Wie weit willst du gehen von lara_lianore (How far would you go) ================================================================================ Ich saß mit meiner besten Freundin auf dem Steg, der bis zur Mitte des Sees reichte. Betti ließ ihre Beine baumeln und berührte mit ihren nackten Zehen immer wieder die Wasseroberfläche, während ich die Knie angezogen und meinen Kopf darauf abgelegt hatte. Ein sanfter Windhauch fuhr über den See und kühlte unsere Haut an diesem heißen Spätsommertag ab. Die Nachmittagssonne wanderte weiter über den Horizont, doch ihre Strahlen hatten noch immer diese Kraft, die es zu bewundern galt. Meine braunen Haare waren nach unserem Bad vor einer halben Stunde schon fast wieder trocken, es lohnte sich also gar nicht, sich abzutrocknen. Stattdessen saßen wir einfach nur da und blickten über das grünblaue Wasser, das in sanften Wellen gegen den Steg plätscherte. Irgendwann blickte ich zu Betti, ihre Augen waren geschlossen und ihr Gesicht hatte diesen ruhigen Ausdruck angenommen, den man nur in Zeiten des absoluten Friedens oder beim Schlafen annimmt. „Schläfst du?“, fragte ich leise, denn ich wollte die Stimmung nicht zerstören. „Nein. Ich denke nur nach.“, antwortete sie genauso leise. Ich schwieg und fragte nicht weiter nach, denn ich wusste, dass sie ihre Gedanken sowieso gleich aussprechen würde. „Was würdest du tun, wie weit würdest du gehen?“ Ich runzelte irritiert die Stirn, denn ich hatte keine Ahnung, auf was sich ihre Frage bezog. „Wofür?“ „Um das Leben zu führen, dass du dir als Kind erträumt hast.“ Ich lachte auf, doch ihr ernster Blick ließ mich gleich wieder verstummen. „Als Kind träumt man doch von den unmöglichsten Dingen, als Prinzessin in einem Schloss zu wohnen, oder den Märchenprinzen auf einem weißen Pferd zu heiraten. Man will Tierärztin werden, Krankenschwester oder Lehrerin; und später eine Familie gründen, mit einem liebevollen Mann und zwei reizenden Kindern, die alle in einer riesigen Villa wohnen. Und natürlich hat man einen ganzen Stall voller Ponies, rabenschwarzer Hengste und Schimmel.“ Während Betti sprach, wurde mir immer kälter und ich legte mir das Badetuch um die Schultern. Doch meine beste Freundin schien das nicht zu merken, ihr Blick war in die Ferne gerichtet, bis an das andere Ende des Sees und noch viel weiter hinaus. „Ich wollte immer als Meerjungfrau  in den Tiefen des Ozeans mit den Fischen schwimmen und Muscheln und Perlen als Schmuck tragen.“, fuhr sie unbeirrt fort. „Du hast wohl als Kind zu oft Arielle gesehen?“, lachte ich auf, doch sie reagierte nicht darauf und mein Lachen verstarb wieder. Eine Weile schwiegen wir und genossen die Aussicht auf die unberührte Landschaft. „Was hast du dir erträumt?“, wandte sie sich plötzlich wieder mir zu. Ich winkte verlegen ab. „Ach, das ist so lange her, das weiß ich schon gar nicht mehr.“ Betti blickte mich traurig an, dann wandte sie ihren Kopf wieder zum See und legte ihn auf ihren angewinkelten Beinen ab. „Wofür lebt man denn, wenn nicht für seine Träume?“ Ich sah zum Himmel hinauf. Kam es mir nur so vor, oder zogen die Wolken wirklich schneller als vorher? Nein, das war bestimmt nur Einbildung. „Warum plötzlich so ernst? So kenne ich dich ja gar nicht.“ Gespielt fröhlich klopfte ich ihr auf den Rücken, denn langsam wurde es mir hier unheimlich. „Wir sollten uns besser langsam auf den Heimweg machen, ich glaube, ein Gewitter zieht auf.“ Besorgte schaute ich noch einmal zum immer dunkler werdenden Himmel auf. Doch Betti reagierte nicht, sondern starrte immer noch auf den See, der durch den aufgekommenen Wind Wellen schlug. Dann sprang sie so plötzlich auf, dass ich vor Schreck fast in das Wasser gefallen wäre. „Hast du das auch gerade gesehen?“, fragte sie, und ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. Ich schüttelte überrascht den Kopf. „Was gab es denn zu sehen? Vielleicht eine Meerjungfrau?“, ich kicherte über meinen eigenen Witz. „Entweder das, oder in diesem See gibt es richtig große Fische. Ich habe eine glitzernde, blau-grüne Flosse gesehen.“ Betti kniete mittlerweile am Rand des Stegs und beugte sich, so weit sie konnte, über das dunkle Wasser. Ein seltsames Gefühl wuchs in mir, als ob wir beobachtet wurden, doch ich konnte niemanden entdecken. Trotzdem fröstelte es mich. „Lass uns bitte gehen, ich will nicht an dem See von einem Blitz getroffen werden.“, drängelte ich meine Freundin. Tatsächlich hörte man entfernt schon das dunkle Grollen des Gewitters, das wohl auch bald über uns sein würde. „Wenn du Angst hast, dann kannst du ja schon mal vorgehen, ich will das genauer wissen.“ Und mit diesen Worten sprang sie mit einem Kopfsprung in den See. „BETTI!!!“, rief ich ihr hinterher, doch sie hörte mich nicht. Ich konnte nur noch erahnen, in welche Richtung sie getaucht war. Angsterfüllt blickte ich zu dem mittlerweile nachtschwarzen Himmel und rang mit mir selbst, ob ich hinterher springen oder Hilfe holen sollte. Aus irgendeinem Grund spürte ich, dass sie nicht wieder an die Oberfläche kommen würde. Ein paar Sekunden zögerte ich noch, dann warf auch ich meine Badesachen auf den Steg und sprang in das dunkle Wasser. Ich öffnete meine Augen, doch es war so dunkel, dass ich nur mit großer Mühe die Holzpfähler des Steges sehen konnte, von Betti keine Spur. Immer tiefer tauchte ich, die Atemluft wurde knapper, doch ich konnte nicht ohne meine beste Freundin wieder an die Oberfläche kommen. Vor mir tauchte ein Schemen auf, der sich langsam im Wasser bewegte. Ich schwamm näher heran und erkannte lange goldene Haare. „Betti!“, dachte ich und mobilisierte die letzten Kraft- und Luftreserven. Tatsächlich sank meine Freundin mit geschlossenen Augen langsam zum Grund des Sees hinab. Ich umfasste ihre Taille und wollte sie nach oben ziehen, doch es ging nicht. Etwas zog sie immer weiter hinab, egal wie sehr ich mich auch anstrengte. Meine Blicke huschten umher nach Algen, in denen sie sich vielleicht verfangen haben könnte, doch stattdessen sah ich direkt in zwei grün-schimmernde Augen mit quer geschlitzten goldenen Pupillen. Erschrocken wich ich zurück und ließ dabei Betti los. Unbarmherzig wurde sie weiter in die Tiefe gezogen, von den seltsamen Augen und ihrem Besitzer war nichts mehr zu sehen. Ich wollte ihr hinterher tauchen, doch ich konnte mich nicht mehr rühren. Hilflos musste ich mit ansehen, wie meine Freundin in der Dunkelheit verschwand. „Nein!!!“, rief ich, ohne darüber nachzudenken, dass ich meine restliche Atemluft an den See weitergab. Die Taubheit in meinem Körper nahm zu, sie drang zu meinen Gedanken durch und ließ meine Hoffnung, wieder lebendig an die Oberfläche zu kommen, verschwinden. Das letzte Schimmern des Tageslichtes verschwand vor meinen Augen und übrig blieb bloß noch die Dunkelheit. Bevor ich ganz das Bewusstsein verlor, hörte ich noch einmal Bettis Stimme. „Das ist mein Traum, nicht deiner. Suche und lebe deinen Traum, bevor du es nicht mehr kannst!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)