Totgesagte leben länger von The_Onliest ================================================================================ Kapitel 2: Der Gnadenakt ------------------------ Es war ein milder Frühlingstag. Die Sakura-Blüten hatten ihre volle Pracht entfaltet und erfreuten das Herz eines jeden Japaners. Sogar die Sonne nahm diesen Tag zum Anlass, um gelegentlich aus der Wolkendecke hervorzulugen. Die Vögel zwitscherten und Makoto hatte soeben einen Unfall verursacht. Ein ganz normaler Dienstagmorgen soweit, oder? Doch das war noch nicht einmal das Schlimmste. Nein, damit wäre Fortuna ihr wohlgesonnen gewesen. Stattdessen hat sie ihr lieber einen toten General dazugegeben, sodass die ganze Sache absolut gar keinen Sinn mehr ergab und sie sich innerlich fragen musste, ob sie noch alle Latten am Zaun hatte. Nephrite blieb unberührt von ihrem Unglauben und war eher damit beschäftigt, sein Schätzchen, - damit war selbstverständlich sein neuer und nun schrottreifer roter Ferrari gemeint -, zu verabschieden, da es sich gleich auf den Weg Richtung Autofriedhof machen würde und dies ohne seinen Besitzer, der sich den schmerzlichen Abschied ersparen wollte. Er hatte sein Telefonat vor einigen Minuten beendet und er war nun mit der Aufgabe beschäftigt, sämtliches Hab und Gut, das nicht in Mitleidenschaft gerissen worden war und von ihm benötigt wurde, aus dem Auto hervorzukramen. Vor lauter Wut über den Verlust seines Sportwagens hatte er vollkommen vergessen, die Polizei zu benachrichtigen, aber dies hatte er unmittelbar nach dem Bestellen des Abschleppwagens nachgeholt. „So hatte ich mir den heutigen Tag nicht vorgestellt“, säuselte er vor sich hin und band sich beim Sprechen die Haare zu einem Zopf zusammen. Makoto beobachtete ihn bei seinem Vorgehen und nahm Notiz von seinen Lederarmbändern, die - wie sein Haargummi - an seinen Handgelenken befestigt waren. Sie verleihten ihm ein verwegenes, draufgängerisches Aussehen, das außerdem von seinem Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln sowie seiner zerissenen Jeans unterstützt wurde. Als sie sich bei diesen Gedanken ertappte, schämte sie sich, da es nicht der geeignete Zeitpunkt war, um den Mann vor ihr auszuchecken. Zwar musste sie sich innerlich eingestehen, dass es ihr mehr Spaß bereitete, als auf den qualmenden Schrott hinter ihm zu blicken, doch sie musste sich zusammenreißen, so sehr sie auch ihre diebische Freude daran besaß, sich mit Jungs oder besser gesagt, mit Männern zu außereinanderzusetzen. Makoto war erleichtert, dass er nicht bemerkte, wie sie ihn beobachtete hatte. „Du kannst wirklich sehr froh sein, dass ich mein Auto so gut versichert habe", sprach er wieder zu ihr, doch sie musste zunächst einmal zusehen, ihre Gedanken sortiert zu bekommen. Warum konnte sie nicht wie Rei sein und sich zumindest in solchen Momenten auf die wichtigen Sachen konzentrieren? Als sie nicht reagierte, wurde er stutzig. „Hey, ist alles okay mit dir?“ Makoto nickte steif. Er legte seinen Kopf schief und schaute sie fragend an, - sie musste unwillkürlich an einen Welpen denken. „'Tschuldige, falls ich dich gerade erschreckt habe. Natürlich musst du mir den Schaden nicht bezahlen, wenn du dir darum Sorgen machst, … wobei es eine echt nette Entschädigung wäre, dein komisches Verhalten so langsam abzulegen.“ Er hielt kurz inne, da er nicht den Eindruck hatte, als konnte sie ihm gut folgen, doch dann fuhr er fort: „Es ist nämlich sehr irritierend, wie du mich die ganze Zeit anschaust.“ Tatsächlich schien er in dem Augenblick von ihrem bizarren Auftreten gestresst zu sein. Er hatte seine Augenbrauen zusammengezogen und schaute sorgenvoll auf sie hinab. Das war trotz alledem, das sich soeben ereignet hatte, keineswegs beunruhigend. Makoto hatte es nie ausstehen können, wenn Männer kleiner waren als sie. Denn dann bekam sie immer das unweigerliche Bedürfnis, sie zu beschützen und das war ihrer Meinung falsch. „Sie erinnern mich an jemanden, den ich kenne“, antwortete Makoto rasch und klang zudem ungewollt geheimnisvoll. Dann holte sie tief Luft, ehe sie weitersprach: „Ich wollte Sie nicht irritieren.“ „Das will ich wohl hoffen“, erwiderte er. Plötzlich grinste er sie schelmisch an, während er die Händen in die Hüften stemmte. „Schließlich habe ich dir dein Leben gerettet und dafür mein hübsches Schmuckstück geopfert. Wofür du dich gerne bedanken dürftest, nebenbei bemerkt, meine Anmerkung vorhin war kein Scherz.“ „Ich … Ich bin ein bisschen überfordert.“ Ein bisschen überfordert war genauso ein bisschen untertrieben, aber sie konnte ihm in dieser Situation nicht vorhalten, dass er eigentlich hätte tot sein müssen. Vielleicht handelte es sich bei ihren Gegenüber gar nicht um Nephrite, sondern bloß um einen Mann, der ihm bloß sehr, sehr ähnlich sah. Eventuell ein Zwillingsbruder, von dem sie noch nie etwas gehört und gesehen hatte? Das konnte doch möglich sein. Wer weiß, in welches Leben Nephrite hineingeboren worden war, bevor Beryl ihn ein zweites Mal zu einen ihrer treuen Gefolgsleute gemacht hatte. Sie musste ihn gerade so nehmen, wie er war und schließlich war es ebenso ein Fakt, dass dieser Mann, - ungeachtet dessen, ob es sich um Nephrite handelte - oder nicht, ihr eine unangenehme Kollision mit der Front eines Sportwagens erspart hatte, die nach aller Wahrscheinlichkeit ihren Tod bedeutet hätte. Zu sagen, dass sie ihm zum Dank verpflichtet war, war gewiss nur das Mindeste. Es fiel ihr nur schwer, es dem Mann zu sagen, der vor nicht allzu langer Zeit nichts anderes im Sinn hatte, als die Erde in ewige Dunkelheit zu hüllen und sie sowie ihre Freundinnen zu bezwingen. Da half wohl nichts, da musste sie durch. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll...“ Makoto war schon seit jeher eine schlechte Lügnerin. Ihm schien es nichts auszumachen, - ganz im Gegenteil, er wartete ihre vollständige Antwort ab. Es machte Makoto kirre, wie er nun so seltsam entspannt vor ihr stand, obwohl er ihr noch vor ein paar Minuten die helfende Hand ausgeschlagen hatte. „... mir tut es so furchtbar Leid, dass ich nicht auf die Straße geachtet habe und nun dafür gesorgt habe, dass Ihr Auto irreparabel zerstört worden ist.“ Sie fuhr ihre Hand durch eine Haarsträhne und schaute auf den Fußgängerweg. „Natürlich bin ich Ihnen dafür dankbar, dass Sie Ihr neues Auto meinetwegen vor die Wand gefahren haben. Ich würde es zu gerne wiedergutmachen...“ Es stimmte. Sie konnte es sich nicht selbst verzeihen, dermaßen unachtsam gewesen zu sein, sodass sie - ausgerechnet sie - Ursache eines Unfalls geworden ist. Sie hatte nach dem Tod ihrer Eltern gelernt, auf sich selbst aufzupassen und ist sogar stets stolz darauf gewesen, dass sie niemanden brauchte, der für sie sorgte. Dass sie sich heute fast überfahren ließ, war ein Fehler, den sie nie mehr in ihrem Leben wiederholen und den sie unbedingt wiedergutmachen wollte. Sie wusste, wie groß das Erbe ihrer Eltern war, denn Makoto konnte sich ihr eigenes Apartment nur mithilfe des Geldes leiden, das ihre Eltern ihr noch zu Lebzeiten auf die hohe Kante gelegt hatten. Sicher war, dass von dem Geld noch genügend da war, um ihm ein neues Ferrari zu besorgen. Dazu galt es nur, den Vermögensverwalter anzurufen. Da Makoto noch nicht volljährig war, hatte sie keinen direkten Zugriff auf ihr Erbe. Als sie alt genug war, um all dies nachzuvollziehen, hatte sie sich zunächst gefragt, warum ihre Eltern ihr Testament bereits in so jungen Jahren derart akribisch geplant und niedergeschrieben hatten. Konnten ihre Eltern eventuell bereits damals geahnt haben, dass ihr Leben früh beendet werden würde? Makoto konnte die Antwort sicherlich nicht mehr in Erfahrung bringen, aber ihr war bewusst, dass sie im Vergleich zu anderen Waisenkindern ein recht sorgenloses Dasein fristen konnte, wofür sie ihren Eltern auf ewig dankbar war. Ihr Gegenüber hatte sie stillschweigend beobachtet, während sie in ihren Gedanken verloren war und als sie sich traute, ihn anzublicken, lächelte er sie an. Plötzlich kam er ihr fremd vor. Der Nephrite, den sie kennengelernt hatte, hatte sie nie milde angelächelt. Ein hämisches Grinsen oder ein abfälliges Zucken seines Mundwinkels hatte in seinem Repertoire gelegen, aber nicht das. Kein humanes, mildes Lächeln. Niemals das. Makoto wusste nicht, wie es nun weitergehen sollte. Er erkannte ihr innerliches Elend (schließlich war sie so leicht zu lesen wie ein offenes Buch) und da er es nicht ausstehen konnte, Frauen leiden zu sehen, versuchte er, sie ein bisschen abzulenken: „Mach' dir bitte um die Karre hinter mir keine Sorgen. Ich weiß, du bist aufgewühlt und das wäre ich auch an deiner Stelle, aber nachdem die Sache mit der Polizei gegessen ist, kannst du wieder Nachhause, wobei... - Moment mal, müsstest du nicht um diese Uhrzeit in der Schule sein?“ „Ähem“, räusperte sich Makoto und kratzte sich verschüchtert am Hinterkopf. „Eigentlich schon...“ Der Tag konnte nicht mehr verrückter werden, da war sich Makoto sicher. Erneut fühlte sie sich darin bestätigt, keinen weiteren Tag, den sie in der Schule verbringen sollte, zu schwänzen, denn offensichtlich kam dabei nichts Gutes heraus. „Eigentlich ist eigentlich ein schlechtes Wort...“, quittierte er. Danach blickte er wie sooft an diesem Morgen auf sein Auto. Dann besah er sich erneut der jungen Schülerin, die verdutzter zurückschaute als ein Rehkitz, das von dem Lichtkegel eines Autoscheinwerfers mitgerissen worden war. „Ich weiß, ich werde das bereuen...“, sprach er leise zu sich und schaute hinauf in den Himmel. Das tat er gerne, wenn er damit beschäftigt war, eine schwierige Entscheidung treffen zu müssen. Er haderte kurz mit sich selbst, bis er ansetzte: „Okay, ich mache dir einen Vorschlag, den du entweder sehr schnell annimmst oder bleiben lässt. Ich kann der Polizei erzählen, dass ich selbst den Unfall verursacht habe, denn die Häuserwand schaut meiner Meinung nicht so aus, als hätte sie irgendeinen Kratzer von meinem Auto abgekriegt. Du gehst dann brav zur Schule oder tust so, als tätest du es, nachdem du mir deinen Namen und deine Nummer gegeben hast. Das Auto ist besser versichert als meine eigene Gesundheit, weshalb ich nicht glaube, mich bei dir melden zu müssen, also bitte keine Angst, - ich will nur auf Nummer sicher gehen. Deal?“ Makoto traute ihren Ohren nicht. Er ließ sie einfach so ziehen, wenn sie nichts weiteres tat, als ihren Namen sowie ihre Nummer zu geben? Entweder er hatte ein sehr großes Vertrauen in seine Versicherung oder er hob sein Geld stets nur in Geldsäcken von der Bank ab. Sie wollte nichts lieber, als aus dieser ihr vollkommen unangenehmen Situation zu flüchten, da sie es leid war, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob er ihr ehemaliger Feind war oder nicht und falls er es in der Tat war, warum er sich nun von einer solch äußerst generösen Seite präsentierte. Schließlich handelte es sich um ein Ferrari und nicht um einen Ford Ka, den sie im schlimmsten Falle mit ihrem Taschengeld hätte ersetzen können. „Ist das Ihr ernst?“ Sie konnte den Braten nicht trauen, aber wenn er sie nicht auf den Arm nehmen wollte, dann würde sie diese Chance nutzen. Sollte er sich im Nachhinein doch als ihr Feind entpuppen, dann konnte sie ihm noch immer einen auf die Mütze geben. „Ja, noch ist es mein ernst. Mir ist klar, dass das kein normaler Mensch machen würde... aber ich kann auch nicht behaupten, jemals einer gewesen zu sein, also?“ „Deal“, erwiderte Makoto rasch, bevor er sich anders entschied. „Okay, dann bräuchte ich nur deinen Namen und deine Nummer. Wie gesagt, ich werde mich wahrscheinlich nicht melden, aber - man weiß ja nie...“ Sie nannte ihren Namen und gab die Nummer ihres Vermögensverwalters durch, da er sich ohnehin nur wegen des Geldes bei ihr melden würde und wenn es so war, dann war Herr Hashimoto sicherlich der bessere Ansprechpartner als sie. Er tippte ihre Daten auf sein Handy ein und als er fertig war, schaute er Makoto tief in die Augen. Sie hatte völlig unterschätzt, wie hypnotisch sie sein konnten, sofern man den Blick in sie riskierte. Sofort fühlte sie sich an einen ruhigen See bei Dämmerung erinnert... „Dir ist hoffentlich bewusst, dass du mir dafür eine jede Menge schuldig bist, oder?“ „Ich weiß“, erwiderte Makoto und bückte sich vor ihm. „Vielen Dank, … mir fehlen die Worte. Bitte melden Sie sich, falls ich mich revanchieren soll.“ Sie hörte, wie er auflachte: „Übrigens: ich heiße Masato, damit du den Namen deines heutigen Helden kennst und es wäre ganz toll, würdest du mir diese förmliche Ansprache ersparen, das ist dir schon einmal gelungen, weshalb ich glaube, dass wir ruhig dabei bleiben können.“ „Oh-Okay...“, flüsterte sie und trat zugleich einen Schritt zurück. „Nochmals, Danke und – alles Gute!“ Danach rannte Makoto, als war der Teufel persönlich hinter ihr her. Sie konnte es nicht glauben. Er hieß Masato. Er trug einen ganz gewöhnlichen japanischen Namen und doch erinnerte er sie an so viele, aber niemals an einen Japaner. Dafür war er viel zu groß und seine Haare, - die ganz besonders -, sie waren viel zu lang und zu dick, als dass sie jemals einem typischen Japaner zugeordnet werden konnten. Eher glich er einem stolzen Indianer, aber das konnte sie keinem sagen und so lief Makoto ungehalten weiter. Jedoch nicht in die Schule, denn darauf konnte sie sich ohnehin nicht mehr konzentrieren, sondern hinein in den Blumenladen, den sie den ganzen Tag schon hatte besuchen wollen. Pflanzen stellten keine Fragen und wunderten sich nicht, warum sie aussah, als hätte sie soeben einen Geist gesehen. Sie konnten sie auch nicht zur Strafe vor die Tür stellen, wenn sie sich mal auf eine Übungsaufgabe nicht konzentriert hatte. Nichtsdestotrotz wäre es ihr am liebsten gewesen, würde sie ihre Augen öffnen und feststellen, dass sie auf ihrem Bett lag und nur noch wenige Minuten Zeit hatte, um rechtzeitig in die Schule zu kommen. * * * Masato hatte noch nie eine junge Frau dermaßen schnell davonrennen sehen. Er konnte sich selbst nicht erklären, was ihn dazu geritten hatte, sie ziehen zu lassen. Das einzige, was er wusste, war, dass er noch nie ein Mädchen gesehen hatte, die eine derart imposante Statur besaß und dennoch kümmerlicher wirken konnte, als eine eingeknickte Blume. Kein einziges Mal hatte sie ihn angeschaut, als hätte sie ihn tatsächlich wahrgenommen. Sie hatte ihn nicht oft in die Augen geschaut, aber wenn sie es getan hatte, dann hatte er den Eindruck besessen, sie hätte durch ihn geschaut und jemand anderes gesehen. Zumal sie es ihm alles andere als unauffällig angedeutet hatte. Überdeutlich konnte er sich daran erinnern, wie sie ihn gefragt hatte, ob er lebt. So viele Gefühle hatten in ihrer Stimme gelegen. Wut, Trauer, Enttäuschung … Doch das war ja nicht die Spitze des Eisberges. Im Grunde konnte es ihm scheiß-egal sein, ob sie eine beeindruckende Figur abgab oder wen auch immer sie an seiner Stelle gesehen hatte. Letztendlich lag ihretwegen hinter ihm seine zu Schrott gefahrene Lieblingskarre und nicht nur das: Er hatte ihr gestattet, in die Schule oder wohin sie auch immer gehen wollte, zurückzukehren. Er wusste selbst, dass kein verständiger Mensch es ihm in dieser Situation gleichgetan hätte. Also, warum ist er ihr gegenüber so großzügig gewesen? Bevor er seinen Überlegungen weiter nachgehen konnte, traf die Polizei ein, doch als er ihnen den Unfall schilderte, kam er nicht umhin, an diese grünen Augen zu denken, die ihn verwirrt musterten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)