9 mm - Blut und Schweiß von Luca-Seraphin ================================================================================ Kapitel 1: 1 ------------ Jens‘ Atem rasselte durch Hals und Lungen, gab ein Echo mit spürbaren Erschütterungen in seiner Brust wieder. Schweiß rann über seine Stirn in die Brauen und tropfte ihm in die Augen, sodass sie brannten. Kalt und nass klebte das blutige Shirt an seiner Brust. Jens‘ Herz raste. Für einen Moment glaubte er zu ersticken. Seine Lungen waren zu eng, nicht in der Lage Sauerstoff aufzunehmen. Flackerndes Blaulicht zerriss die Nacht. Der kalte Schein reflektierte an schmutzig graubraunen Wänden alter Häuser aus der Vorkriegszeit und zuckte auf den Körpern von Männern und Frauen in Nachthemden, Schlafanzügen und Morgenröcken. Einige wirkten aufgeregt, entsetzt, neugierig, zugleich aber nicht weniger graubraun und unwichtig als ihre Umgebung. Die meisten starrten reglos und dumpf vor sich hin. Unter ihnen stand ein hagerer, gebeugter Mann, dessen Haltung verkrampft und noch lebensfremder wirkte als die der anderen. War das nicht Marcos Vater? Ein Schauder rann ihm über den Rücken. Sinnfrei aneinandergereihte Fragmente der letzten Minuten in Marcos Zimmer kehrten zurück. Das hübsche, braungebrannte Gesicht, das von einem Moment zum anderen seine Form verlor und nur noch ein Brei aus geplatzter Haut, Knochen, Zähnen, Muskeln und Blut war … Der Knall, dessen Erschütterung er zu spüren geglaubt hatte, laute Stimmen, die die nächtliche Stille zerrissen, das Gellen in seinen Ohren, heißes Metall, an dem er sich die Finger verbrannt hatte - Eindrücke ohne Konsistenz und Reihenfolge. Wie hatte er es überhaupt aus der Wohnung bis hierher geschafft? Er wusste es nicht mehr. Jens schloss die Augen. Bewusst langsam atmete er ein und aus. Zittern durchlief ihn, Kälte kroch aus seinen Knochen und vertrieb die Resthitze der Flucht. Die schützende Dunkelheit seines Verstecks brach auf, als ein Rollladen im Erdgeschoss des Hinterhauses nach oben gezogen wurde und gelbes Licht ein weiteres Rechteck Helligkeit in die Nacht schnitt. Ein aufmerksamer Beobachter konnte ihn jetzt sehen. Er duckte sich. Weitere Lichter flammten auf. Sein Mund fühlte sich trocken an. Gleichzeitig brannte sein Hals. Die Zunge klebte am Gaumen. „Was ist denn passiert?“, rief eine Frau. „Da ist sicher jemand umgebracht worden“, erwiderte eine andere, „haben Sie den Schuss nicht gehört?“ Für einen Moment glaubte Jens zu fühlen wie sein Herz aussetzte. Umgebracht … Er kniff die Lider zusammen. Schräg gegenüber wurde die Tür des Hinterhauses aufgestoßen, fahle Helligkeit erreichte ihn. Mehrere Leute strömten auf den Hof. Jens‘ Nerven elektrisierten. Rasch drängte er sich in die lichtgeschützte Ecke der Außenkeller-Treppe und presste sich eng an die Rauputzwand. Schritte kamen näher, passierten dicht über ihm die Mauer und verklangen in der Entfernung. Er wartete. Niemand entdeckte ihn. Nach einer Weile hob Jens den Kopf und spähte die Treppe hinauf. Ein Paar nackter Beine huschte durch sein Sichtfeld. Rasch zog er den Kopf wieder ein und kauerte sich auf die Stufe der Kellertür. Warten – verdammt! Wie lang noch? Jens schluckte hart. Ihm wurde kalt und heiß zugleich. Er zitterte, ungeachtet der Sommerhitze, die Asphalt und Mauern noch ausatmeten. Weg von hier! Offensichtlich riegelten sie die ganze Gegend ab. Erneut reckte er sich. In ihm ballte sich die Leere, zog sich zusammen und drängte in seine Kehle. Was war das? Hatte er Angst? Die Stiefel der Uniformierten hallten auf dem Asphalt nach. Das Geräusch rann durch seine Adern, kroch die Wirbel hinauf und sammelte sich als eisiger Druck in seiner Schädelbasis. Hier, zwischen den Wohnblöcken, gab es keine Sicherheit. Er musste weg, aber mit dem klebrig nassen Blutfleck auf seinem T-Shirt fiel er auf. Rasch öffnete er die Bänder seines Rucksacks und holte ein Kapuzenshirt heraus. Dabei berührte er das Metall der Pistole. Vor kurzem war sie noch warm gewesen. Die Kälte, die jetzt davon ausging, verbrannte ihn fast. Instinktiv zog er die Hand zurück. Warum hatte er sie mitgenommen? Er hätte sie nie berühren sollen. Nun waren seine Fingerabdrücke darauf. Scheiß Waffe … Weg damit, vielleicht in die Isar! Halt, nein, was wenn er sie brauchte? Für die Polizei war er der perfekte Verdächtige, der potentielle Mörder. Auch wenn niemand seinen Namen kannte, so hatten ihn doch viele gesehen; besonders Marcos Vater. Wahrscheinlich hatten sie ihn innerhalb von kürzester Zeit identifiziert. Verdammt! Jens schüttelte den Gedanken ab. Jetzt war nicht die Zeit, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er streifte sein Shirt über. Langsam hob er den Rucksack auf seinen Rücken und machte sich bereit. Stufe um Stufe schob er sich hinauf. Flucht! Nein, langsam! Wenn er rannte, bemerkte man ihn. Er musste ruhig bleiben, vielleicht kurz zusehen was geschah. Großer Gott, das konnte in die Hose gehen. Hoffentlich erkannte ihn niemand. Hoffentlich … Kapitel 2: 2 ------------ Christoph blieb noch einen Moment im Eingang des Rasthofes stehen und sah Dariusz nach, der aus dem Lichtkegel der Laterne in den Schatten zwischen den LKWs trat. Der Arbeitsalltag begann. Auch für ihn wurde es Zeit, sich auf den Weg zu machen. So früh am Morgen würde der Verkehr Richtung Berlin sicher gut laufen. Hier unten, in der Nähe von München, hielt ihn nichts mehr. Er schnippte den Zigarettenstummel auf den Asphalt und trat ihn aus. Nachdenklich sah er zu Dariusz hinüber, der in seine Zugmaschine kletterte und die Tür hinter sich zuwarf. Sein Partner saß im blassen Schein der Innenbeleuchtung, zündete sich eine Zigarette an und sog daran. Die Helligkeit wich, nur das orange-rote Glühen hinter dem Lenker blieb. Dann erwachten Scheinwerfer und Armaturenlicht. Dariusz‘ flächiges Gesicht bekam durch den fahl grünen Schein etwas Geisterhaftes. Er startete den Motor seines Actros. Die kraftvollen Erschütterungen setzten sich im Asphalt des Parkplatzes fort. Langsam rollte der Sattelzug aus der Lücke. Dariusz schlug den Lenker ein und nickte Christoph zum Gruß zu. Einen Moment später Versank die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite in der Tür. Dariusz lehnte sich nach drüben. „Treffen wir uns zum Frühstück am Rasthof Nürnberg Feucht?“ Christoph nickte, obwohl er keinen Appetit hatte und Dariusz ungern beim Essen zusah. Vielleicht konnte er sich noch ein wenig mehr Zeit verschaffen. Er hob die Hände. „Ich gehe trotzdem erst mal duschen, kann also sein, dass ich etwas später da bin.“ Dariusz winkte ab, setzte dazu an etwas zu sagen, verkniff sich den Kommentar aber. Kopfschüttelnd fuhr er das Fenster wieder hoch und rollte langsam über die Zufahrt zur Autobahn. Zum Gruß ließ er noch einmal die Warnblinkanlage aufflackern, bevor er Gas gab. Christoph wandte sich ab. Er wollte den Dreck der unruhigen, warmen Nacht und den Gestank der Koje in seinem Truck abspülen. Langsam ging er über den Parkplatz und blieb auf der Beifahrerseite stehen. Er griff in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel und öffnete. Rasch kletterte er ins Führerhaus, suchte er seine Sachen zusammen und schob sie mit Rasierzeug, Duschgel und Handtüchern in seinen Reisesack. Draußen quietschte ein Zahnriemen. Das Geräusch näherte sich von der Tankstelle und wurde lauter. Er hob kurz den Blick. Ein altersschwacher, schmuddeliger Lada Niva, vermutlich aus den beginnenden 90ern, kroch heran und bog auf den PKW-Parkplatz ein. Lang würde es der Motor nicht mehr machen, bis er hinüber war. Christoph schüttelte den Kopf und sprang aus seinem Truck. Vorsichtshalber überprüfte er, ob die Zugmaschine verschlossen war, umrundete den Trailer und sah sich die Plombe an der Hecktür an. Alles schien gut zu sein; Zeit, duschen zu gehen. Als Christoph aus dem Rasthof in die laue Luft trat, fröstelte er. Aus seinem Zopf rann ein stetiger Bach Wasser und sickerte in sein Shirt. Er sah er zu dem alten Lada hinüber. Der Wagen stand verlassen da. Ob das Fahrzeug überhaupt noch einmal startete? Christoph bezweifelte es fast. Er ging zu seinem Truck, zog die Schlüssel und öffnete. Die Blinker flammten synchron auf. Er öffnete die Tür. Gerade als er sich hochzog, knirschten Steinchen unter Schuhen. In Christophs Nacken richteten sich die Härchen auf. „Hallo?“, rief eine jung klingende Männerstimme aus dem Schatten. Christoph kniff die Augen zusammen. Zwischen den Zügen stand jemand; gerade noch außerhalb der Reichweite der Innenbeleuchtung und der Laterne. Christoph spürte die Kälte seines nassen Hemdes noch stärker. Hatte er in München vielleicht mit seinen Fragen die falschen Leute auf sich aufmerksam gemacht? Er kniff die Lider zusammen und versuchte den Mann zu erkennen. Der Kerl hielt einen Rucksack in der Hand. Da er den Blick auf den Boden richtete und ein Hoody trug, unter dessen Kapuze der steife Schirm eines Basecaps herausragte, konnte Christoph kaum mehr als den rot stoppeligen, spitzen Kiefer des Fremden sehen. Verdächtig war kein Ausdruck. Wenn das nicht nach Ärger roch! Andererseits waren solche Kleider typisch für Hip Hopper und Skater; vielleicht doch nur ein ganz normaler Typ? Mühsam verdrängte Christoph das schlechte Gefühl. Überzureagieren war genauso unklug wie die Vorsicht außer Acht zu lassen. „Was ist?“, fragte Christoph. Glücklicherweise spiegelte sich in seiner Stimme nichts von seiner Unsicherheit wieder. Der Mann reagierte nicht. Er hielt den Kopf gesenkt. Ärger! Wie zur Warnung zog die Schussnarbe auf seiner Brust und die runde Brandverletzung an seiner Schläfe kribbelte. Prickelnd schoss ihm das Blut in die Wangen. Instinktiv griff er in seinen Hosenbund – nichts. Seine Waffe lag in der Sporttasche unter der Koje. Mist, Dariusz war bereits unterwegs! Wenn es zu einer Prügelei kam, standen Christophs Chancen gut. Er war größer, massiger und – hoffentlich – kampferprobter. Christoph zog sich bewusst ruhig auf den Sitz und ließ den Rucksack neben sich fallen. Er nahm das Handy aus der Gesäßtasche. Hatte er zuletzt mit Dariusz oder Jürgen telefoniert? Egal wen, einen Notruf absetzen … „Wohin fährst du?“, fragte der Mann unvermittelt. Seine Stimme klang rau. Christoph verlor den Gedanken. Er sah hinunter. Der Fremde trat in das schwache Licht des Wagens. Der Mützenschirm überschattete noch immer seine Züge. „Berlin“, entgegnete er. „Nimmst du mich mit?“ In der Stimme lag ein unterschwelliges Flehen. Jetzt hob der Mann den Kopf. Jung traf zu. Er konnte höchstens Anfang, Mitte zwanzig sein. Seine Wangen waren eingefallen und grau, die großen, runden Augen lagen tief in den Höhlen. Dunklen Schatten hatten sich darunter eingegraben. Seine Lippen wirkten voll, aber sehr trocken und spröde, sodass sich Hautschüppchen unter den Snakebites hochgeschoben hatten. Anhand der Bridge in der Nasenwurzel und anderen Piercings in Nase und Braue war er kein Hip Hopper, sondern eher ein Punk. Der rot-schwarze Kommunistenstern auf seiner Brust unterstrich seinen Eindruck. Jung und fertig, der typische Punk, der auf Daumentaxi weiter kam. Er machte den Eindruck, übernächtigt zu sein. Langsam senkte der junge Mann den Blick wieder. „Sorry, dass ich dich angequatscht habe, okay?“ Er klang enttäuscht. Chris knurrte ärgerlich. Was konnte ihm jemand antun, der rund zwanzig Jahre jünger war? In einem ernst gemeinten Kampf würde er definitiv unterliegen. Christoph atmete tief ein und deutete zur Beifahrertür. „Auf, rein mit dir!“ Kapitel 3: 3 ------------ Jens entspannte sich erst, als der Motor des schwarzen MAN-Trucks startete. Er ließ sich tiefer in das noch neu riechende Polster sinken. Unter ihm rieb der glatte Kunststoffbezug gegen Pulli, Hose und Kettengürtel. Ein angenehmes Gefühl ging davon aus, das sich nicht richtig einordnen ließ. Sicherheit? Nein, nicht wirklich. Aber es hatte etwas von der Erinnerung an Zuhause. So roch und fühlte sich damals auch der neue Wagen seines Vaters an. Damals, als sie noch eine Familie waren. Paradox. Das war ewig lang her, in einem anderen Leben. Aber in dieser Zeit war die Welt noch in Ordnung gewesen. Er schüttelte den Gedanken ab und schob den schmuddeligen Rucksack zurecht, der zwischen seinen Füßen stand. Obwohl der Typ gesagt hatte, er solle ihn nach hinten werfen, konnte Jens es nicht. Darin war alles Wichtige, auch die Waffe. Als sie von der schmalen Lücke auf den Weg rollten, sah er nach draußen. Er konnte er den schmuddelig braunen Lada nicht mehr erkennen. Vielleicht war es ganz gut, dass die Karre hier verreckt war. Besser so, als dass die Bullen ihn mit dem geklauten Wagen anhielten. Das hätte bitterböse ins Auge gehen können. Obwohl … wahrscheinlich vermisste keiner die alte Kiste. Der Lada hatte mindestens 25 oder 30 Jahre auf dem Buckel. Die Vibrationen des Motors unter ihm fühlten sich gut an. Es ging voran, weg von München, weg von Marcos Leiche, weg von der toten Polizistin. Er wollte damit nichts mehr zu tun haben. Unter dem Pulli klebte das blutige T-Shirt an seiner Brust. Jens schwitzte. So würde das Zeug nie trocknen. Warum hatte er das scheiß Hemd nicht einfach ausgezogen und weggeworfen? Ekelhaft! Allein die Vorstellung, dass das Blut auf seiner Haut trocknete, rief tiefe Abneigung hervor. Am liebsten wollte er sich das Shirt über den Kopf ziehen und von sich schleudern. Nachdem der Lada sein Leben ausgehaucht hatte, war es wichtiger, sich eine andere Möglichkeit abzuhauen zu suchen. Er musste schnell weg, je weiter desto besser. Scheiße eigentlich. Er warf dem Fahrer einen Blick zu. Wenn die Karre nicht extrem gut klimatisiert war, würde es elend heiß werden und der Typ würde sich wundern, weshalb er den Pulli nicht auszog … ach verdammt! Er knäulte sich auf dem Sitz zusammen. Dort wo sich der Fleck befand, hatte er das Gefühl, dass seine Haut kribbelte, heiß wurde, sich entzündete und … Nur nicht daran denken! Was war jetzt wichtiger? Weit weg von Bayern sein, mindestens zwei, drei Bundesländer zwischen sich und die Leichen bringen. Die Klamotten konnte er auf einem Rasthof-Klo loswerden. Gänsehaut bildete sich. Die Härchen auf seinen Unterarmen richteten sich auf. Mit dem Schauder kehrte der Widerwille zurück, die innere Wand aus dunstigen, abweisenden Emotionen. Der Typ fährt nach Berlin. Jens drängte seine Gefühle in eine andere Ecke. Denken half. Berlin – das war an sich gut. Vor einigen Monaten kamen Briefe und Karten mit dem Berliner Poststempel von seinem Bruder Till - Zottel. Bei dem konnte er hoffentlich für eine Weile bleiben. Blieb die Frage, ob Till sich dort noch herumtrieb? Vielleicht war er auch weiter gezogen, nach Potsdam, Frankfurt an der Oder, Schwerin, Rostock oder über die Grenze nach Polen. Scheiße, selbst das wusste Jens nicht wirklich. Er hatte keine Gelegenheit gehabt mit Till zu sprechen. Sein Bruder besaß kein Handy. Er konnte es nirgends aufladen; nicht in seiner Bauwagen-Bude, die weder Strom noch warmes Wasser hatte. Wie konnte er ihn erreichen? Vielleicht über die Punks am Alex? Sicher war diese Informationsquelle nicht. Ach verdammt! Alles Mist! Er schob seine Kapuze zurück und lockerte das hässliche Basecap, das er in seiner Panik von Marco mitgenommen hatte. Unter dem Schweißband juckte seine Haut. Bis hierhin hatte es ihm trotz allem gute Dienste geleistet. „Nimm die Füße vom Sitz!“ Was? Jens sah irritiert zu dem Fahrer. Erst jetzt merkte er, dass er beide Beine angezogen und auf die Sitzkante gestellt hatte. Der Typ warf ihm einen pissigen Blick zu. Wenigstens wirkte es im Licht der Armaturen so. Scheiße, ist der mies drauf! „Ja. Okay.“ Jens gehorchte und streckte beide Beine in den weiten Fußraum des Trucks. „Besser?“ Der Typ antwortete nicht, sondern starrte auf die dunkle, leere Autobahn. Ach fuck! Er verdrehte sich für diese Flucht. Normalerweise wäre es Jens egal gewesen. Er hätte eher noch mehr gemacht um aufzufallen, aber unter den gegebenen Umständen käme jede unnötige Aufmerksamkeit einem Genickbruch gleich. Wenn er es übertrieb, konnte er sich gleich der Polizei stellen. Der Typ war sein Ticket in die Freiheit und er musste nicht mal was dafür zahlen. Jens‘ Blick strich über die wuchtige, bullige Gestalt. Eigentlich sah der Kerl nicht aus wie die Trucker, mit denen er oft von Hamburg aus nach Frankreich, Italien, Tunesien oder Spanien gefahren war. Dafür hatte der Typ eine zu gute Figur: groß, muskulös, trainiert, auf eine kantige, grobe Art anziehend. Außerdem war er tätowiert, trug Hornohrringe, Piercings, hatte einen Sidecut und einseitig langes, helles Haar. Wasser rann aus den einzelnen Strähnen und durchweichte das Muscle-Shirt. Scheinbar hatte er die Gothic-oder Metallerzeiten der Endachtziger und Neunziger vollständig mitgenommen. Gerade weil er nicht mehr so jung sein konnte, wirkte er markant, grimmig, einfach nur sehr geil. Andererseits vermittelte der Type eine deutlich wahrnehmbare Anspannung, die sich in seiner Haltung und seinen Zügen abzeichnete. Sein breiter Kiefer mahlte. Er wirkte wütend. Wahrscheinlich bemerkte er es nicht. Das machte ihn umso heißer. Was, wenn er mit sich rang, den nächsten Parkplatz ansteuerte und … Marco. Erneut fühlte Jens tiefen Ekel; dieses Mal auch vor seinen Überlegungen. Marco war tot. Trotz allem blieb der Wunsch nach etwas mehr Sicherheit zurück. Dieser große Kerl vermittelte sie, warum auch immer. Vielleicht lag es daran, dass er den Eindruck machte, nichts könne ihn erschüttern. Einen solchen Mann bekam man nicht als One-Night-Stand in einem Club ab, anders als Marco. Er war schon das Beste im Candy Club an der roten Sonne. Ach Scheiße, er hätte sich einfach nicht von Marco abschleppen lassen sollen! Jens schloss die Augen. Abweisen konnte er ihn nicht. Sie wollten es beide, sofort. Dieser hübsche Kerl war so offen und heiß gewesen. Für Marco gab es keine Tabus. Er machte es überall, wo er wollte, und er schämte sich für nichts. Es gefiel ihm, beobachtet zu werden. Er war durch und durch ein Exhibitionist. Allein das war unglaublich. Ihr Fick im Hausflur einer schmuddeligen Klitsche aus der Weimarer Republik - Marco hatte es scharf gemacht, weil sich die Leute darüber lautstark aufregten. Es war total geil gewesen. Aber alles danach … Jens vergrub das Gesicht in den Händen. Fuck, echt … Er fühlte sich elend. Wenigstens quasselte sein Fahrer ihn nicht voll, wie es andere gern taten. Der Typ hielt das Maul und fuhr nur. Selbst die Mucke ging, auch wenn Jens Metal nicht sonderlich mochte. Wenigstens lief kein Hit- oder Schlager-Radio. Radio?! Der Gedanke ließ ihn zusammenfahren. Sicher hatte die Polizei eine Suchmeldung zu ihm rausgegeben. Es würde bedeuten, dass alle Stadtausgänge, Bahnhöfe und der Flughafen in München überwacht wurden; wenigstens machten es die Fernseh-Kommissare so. Blieb nur zu hoffen, dass nach erfolgloser Suche nicht auch die Autobahnen gecheckt wurden. Das wäre richtig Scheiße. Jens ließ die Hände sinken, blinzelte und sank wieder in die Polster zurück. Hoffentlich ging alles gut. Er wandte den Kopf, starrte zum Beifahrerfenster und wartete auf die nächste Abfahrt. Danach kam bekanntlich immer eine Entfernungstafel. Als sie einen Moment später Pfaffenhofen passierten, kroch dumpfe Angst in seine Glieder und setzte sich in seiner Brust fest. Immer noch so dicht an München! Warum konnte der Kerl nicht mit einem BMW unterwegs sein? Auf dem phosphoreszierenden Schild stand Berlin - 550 km bis Berlin … Verdammter Mist. Kapitel 4: 4 ------------ „Wie heißt du eigentlich?“, fragte Christoph. Der junge Mann schrak zusammen. „Jens Di…“ Er biss sich auf die Unterlippe, als wolle er sich dafür bestrafen, seinen Namen genannt zu haben. „Jens“, wiederholte Christoph und nickte langsam. „Wenn du Wasser brauchst, hinter deinem Sitz steht ein Sixpack mit Flaschen.“ Vorsichtig, beinahe lauernd nickte Jens. „Cool.“ Er zögerte, bevor er sich ein „Danke“ abrang. Freundlichkeit war nicht sein Ding, auch gut. Sicher hatte der Punk Dreck am Stecken. Drogen vielleicht, oder er war zu Hause rausgeflogen, auf Bewährung, irgendetwas in der Art. Wenn Christoph Zeit fand, würde er Dariusz die Beschreibung von Jens geben. Vielleicht konnte er etwas über ihn herausrecherchieren. Jens schien zumindest sein richtiger Name zu sein, denn die Antwort kam ungefiltert, ohne zu zögern, bevor er sich bei seinem Nachnamen unterbrochen hatte. Kurz warf Christoph ihm einen Blick zu. Jens fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen. Er zögerte. Schließlich schien der Durst zu überwiegen. Er schnallte sich ab und riss das Paket auf. Nachdem er einen guten Teil der Flasche geleert hatte, fragte er nach einem tiefen Rülpsen: „Wie heißt du?“ „Christoph.“ „Christoph“, wiederholte Jens und lehnte sich wieder zurück. „Ich dachte du bist eher von der stillen, unpersönlichen Sorte. Kommen jetzt doch noch lauter Fragen?“ In seiner Stimme lag eine leichte Herausforderung. Ich kann dich auch einfach an der nächsten Tanke wieder rauswerfen, dachte Christoph, sagte aber nichts. Irgendetwas an Jens störte ihn, von seiner persönlichen Eigenart, von Natur aus ein Arschloch zu sein, ganz abgesehen. Sein Blick besaß etwas Unstetes. Jens war nervös, wollte weg. Er floh vor irgendetwas. Vielleicht war es nicht die dümmste Idee Radio und CB-Funk anzustellen, obwohl letzterer von anderen Fahrern gar nicht mehr für interessante Meldungen genutzt wurde. Mit Dariusz zu telefonieren wäre der sicherere Plan. Christoph sah auf die Zeitanzeige in seiner Armatur. Zwanzig nach vier. In zehn Minuten kamen die Schlagzeilen und der Verkehrsfunk. Wenn er es bei Jens mit einem Flüchtigen zu tun hatte, hing es sicher davon ab, was er ausgefressen hatte. Je nachdem musste die Polizei schnell warnen oder beließ es dabei, einfach nur Kontrollen durchzuführen. Er stellte das Radio von MP3 auf Funk um und tippte in der Halterung des Handys auf die Tastenfreigabe. Durch die leichte Bewegung verhakte sich das Ladekabel in der violetten Plastikfigur eines Riesenmonsters, das ein kleines Holzbett auf seinem Schädel balancierte. Eine der wenigen ganz persönlichen Erinnerungen an seine freien Stunden, die er auf Fantasy Cons zugebracht hatte – das lila Monster unter dem Bett. Sacht wickelte er das Kabel von den zierlichen Bettpfosten ab. Er spürte den abschätzenden Blick des jungen Mannes. Egal. Christoph mochte diese hässliche Figur einfach. Nachdem er zwei Mal auf den Hörer getippt hatte, steckte er den Stöpsel der Freisprechanlage in sein Ohr. Das Gerät wählte. „Wen rufst du an?“, fragte Jens unvermittelt. Das Freizeichen erklang. „Wolltest du Gesprächen nicht entgehen?“ Christoph war nicht bereit, die Ironie aus seiner Stimme zu streichen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er Jens‘ ärgerlichen Blick. Darum musste Christoph sich nicht scheren. Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Vor ihm fuhr ein kleines, heruntergekommenes tschechisches LKW-Gespann. Christoph rückte dem langsam fahrenden Container-Tandem zu nah. Mit einem Blick in den Seitenspiegel sah er, dass die Mittelspur leer war. Er blinkte. Das Freizeichen erklang, nur um sofort unterbrochen zu werden. „Chris, was ist los?“, meldet sich Dariusz. „Wird’s nichts mit unserem gemeinsamen Frühstück?“ Christoph blieb ihm die Antwort schuldig. Er zog raus. „Chris?“, fragte Dariusz. „Doch schon“, er zögerte und warf Jens, der ihn anstarrte, einen Blick zu. Die Körpersprache des jungen Mannes verdeutlichte, wie wach und angespannt er war. Seine Arme hielt er vor der Brust verschränkt, als könne er sich damit vor jedem Gegner schützen. Ebenso presste er die Lippen aufeinander, sodass sie ein blutleerer Strich mit zwei silbrig schimmernden Piercings waren. Sein Blick brannte. Augenscheinlich gefiel ihm das Telefonat nicht. „Ich habe einen Anhalter dabei, Dariusz. Ich hoffe, dass das für dich okay ist?“ Christoph trat aufs Gas und zog an dem Truck vorbei. Kurz schaute er zu Jens. Eine ganze Welt an Emotionen schien über dessen‘ Züge zu huschen: Schrecken, Ärger, Angst, Misstrauen und alle feinen Nuancen, die die Bereiche dazwischen ausfüllten. Irritierend. „Seit wann kündigst du das bei mir an?“, Dariusz schwieg kurz. „Ein Anhalter?“, In seiner Stimme schwang Misstrauen mit. „So ein junger Mann zwischen achtzehn und fünfundzwanzig?“ Scheinbar hatte Dariusz bereits etwas im Radio gehört. „Ja“, entgegnete Christoph, wobei er versuchte neutral zu klingen und nicht noch einmal hinüber zu sehen. „Du kannst sicher nicht offen sprechen, denke ich?“, Dariusz‘ Tonfall machte Christoph nervös. Wen hatte er sich in den Wagen geholt? „Genau.“ „Nicht gut.“ Dariusz unterbrach sich. Durch den Lautsprecher vernahm Christoph die Druckluft-Hupe. „Scheiß-Verkehr!“ Er hupte noch einmal. „Okay, ich weiß nicht, ob du den Kerl bei dir im Wagen hast, aber er soll in der Münchner Schwulenszene einen jungen Burschen erschlagen haben und laut Zeugenaussagen hat er auch eine Polizistin umgebracht, beides vor vielleicht drei oder vier Stunden.“ Christoph konnte gerade noch an sich halten, bevor er nach Details fragte. Er musste die Nachrichten hören. Eine genauere Täterbeschreibung wäre gut. Dann würde sich zeigen, ob er einen harmlosen Punk im Wagen hatte oder einen Schwerverbrecher. In seinem Nacken kribbelte es. Die Härchen stellten sich auf. Er umfasste das Lenkrad fester. Würde er jetzt die Nachrichten laut aufdrehen, zwang er Jens zum Handeln –sofern er der Gesuchte war. Vielleicht konnte er mehr über Dariusz erfahren. „Und weiter?“, fragte Christoph, wobei er sich zwang ruhig zu bleiben. „Piercings, helles T-Shirt mit Motivaufdruck oder Spruch, ausgewaschene Hose und Sneaker. Er hat einen Rucksack dabei und ist bewaffnet. Du solltest aufpassen, Chris.“ In Dariusz Stimme schwang ehrliche Sorge mit. Nicht ganz ohne Grund. Die Beschreibung traf zu. Wahrscheinlich trug Jens ein T-Shirt unter dem dicken Pulli. Das erklärte auch, warum er sich so etwas im Juli antat. Jens hatte sich nach vorn geneigt und durchwühlte seine Tasche. Was suchte er? Eine Pistole? Christoph musste sich zusammen nehmen, ihn nicht zu beobachten. „Ist okay, Dariusz, wir sehen uns dann zum Frühstück.“ Hoffentlich klang er nicht so steif wie auf einer Bandansage. „Hoffen wir es. Wenn du kannst, werd‘ deinen Anhalter los. Nicht nur, dass er gefährlich sein könnte, er stört auch bei unserem Auftrag, Chris, vergiss das bitte nicht!“ Christoph stöhnte leise auf. Leider hatte Dariusz recht. Es gefiel ihm nicht, immer wieder von einem jüngeren Mann an seine Pflichten erinnert zu werden. „Ich weiß, bis später.“ Er streckte die Hand nach dem Handy aus und drückte den roten Telefonhörer, ohne recht hinzusehen, bevor er die Lautstärke des Radios einstellte. Wenn Jens reagierte … „Mach es aus!“, zischte Jens. Die Schärfe in seiner Stimme entsprach gar nicht mehr der schnodderigen Art, die er bisher an den Tag gelegt hatte. Der Meldejingle von Bayern 3 kündigte die Nachrichten an. „Was?“ Christoph sah aus dem Augenwinkel zu ihm. Jens hockte in der gleichen Position da, in der er seinen Rucksack durchsucht hatte. In seiner Rechten lag eine dunkle Pistole, eine P7, wie Christoph erkannte. Kapitel 5: 5 ------------ „Mach das Fuck-Radio aus, Mann!“, wiederholte Jens mit aller Schärfe, zu der er fähig war. Leider klang es in seinen Ohren nur nach einem quengelnden Kind. Er hasste sich dafür. „Sonst was? Schießt du?“ Christoph klang so unerträglich selbstsicher und kalt. Ihn schien die Pistole kein bisschen zu erschrecken. Was war in dem Kopf des Mannes so kaputt, dass er nicht wenigstens zusammenzuckte? Jens lief ein Schauder über den Rücken. Der Typ war emotionslos und abgebrüht. Vielleicht hätte Jens sich besser nicht auf ihn einlassen sollen. Dabei hatte Christoph vor der Raststätte angenehm ruhig ausgesehen, wie jemand, mit dem sich auskommen ließ … Jens schluckte. Seine Hand wurde feucht. Er krampfte die Finger fest um den Griff der Waffe. Eigentlich war sie lächerlich klein, aber sie wog viel. Seltsam. Vor ein paar Stunden, als er sie aufgehoben und eingesteckt hatte, war sie ihm wesentlich leichter vorgekommen. Vielleicht eine Sinnestäuschung? In dem Moment hatte seine Körper reines Adrenalin durch die Adern gepumpt. Er wusste ohnehin nur schemenhaft, was passiert war. Eine Reihenfolge in den Ereignissen gab es in seiner Erinnerung nicht. Alles lief ineinander. Gedanken, Gefühle und Wahrnehmung gerannen zu einem dunklen, schattigen Nebeltanz ohne Konsistenz. Unheimlich … „Ich schieße, wenn …“ Christoph fiel ihm ins Wort. „Dann rauscht mein Truck führerlos irgendwo rein. Das ist sicher nicht in deinem Sinn.“ Er klang so entsetzlich rational … Jens blieb nichts übrig, als notgedrungen zuzustimmen. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Hitze verteilte sich mit feinen Stichen direkt unter seine Haut. Ihm trat Schweiß auf die Stirn. Das verlief überhaupt nicht gut. Christoph drehte das Radio noch lauter, sodass die Stimme des Sprechers die ganze Fahrerkabine ausfüllte und sich als zusätzliche Vibration in Boden und Tür fortsetzte. „Zum Schluss bittet die Münchner Polizei um Mithilfe. Im Zusammenhang mit dem Doppelmord an einer Polizistin und einer Zivilperson in München Giesing wird ein unbekannter Täter gesucht.“ Die Worte elektrisierten, rannen wie Lava durch Jens‘ Adern in seinen Verstand und explodierten in seinen Schläfen. „Zeugenaussagen zufolge ist der Tatverdächtige zwischen 18 und 28 Jahren alt, etwa 1,75 bis 1,85 Meter groß und schlank. Er trägt ein auffälliges, helles T-Shirt mit Aufdruck, helle Hosen, Turnschuhe und ist vermutlich der Schwulen – und Punk-Szene zuzuordnen. Möglicherweise ist er mit einem gestohlenen braunen Lada Niva unterwegs, Amtliches Kennz…“ Jens schlug mit dem Kolben auf die flachen Knöpfe des Radios ein, bis der Druck in seinem Schädel nachließ und nur noch das Brummen des Motors zu hören war. Selbst danach konnte er nicht aufhören. Zerstören, das Ding für immer zum Schweigen bringen! Irgendetwas riss seine Hand auf. Blut spritzte auf das Display. Egal, wenigstens schwieg dieses Scheiß-Radio endlich. Jens sank zurück. Er fühlte sich zittrig und erschöpft. Zugleich glaubte er zu spüren, wie sich der Boden unter ihm auftat. Er fiel – endlos tief. Grauenhaft. Gab es aus dieser Situation einen Ausweg? Christoph schwieg. Er fuhr stur weiter, ohne mit der Wimper zu zucken. Wahrscheinlich hatte sein Gesicht nicht einmal Farbe verloren, aber das ließ sich bei der einsetzenden Dämmerung nicht sagen. Gab es überhaupt etwas, das diesen Kerl erschütterte? Plötzlich wandte Christoph den Kopf. Kalte Wut lag in seinem Blick. „Der Truck gehört mir und ich bin kein besonderer Fan davon, dass du mir die Armatur zerschlägst.“ Seine Stimme klang ruhig. Sie zitterte kein bisschen. Für einen Moment war Jens versucht klein beizugeben. Dieser Typ schüchterte ihn ein. Christoph war eiskalt und schien Gefahren vollkommen anders wahrzunehmen als jeder andere. War er verrückt oder wirklich so tough? Wahrscheinlich gab sich Christoph nur überlegen. Er konnte nicht so abgebrüht sein. Langsam entspannte sich Jens und ließ sich in den Sitz fallen, ohne die Waffe aus der Hand zu legen. Er zielte sogar absichtlich auf Christophs Seite. Vielleicht machte ihn das nervös. „Mir egal. Du solltest dir lieber Sorgen machen, dass wir ausreichend schnell nach Berlin kommen!“ Christoph lachte humorlos auf. „Klar! Ich fahre einen Vierzig-Tonner. Mal schauen, ob ich den nächsten PKW überholen kann.“ Mit einem spöttischen Seitenblick fügte er hinzu: „Du hast dich in der Wahl deines Fluchtwagens geirrt; nicht nur mit der Krücke von Lada, sondern auch mit meinem LKW. Ich kann aus einem voll beladenen Wagen, auf dem Zollfracht ist, nicht mehr rausholen als das, was ich gerade fahre. Bei 90 Stundenkilometern ist Sense.“ Vermutlich hatte Christoph recht. Jens war aufgefallen, wie langsam der Truck vorhin vom Rastplatz gerollt war. Die Maschine hatte zu arbeiten und es ging über weite Strecken bergauf. Er stöhnte. „Scheiße!“ Kapitel 6: 6 ------------ Christoph zuckte die Schultern. Er schwieg wieder. Es brachte nichts, Jens noch nervöser zu machen, als er ohnehin schon war. Der Kerl hielt eine P7 in der Hand, die Dienstwaffe der bayerischen Polizei. Diese Waffe lud automatisch nach und allein durch den festen Griff um den Kolben hatte dieser Trottel sie entsichert. Jens war also wirklich der Doppelmörder, nach dem gefahndet wurde. Christoph konnte sich gerade noch davon abhalten, zu ihm hinüber zu schauen. Ihm rann eine Gänsehaut über die Arme. An seiner Schläfe zog die Verbrennung und in seinen Eingeweiden riss die Erinnerung an die Kugel. Ihm spülte Magensäure in den Mund. So konnte er sich nicht sonderlich gut auf die Autobahn konzentrieren. Glücklicherweise lief der Verkehr noch immer sehr dünn Richtung Norden. Die paar anderen LKWs störten nicht und die wenigsten fuhren schneller oder langsamer als Christoph. In spätestens einer halben Stunde würde allerdings der Berufsverkehr einsetzen. Bis Nürnberg wäre die A9 sicher ziemlich verstopft. Die erzwungene Aufmerksamkeit auf die Straße half ihm sich von Jens und der Gefahr, die er bedeutete, für eine Weile abzulenken. Christoph setzte zum Überholen an und trat das Gaspedal durch. Schwerfällig kroch die Maschine vorwärts, an den Sattelschleppern vorbei. Weiter vorn flackerte orangegelbes Licht auf einem Kleinbus, vor dem ein Schwertransporter über die Straße kroch. So gut es ging beschleunigte Christoph. Die Tachonadel arbeitete sich über neunzig Stundenkilometer hinaus und näherte sich der fünfundneunzig. Seine Gedanken drifteten ab. Wie würde Dariusz nach ihrem Telefonat reagieren? Würde er die Behörden informieren? Das wäre das Wahrscheinlichste. Aber eine Verhaftung auf der Autobahn konnte schief gehen. Oder wartete er eher am vereinbarten Rasthof? Vielleicht hatte er auf einem Parkplatz angehalten, um sich hinter Christophs Truck zu setzen? Leider hatten sie keine Möglichkeit gehabt sich abzusprechen. Obwohl sie bereits drei Jahre miteinander arbeiteten, fiel es Christoph schwer, seinen polnischen Partner einzuschätzen. In jedem Fall konnte die Situation unangenehm werden. Auf Probleme und eine Schießerei konnte er gut verzichten. Besser er rechnete mit allem. Hauptsache, er behielt einen kühlen Kopf und brachte die Situation wieder unter Kontrolle. Mit einer Hand tastete er nach den Menthol-Kaugummis, die in seiner Beintasche steckten. „Was machst du da?!“, schrie Jens. „Lass die Finger weg!“ Er hatte sich wachsam aufgerichtet. Christoph zog die Hand zurück. Das war eine blöde Idee gewesen! Er tippte gegen seine Hose. „Kaugummi.“ Verständnislos starrte Jens ihn an. „Was?“ Seine Stimme hatte an Kraft verloren. Er begriff tatsächlich nicht. „Ich habe ein Päckchen Kaugummis in der Hosentasche“, erklärte Christoph. Jens sank zurück. Er dachte scheinbar nach. Vielleicht war das der passende Moment, um die Situation etwas zu entspannen. „Schießt du gleich, oder darf ich mir einen nehmen?“ Sacht richtete Jens sich auf und versuchte Christophs Bein zu erreichen. Sein Arm war zu kurz. „Sieht das aus, als würde eine Waffe in meine Hosentasche passen?“, fragte Christoph betont gelassen. Mit der Antwort ließ Jens sich Zeit. Er musterte Christoph lang und eingehend. „Meinetwegen, mach. Aber vergiss nicht, dass ich die Pistole habe.“ Ja, und du hast keinen Schimmer, wie man damit umgeht! Christoph griff in seine Beintasche. Das Päckchen hatte seine Körpertemperatur angenommen. Mit dem Daumennagel schnitt er ins Papier und ließ einen der lasierten Kissen auf seine Zunge fallen. Die klare, süße Kälte half sofort, das widerwärtig saure Brennen in seinem Mund zu vertreiben. Entspannend. Für einen Moment gelang es Christoph wieder, Jens auszublenden. Über dem Flachbau der Raststätte Köschinger Forst begann der Himmel in rotgoldenem Licht zu glühen. Der Morgen drängte die Nacht zurück und verwandelte die Schwärze in diffuses Grau, an dessen Rändern sich türkisgrüne Ausläufer bildeten. Der Tag versprach klar, schön und sehr heiß zu werden. Christoph warf einen Blick auf die Thermometeranzeige: 23°C, schon jetzt. Aus dem Augenwinkel betrachtete er Jens, der sich in seinem dicken Pulli wie festgefroren in den Sitz drückte, die Waffe in der Hand. Das war die Realität: Ein junger Mann mit einer Pistole … Jetzt wurde Christoph kalt. Er konnte sich nicht ewig zwangsberuhigen. Jens war ein Polizistenmörder. Andererseits stellte sich ihm die Frage, ob der Doppelmord zweifelsfrei fest stand. Jens wirkte wütend, haltlos, aber auch stark verunsichert. Besaß er tatsächlich ausreichend Kaltblütigkeit, um zwei Menschen umzubringen? So wie sich der Punk bisher verhalten hatte, passten Körpersprache und Reaktionen nicht dazu. Das Zertrümmern der Anlage war ein Indiz für Jens‘ Panikhandlungen. Dabei hätte sich leicht ein Schuss lösen können. Wahrscheinlich wusste der Bursche nicht einmal, mit was für einer Pistole er um sich schlug und wie man sie benutzte. Christophs P30 besaß wenigstens noch einen Spannhahn. Das konnte ihm – sollte Jens doch noch durchdrehen - im Verteidigungsfall zum Nachteil gereichen, denn die P7 hatte immer eine Kugel im Lauf. Nein, Jens war ahnungslos. Der Punk hatte mit Sicherheit gravierenden Mist gebaut, aber für einen Mörder reagierte er zu dünnnervig. Die Sorte Mensch, die skrupellos tötete, handelte klug, kalt und überlegt. Jens‘ hitzige Natur richtete sich gerade gegen ihn. Selbst wenn er am Tod der beiden Menschen Schuld trug, konnte es nur im Affekt geschehen sein. Jens plante nicht, er reagierte nur. Er kontrollierte die Situation nicht, sondern wurde mitgerissen. Aber vielleicht war das die Möglichkeit, einen Ansatz bei ihm zu bekommen. Nicht er bestimmte das Spiel. Trotz allem bestand die Gefahr, dass Jens an irgendeinem Punkt überreagierte und weiteren Mist baute. Blieb zu hoffen, dass seine Gefühle nicht weiter hochkochten und er sich in die Ecke gedrängt fühlte. Christoph blinzelte kurz. Er versuchte die Gedanken zu vertreiben. Irgendwann spiegelten sie sich sicher auf seinem Gesicht wieder. Besser, er konzentrierte sich auf die Straße und behielt Funk und Telefon im Auge. Jens war glatt in der Lage, sein Handy aus dem Fenster zu werfen. Vielleicht – wenn er vorsichtig vorging - konnte Christoph die Lage so weit entspannen, dass der junge Mann redete und etwas von den Ereignissen erzählte - hoffentlich. „Was ist mit diesem Dariusz, wer ist das?“, fragte Jens unvermittelt. In seiner Stimme schwang Angst mit. Christoph musste ihn beruhigen. „Dariusz ist mein Partner.“ Er warf Jens einen Blick zu. „Die LKWs, die wir fahren, gehören uns. Wir sind nicht fest bei einer Spedition angestellt, sondern freie Mitarbeiter, Subunternehmer, wenn du es so willst.“ „Und weiter?“ Jens wirkte angespannt. „Ich verstehe deine Erklärung nicht.“ Christoph hob demonstrativ eine Braue. „Wenn du mich ausreden lässt?“ Jens hielt tatsächlich den Mund. „Wir arbeiten im Grunde beide für die gleiche Firma, die uns unter Vertrag hat – wie das Wort Subunternehmer bereits sagt.“ Er machte eine Pause und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr, der zunahm. „Deswegen fahrt ihr zusammen?“, fragte Jens nach einer Weile. Christoph brummte und nickte kurz. Ein japanischer Kleinwagen schlich mit weniger als achtzig Stundenkilometer auf der mittleren Spur. Ihm blieb nichts anderes, als den PKW rechts zu überholen. Er schenkte es sich, den Fahrer anzuhupen, das taten die Trucker hinter ihm bereits. „Ist das so wie bei der Serie Auf Achse?“ Überrascht hob Christoph den Blick. „Bist du nicht noch ein bisschen arg jung, um die Serie zu kennen?“ Jens schluckte die Entgegnung hinunter, die ihm auf der Zunge zu liegen schien,. „Es ist nicht ganz so“, sagte Christoph leise. „Dariusz und ich sind nicht wie Meersdonk und Willers. Die Serie spiegelt den Stand der 70er und 80er Jahre wieder.“ Er dachte unwillkürlich an die beiden Schauspieler Manfred Krug und Rüdiger Kirschstein. In letzteren war er als Junge ziemlich verliebt gewesen. Die Rolle des Günther Willers hatte ihm großen Eindruck gemacht, obwohl er die Souveränität von Franz Meersdonk mehr gemocht hatte. Serien seiner Kindheit und Jugend, Teil seiner Wünsche und feuchten Träume … Jens brachte ihn dazu, daran zu denken. Seltsam, so falsch der Zeitpunkt auch war, Christoph musste lächeln. Kapitel 7: 7 ------------ Das Lächeln auf Christophs Lippen wirkte beinah freundlich. Woran dachte er? Was sollte Jens von einem Mann wie ihm halten? Durch die reine Erwähnung der Serie war die Frage nach diesem Dariusz abgerückt. Wie sollte Jens nun ansetzen, um nicht das letzte bisschen Sicherheit und Bedrohlichkeit zu verlieren? Verdammt auch! Er ließ die Waffe sinken und legte sie zwischen seinen Beinen auf der Sitzfläche ab, behielt aber beide Hände griffbereit darüber verschränkt; zum Schutz. Was immer Christoph machen konnte und wollte, Jens war bereit zu reagieren. Während die Sonne langsam aufging und ihnen immer wieder in die Augen stach, schwiegen sie beide. Christoph musste seine defensive Haltung bemerkt haben, sagte aber nichts dazu. Er fuhr ruhig gegen den zunehmenden Verkehr an. Langsam wurde es wärmer im Führerhaus. Jens‘ Hals fühlte sich trocken an, seine Zunge klebte wieder am Gaumen. Zugleich rieben die Hautschüppchen unter seinen Snakebites. Trinken wollte er dennoch nicht. Dafür hätte er beide Hände gebraucht. Die Chance, dass ihm Christoph die Waffe wegnahm, wollte Jens ihm nicht geben. Durch die riesige Windschutzscheibe fiel das Sonnenlicht ungefiltert ein. Die Blenden reichten in keiner Weise. Christoph schien es gewohnt zu sein. Als sie die Abfahrt Denkendorf passiert hatten, gabelte sich die Autobahn nach einer Seite in einer lang gezogenen Ostkurve und stieg an. Instinktiv überschattete Jens seine Augen. „Gibst du mir bitte mal die Sonnenbrille?“, fragte Christoph, als sei seit ihrem Aufbruch vom Rasthof nichts geschehen. Irritiert blinzelte Jens. „Was?“ Er starrte Christoph an, der mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen auf die Autobahn starrte. Mehrere PKWs und ein Reisebus überholten ihn. Vor ihm kroch ein Tanklaster den bewaldeten Berg hinauf. Christoph war zu schnell und die mittlere Spur zu voll mit Fahrzeugen. Er musste abbremsen. Die Geräusche von Motor und Bremsanlage hörten sich eigenartig konträr an; sonores Brummen und zischendes Stottern. Das Führerhaus neigte sich nach vorn. Jens wurde hart in den Gurt geworfen und ins Polster gedrückt. Sein Rucksack kippte um und die Wasserflasche fiel. Instinktiv griff er nach – und verlor die Pistole aus der Hand. Erschrocken sog Jens die Luft ein. Glücklicherweise blieb sie auf seinem Rucksack liegen, außerhalb von Christophs Reichweite. Mit einem Seitenblick bemerkte er, dass sich in dessen steinerner Miene noch immer keine Gefühlsregung zeigt. Aber Christoph schien auch nicht bemerkt zu haben, dass Jens kurzzeitig keine Waffe mehr in der Hand hielt. Rasch sammelte er sie ein und umklammerte den Griff. Mit unbewegtem Gesicht stierte Christoph auf den Tanklaster, der entsetzlich nah zu sein schien. Der Abstand zu dem silbernen Wagen betrug nicht mehr als einen halben Meter, wenn überhaupt. Wahrscheinlich war alle Farbe aus Jens‘ Zügen gewichen, er wusste es nicht, aber die prickelnde Kälte unter seiner Haut nahm zu und wurde zu lähmendem Schrecken. Er versuchte jedes Geräusch zu unterdrücken, als er trocken schluckte. Der Verkehr lief weiter. Nun kroch Christoph genauso langsam wie der Tankzug. An ihnen zogen Bäume und Felsen vorüber, zugleich fiel auf der Beifahrerseite die Strecke – jenseits der Leitplanke – tief ab. Mühsam rang Jens nach Luft. „Du bist nicht halb so tough wie du versuchst mir weis zu machen, Jens.“ Christophs Stimme klang nüchtern und sehr rau. Hitze zuckte mit den Worten durch Jens‘ Kopf. Was sollte das denn wieder? Bevor Jens reagieren konnte, fügte Christoph an: „Du bist kein berechnender Mensch. Mich würde interessieren, wie du in die Situation gekommen bist.“ Wie? Glaubte er nicht an das, was im Radio gesagt wurde? Nein, das musste ein Trick sein. Dieser Mann interessierte sich doch nicht für das Schicksal anderer Leuten. Jens kniff die Augen zusammen. „Ich war’s nicht.“ Er versuchte so kalt wie möglich zu klingen. Es misslang. Seine Stimme schwankte. Aus irgendeinem Grund wollte er, dass Christoph ihm glaubte. „Du hast sicher schon einigen Mist gebaut. Würde mich nicht wundern, wenn du vorbestraft wärst, aber ich würde auf Diebstähle tippen, Vandalismus, gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei oder linke Demos, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du jemand umbringen würdest, nur weil er schwul oder bei der Polizei ist.“ Irgendwie traf jedes Wort zu. Jens seufzte und starrte auf die Pistole in seiner Hand. Er nickte. Plötzlich fühlte er sich unendlich müde. Er hatte keine Kraft mehr. Die Nacht, die beiden Toten, das Blut, das schließlich auf seiner Haut getrocknet war und einen harten Panzer aus seinem Shirt gemacht hatte, das langsame Sterben und die Brutalität an Marco, das gellende Keifen der Frau, der peitschende Knall … all das wog mehr, als Jens aushalten konnte. Er musste Ruhe finden, irgendwie, auch wenn er keinem außer Till wirklich vertraute, aber von dem wusste er nicht mal, wo er gerade abhing. Wäre sein Bruder doch hier. „Ich habe Marco in einer kleinen Schwulenkneipe aufgerissen …“ Kapitel 8: 8 ------------ Überrascht warf Christoph Jens einen Blick zu. Der junge Mann kauerte im Sitz und wirkte klein und schutzlos, auch wenn beides nicht auf ihn zutraf. Jens rang nach Luft. „Ich bin mit ihm gegangen, schließlich hatte ich nichts, wo ich hätte pennen können. Ich war ja eigentlich auf dem Weg nach Süden.“ Er schob seine Kapuze zurück und nahm mit der linken Hand das Basecap ab, was so gar nicht zu ihm passte. Mit dem Handrücken wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn. Seine Finger zitterten. Trotz allem klammerte er sich noch an die Waffe. „Marco war ein Exhibitionist. Es hat ihn geil gemacht, wenn ihn jemand beim Ficken beobachtet hat. Er ging ab … unglaublich.“ Jens hob die linke Hand, behielt die rechte aber auf der Pistole. „Ich glaube, zwischen dem Candy und seiner Wohnung haben wir uns schon so aufgegeilt …“ Er unterbrach sich. „Mir hat noch keiner in der Tram einen runter geholt und sich dabei selbst befriedigt.“ Christoph schwieg. Was sollte er dazu sagen? Er hatte schon ganz andere Sachen gemacht. Im Regen an einer Bushaltestelle, im LKW, auf Rastplätzen, in öffentlichen Duschen, in Toiletten, im Schwimmbad, in Telefonzellen, als Teenager sogar im Klassenzimmer auf dem Lehrerpult und in der Sporthalle; es gab tausende Orte, die die Lust anheizten und für Ärger sorgten. Aber das war sicher nicht der Grund, weswegen Marco sterben musste. Jens direkt zu fragen wäre sicher in seinem momentanen Redefluss nicht klug gewesen. Er gefiel sich in der Rolle des Sex-Schockers. Sollte er, Christoph konnte warten. „Marco war wirklich hübsch. Er diese dunkle Haut und helle Haare. Wenn du ihn gesehen hättest, du wärst nicht auf den Gedanken gekommen, was er so alles reißt. Er kannte einfach kein Ende.“ „Marco war sicher in deinem Alter, da ist es normal, dass man alles mitnimmt und auslebt.“ Jens knurrte leise. „So scheiße bin ich nicht, klar?“ Der Spruch kam falsch an. Christoph nickte. „Das habe ich auch nicht gesagt. Ich meinte, dass Marco alles erleben wollte, besonders wenn er in einem biederen Umfeld gelebt hat.“ „Bieder?“, wiederholte Jens nachdenklich. „Da triffst du den Punkt. Giesing ist schmierig und widerlich verlogen. Die sind alle so furchtbar …“, er stockte und hob schließlich die Schultern, „mir fällt kein passender Begriff ein.“ „Für dich sind die Leute in der Zeit stehen geblieben. Sie stören sich an allem, was jung und wild ist.“ Christoph kannte das Gefühl selbst zu gut. Er konnte nachempfinden, was Jens und Marco gedacht und gefühlt hatten. Ihm ging es bis heute nicht anders. Ausgerechnet seine Generation war die altbackene, brave, die Extravaganzen und sexuelle Selbstfindung nicht akzeptierten. „Du hast recht“, murmelte Jens träge. „Ich weiß.“ Christoph konzentrierte sich wieder auf die Straße. Nach einer Weile drang Jens‘ leises Schnarchen zu ihm. Erschöpft, vollkommen. Jetzt wäre der passende Moment abzufahren, um anzuhalten. Dann hatte Christoph eine Chance ihm die Waffe vorsichtig abzunehmen. Vermutlich war das nicht die klügste Idee. Langsam öffnete sich Jens ihm gegenüber. Dieses Vertrauen konnte er nicht missbrauchen. Es war noch viel zu instabil. Trotzdem brauchte Christoph eine Pause. Er musste den Schreck überwinden und dringend mit Dariusz reden. Vielleicht konnte er ihm helfen, etwas über die Morde in Erfahrung zu bringen und die Situation so weit zu klären, dass sie etwas von ihrer Brisanz verlor. Auch wenn Christoph sicher war, dass Jens ohne Vorsatz an die ganze Sache herangegangen war, blieb immer noch die Option auf Totschlag im Affekt und das machte den jungen Mann durchaus zu einem gefährlichen Faktor. Wenigstens hatte die Polizei bisher ihre Fahndung noch nicht auf die Autobahn ausgedehnt – oder Christoph fuhr den Ermittlern gerade davon. Sicher hatte eine Streife den alten Lada, den Jens geknackt hatte, auf dem Rasthof-Parkplatz entdeckt. Es war klar, dass eine Großfahndung eingeleitet werden musste, etwas, das auch Christophs Plänen quer schoss. Er konnte es gar nicht gebrauchen, mit dem Fall in Zusammenhang gebracht zu werden. Das wäre zum aktuellen Zeitpunkt das allerletzte! Zusätzlich steckte er im Verkehr fest. Ärgerlich presste er die Kiefer aufeinander. Vielleicht hätte er vorhin auf Dariusz hören und die Dusche aufschieben sollen. Dann wäre er Jens nicht begegnet und er wäre erst bei Nürnberg in den Stau gekommen. Mit etwas Glück lief der Verkehr nach der Spurerweiterung gleich wieder wie er sollte. Leider flammten die Rücklichter des Tankwagens auf. Erneutes Stehen … Wenn Dariusz nicht irgendwo auf ihn wartete oder bereits hinter ihm war – was Christoph bezweifelte – so würde er auf der Raststätte sicher vor Nervosität und Sorge Rillen in den Boden laufen. Er musterte Jens, der im Sitz hing, beide Hände im Schoß gefaltet, die Pistole lose unter seinen Fingern. Sein Kopf ruhte auf der Brust. Momentan wirkte er entspannt. Stark verblasste grüne Strähnen fielen ungewaschen in seine Stirn. Er hatte einen unsauber geschnittenen Iro, der traurig herunter hing. Beide Schädelseiten waren von hellblondem Flaum überzogen. Die Farbe trat mit Jens‘ rotem Bartschatten in Konkurrenz. Alles in allem kein hässlicher Mann, aber auch kein schöner – ungepflegt eben. Aber das tat nichts zur Sache. Jens war am Ende seiner Belastbarkeit angekommen. Viel länger hätte er nicht mehr durchgehalten. Langsam floss der Verkehr weiter. Christoph schaltete die Automatik um und rollte an. Nach etwa drei Kilometern lief alles halbwegs normal. Trotz allem fuhr er auf den Parkplatz Offenbau ab. Um diese Uhrzeit waren die meisten anderen Fahrer bereits unterwegs. Die wenigen Fahrzeuge in den schräg angelegten Parkbuchten beruhigten Christoph. Hier konnte er zwei Dinge tun: Dariusz über sein privates Handy anrufen und danach die Toilette aufsuchen. Die Reifen holperten über den unebenen, gerissenen Asphalt bis in einen der Parkplätze. Christoph hielt so, dass der starke Baum- und Buschbewuchs sie vor der Autobahn schützte. Als der Motor erstarb, wurde Jens unruhig. Er wand sich im Sitz, beruhigte sich aber wieder. Das war der Moment, sich auf den Weg zu machen. Christoph zog den Schlüssel ab und öffnete die Tür. Mit etwas Pech schreckte Jens hoch, sobald sie ins Schloss fiel. Dieses Risiko musste er eingehen. So leise wie möglich stieg er aus, sprang auf den Asphalt und ließ die schwere Tür sacht zufallen. Drin rührte sich nichts. Gut so. Zum ersten Mal seit Jens zugestiegen war, konnte Christoph aufatmen. Kapitel 9: 9 ------------ Marcos Schreie wurden immer greller und spitzer. Er wand sich verzweifelt, versuchte sich zu drehen. Seine Nägel krallten sich tief in Jens‘ Arm, bis die Haut riss und der hohe, glühende Schmerz ankam. Er versuchte sich zu schützen, zusammenzurollen. „Du Schwein, schwule Drecksau, Stricher!“ Die hysterisch gellende Stimme zerriss Marcos heiseres Keuchen. Er versteifte sich bei jedem Schlag. Das Licht der Nachttischlampe brach sich auf Metall, Blut spritzte. Marco klammerte sich fest. Jetzt schrie er, atemlos, dumpf. Dann knackte etwas. Sein Gesicht verlor alle Form. Er verdrehte die Augen. Blut spritzte aus dem flachen, in den Schädel geschlagenen Rest, der einmal seine Nase gewesen war … Ein peitschender Knall … Jens fuhr hoch. Sonnenlicht, gefiltert durch die Blätter fiel durch die Windschutzscheibe. Windschutzscheibe? Wo war er, verdammt?! Lag nicht eben noch Marco in seinem Arm und starb? Das blutsteife T-Shirt löste sich knisternd von seiner verschwitzten Brust. Es war heiß und stickig. Jens sah sich um. Das Führerhaus … Ja, richtig, er saß in einem Truck. Er zuckte zusammen. Es war still, zu still. Wohin steckte Christoph? Die Waffe! Entsetzt fuhr er auf. Unter seinen Fingern lag noch immer die Pistole. Das Handy steckte in der Halterung der Freisprechanlage. Nur Christoph fehlte. Jens stierte aus dem Fenster auf einen fast vollkommen leeren Parkplatz. Bis auf zwei weitere Trucks und einen Kleinbus gab es hier nichts, nur Bäume, Grünflächen und ein Toilettenhäuschen. Hatte sich Christoph verpisst und rief vielleicht von einem seiner Kumpels aus die Bullen oder war er auf dem Klo? Jens hielt die Luft an. Vielleicht hatte der Typ ihn hier eingesperrt … Er tastete nach dem Türgriff. Unverschlossen? Irritiert blinzelte Jens. Glaubte Christoph wirklich daran, dass er keinen Mord begangen hatte? Sein Herz schlug schneller. Rasch sah er sich auf dem Parkplatz um. Aus der Toilette kam ein untersetzter Mann in T-Shirt und Jeans. Er schloss gerade seinen Hosenschlitz und ging zu seinem LKW zurück. Ein anderer in grüner Arbeitskleidung schüttelte seine nassen Hände ab und eilte zu seinem Transporter. Kein Christoph … Mit der Zungenspitze befeuchtete Jens seine trockenen Lippen. Wer war der Kerl eigentlich? Der hohe Stich der Neugier überwog sogar die Angst verraten zu werden. Jens öffnete das Handschuhfach. Außer Bordbüchern und Serviceheften lag darin wenig, nur ein paar Arbeitshandschuhe, Magentabletten und weitere Menthol-Kaugummis. Wo bewahrte Christoph sein privates Zeug auf? Jens wandte sich im Sitz um. Hinter ihm lagen Sporttasche und Rucksack zwischen einem weiteren Paar Springerstiefel, Büchern, einer silbernen Militär-Stahltruhe und dem nun offenen Sixpack mit Wasserflaschen. Rucksack? Das war doch eine Idee! Mit einem letzten sichernden Blick auf den nun leeren Parkplatz schnallte er sich ab und stand auf. Glücklicherweise war das Führerhaus halbwegs geräumig. Er schob sich nach hinten, vor die Koje und ging in die Knie. Im Rucksack befand sich ein noch feuchter Kulturbeutel, der den Duft von herbem Duschgel und Deo verströmte, aber auch schmutzige Wäsche. Christoph hatte das Ding dabei gehabt, als er zu seinem Truck zurückgegangen war. Jens wandte sich der Tasche zu und zog den Reisverschluss auf. Saubere Kleidung, auf der Netbook und Laptop standen. Wozu brauchte ein Trucker sowas? Abends Filme schauen, wie? Pornos. Eigentlich passte so etwas nicht zu Christoph. Die Bücher, alles alte rote Goldmann-Krimis, die zerknickt aussahen, bewiesen, dass er wohl eher las. Wozu also all die Technik? Er schob beide Rechner zur Seite und erstarrte. Zwischen zusammengerollten Socken und Boxershorts schaute ein schwarzer Gürtel mit einem Holster heraus. Ihm wurde heiß und kalt. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Eine Pistole? Vorsichtig löste er den Druckknopf und zog die Waffe mit spitzen Fingern heraus. Sie sah etwas anders aus als die seine, dennoch ähnelten sie einander. Er legte sie zusammen auf das Bett. Beide waren von der Marke Heckler & Koch. Unter dem Griff gab es bei beiden schwarze Klebeschilder. Auf der, die Jens der Polizistin abgenommen hatte, stand G. Hansen, und auf Christophs - C. Brehm. Ein Bulle? Unmöglich! Um Jens Kehle schloss sich ein Eisenring. Er konnte plötzlich nicht mehr atmen. Fuck, wer war dieser Christoph eigentlich? Welcher verfickte LKW-Fahrer trug eine Waffe bei sich? Eisige Panik manifestierte sich. Er musste das klären, sofort – oder abhauen? Aber wohin? Der Truck, der noch auf dem Parkplatz stand! Schritte näherten sich. Jens fuhr auf. Fieberhaft starrte er nach draußen. Ein rundlicher Fahrer mit flächigem Gesicht kletterte in seinen Autotransporter. Großer Gott – glücklicherweise war es nicht Christoph! Aber da fuhr seine letzte Chance ab. So eine Scheiße! Jens verstaute die Sachen alle wieder und schob seine Pistole in den Bund. Das weite Hoody verbarg die Waffe. Nun blieb ihm nur noch die Möglichkeit Christoph zur Rede zu stellen. Jens stieß die Tür auf. Die Hitze traf ihn unvorbereitet hart. Er begann automatisch zu schwitzen. Dennoch fühlte es sich noch nicht wie die dicke, kaum zu atmende mittägliche Suppe an, in die sich die Luft in den letzten Tagen verwandelt hatte. Rasch kletterte er aus dem Wagen und sah sich um. Kein Christoph … Vielleicht war er auf der Toilette? Rasch, immer einen Blick auf Zufahrt und Wagen gerichtet, eilte Jens quer über den Parkplatz und prallte zurück, als ein Streifenwagen langsam die Strecke entlang rollte. Der Fahrer hielt hinter Christophs Truck an. Wie es aussah, checkte der Beifahrer das Kennzeichen und sah sich um. Fuck! Nein! Jens versteifte sich. Für einen Moment war er versucht einfach wegzurennen. Aber wie war das doch gleich? Wer fortlief, machte auf sich aufmerksam? Jeder einzelne Herzschlag kam flatternd und hektisch. In seinem Magen ballte sich das bisschen, was er gestern gegessen hatte, zu Blei zusammen. Er hatte gottverdammten Schiss! Hoffentlich bemerkte das keiner. Er schob die Ärmel hoch und rammte die Hände in die Hosentaschen. Seine Finger zitterten. Wahrscheinlich würden die Bullen ihn gleich anhalten. Dann war er im Arsch, geliefert. Die Pistole einer toten Polizistin steckte in seinem Hosenbund. Das Blut seines One-night-Stands verklebte mit seinem Schweiß das Shirt. Er stank nach Sperma und purer Angst. Jens ballte die Hände zu Fäusten, bis sie brannten. Der Weg zu diesem verdammten WC war endlos, so scheiße lang! Hoffentlich schaffte er es ohne umzukippen oder loszurennen Der Wagen fuhr wieder an und hielt wieder. Jens schloss die Augen. Das Zittern seiner Hände setzte sich in seinem gesamten Körper fort. Losrennen? Wenn er sich in die Büsche schlug, hatte er vielleicht eine Chance. Eine Autotür ging auf und schlug zu. Schritte hinter ihm. Stiefel knirschten auf Steinchen und Sand. Nichts, niemand sprach ihn an. Jens drehte sich nicht um, sondern setzte gezwungen ruhig seinen Weg fort. Als er die lackierte, schmuddelige Toilettentür erreichte, klebte sein Shirt vor Schweiß. Sicher hatten sich große, dunkle Flecke unter seinen Armen gebildet. Er stieß die Tür auf. Eine Woge kühler Ammoniak geschwängerter Luft schlug ihm entgegen. Es stank nach Pisse. Durch ein Oberlicht schien die Sonnen auf die dunklen Kacheln. Das Metallwaschbecken war voll mit Papier, was den Abfluss verstopfte, sodass die Brühe darin nicht abfließen konnte. Am Pissoir stand niemand, die beiden Toilettentüren lehnten nur an. Niemand. Wo war Christoph? Hatte er die Bullen gerufen? Jens spürte plötzlich seine Blase. Angst! „Nein, Dariusz, hör zu, mach einfach worum ich dich … ja!“ Christophs Stimme kam von draußen, irgendwo hinter dem WC und drang durch das gekippte Fenster. Mit flatternden Lidern lehnte sich Jens gegen die nächste Wand. Christoph telefonierte mit seinem Kumpel, nichts weiter. Zigarettenrauch zog herein. Stimmte ja, er rauchte. Jens schloss die Augen und vergrub das Gesicht in Händen. „Ja, mach dir mal keine Gedanken um mich, Dariusz. Ich gebe dir Infos, sobald ich mehr weiß. Warte einfach am Rasthof Fläming auf mich, okay? … Ciao.“ Infos?! Etwa über ihn – Jens, den glücklosen Volltrottel? Sein Herz begann wieder zu rasen. Eine Mischung aus Ärger und Unsicherheit stach in seinen Eingeweiden … Schritte näherten sich, zielgerichtet und schnell. Sie endeten vor dem Eingang. Jens zuckte zusammen und fuhr zurück, bis er die Wand im Rücken spürte. „Scheiße“, murmelte Christoph, bevor er die Tür aufstieß und wie angewurzelt stehen blieb. „Jens …?“ Kapitel 10: 10 -------------- Für einen Moment vergaß Christoph den Beamten, der sich gerade umsah. An der schmutzigen Wand lehnte Jens, kreidebleich und nervös. Schweiß stand als schimmernder Film auf seiner Haut. In seinen Augen glomm Angst, die schnell zu Ärger umschwang. „Hast du die Bullen gerufen?“, fragte Jens scharf. Christoph schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich glaubte ihm dieser elende Dickschädel nicht. Völlig egal. Jetzt galt es ruhig zu bleiben, nein, Ruhe zu demonstrieren. Er trat an das Pissoir und öffnete seine Hose. Jens war mit wenigen Schritten bei ihm. Er packte Christophs Oberarm und riss ihn herum. Das ging zu weit! Christoph schlug seine Hand weg und stieß ihn zurück. Jens taumelte, fing sich aber an der Wand. Er federte in Christophs Richtung, blanke Wut in den Augen. Er war überreizt, fertig und konnte nur noch um sich schlagen. Eine andere Ausdrucksform blieb ihm in seiner Unsicherheit nicht mehr. Der Moment der Eskalation war erreicht. Hoffentlich lag Jens‘ Pistole im LKW. Christoph suchte besseren Stand und machte sich bereit. Jens duckte sich, zog den Kopf ein und schob die Schulter vor. Straßenkampf? Das konnte er auch! Christoph drehte sich weg und rammte ihm aus der Bewegung die Faust in die Nieren. Das erwartete Keuchen kam, Jens fühlte sicher den Schmerz, aber er ignorierte ihn – oder das Adrenalin pumpte zu sehr in seinen Adern. Der Punk fuhr herum und griff mit der Linken zu, um mit der Rechten etwas aus seiner Hose zu ziehen. Pistole, Messer, völlig egal, Christoph hatte den besseren Hebel! Er packte Jens‘ Handgelenk und schleuderte ihn gegen die Wand zwischen den Pissoirs. Unsanft schlug dieser mit der Wange auf. Er zischte, sog die Luft zwischen den Zähnen ein und nutzte die Bewegung … In seiner Hand lag plötzlich die Pistole. Jetzt reichte es! Mit der Rechten drehte Christoph Jens‘ Waffenarm auf den Rücken und presste dessen Handgelenk zusammen. Er fühlte die Bänder und Adern über den Knochen springen. Jens stöhnte auf. Die Methoden kannte er sicher von Demos und ähnlichem. Bevor sich ein Schuss löste, entwand Christoph ihm die Waffe. „Du Sau …!“, spie Jens aus. „Verdammte Bullensau!“ Christoph schob sich die Pistole in den Hosenbund und presste sich von hinten gegen Jens. „Halt die Luft an“, zischte er und verstärkte den Griff, sodass Jens aufheulte. Trotz allem versuchte er nach einem Moment bereits wieder die Muskeln anzuspannen. Christoph zog seinen Arm noch weiter herum, bis Jens erlahmte. Atemlos keuchte er. Dennoch wand er sich, stemmte sich gegen Christoph und versuchte sich von der Wand fortzudrücken. Sein Körper war verschwitzt und heiß. Er roch nach Angst. In seinem Nacken rannen dünne Bäche Schweiß unter den Kragen des Sweatshirts. Seine Haut verströmte ein Aroma, was mit den hektischen, ruckartigen Bewegungen gegen Christophs Körper das Verlangen nach Gewalt weckte, Gewalt und … Er zwang Jens fester gegen die Wand, wollte ihm wehtun, ihn unter seine Kontrolle zwingen, dominieren; er spürte sein Blut pulsieren, fühlte die Lust in sich. Christoph merkte wie sein Glied hart wurde. Sein Herz raste. Zugleich konnte er nur noch schwer atmen. Jens war hilflos, obwohl er sich noch immer zu wehren versuchte. Ihn jetzt ficken … Rasche, schwere Schritte näherten sich. Christoph sah über die Schulter zur Tür. Sicher der Polizist! So konnten sie nicht stehen bleiben. „Gibst du endlich Ruhe?“, flüsterte er dicht neben Jens‘ Ohr. Seine Lippen berührten das Industrial und die flaumige, feuchte Haut. Jens knurrte widerwillig. Unsanft drückte Christoph Elle und Speiche zusammen. „Wenn das die Polizei ist, sind wir beide im Arsch.“ „Ja, verdammt, lass los“, stöhnte Jens. Christoph lockerte seinen Griff und wich zurück. Ruckartig fuhr der Punk herum. Seine Haut wirkte fiebrig rot in dem schwachen Licht. Er hielt die Lippen zurückgezogen. Sie bebten vor Wut und Erregung. Unter seinen Armen und an der Wirbelsäule zeigten sich neue Schweißflecken in seinem Pulli. Rasch löste er sich von der Wand und floh in eine der beiden Kabinen. Christoph wandte sich ab. Die Tür schwang auf und ein uniformierter Streifenbeamter trat ein. Er trug die kugelsichere Weste über seinem kurzärmligen blauen Hemd und hielt die Hand am Holster. Sein Blick blieb an Christoph hängen. Argwohn und Misstrauen zeichneten sich auf seinen Zügen ab. Na wunderbar … Wahrscheinlich hatte jeder draußen mitbekommen, was in dieser stinkenden Bruchbude passiert war. Christoph schloss seine Hose, trat ans Waschbecken und ignorierte den Beamten. Hoffentlich ging der Polizist nur von einem etwas brutalen, schnellen Fick aus. In seiner Mimik lag Abscheu – wie nicht anders zu erwarten war. Glücklicherweise musste der Mann tatsächlich nur Wasser lassen. Christoph schüttelte sich die Hände ab und trat ins Freie, auch wenn der Druck in seiner Blase wieder zunahm, musste er warten bis der Polizist fertig war. Die Waffe einer toten Kollegin steckte in Christophs Hosenbund, nur verdeckt von einem Shirt, das nicht so viel Platz ließ. Hoffentlich fühlte sich Jens nicht wieder verraten. Er suchte sich einen Platz etwas abseits und entzündete eine weitere Zigarette. Glücklicherweise verließ der Beamte recht schnell die Toilette und stieg zu seinem Kollegen ins Auto. Erst als der Wagen vom Parkplatz gerollt war, entspannte Christoph sich und warf die Zigarette fort. Hoffentlich ging es Jens halbwegs gut. Kapitel 11: 11 -------------- Jens hatte sich übergeben. Der Druck in Kopf und Magen war unerträglich gewesen. Nachdem die Tür aufgeschwungen war und sich Christophs Schritte entfernt hatten, zog sich die Angst wie ein Strick um seinen Hals zusammen. Er allein mit einem Bullen … Die Geräusche von einem Reißverschluss und der beständige, kräftige Strahl, der die Metallwand des Beckens traf, beruhigten ihn nicht. Klar, auch der Beamte war nur ein Mensch und musste mal Pissen gehen. Aber warum ließ Christoph ihn allein? War das überhaupt Teil der Wirklichkeit, was ihm seit der letzten Nacht passiert war? Alle Eindrücke rannen ineinander und hinterließen nichts als ein wirres Kaleidoskop aus Farben und Gefühlen. Trotzdem konnte er die primären Empfindungen benennen: Wut, körperlicher Schmerz und Angst. Christoph war stark und ziemlich brutal. Der Schlag in die Nieren tat höllenweh! Selbst jetzt zog seine Seite bei jeder Bewegung. Auch seine Muskeln und Bänder im Arm brannten. Sie waren überdehnt. Um sein Handgelenk zeigten rötliche Verfärbungen, wo Christoph zugegriffen hatte. Jens stemmte sich unsicher hoch. Vor seinen Augen tanzten Lichtflecken. Ihm war noch immer übel, aber sein Magen drohte nicht mehr, jede Sekunde zu kippen. Er spülte und hörte gleichzeitig, wie der Polizist ging. Seine zuckenden Magennerven beruhigten sich etwas und der Druck in seinem Schädel sank auf ein Minimum hinab. Er schloss die Augen. Das Rauschen des Wassers floss in das seines Blutes. Seine Knie fühlten sich weich an, unsicher. Er schluckte bittere Galle und scharfe Säure, die bis in seine Nebenhöhlen brannte. Ihm wurde wieder übel. Erneut schlug die Tür gegen die Wand. Doch die Bullen? Jens versteifte sich. Hölle auch! „Jens, sie sind weg.“ Christophs Stimme klang angespannt. Einen Moment später hörte er die Kabinentür neben der seinen. „Glaubst du mir jetzt, dass ich das Maul gehalten habe?“ Jens nickte, auch wenn er wusste, dass Christoph es nicht sah. „Ja“, flüsterte er. Nach einer kurzen Pause, die von Christophs Geräuschkulisse ausgefüllt wurde, schloss Jens auf und trat mit weichen Knien an das Becken. Er wusch sich den Mund aus und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Hinter ihm ging die Spülung. Einen Moment später kam Christoph heraus. Er stellte sich zu ihm und wusch sich die Hände. Von der Seite beobachtete Jens ihn. „Wie geht es nun weiter?“, fragte er. Christoph sah ihn ernst an. „Erzähl mir auf dem Weg nach Norden, was passiert ist“, er schüttelte sich die Hände ab und stützte sie in die Hüften, „und dieses Mal die relevanten Punkte, nicht die Einzelheiten eurer Sexspielchen. Dann kann ich versuchen dir zu helfen.“ Jens versuchte in den kühlen Zügen Gefühle zu erkennen; vergeblich. Christophs Gesicht drückte nicht einmal Ärger aus. „Was hast du davon? Ich bin vorbestraft und habe bereits im Jugendknast gesessen.“ Christoph zuckte die Schultern. „Nichts, vermute ich. Aber ich bin sicher, dass ein so emotionaler Mensch wie du nicht in der Lage ist vorsätzlich zu töten.“ Jens sank in sich zusammen. Er nickte matt. Auch wenn immer noch Angst und Ärger in ihm rumorten, entspannte er sich. Schwerfällig hob er die Hand. „Auskunft gegen Auskunft?“ Christoph lachte humorlos auf. Er ignorierte die ihm gebotene Geste. „Und gegen eine Dusche. Du stinkst wie ein Iltis.“ Kapitel 12: 12 -------------- Langsam schien die Angst von Jens abzufallen. Er sah elend aus. Die schwache Basis des Vertrauens wackelte, aber vielleicht konnte Christoph sie festigen. Trotz allem schwiegen sie über die ersten Minuten auf der Autobahn. Er gewährte Jens noch eine gewisse Zeit, zu sich zu kommen. Es brachte wenig, ihn gleich wieder zu überfallen, zumal sich sein Beifahrer offensichtlich in seinen Kleidern unwohl zu fühlen begann. Jens zupfte an dem verschwitzten Kapuzenpulli und vermied es, den Stoff allzu lang auf der Haut zu haben. „Du sagtest was von duschen?“, fragte Jens nach einer Weile. Christoph nickte. „Hast du andere Sachen mit, Kleidung, die weniger auffällig ist, meine ich?“ Zögernd schüttelte Jens den Kopf. In seinen Augen lag Unsicherheit. „Nein, nur ein paar leichte Klamotten für den Strand und ansonsten dreckiges Zeug.“ Christoph zog die Brauen zusammen und wies mit dem Kopf in Richtung des schmuddeligen Rucksacks. Es handelte sich nicht mal um die typischen schwarzen BW-Rucksäcke, die bei den meisten Punks beliebt waren, sondern um einen einfachen grauen aus Polyester, ähnlich dem, den Christoph selbst vor fünfundzwanzig Jahren in der Schule benutzt hatte. Jens beugte sich vor und zog ihn heran. Er wühlte den Inhalt heraus. Das Resümee war armselig, soweit Christoph es während der Fahrt beurteilen konnte. Shirts, Unterwäsche, eine Schwimmshorts. Der muffige Geruch ließ darauf schließen, dass es für Jens normal war, seine sauberen und dreckigen Sachen zusammenzustopfen. Wahrscheinlich störte er sich nicht daran. Christoph rann ein Schauder über den Rücken. Automatisch begann seine Haut zu kribbeln. Er hob demonstrativ die Brauen und verzog das Gesicht. „Du sprengst das Bild des sauberen, adretten Schwulen.“ „Ich trink meinen Kaffee auch nicht mit abgestecktem, kleinem Finger.“ „Wenigstens eine weitere Tüte zum Sortieren wäre ganz nett.“ Jens zuckte nur mit den Schultern. Für einen Moment machte es den Anschein, er wolle nichts darauf antworten, aber er konnte offenbar nicht über seinen Schatten springen und wollte das letzte Wort behalten. „Was weißt du schon vom Leben auf der Straße und dem Schwul sein unter Punks?“ Er ließ die halb offene Tasche fallen und gab ihr einen Tritt. Christoph beobachtete den rascher fließenden Verkehr um sich, die PKWs, die ihn überholten und die Masseauslastung der A9. Ob Jens tatsächlich auf der Straße lebte, wagte er zu bezweifeln. Dafür wirkte der junge Mann noch nicht ausreichend heruntergekommen und viel zu gut genährt. Solche Menschen hatten durch ihre schlechte Situation Mangelerscheinungen, waren zumeist krank und schmutzig. Jens‘ fehlende Hygiene hatte vermutlich nur den Grund passender Gelegenheiten. „Vom Leben auf der Straße habe ich keine Ahnung, aber vom Schwul sein und allen damit verbundenen Querelen. Du musst mir zugestehen, dass ich älter bin, länger mit Kerlen ins Bett gehe und geoutet bin.“ Jens schwieg. Zum ersten Mal schien Christoph zu ihm durchgedrungen zu sein. Es war nicht die Sorte der Stille, die aus seiner bisherigen Verstocktheit stammte. Jens dachte nach. Es dauerte sehr lang, bis der junge Mann nickte. Er akzeptierte es, dieses Mal ganz ohne jeden Kommentar. Eine Weile starrte Jens aus dem Fenster. Er zog wieder ein Bein an und stützte seinen Kopf auf der Faust ab. Jetzt war nicht der passende Augenblick ihn zu maßregeln. Christoph beschloss, ihn in Ruhe zu lassen. Der Verkehr nahm wieder seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Nicht nur die typische Dichte, viel mehr die Tatsache, dass ein Wagen mit qualmendem Kühler auf dem Randstreifen stand, sorgte für erneute Behinderungen. Kühlwasser rann als stetiger Fluss auf die Fahrbahn und wurde von vielen Reifen auf dem Asphalt verteilt. Der Fahrer stand hilflos neben seinem Auto. „Arme Sau“, kommentierte Jens abwesend. Wahrscheinlich bemerkte er kaum, dass er laut dachte. Christoph ging gar nicht darauf ein. Er schwieg, bis sich Jens vollkommen beruhigt zu haben schien. Der Moment für einen erneuten Vorstoß war sicher kaum günstiger als zuvor, aber das Schweigen wurde unangenehm und das sonore Brummen der Maschine schläferte ihn ein. „Das, was vorhin im Radio gesagt wurde, kannst du mir sicher besser erklären, Jens.“ „Eben nicht“, entgegnete der ungewohnt ruhig, wobei er sich zu Christoph umwandte. In seiner Mimik lag erschütternder Ernst. Aller Widerspruchsgeist schien aus ihm gewichen zu sein. Fragend musterte Christoph ihn, wenigstens so lang, bis er in den Schatten eines anderen LKWs geriet und ganz automatisch abbremste. „Muss ich das jetzt verstehen?“ Hilflos hob Jens die Schultern. „Das war alles so verworren. Es ging schnell und ich weiß gar nicht, was alles passiert ist.“ „Versuch es in eine Reihe zu bringen“, schlug Christoph vor. In seiner Stimme schwang viel zu wenig Motivation mit, das spürte er schon, als er wieder zu Jens schaute. „Es ist total kompliziert.“ Scheinbar wollte Jens sich mit dieser Aussage aus der Affäre ziehen. „Ganz so einfach mache ich es dir nicht.“ Missmutig zuckte Jens mit den Schultern. „Kannst du mich nicht einfach nach Berlin bringen? Ich meine, du …“ „Es geht um eine tote Polizistin, Jens. Du rennst mit ihrer Waffe durch die Gegend, stiehlst einen Wagen, steigst bei mir in den Truck und bedrohst mich mit der Pistole, die du ihr geklaut hast.“ Seine Stimme hatte sich gesteigert. Es klang sehr nach Kasernenhof. Aber er hatte nicht die Absicht Jens entkommen zu lassen, nicht ohne Erklärungen und die Möglichkeit ihn im Blick zu behalten. Bevor der junge Mann antworten konnte, sprach Christoph weiter: „Wenn wir angehalten werden und ich wegen dir …“ „Warum hilfst du mir überhaupt?“, fiel ihm Jens scharf ins Wort. „Warum bist du sicher, dass ich kein Mörder bin?!“ Christoph hatte auf diese Frage schon eine Weile gewartet. „Weil du so unsäglich bescheuert warst, die P7 zu entsichern, indem du den Griff so fest zusammengedrückt hast, dass sich jederzeit ein Schuss hätte lösen können“, schnauzte er Jens an, „aber du Idiot hast mit der Pistole herumgefuchtelt und meine Anlage demoliert, ohne auf die Konsequenzen zu achten!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)