Opus Magnum von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 25: Faire de Funambule - Opus IV ---------------------------------------- Opus Magnum   Faire de Funambule - Opus IV     Nocturn schrie. Er war noch nicht aus seinem Traum erwacht; der Traum ließ ihn nicht los, hielt ihn gefangen. Ihre Hände. Ihre spitzen, in seine Haut hineinbohrenden Fingernägel – sie klammerten sich an ihn, zerrten an seiner Haut, rissen ihn tiefer in die Dunkelheit. Kein Schrei half ihm. Sein Ersuch um Hilfe verpuffte wie kleine Blasen, die nach oben stiegen, während er immer weiter in die Tiefe hinabgezogen wurde.   „Nocturn, es ist alles gut.“   Es war mitten in der Nacht. Sein Schrei hatte Raria aus ihrem eigenen Schlaf geweckt. Sie hatte sich nicht einmal einen Morgenmantel übergeworfen, war so schnell wie möglich gekommen, um sich zu ihm zu setzen, seine zitternde Hand zu nehmen – die er aber aus ihrem Griff losriss, als er, von einer plötzlichen Panikattacke zusammenzuckend, die Decke laut und schnell atmend an sich heran zog und sich so weit wie möglich von ihr entfernte, in die hinterste Ecke seines Bettes, als würde die Wand ihm Schutz geben vor einem unsichtbaren Feind.     „Nocturn, du brauchst keine Angst zu haben“, begann Raria von Neuem, ohne sich von Nocturns abweisender, nein, eher abwehrender Haltung entmutigen zu lassen. Sie tat eher so, als würde sie es nicht bemerken; es war kein Mitleid in ihre Augen getreten. Raria hatte ihn nur kurz ernst angesehen, dann lächelte sie das in sich kauernde und zitternde Bündel Elend wieder an.   „Es ist alles gut“, wiederholte sie zwar ihre Worte, aber ihre Taten nicht; sie versuchte nicht noch einmal, ihn zu berühren. Ihr Körper konnte ihn nicht erreichen, obwohl er nur einen knappen Meter von ihr entfernt die Beine unter der Decke hochgezogen hatte und sich und seinen Kopf nun hinter seinen Knien verbarg. „Sie kann dir nichts mehr tun. Sie ist tot.“ Raria hatte nicht einmal „ihren“ Namen genannt – und dennoch genügte dieses simple „sie“, das nur referierend war, um Nocturn nicht nur zum Zusammenfahren zu bringen, sondern auch seine Hände beschützend über seinem Kopf zusammenschlagen zu lassen. Raria wählte, kurz zu schweigen; dann richtete sie sich auf, sich dazu entschließend, dass sie ihm einen warmen Kakao machen würde, als das kleine Kind sie davon abhielt, gerade als sie sein Zimmer verlassen wollte: „… woher… woher weißt du das?“ „Ich weiß es, Nocturn. Ich war dabei, als es geschah.“ Raria hatte aufgegeben zu zählen, wie oft sie ihm das schon versichert hatte. Sie war tot, dessen war Raria sich absolut sicher und dennoch plagte sie die Träume und die Existenz des jungen Nocturns immer noch. Für ihn war sie nicht tot – solange sie ihn in seinen Träumen quälte, war sie lebendiger denn je. Aber wie tötete man einen Traum?     „Und… und wenn nicht…?“, fragte Nocturn immer noch mit bebender Stimme, aber nun wenigstens mit leicht angehobenem Kopf, so dass Raria seine verweinten Augen sehen konnte. „Dann spielt das auch keine Rolle, denn ich werde dich beschützen.“        Raria war nicht in der Lage gewesen, den Träumen Einhalt zu gebieten. Aber sie machte es… erträglicher. Sie war nie taub für seine Hilfeschreie; sie hörte selbst die kleinsten Blasen und streckte sich immer nach seiner Hand aus, egal wie tief er gesunken war. Sie bekämpfte die Tiefe der Albträume, doch niemals mit Mitleid. Sie bekämpfe sie mit einem warmen Kakao, egal wie spät es war. Ein Kakao, der so manches Mal auf dem Flügel abgestellt wurde, während sie Nocturn lehrte, seinen Ängsten musikalische Form zu geben. Eigentlich hatte sie nie die Frage „Was hast du geträumt?“ gestellt; sie musste sie nicht stellen, denn nur zu deutlich erkannte sie den Schmerz in seinen Melodien. Nie schimpfte sie mit ihm, dass er sie so spät in der Nacht weckte und sie von ihrem Schlaf abhielt; nie erwachte sie mit einem ärgerlichen Stöhnen oder hielt ihm vor, dass er zu alt war, um bei ihr Trost zu suchen.   Immer kam sie, um ihr Versprechen zu erfüllen – ich beschütze dich.   Aber jetzt würde niemand kommen.   Denn sie war tot. Tot. Tot. Tot! Der schöne Flügel war blutbesudelt; sein Zuhause abgebrannt und in Trümmern.   Und sie war da, er hatte ihre Stimme gehört, das wusste er, das wusste er, er war sich absolut sicher… Raria… Raria!   Aber sie war tot… tot… to-       Da riss ihn das grelle Licht unsanft aus seinen Albträumen.   „Ich hoffe, du hast gut geschlafen, mein Sohn.“   Im Takt mit Kasras tückischem Lachen beschleunigte sich Nocturns Atem, als er verstand, wo er sich befand – und vor allen Dingen in was für einer Situation. Er lag in einer von grellem Licht durchfluteten Zelle, angelegt als ein recht großes und hohes Viereck, dessen Boden aus einem ebenmäßigen, schwarzen Material bestand, dessen Oberfläche sich glatt anfühlte – sein Atem beschleunigte sich weiter, das Lachen Kasras drang in seinen Kopf, Rarias Blut… das Blut auf dem Flügel; nein!   Entschlossen, sich nicht von Kasras Wahnsinn übermannen zu lassen, wollte Nocturn sich aufrichten, seinen Atem dazu zwingen, sich zu beruhigen, Kasra nicht noch mehr Grund zur Erheiterung zu geben – aber als hätte Kasra nur darauf gewartet, dass Nocturn versuchen würde aufzustehen, schnippte er grinsend mit den Fingern und aus der Schwärze der linken, unteren Ecke der Zelle schnellte plötzlich ein kettenähnlicher Magiestrahl empor, welcher auf Nocturn zuraste, seinen linken Fuß packte und ihn unsanft zu Fall brachte. Nocturns zweiten Fuß bekam Kasras Fesselungsmagie allerdings nicht so einfach zu packen; Nocturn handelte schnell genug, um die schwarzen Ketten mit seinen eilig verlängerten Fingernägeln abzuwehren – aber dann spürte er bereits, wie ihm die Luft abgeschnürt wurde.   KLACK KLACK du zappelst zu viel, mein Junge. KLACK KLACK aber ich werde dir beibringen, stillzuhalten! Denn wenn deine Herrin will… dass du… stillhältst, dann…   Diese sich Nocturn plötzlich aufdrängenden Bilder, Geräusche und Stimmen ließen sein Sichtfeld verschwimmen und machten seine Fingernägel unbrauchbar. Jetzt waren auch sie an den Boden gekettet, genau wie seine Füße und sein Kopf – aber sein Kopf war nicht an den Boden gepresst wie seine anderen Körperteile, sondern wurde von einer der schwarzen Ketten in die Höhe gezwungen: eine Kette, die sich um seinen Hals geschlungen hatte und deren Ursprung die Decke war.   „Praktisch, praktisch, nicht wahr?“, jauchzte Kasra, erfreut sein Werk begutachtend und seine Freude wurde besonders genährt, als er sah, dass Nocturns Hände versuchten, sich zu befreien; vergebens natürlich, denn die Ketten saßen genau so fest, wie Kasra es wollte – und er hatte sie dieses Mal sofort so fest wie möglich angezogen, weshalb Nocturns Hände nur noch ein wenig zucken konnten. Ob seine Fingernägel als Waffen überhaupt noch brauchbar sein würden, wenn kein Blut mehr an seine Finger gelangte? Sie würden es herausfinden.   „Diese Spielzimmer sind eine Idee meinerseits. Die Decke und der Boden reagieren nur auf meine Magie, womit ich, haha, meine Besucher in jede Position bringen kann, die ich will. Das macht es nicht so eintönig, als wenn feste Ketten installiert wären, findest du nicht auch? Du bist doch ein Künstler, oder? Dann stimmst du mir sicherlich zu, nicht wahr?“ Aber Nocturn stimmte ihm nicht zu; er war immer noch verzweifelt damit beschäftigt, seine Hände zu befreien; waren seine Fingernägel doch seine wichtigste Waffe. Aber Kasras Fesseln lockerten sich natürlich nicht; sie gruben sich als Antwort auf Nocturns Zerren und Zucken nur tiefer in sein Fleisch; ein Trauerspiel, das Kasra zufrieden betrachte.     Aber dann entschloss er sich, anzufangen.   „Sag mal, Junge… Du hast wirklich sehr viel… an.“ Sofort hatte er die Aufmerksamkeit Nocturns, die eben noch auf seinen Händen gelegen hatte – und ja, Kasra wusste es; wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Da war die Angst in den sich verkleinernden Augen Nocturns, als Kasra sich nun von der Glaswand abfederte, die Hände von seiner Brust löste: „Dir muss doch heiß sein! Ich werde dir helfen, dich von diesen vielen Kleidungsschichten zu befreien…“   Ah, Kasra konnte sich gar nicht entscheiden! So viele Auswahlmöglichkeiten! Nathiel hatte ihm wirklich eine ganze Palette an Spielmöglichkeiten überreicht und jetzt wusste Kasra gar nicht, womit er anfangen sollte; und vor allen Dingen, wie er das Kunstwerk formen wollte. Er sah die Furcht bereits in Nocturns Augen, die zur Wehrlosigkeit verdammt waren; sie wurde größer und größer mit jedem Schritt, den sich Kasra ihm langsam näherte. Erst einmal musste die störende Kleidung verschwinden. Kasra wollte mit eigenen Augen sehen, was für ein Körper sich hinter all diesen Schichten verbarg; wollte selbst Zeuge dieser Hässlichkeit sein, die Nathiel förmlich besungen hatte, als wäre sie etwas Positives. Sie hatte lautstark verkündet, dass es ihr Werk sei, dass Kasra staunen würde, wenn er es sah… na, einen guten leidenden Gesichtsausdruck konnte der Junge auf jeden Fall machen – fast als wäre er es bereits gewohnt.   Aber wie sollte er es tun, fragte Kasra sich mit einem genüsslichen Grinsen, wie ein Gourmetliebhaber vor dem Festessen – langsam, um beobachten zu können, wie sich die Gefühle langsam ihren Weg von seinem pochenden Herzen bis hin zu seinen Augen bahnten, die Kasra das offenbaren würden, was er am liebsten sah? Die stetig wachsende Angst? Oder die schnelle Variante? Sollte er ihm lieber die Kleidung vom Leib reißen, um unweigerlich dafür zu sorgen, dass sein Opfer sich an seine Zeit mit Nathiel erinnerte? Ah, was sollte er tun! Beides war so verlockend! So unglaublich verlockend!   Nocturns Herz schlug ihm bis zum Hals; seine Hände und Füße waren fest gekettet, genau so wie es sich gehört, so zappelst du nicht mehr, mein Junge, seinen Kopf konnte er nur unter Schmerzen ein wenig drehen, was er nun gezwungenermaßen tun musste, denn Kasra befahl seinen Ketten, Nocturns Kopf nach oben zu ziehen, ehe zwei Finger unter den Kragen seines Rollkragenpullovers glitten ah, was für ein dünner Hals! Ja, ist der nicht anregend? Aber nicht brechen! Brechen ist nicht erlaubt, angucken und anschneiden ja! und an diesem zerrten.   „Ein Rollkragenpullover und eine so lange Jacke darüber! Da muss einem ja heiß werden.“ Nocturn hörte das leise Zischen des Reißverschlusses, den Kasra immer weiter nach unten zog… er spürte Kasras Hand am Ende seiner Jacke ankommen, was ihn dazu brachte, automatisch seine Beine bewegen zu wollen, was natürlich nichts brachte, denn die Ketten waren fester als alle, mit denen Nocturn jemals Bekanntschaft gemacht hatte, aber wehren ist immer gut, wehren ist spaßig --- Nocturn kniff die Augen zusammen, versuchte der Realität zu entfliehen, aber Kasras Hände waren zu mächtig, zu aufdringlich… die eine immer noch am Ende seiner Jacke, die andere Nocturns Hals festhaltend – aber dass Nocturn die Augen zupresste schien ihm nicht zu gefallen, auch wenn er überaus amüsiert darüber war, wie sehr Nocturn es bereits zusetzte, dass er nur seine Jacke geöffnet hatte. Sie hatten doch noch gar nicht wirklich angefangen!   „Ah, nicht weggucken, Junge! Weggucken ist gemein, das verdirbt das Spiel.“ Wo das Spiel doch so vielversprechend zu werden schien! Es war bis jetzt nichts weiter als ein dummer Reißsverschluss und Nocturns Körper zitterte bereits, als würde Kasra ihn foltern.   Und das tat er auch; jedenfalls reagierte Nocturn genau so, als Kasra – um ihn fürs Weggucken zu bestrafen – nun da die schwarze Jacke zu Boden gefallen war, ohne Vorwarnung seinen Griff um Nocturns Kragen festigte und diesen herunter riss; das ganze Kleidungsstück damit entzweite. Lass uns anfangen, lass uns anfangen, Spaß haben – mein kleiner Junge, warum weinst du denn? Danach bekommst du Wasser… dann stille ich deinen Durst…   Nocturn biss sich so fest auf die Lippe, dass Blut nun aus seinen Mundwinkeln heraustrat – ah, wie oft hatte Kasra das nicht schon gesehen! Eine Verzweiflungstat, so oft gesehen, so sehr geliebt, hach. Es deutete an, dass sie gleich brechen würden – und in der Tat, als Kasra sich über den plötzlich irgendetwas auf Französisch redenden Nocturn beugte und ein weiteres Mal mit genießender Langsamkeit schnippte, brach er und tat das, was Kasra so sehr liebte.   Eine ausgewogene Mischung war wirklich das Beste!   Ein Schrei des Erschreckens riss Nocturn aus seinem französischen Hilfegesuch, als die Kette um seinen Hals sich plötzlich herumdrehte und den Kopf des Halbentkleideten auf den Boden aufschlagen ließ. „So…“, begann Kasra, seinen geflochtenen Zopf galant auf den Rücken werfend, seine Knie links und rechts neben Nocturn platzierend, so dass das dünne Häufchen Elend zwischen ihnen an den Boden gekettet war. „… jetzt widmen wir uns dem Rest deine Kleidung. Mal sehen, wie hässlich du wirklich bist… und wage es nicht noch einmal, wegzusehen!“     Kasra hatte großen, nein, unermesslichen Spaß, Nocturn jedes Kleidungsstück zu nehmen; manchmal zerriss er es, manchmal ließ er sich Zeit. Schnell fand er heraus, dass er die absolut perfekte Methode gefunden hatte, um Nocturn zu quälen. Es war nicht nur die Tatsache, dass sein eigener Körper ihn selbst anwiderte, sondern auch das absolut erbarmungslose Entblößen seiner vernarbten Haut und dass egal, wie sehr er an seinen Ketten zog und zerrte… nichts befreite ihn. Nichts konnte Kasra stoppen, der jede noch so kleine Form der Widerwehr genießerisch in sich aufnahm, dafür sogar kurz seine akribische Arbeit unterbrach, um Nocturns Reaktionen genüsslich in sich aufzunehmen.   Aber Nocturn konnte nichts tun. Er konnte absolut gar nichts tun. Seine spitzen Fingernägel kratzten sinnlos über den glatten Boden, auf dem sie keine Schrammen hinterließen und seine zunehmende Nacktheit lähmte ihm die Zunge – was… hätte er auch sagen sollen? Er hätte nichts sagen können. Der sonst so wortgewandte Nocturn war völlig in seiner Angst und Hilflosigkeit verloren. Sämtliche Worte hatten ihn verlassen – er hatte keine Worte mehr, aber andere hatten genug, quälten ihn, peinigten ihn. Immer wieder drängten diese alten Erinnerungen sich ihm auf, die er sonst nur in seinen Albträumen gesehen und gehört hatte – Kasra ließ sie lebendiger werden denn je. Er stieß Nocturn in jene Albträume, in jene Zeit zurück, machte ihn wieder zum Kind, dessen Hilferufe nicht mehr zu hören waren, weil Raria… weil Raria… tot war… sie konnte ihn nicht beschützen… sie konnte es nicht… er war selbst schuld daran… er sank tiefer und tiefer, die Erinnerungen wurden deutlicher, deutlicher… und am Boden dieses endlosen Albtraums wartete seine Herrin auf ihn. Fing ihn auf und hielt ihn fest.     Nicht einmal die Stiefel oder die Socken hatte Kasra Nocturn gelassen. Schweigend begann der König sein Werk zu betrachten, zuerst in Nocturns seitlich liegende, weit aufgerissene, leere Augen starrend. Die Blutspur, die an seinen Mundwinkeln begonnen hatte und sein Kinn hinabgelaufen war, war verschmiert und bereits getrocknet – Kasra hatte sich viel Zeit gelassen.   Aber das Grinsen verging ihm auf einmal, während seine roten, aufmerksamen Augen Nocturns nackten Körper in sich aufsogen und sich mehr und mehr verengten, ehe er sich schlussendlich aufrichtete und zwei Schritte rückwärts ging, Nocturn dabei nicht aus den Augen lassend. Er hatte aufgehört, sich zu wehren; lag absolut ruhig auf dem Boden, hatte aufgegeben.   Das grelle Licht zeigte mit erbarmungsloser Härte jede einzelne Narbe des völlig regungslosen Körpers, dessen hervorstehende Knochen tiefe, dunkle Schatten warfen. Besonders sein Becken war um einiges dürrer als von Kasra erwartet; auch seine Schulterblätter waren spitz und unförmig, wie auch seine Ellenbogen und Hacken. Dank des grellen Lichtes waren sogar seine Rippen sichtbar unter der dünnen Haut seines sich kaum bewegenden Brustkorbs. Die Narben, die Nathiel ihm bei ihren Spielereien zugefügt hatte und andere hatte machen lassen, passten gut zu diesem abartigen Körper; sie hatten ihn nicht noch hässlicher gemacht, nein, sie waren eher der passende, letzte Schliff gewesen. Wirklich, dieses dumme, kleine Gör hatte bessere Arbeit geleistet, als Kasra es ihr zugetraut hatte; sogar seine Fußsohlen waren vernarbt.   Was für eine hässliche Kreatur.     … Und mit so einem widerlichen Wesen hatte Youma geschlafen?   Youma? Mit seinem perfekten Körper, seiner ebenmäßigen, samtenen Haut, die keinen einzigen Makel aufwies, die sicherlich nicht einmal eine Narbe bekommen konnte, weil seine Haut jede Hässlichkeit abwies – weil er gar nichts anderes sein konnte als wunderschön? Freiwillig?! Wie hatte er es überhaupt ertragen, dieses Etwas anzusehen?! Was hatte ihn geritten, dass er es freiwillig hatte berühren wollen?! Was hatte ihn dazu gebracht, es küssen zu wollen --- diese dünnen Lippen, die konnten doch nicht begehrenswert sein für so ein schönes Wesen, das selbst so weiche Lippen hatte… geschweige denn das Bett damit zu teilen?! Er war doch so schön, so makellos, so hoheitlich, so unglaublich begehrenswert, warum… warum…   Diese Frage stellte Kasra sich nun selbst – warum war er plötzlich so wütend? Es gab doch gar keinen Grund dafür! Es war alles wie geplant verlaufen; es, dieses nichtswürdige Wesen, hatte ihm mit seiner Hilflosigkeit eine gute Unterhaltung dargeboten... warum war er dann so wütend? Warum bebten seine zusammengeballten Hände, als wäre er aufs Heftigste beleidigt worden? Sogar als Lycrams Faust ihn getroffen hatte, war er nicht so wütend gewesen… er spürte, wie es regelrecht von ihm Besitz ergriff---   Mit einer etwas fahrigen Bewegung brachte er den halb bewusstlosen Nocturn dazu, sich aufzurichten. Nein, er sollte lieber gerade an der Wand hängen, das gefiel ihm besser – aber obwohl diese Stellung und diese Wehrlosigkeit Nocturns ihn eigentlich in Hochstimmung versetzen sollte – genauso wie sie es immer tat – wirkte es nicht. Er fand nicht zu seinem Grinsen zurück; nein, im Gegenteil, seine Laune schien sich immer weiter zu verschlimmern, umso länger er Nocturn ansah, dessen Arme nun über seinem Kopf gestreckt an der Decke festhingen, die Hände wehrlos in den Ketten baumelnd, den Kopf schiefgelegt.   „Hochgucken hab ich gesagt“, zischte Kasra, auf Nocturn zugehend, während seine Ketten ihm zur Hilfe eilten, sich um Nocturns Kopf schlangen und diesen nach hinten rissen, womit Kasra und Nocturn sich ansahen – wenn man denn behaupten wollte, dass Nocturn überhaupt noch etwas sah.    „Was habt ihr beide so gemacht, als ihr Sex hattet?“ Kasra wusste selbst nicht, warum er diese Frage stellte – war es nicht auch vollkommen egal, warum er es tat?! „Wart ihr beide nackt? Hast du es gewagt, Youma diesen hässlichen Körper zu zeigen?!“ Nocturn antwortete nicht, aber Kasra sah in seinen Augen, dass er es gehört hatte, dass sich etwas in ihm geregt hatte – und zwar in dem Moment, als er Youmas Namen genannt hatte. Ein Stoß Zorn durchströmte ihn – warum? Warum?! „Hast du ihn dazu gezwungen, dich anzufassen?! Kein Wunder, dass so was Widerliches wie du sich nach einem vollkommenen Wesen wie Youma sehnt…“ Dieses Mal folgte jedoch keine Reaktion; Nocturns Augen blieben leer und undurchdringbar – und fluchend beschloss Kasra sich kurzerhand dazu, eine Pause einzulegen. Zwar hatte er genug Zeit, aber dennoch wollte er sie nicht mit einem Spielzeug verschwenden, das nicht mehr ordentlich funktionierte. Er würde ihn da hängen lassen… und die Spiegelfunktion der Fenster nutzen, oh ja, das war eine gute Idee. Nicht vor seiner Hässlichkeit fliehen können. Er sollte sich selbst sehen; sehen, wie hässlich er war… sehen, was er Youma angetan hatte… Die ganze, ganze Zeit.      Aber gerade als Kasra sich herumgewandt hatte, gerade an der Tür angelangt war, da fand Nocturn die Worte wieder – und verdammte damit sich selbst. „Ich… ich habe Youma… nicht gezwungen…“ Kasra blieb auf der Stelle stehen. „… ich verstand es… auch nicht… aber er sagte… er ekle sich nicht vor mir… weil er mich… weil er mich… liebt.“   Kasra drehte sich auf dem Absatz herum und seine schnell gesagten, eher geschrienen Worte donnerten nur so durch den Raum: „Ich rufe die 24igste der Verbotenen Künste…“ Die Fesseln lösten sich von Nocturns dürrem Körper; sie waren nicht länger vonnöten, denn Kasras starke, vor Hass und Wut bebende Faust umschloss Nocturns Hals und hielt den nicht viel wiegenden Dämon ohne Probleme in die Luft: „ENTFACHTES HÖLLENFEUER STUFE DREI!“           Wie ein Blitz, der in Nocturns Körper einschlug, entbrannte das Feuer der Schmerzen in jedem einzelnen Glied, jedem einzelnen Knochen, jedem Organ und der Schrei, auf den Kasra so lange gewartet hatte, der ihn aber jetzt auch nicht mehr befriedigen konnte, quoll aus dem von schwarzen Flammen gepeinigten Körper heraus, wurde immer lauter, immer lauter, immer qualvoller, immer qualvoller, umso mehr Flammen Nocturn auseinanderrissen, seinen Körper dehnten und drohten, ihn zu sprengen.   Aber Nocturn hielt durch – er schrie und schrie, sein Schrei konnte von nichts aufgehalten werden; weder von der gläsernen Zelle noch vom unteren Zirkel des Schlosses. Er schallte im gesamten Schloss nach, brachte Karou dazu, seine Hände von der Tastatur zu erheben und Nathiel dazu, sich weinend die Hände über die Ohren zu halten. Er brachte die Gläser von Karous Labor förmlich zum Vibrieren, aber Kasra erweichte es nicht. Auch Nocturns in Kasras Arm krallende Fingernägel bewirkten nichts. Er spürte den Schmerz nicht, auch wenn das Blut bereits von seinen Armen herunterlief.   „Wow, nicht schlecht!“, rief Kasra mit einem grimmigen Grinsen, das aber eher seine Wut zeigte als irgendeine Form der Freude zu bekunden: „Du hältst wirklich lange aus! Länger als so manch anderer! Ist das etwa die Kraft der Liebe für Youma, huh?!“ Natürlich konnte Nocturn nicht antworten; er konnte nur schreien. „Was weißt du eigentlich von ihm?! Nichts weißt du, gar nichts weißt du! Du bist ein Wicht, ein nichtswürdiger Wicht! Ein Insekt! Ein niedriges Insekt, das sich geehrt fühlen sollte, von mir – dem König! – in Stücke gerissen zu werden!“ Karou hörte diese Worte natürlich nicht, sie wurden von Nocturns anhaltendem Schrei verschluckt – aber er sah auf die Uhr und bemerkte, dass Nocturn schon... schon… drei Minuten aushielt?!   „Du bist nichts anderes als ein Bastard von Menuét! Ohne die Spur von königlichem Blut! Und wenn man es genau nimmt – was war Menuét schon anderes als eine Nutte?! Eine starke Nutte zwar, aber Nutte bleibt Nutte! Und du! Du gehörst genau wie sie in den Staub!“ Die Gläser knirschten, hielten aber stand, als Kasra Nocturn plötzlich rücklings gegen die Scheibe donnerte, seine geliebte Folterkunst deswegen aber nicht abbrechend, die Flammen weiter in Nocturn eindringen ließ, während das Blut von seinem aufgeschlagenen Rücken und Hinterkopf die Scheibe beschmierte.  „Wusstest du, dass Youma aus einer anderen Zeit stammt? Ja, ich habe auch lange gebraucht, um es herauszufinden, aber ich habe es herausgefunden – du, der angeblich von ihm geliebt wirst – HA! – weißt es nicht, oder, Nocturn? Er ist das Kind einer Göttin! Er ist das Kind eines Teufels! Er ist aus Gold gemacht! Und du! Was bist du!? Du bist das Hurenkind einer billigen Nutte!“ Und mit diesen Worten warf er Nocturn noch ein weiteres Mal gegen die Scheibe, ehe er ihn auf den Boden schmetterte.   Wie ein Echo schienen die Schreie Nocturns noch im Schloss nachzuhallen. Ungläubig starrte Karou auf die Uhr – fast… fast zehn Minuten; das… was unglaublich! Sowohl von Nocturn als auch von Kasra. Die letzte der verbotenen Künste benötigte sehr viel Anstrengung, Magie und Können. Karou hatte oft gesehen, wie diese Technik angewandt wurde, aber noch nie, dass sie so lange angedauert hatte – warum auch? Die meisten starben innerhalb der ersten Minute… Nocturn hatte fast zehn Minuten ausgehalten. „Ist er… ist… ist mein Junge… ist er tot?“, heulte Nathiel, sich weiter in den blanken Stoff von Karous Mantel vergrabend, der die weinende Nathiel nach den ersten fünf Minuten aus Reflex an sich gedrückt hatte. „Das… das habe ich nicht gewollt… das habe ich… ich… nicht…“           Aber Nocturn war nicht tot. Schnell atmend und stark am Hinterkopf und Rücken blutend, lag er mit zuckenden Gliedern, tränenden Augen und aufgerissenen Mundwinkeln auf dem Boden, wo der ebenfalls stoßweise atmende Kasra ihn hingeworfen hatte. Kurz starrte er den unter sich liegenden Nocturn genauso entgeistert an wie Karou die Uhrzeit, während er die Fäuste an seinen Knien abstützen musste; so sehr hatte diese lange Folter an ihm und seinen Magievorräten gezehrt.   Warum war es nicht tot?   Obwohl, dachte Kasra, sich wieder aufrichtend; er sollte froh darüber sein, dass es überlebt hatte. Hatte er vergessen, was er eigentlich damit vorhatte?   Als wäre nichts passiert, richtete Kasra seine Haare wieder, raffte seinen Umhang und verließ Nocturn, ohne noch so viel wie einen Blick auf ihn geworfen zu haben – und stand schon neben Karou, der seine Ungläubigkeit nun ihm zuwandte und sich fast dabei erwischte, seinen König zu fragen, ob es ihm nach so einer langen Folter gut ginge. Aber er wäre schön dumm, wenn er diese Frage in so einem Moment stellen würde – er vermutete nämlich zu recht, dass Kasra einen Wutausbruch gehabt hatte und die lange Folter daher stammte. Was war nur…vorgefallen? „Sorg dafür, dass die Scheiben in der dritten Zelle spiegeln.“ Bildete Karou sich das ein oder bebte die Stimme seines Herrschers vor Wut? „Natürlich, meine Majestät.“ „Und entferne die Überreste der Kleidung aus der Zelle.“ Wieder stimmte Karou dem ohne Widerworte zu und schon drehte Kasra ihm den Rücken zu.   Jetzt musste er leider das tun, was für ihn die schlimmste Art der Folter darstellte. Warten.                    Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)