre Fingernägel in seine Haut bohrte. Kurz war er in Versuchung sie anzuschreien, aber dann belehrte ihr eindringlicher Blick ihn eines Besseren. Scarlett bewegte ihre Lippen und machte eine Kopfbewegung nach rechts, welche Maxime in die besagte Richtung schauen ließ. Ihnen gegenüber saß ein junger Mann mit stechenden Augen. Er war von Kopf bis Fuß in dunkle Klamotten gehüllt und es war unverkennbar, dass er sie bis gerade eben beobachtet hatte - doch jetzt schaute er einfach nur gelangweilt aus dem Fenster. Maxime beugte sich zu Scarlett, aber das Mädchen stieß ihn energisch zur Seite und zog ein Handy aus ihrer Hosentasche. Schnell, schneller als es Maxime für möglich gehalten hätte, tippte sie einen Text in das kleine Nachrichtenfenster ein und hielt das Gerät so, dass er den Blickschirm gut erkennen konnte. „Er beobachtet uns schon die ganze Zeit.“, schrieb Scarlett flink. „Das ist der Typ, der dich vorhin angerempelt hat – erinnerst du dich an ihn? Er hat gestunken wie eine Jauchegrube. Aber verhalt dich unauffällig, ja? Der Kerl sieht eigenartig aus und wir können im Moment wirklich keinen Streit gebrauchen. Also rede auch nicht laut über ihn.“ Die feinen Härchen auf Maximes Unterarm streckten sich in die Höhe. Er spürte wie ihn ein kalter, jeher Luftzug zum Frösteln brachte. Ohne zu zögern, holte er sein eigenes Handy hervor und tat es Scarlett gleich, indem er ebenfalls einen Text schrieb und ihr den Bildschirm zeigte. „Was?! Warum glotzt er uns an?! WIR haben IHM doch nichts getan! Wenn einer einen Grund hat zu starren, dann sind das Wir.“ Scarlett seufzte theatralisch. Wieder huschten ihre Finger über die Tasten und wieder staunte Maxime, wie schnell das Mädchen schreiben konnte. „Ignoriere ihn! Willst du dass wir Schwierigkeiten bekommen? Ich nicht, also halt dich zurück!“ Nein, das wollte Maxime natürlich nicht. Und trotzdem musste er sich arg zusammenreißen, mittlerweile schaute der schmierige Typ wieder zu ihnen. Auch wenn Maxime versuchte in eine andere Richtung zu gucken, huschten seine Augen immer wieder zu den Kerl zurück. Maxime war ein Mobbingopfer, er war Schlimmeres gewöhnt, er hatte so viele furchtbare Dinge gesehen und dennoch trieb ihn der Blick des Mannes einen eisigen Schauer über den Rücken. Mit seinen dunklen Sachen und den fettigen, zerzausten Haaren wirkte der junge Mann schrecklich deplatziert an diesem Ort. Nicht weil er so sonderbar aussah, sondern weil er etwas so Ungewöhnliches ausstrahlte, was man einfach nicht in Worte fassen konnte. Maxime schluckte unbehaglich und rutschte etwas näher an Scarlett heran. „Ich habe Schiss...“. „Dann hör auf ihn an zu starren.“, zischte Scarlett zurück. Auch wenn sie nach außen hin die Coole spielte und Maxime beweisen wollte wie stark sie war, bemerkte er, dass ihre Hände vor Angst zitterten. *xXx* Der Horrortrip endete nach 25 Minuten und Maxime und Scarlett konnten gar nicht sagen, wie schnell sie aus dem Waggon gehüpft waren und in die Innenstadt flüchteten. Sie warfen keinen einzigen Blick zurück, sondern rannten so schnell, als ob der Leibhaftige hinter ihnen her wäre. Die Mönckebergstraße, auch liebevoll „Mö“ genannt, war die berühmte Einkaufmeile der Hansestadt und mit unzähligen Kaufhausketten, Imbissen und Cafés besiedelt. Würde sich Maxime nicht so gut in der Gegend auskennen, hätten sie sich schon dreimal in der überfüllten Fußgängerzone verlaufen. Erst an einer Straßenlaterne blieb Scarlett stehen und presste sich japsend eine Hand in die Seite. „Nie wieder...!“, keuchte sie der Ohnmacht nahe. „Nie wieder fahre ich mit dir nach Hamburg! Das war das erste und letzte Mal, verdammt!“ „Ja ja, dass hast du mir heute schon mehrmals gesagt.“, erwiderte Maxime und putzte sich den Schweiß von der Stirn. Er ignorierte Scarletts angefressen Blick und ließ die Augen über die einzelnen Läden in ihrer Nähe gleiten. Von hier aus konnte er die ganze Einkaufmeile überblicken. Er sah mehrere Fast-Food Restaurants wie McDonalds oder Burger King, und schließlich ein großes Einkaufszentrum – welches ihr Ziel war. Maxime machten einen Schritt nach vorne, stemmte die Hände in die Hüfte und sah an der weißen Fassade des riesigen Gebäudes entlang nach oben. „Was möchtest du hier eigentlich?“ „Ein Haus bauen!“, fauchte Scarlett spitz. Maxime rollte die Augen. Weiber... Als selbst Scarlett genug von Böse-Gucken hatte und wieder Luft bekam, betraten sie das Einkaufszentrum. „Yuki hat mir erzählt, dass es hier diese Woche mehrere Angebote gibt. Ich brauche unbedingt ein gutes Vorkabelbuch für die 10. Klasse. In Französisch bin ich wirklich eine Niete.“, erklärte sie etwas freundlicher und suchte nach einem Plan, der ihr zeigte, wie sie so schnell wie möglich in die Etage mit den Büchern kam, ohne sich hundertmal zu verirren. Das Einkaufszentrum war in 5 Stockwerken aufgeteilt, mehrere Geschäfte tummelten sich auf den einzelnen Etagen. Überfall herrschte reges Treiben. Passanten flitzen von A nach B, die ihre Augen gestresst nach neuen Schnäppchen offen hielten. Auch Scarlett ließ sich von der Hektik anstecken und lief gleich zwei Mal hinter einander an der Buchhandlung vorbei. „Guck mal.“, rief Maxime deshalb nach 2 Minuten und deutete mit dem Finger auf einen unscheinbaren Laden auf der rechten Seite. „Da vorne ist doch die Buchhandlung, wo du hin wolltest, oder?“ Sofort vollführte Scarlett eine halbe Drehung auf den Fersen und folgte Maximes Finger mit ihren Augen. Verdutzt blieb ihr im ersten Moment der Mund offen stehen. „Oh...“ „Du kommst alleine zurecht, oder?“, fragte Maxime und folgte Scarlett mit einem respektablen Abstand in den Laden. „Also ich werde jetzt zu den Mangas gehen und dort kannst du mich in einer Stunde abholen. Wenn du mich brauchst, ich bin in der 2 Etage.“ Scarlett nickte knapp. Dann rauschte sie davon und kämpfte sich wie eine Amazone durch die Menschenmasse. Naja, bis auf die Zugfahrt war das bis jetzt doch gar nicht so schlimm gewesen. Maxime hatte sich den Nachmittag mit seiner Mitbewohnerin ein bisschen anders vorstellt. Aber er war überrascht, wie freundlich sich Scarlett in gewissen Situationen verhalten konnte und wie sehr ihm dieses Verhalten gefiel. Gerade als sich Maxime zu der Ecke mit den Mangas und Comics umdrehen wollte, bemerkte er einen hellen Lichtschweif auf der linken Seite des Ladens. Und oh... aus irgendeinem unerfindlichen und beunruhigenden Grund, begann sein Herz vor Aufregung zu rasen. Neugierig, weil ihn dieser sanfte Farbton so nervös machte, ging Maxime zu den besagten Regalen und nutzte sie als Versteck, damit er die Person beobachten konnte. Leise ging er in die Hocke, so hatte er die beste Sicht auf den blonden Jungen, der ihm den Rücken zukehrte und anscheinend in einem Buch vertieft war. „Marcel...“, knurrte Maxime und bohrte seine Fingernägel in einen Buchrücken. Das war ja wirklich mal wieder so typisch Schicksal. Wer spukt ihm schon die ganzen Tage im Kopf herum? Marcel! Und wenn musste er jetzt inmitten Hamburgs entdecken? Natürlich Marcel! Und wie konnte es andere sein? Natürlich war der kleine, schmächtige Junge war mal wieder Mutterseelen alleine unterwegs und hatte keine starken Freunde dabei, die ihn vor schrägen Typen beschützen konnten. Während der vergangenen Tage hatte Maxime den Anderen öfters in der Cafeteria gesehen und heimlich beim Essen beobachtet. Von sozialen Kontakten fehlte jede Spur. Immer fand er ihn alleine vor, nie saß jemand bei Marcel am Tisch und redete in der Pause mit ihm. Am liebsten wäre Maxime aus seinem Versteck gesprungen und hätte Marcel angeschrien. So langsam ertrug er diesen jämmerlichen Anblick nicht mehr! Nicht nur weil er Mitleid mit ihm hatte, sondern auch weil er wusste, dass Marcel immer der Fußabtreter der Leute bleiben würde, wenn er immer alleine blieb und sich keine Freunde suchte. Verdammt. Warum begriff Marcel dass nicht!? Warum ertrug er diesen ganzen Terror lieber alleine? Waren ihm seine Mitschüler vielleicht nicht gut genug... oder hütete Marcel womöglich ein Geheimnis, dass niemand erfahren durfte? Vielleicht hatte er ja auch eine ansteckende Krankheit und wollte darum keine Freunde haben... Maxime beobachtete Marcel noch eine ganze Weile aber dann bemerkte er, dass es keinen Sinn hatte hier noch länger zu stehen und einen Jungen zu beobachten, dem er sowieso nicht helfen konnte. Er wollte sich schon abwenden und zu den Mangas gehen, als ihm ein tiefes Stöhnen unter die Haut fuhr. „Wie lange brauchst du noch?“, fragte plötzlich eine Stimme aus der Ecke und Maxime zuckte zusammen, da er dachte, dass er angesprochen war. Aber es war Marcel, der sich um umdrehte und die Augenbrauen hochzog. Ein harter Zug umspielte seinen Mund. „Ich bin gleich so weit.“, erwiderte Marcel und stellte das gelesene Buch zurück in das Regal. Die Körperhaltung des Jungen hatte etwas Gezwungenes an sich... Selbst ein Laie konnte sofort erkennen, wie nervös Marcel war und wie sehr sich sein Körper versteifte. Auch Maxime musste die Situationen nicht lange bewerten um zu sehen, dass es dem Kleinen im Augenblick ziemlich beschissen ging. Ihm stand die Panik förmlich ins Gesicht geschrieben. Diesen Ausdruck hatte er noch nicht mal getragen, als er am Dienstag von Sebastian und Jaromir verprügelt und ausgeraubt wurde. „Warum wartetest du eigentlich auf mich? Du kannst doch schon mal zur Tierhandlung gehen und dir deine Mäuse kaufen...“ Marcel biss die Zähne zusammen und eine dicke Gänsehaut überzog seine dünnen Arme. „Dafür brauchst du mich nicht. Ich weiß nicht, ob dein Vogel lieber graue oder weiße mag...“ Die Person – eindeutig ein Junge – lachte schnaubend. „Weil ich Jeremy versprochen habe, dass ich auf dich aufpasse wenn wir in die Stadt fahren. Und da ich ihn nicht reizen möchte, mache ich das auch. Hast du ein Problem damit?“ Brennend füllte sich Maximes Gesicht mit heißem Blut. Er ging auf die Zehenspitzen und schob neugierig die im Weg stehenden Bücher zur Seite. In der Ecke saß ein junger Mann in einem roten Lesesessel und hielt eine Sonnenbrille in der Hand. Seine dunklen Augen flackerten vor Schalk, als er Marcel musterte. „Es ist ja schon grenzwertig, dass ich dich an diese Begebenheit erinnern muss. Jeremy würde dich doch nie ohne Geleitschutz in die Stadt lassen, wo heute Freitag ist und nachher am Hauptbahnhof die Hölle abgeht. Da würde doch so ein Zwerg wie du gnadenlos untergehen.“ Für Maxime gab es nur zwei Möglichkeiten; entweder war der Typ ein Freund von Marcel... oder ein pädophiler Wahnsinniger, der den Jungen bei der erstbesten Gelegenheit in eine Seitengasse zog und vergewaltigte. Angespannt hielt Maxime die Luft an. Er verdrängte das auskeimende Gefühl der Angst und setzte eine emotionslose Miene auf – wenn der Kerl an Marcels Seite wirklich ein Verbrecher war, musste er ihn aufhalten. Diesmal würde er eingreifen! Weiße, halblange Haare im modernen Stufenschnitt, reichten dem Fremden bis zum Kinn und verdeckten nur sporadisch seine glühenden Augen. Sein Gesicht war schmal geschnitten, vielleicht etwas zu schmal und auch seine Haut schimmerte in einem ungesunden Grauton. Die Züge dagegen wirkten noch jungenhaft und frisch, doch beim genaueren Hinsehen konnte man die feinen Adern und Venen an der Oberfläche erkennen. Maxime schluckte und betrachtete den Rest seines Körpers. Der Albino war eher sehnig und schlank gebaut. Sein flacher Bauch wurde durch ein enges, weißes T-Shirt betont, das ziemlich teuer aussah. Von der Größe her gehörte der Junge zum normalen Durchschnitt – glücklicherweise musste man wohl sagen, denn sonst sähe sein Körper noch schlaksiger und kränklicher aus als ohne hin schon. „Ich bin dann jetzt fertig. Wenn du hier nichts mehr brauchst, können wir gehen.“ Ein paar Sekunden verharrte Marcel in seiner Position, dann begannen seine blauen Augen zu funkeln und er ging zu dem Sessel. „Meinst du... wir sind vor Sonnenuntergang wieder Zuhause?“ „Natürlich.“, sagte der Angesprochene und runzelte seine Stirn. „Wieso fragst du? Hast du etwa Angst im Dunkeln? Mensch Marci, ich bin doch bei dir!“ „...Genau deswegen mache ich mir doch Sorgen.“ Auch wenn Marcel nicht wusste, wovor er sich eigentlich genau fürchtete, so konnte die Kombination aus Wahnsinn und einer ausgeprägten, sadistischen Ader, nicht viel Gutes bringen. Grummelnd schüttelte Maxime seinen Kopf und schloss die Augen. So langsam kam er sich wie ein Spanner vor. Im Grunde genommen ging es ihn nichts an mit wem Marcel verkehrte, da konnte seine Begleitung noch so seltsam sein. Was konnte Maxime denn schon groß ausrichten? Marcel war kein kleines Kind mehr und wusste sehr wohl, mit welchen Menschen er seine Freizeit verbrachte... „Da bist du ja schon wieder. Und hast du etwas gefunden, was dir gefällt?“, murmelte Scarlett als sie Maxime aus dem Augenwinkel bemerkte, welcher gerade die Treppe runter stieg. Der Angesprochene schüttelte seinen Kopf. „Nein, ich kenne schon alle Mangas die es hier gibt. Und was ist mit dir? Hast du das Buch bekommen, was du für die Schule haben wolltest?“ „Natürlich, dieser Laden hat alles was das Herz begehrt. Hätte ich gewusst dass es in Hamburg so tolle Geschäfte gibt, wäre ich schon viel eher hier gewesen.“ „Dann kannst du ja froh sein, dass ich dich überredet habe.“ Maxime schnaubte lachend. Er schob die Hände in seine Jackentaschen und musterte sein Gegenüber flüchtig. Irgendwie wollte er den heutigen Tag noch nicht beenden. Erstens, weil er Spaß mit Scarlett hatte, und zweitens... zweitens? Es gab kein zweitens! „Hast du eigentlich noch Lust mit mir ein Café zugehen bevor wir nach Hause fahren? In der Nähe gibt es einen kleinen, schnuckeligen Italiener, der das beste Eis der ganzen Straße anbieten. Das darfst du dir nicht entgehen lassen.“ Scarlett legte ihren Kopf schief, einen verzweifelten Ausdruck in den pinkfarbenen Augen. „Ähm, eigentlich gerne... Zu einer süßen Leckerei sage ich nie nein, aber meine Klausur. .. Ich wollte heute doch noch mit dem Lernen anfangen." „Ach was, Papperlapapp. Wir sind doch erst vor einer Stunde angekommen, willst du jetzt schon wieder abhauen? Dann hat sich die Fahrt hierher doch gar nicht gelohnt und wir hätten uns das ganze Geld für das Zugticket auch sparen können. “ Schnell und mit Nachdruck machte Maxime einen Schritt nach vorne und griff nach Scarletts Handgelenk und obwohl sich das blonde Mädchen zierte, konnte er sie nach einigen Schwierigkeiten von seiner Idee überzeugen. Glücklicherweise. Wenn Scarlett bei ihrem Nein geblieben wäre, hätte er sich an ihr die Zähne ausbeißen können – der Punkt ging zweifelsohne an sie. Was Scarlett nicht wollte, das wollte sie nicht. Außerdem waren die beiden Teenager nicht nur gleich alt, sondern auch gleich groß und gleich stark. „Das ist es also?“, fragte Scarlett, als sie nach einigen Minuten das kleine Haus am Ende der Straße erreichen hatten. Sie ließ ihre Augen über das Café gleiten und legte eine kleine Kunstpause ein. „Das Lokal sieht.... besser aus, als wie ich es mir vorgestellt habe...“ „Natürlich sieht es gut aus! Ich kenne die besten Läden der ganzen Straße.“ Grinsend führte Maxime Scarlett in das Café und eine Wolke aus frisch gemahlenen Kaffeebohnen schlug ihnen entgegen. Fast sofort erschien eine junge Kellnerin an ihrer Seite und wies den beiden Teenagern einen Platz am Fenster zu. Während Scarlett schon die Liste mit den verschiedenen Kaffeesorten durchging, schaute sich Maxime flüchtig um; Das Lokal war ziemlich klein, rustikal gebaut und zählte seit 3 Jahren zu seinem festen Stammplätzen der Mönckebergstraße. Immer wenn er und seine Freunde nach Hamburg fuhren, ließen sie hier ihren Tag bei einen warmen Getränk ausklingen. …Hmm, Freunde. Da musste Maxime doch sofort wieder an Marcel zurückdenken. Ob er inzwischen zu Hause angekommen war? Anscheinend machte sich Marcel Sorgen um mit seiner Begleitung alleine zu sein, wenn er unbedingt vor Sonnenuntergang nach Hause wollte. Warum war ihm das nur so wichtig? Na, aber bei dem zwielichtigen Aussehen des jungen Albinos, konnte Maxime so ein Verhalten ganz gut verstehen. Er selbst, hätte sich wohl noch nicht mal am helllichten Tag mit ihm vor die Türe getraut. Weiter kam Maxime mit seinen Gedanken aber nicht, denn in diesem Augenblick tippte Scarlett ihn mit der Schuhspitze an. Sie starrte ihm in die Augen und ein kleines Feixen erhellte ihre Miene „Na, wovon träumst du? Auf einmal hast du einen ganz glasigen Blick bekommen...“ Inzwischen hatte Scarlett die Einkaufstüte auf den Tisch gelegt und ihr neues Wörterbuch hervor geholt. Maxime beobachtete sie dabei und bemerkte, dass sich in der Tüte noch ein weiteres Buch befand. Neugierig, was das kleinkarierte Mädchen noch so las, streckte er seine Hand nach dem Gegenstand aus, doch Scarlett erkannte sein Vorhaben und schlug Maxime auf die Finger. „Hände weg von meinen Sachen!“, zischte sie plötzlich angriffslustig. Doch auch wenn Scarlett flink war und die Plastiktüte rechtzeitig aus Maximes Reichweite gezogen hatte, konnte er trotzdem einen kurzen Blick in sie werfen. In der Tüte lag ein dickes Buch mit einem roten Einband. Es wirkte schon ziemlich alt und verschlissen. Auf die Schnelle hatte Maxime nur gesehen, dass die einzelnen Seiten des geheimnisvollen Buches bereits ausgefranst und von dem Zahn der Zeit gezeichnet waren. Warum zur Hölle kaufte sich Scarlett so ein mangelhaftes Exemplar? Gab es keine Neuauflagen von diesem Buch? Den Titel hatte Maxime dank Scarletts schneller Reaktion nicht lesen können, er hatte nur ein paar einzelne Satzbausteine erkannt: „Sagen und Legenden...“, und das Wort “Schattenkreaturen.“ „Du interessierst dich für Mythologie?“, fragte Maxime neugierig und verblüfft zugleich. Scarlett sah vielleicht etwas seltsam aus. Aber nach außen hin erschien sie nicht wie eine okkulte Person, die sich für solche Sachen interessierte. Die Angesprochene senkte den Blick und ließ die Einkaufstüte nun endgültig unter der Tischplatte verschwinden. Auf einmal begannen ihre blassen Wangen zu glühen. „Na und? Findest du das vielleicht lustig? Jeder Mensch hat seine verschiedenen Hobbys - meins dreht sich eben um paranormale Ereignisse. Für mich sind Legenden und Märchen, mehr als nur belanglose Erzählungen aus dem Mittelalter.“ „Du und paranormale Ereignisse?! Ich dachte eigentlich, dass du für solche Dinge viel zu bieder bist.“ „Machst du dich gerade über mich lustig?“, fragte Scarlett spitz und starrte Maxime abschätzend in die Augen. „Auf diesem Gebiet verstehe ich absolut keinen Spaß!“ „Nein! Niemals! Das klingt nur so sonderbar... Und das ist echt heftig! Wenn ich an übernatürliche Phänomene denke, dann erscheint vor meinen Augen sofort das Bild von irgendwelchen komischen Leuten in schwarzen Kutten. Du siehst dafür viel zu brav aus.“ Diese Bezeichnung schien ihm das Mädchen übel zu Zunehmen. Wütend verschränkte sie ihre Arme vor der üppigen Brust. „Aha! Was soll das denn heißen? Aber es ist besser, dass ich so etwas gut finde als dein dämliches Hobby! Welcher Mann läuft schon freiwillig in kurzen Röckchen und High Heels durch die Gegend?!“ Die Jugendlichen funkelten sich wütend an. Maxime unterdrückte das Bedürfnis Scarlett noch einen fiesen Spruch bezüglich ihrer Verklemmtheit rein zu würgen, und diese verzichtete auf den Wunsch, Maxime als männliche Schlampe zu betiteln. So saßen die beiden die nächsten 10 Minuten schweigend an ihrem Tisch und waren ziemlich froh, als die junge Kellnerin erschien, und die Getränke brachte. Eigentlich hatte Maxime vorgehabt sein Gegenüber als Friedensangebot einzuladen, aber nun verwarf er diesen Gedanken ganz schnell wieder. Dieser muffigen Zicke würde er sicher nichts ausgeben! *xXx* Maxime seufzte innerlich, als er und Scarlett eine halbe Stunde später das kleine italienische Café verließen. Bis jetzt hatten sie sich die restliche Zeit über angeschwiegen und den jeweils anderen ignoriert. Es war einfach zum Heulen. So sehr sie es auch versuchten; sie kamen einfach nicht miteinander zurecht... „Wann kommt der nächste Zug nach Bergedorf?“, fragte Scarlett irgendwann gelangweilt. Sie schaute kurz zu der Kirche mit ihrer riesigen Uhr in der Mitte und verglich die Zeit mit ihrer digitalen Handyuhr. Es war kurz nach 18 Uhr und die Sonne stand noch immer hoch am Himmel. Maxime verzog das Gesicht, als der eisige Klang ihrer Stimme ihm einen schmerzhaften Stich versetzte. Er blickte auf sein eigenes Handy, das die Internetseite der Deutschen Bahn zeigte und die Sicht auf die einzelnen Fahrpläne und Zugverbindungen freigab. „Ach, erst in 45 Minuten. Dann haben wir noch reichlich Zeit und können in aller Ruhe zum Bahnhof gehen. Jetzt um diese Uhrzeit ist da sowieso die Hölle los. Der Freitagabend-Verkehr kommt so langsam in die Gänge..“ Gerade als Maxime einen Schritt in die Richtung der Innenstadt setzen wollte, bemerkte er, wie ihn plötzlich eine zierliche Hand zurück hielt. Neugierig blickte er über die Schulter und begegnete Scarletts pinken Seelenspiegeln. Sie waren seltsam erstarrt und weit aufgerissen. Verblüfft hielt Maxime die Luft an, doch Scarlett schnitt ihm kurz entschlossen das Wort ab, knurrte leise, und zerrte ihn ziemlich ruppig hinter sich her. „Komm einfach mit!“, zischte sie eindringlich. Maxime gehorchte ohne zu murren. Er schluckte, weil er spürte, dass Scarletts Finger kalt und zittrig in seiner warmen Hand lagen. Irgendwie... fühlte sich das schrecklich eigenartig an. Bis jetzt hatte er noch nie mit einem Mädchen Händchen gehalten. Oder zu mindestens mit keinem, welches er nicht schon Jahre lang kannte und als „Freund“ schimpfte. „Warum hast du es auf einmal so eilig?“, fragte Maxime schließlich gedämpft, als ihm das Verhalten der Goldhaarigen so langsam unheimlich wurde. „Willst du jetzt doch nicht zurück nach Hause? Das kannst du mir auch gerne sagen...“ „Bist du eigentlich so blöd, oder tust du nur so?!“ Zornig schaute Scarlett nach hinten und fixierte Maxime mit ihren vor Wut sprühenden Augen. „Nein? Dann drehe dich bitte mal um, aber UNAUFFÄLLIG, ja?“ Noch im gleichen Moment hob Maxime sein Handy in die Luft und benutzte das Display als Spiegel. So musste er nicht seinen Kopf umdrehen wenn nach hinten schauen wollte. Und im Display sah er... Nichts. Gar nichts! Nur eine halb volle Seitenstraße, mehrere Lokale und ein paar Tauben auf dem Bürgersteig. „Hast du einen Knall? Da ist doch nichts! Was soll ich da denn sehen?“ Einen Moment verharrte Scarlett auf der Stelle. Unschlüssig, ob sie das Richtige tat, führte sie Maxime sicherheitshalber noch ein Stückchen nach vorne und schaute selbst noch mal zurück. Ihre himbeerfarbenen Augen huschten flink über die Straße und nahmen in Sekundenschnelle alle Einzelheiten auf, welche sie erblickten. Ein Mann, gekleidet in einer schwarzen Kapuzenjacke, stand wie festgewachsen im Schatten der Häuser und starrte den zwei Teenagern Löcher in den Rücken. Doch leider konnte sie sein Gesicht nicht erkennen, ein rotes Halstuch verdeckte seinen Mund und den Großteil seiner Nase. Aber dieser stechende Blick konnte er nicht verbergen. Ihn, spürte Scarlett selbst aus dieser Entfernung wie heiße Nadelstiche auf ihrer Haut. Knurrend schüttelte sie ihre buschige Löwenmähne. „Wir müssen hier schnell weg. Ich glaube das er uns wiedererkannt hat!“ „Er? Wovon redest du? Wer soll uns wieder erkannt haben?“, sammelte Maxime sichtlich verwirrt und wollte schon wieder seinen Kopf umdrehen, aber Scarletts Finger schlossen sich wie eine Schweißzwinge um seinen Arm. Energisch zog sie ihn auf den Bürgersteig, weg aus dem Blickfeld des unheimlichen Mannes, und huschte leichtfüßig in eine dunkele Gasse. Jetzt erst wurde Maxime sich darüber bewusst, wovon Scarlett sprach. Jemand musste ihnen nachstellen und sie verfolgen! Stumm folgte er ihr in die Seitengasse. Die Lichter der Laternen verloren hier drinnen den Kampf gegen die Dunkelheit. Auch die enorme Geräuschkulisse der Stadt wurde von den dicken Hausmauern aufgefangen und absorbiert. „Beeil dich, Maxime. Gleich haben wir es geschafft, gleich sind wir in Sicherheit! “, rief Scarlett atemlos. Immer noch knurrend, streckte sie ihre freie Hand aus und deutete mit dem Finger auf einen düsteren Spalt am Ende der Gasse. Dort angekommen, drängte sie Maxime in eine Ecke und blieb mit versteinerter Miene vor ihm stehen. Ihren Blick richtete sie auf die weit entfernte Straße und wartete auf das, was kommen würde, oder auch nicht... „Wer verfolgt uns denn?“ Maxime drückte seinen Rücken noch fester gegen die scheußlich kalte Hausmauer. „Und findest du es wirklich so gut, in eine abgelegene, menschenleere Sackgasse zu flüchten? Im Notfall kann uns hier doch keiner finden...!“ „Sei Still! Ich weiß was ich tue.“, unterbrach Scarlett ihn äußerst ungehalten und ging leicht in die Knie. „Siehst du nicht, dass ich versuche, dich zu beschützen!?“ Kurz darauf erschien eine düstere Gestalt am Eingang der Gasse. Sie spähte neugierig in die Finsternis und so etwas wie ein dröhnendes Fauchen brachte ihre schlaksige Gestalt zum Beben. Mit glühenden, blutunterlaufenen Augen ging die Person einen Schritt nach vorne, reckte ihren langen Hals noch weiter und Maxime, wie sowohl auch Scarlett, hielten erschrocken die Luft an. „Ich kann sie riechen. Hier irgendwo muss dieses Miststück doch sein und sich vor mir verstecken...“ Die tiefe Stimme klang grausam verzerrt und hallte hundertfach von den hohen Wänden wieder. Aber interessanterweise blieb die Gestalt da, wo sie war. Sie begnügte sich damit lediglich in die Gasse zu starren und ihre Hassparolen kundzutun. Entweder wollte die Person die Kinder nur hinters Licht führen und verängstigen, oder sie fürchtete sich vor dem, was dort in der Gasse auf sie wartete. „Das ist doch der Kerl auf dem Zug!“, fiel es Maxime plötzlich wie Schuppen von den Augen. Verdammt, der Junge biss sich auf die Zunge. Als Antwort rammte ihn Scarlett den Ellbogen in die Rippen und schleuderte einen wütenden Blick über die Schulter. In diesen Moment war Maxime das alles jedoch egal. Er schämte sich noch nicht mal, dass er hier wie ein verschüchtertes Kleinkind in der Ecke kauerte und tatsächlich von einem Mädchen, die auch noch seine verhasste Mitbewohnerin war, beschützt wurde. Alles, an was Maxime Denken konnte, war aus dieser Gasse rauskommen und Hamburg auf dem schnellsten Wege zu verlassen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)