Opus Magnum von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 23: Faire de Funambule - Opus II ----------------------------------------     Nur kurz war Ri-Il in die Gedanken seiner Hordenmitglieder und Frauen gehuscht, nur kurz; und sofort hatte sich ihm der Ernst der Lage offenbart und natürlich die unmittelbare Bedrohung. Aber das wahre Ausmaß wurde ihm erst bewusst, nachdem er sich in sein Büro teleportiert hatte.   Zu diesem Zeitpunkt wusste er bereits, was ihn erwartete. Er wusste, dass Kasra dort auf ihn wartete; er wusste, dass er sich dessen Kommunikationssystem bemächtigt hatte, nachdem er sein Büro verwüstet hatte. Ri-Il hatte es in den aufgewühlten und angewiderten Gedanken Darius’ gelesen, der aber unfähig gewesen war, Kasra aufzuhalten; er hatte es versucht, hatte nicht zulassen wollen, dass Kasra das Büro seines Fürsten überhaupt betrat. Dafür hatte der König ihm lachend den rechten Arm herausgerissen. Aber auch wenn das sein dominanter Arm war, hatte Darius weiterkämpfen wollen, doch das, was auf den magisch auftauchenden Bildschirmen hinter Kasra plötzlich zu sehen war, brachte Darius‘ zornige Magie zum Verpuffen. Das wahre Ausmaß.   Ohne Zweifel mit der Hilfe von Karous technischem Knowhow war es Kasra gelungen, Zugriff auf Ri-Ils Computersystem zu erhalten. Es ging ihm dabei nicht um irgendwelche Daten – Ri-Il speicherte nichts auf technischen Geräten, dafür war Karous Wissen auf dem Gebiet zu groß und das wussten sowohl Karou als auch Kasra. Nein, es ging ihm nur um die Kommunikation. Es ging ihm nur ums Zeigen.   Die kurzerhand magisch erschienenen zwanzig Bildschirme präsentierten ein Bild des Schmerzes und der Entmachtung; alle Bildschirme zeigten Videoübertragungen. Jede Videoübertragung war einer Frau gewidmet und alle Übertragungen gleichten sich; Ri-Ils Frauen, festgehalten, geschlagen, auf dem Boden, weinend und blutend.   Und es waren nicht nur zwanzig. Die Bilder wechselten. Es waren weitaus mehr als das; das hatte Ri-Il noch in Japan erspüren können, als ihm die angstvollen Gedanken seiner Untergebenen zugepeitscht waren. Aber erst als Ri-Il mit dem Rücken zuerst auf den Boden seines Büros geschlagen wurde, das triumphierende Lachen Kasras ihn umhüllte, der natürlich darauf geachtet hatte, dass Ri-Il aus seiner schmerzenden Position heraus immer noch einen guten Blick auf die Übertragungen hatte… erst in diesem Moment offenbarte sich ihm das wahre Ausmaß. Es waren 100.     100 Frauen, die im Begriff waren, zu Tode gefoltert zu werden. Ri-Il wusste genau, wo sie alle waren. Die abgesegneten Dokumente, mit krakeliger Unterschrift der Freier, lagen im Zimmer verstreut auf dem Boden. Ri-Il hatte sie vor seinem abendlichen Treffen mit Lycram noch geordnet und auf den Tisch gelegt. Natürlich hatte er seine Arbeit vor dem Vergnügen abgehakt; hatte noch ein, zwei Worte mit Darius gewechselt, ehe dieser Mekare zu ihrem Freier gebracht hatte. Ri-Il hätte es selbst tun sollen; dann hätte er die Gedanken des Fürsten lesen können und ihm wäre klar gewesen, in welche Gefahr er Mekare und die anderen Frauen brachte. Aber das hatte er nicht getan; er war nicht vorsichtig genug gewesen. Er hatte ein ungutes Gefühl gehabt, aber dieses Gefühl hatte ihn schon lange geplagt… jetzt wusste er warum, denn eine solche Aktion musste Kasra lange vorher geplant haben. Aber das vorahnende Gefühl war nicht stark genug gewesen, um Ri-Il seine Arbeit nicht machen zu lassen. Vielleicht hätte Ri-Il bei der Zahl stutzig werden müssen, aber in diesen Zeiten war ein solcher Andrang nicht ungewöhnlich: er hatte schon Nächte gehabt, da war sein Anwesen fast komplett leer gewesen; in diesen dunklen Zeiten mit Kasra als Herrscher und einem Schlachtfeld, auf dem White den Spaß blockierte, hatten die gehobenen Herrschaften der Dämonenwelt viel Zerstreuung gebraucht. Man konnte sagen, dass Ri-Il gewissermaßen davon profitiert hatte. Auch heute Abend hatte er die Bezahlung bereits im Voraus erhalten; es war alles wie immer verlaufen. Nichts Ungewöhnliches. Nichts hatte angedeutet, in welche Falle Ri-Il seine Frauen laufen ließ und welche sich um ihn selbst schloss.   „RI-IL!“   Der Schrei von Darius und Mekare, als sie beide Ri-Il zu Boden schmettern sahen, durch seinen eigenen Schreibtisch hindurch und diesen damit in Stücke brach, verriet die Unfassbarkeit dieser Situation. Nie hatten sie gesehen, wie Ri-Il zu Boden ging; nie hatten sie gesehen, wie die Hand, die jemand gegen Ri-Il richtete, ins Ziel traf. Und nie hatten sie gesehen, wie jemand es wagte, einen unterwerfenden Fuß auf Ri-Ils Brustkorb zu platzieren – und dass der Angreifer damit auch noch durchkam, hätten sie sich nie vorstellen können. Beide hielten sie die Luft an; beide absolut davon überzeugt, dass Ri-Il einen seiner typischen Zaubertricks durchführen würde… dass er am anderen Ende des Zimmers auftauchen und grinsend verkünden würde, dass er alle Frauen befreit hatte und dass er Kasra jetzt vor die Tür setzen würde; wahrscheinlich noch mit einem lustigen Kommentar und morgen war alles vergessen. Morgen ging die Arbeit wieder los, die Routine von nichts zerstört.   Aber es geschah nicht.   Ri-Il blieb auf dem Boden, unter Kasras enormem Stiefel begraben. Die Zähne nicht zusammenbeißend, um damit ein Grinsen zu formen, sondern um den Schmerz zurückzuhalten.     Das dünne Rinnsal Blut, das an Ri-Ils Mundwinkeln herunterlief, brachte Mekare zu einem erstickten Aufweinen, das allerdings schnell verstummte, als sie von dem Fürsten, an den Ri-Il sie selbst verkauft hatte, einen Faustschlag bekam, der die nackte Frau mit blutendem Gesicht zu Boden warf.   „Um dich zu Fall zu bringen, musste ich wirklich große Geschütze auffahren, Ri-Il!“, begann Kasra, sich zufrieden zurücklehnend, womit die Hacke seines Stiefels sich in den Brustkorb Ri-Ils bohrte, worauf dieser allerdings nicht sichtlich reagierte. Seine durchbohrenden, gelben Augen blieben starr und mit ruhiger Wut auf Kasra gerichtet, der diesen Anblick genießend in sich aufnahm. Er teilte nicht die Angst vieler, was Ri-Ils eigenartige Augen anging; nein, er freute sich darüber, diese nun zu sehen – dass Ri-Il endlich das Grinsen vergangen war und dass er ihn anblickte, wie ein Gegner seinen Widersacher anzublicken hatte. „Nicht nur, dass das meine bis jetzt größte Geiselnahme ist… es ist auch mein größter Anti-Teleportationsbannkreis. Ich weiß nicht, ob du es schon bemerkt hast… denn für feige halte ich dich eigentlich nicht… aber es ist nicht länger möglich, dieses Gebiet mittels Teleportation zu verlassen – und auf anderen Wegen ebenfalls nicht, denn meine Horde und die von Akai haben das Gebiet umstellt. Um es mit anderen Worten zu sagen: dein Gebiet ist absolut abgeriegelt – oder sollte ich eher mein Gebiet sagen, immerhin bin ich der König dieser Welt und somit gehört mir auch dieses Gebiet, nicht wahr?“ Ri-Ils Augen schienen Funken zu sprühen, was Kasras Lächeln dazu brachte, noch breiter zu werden: „Und da du noch gar nicht versucht hast, dich zu wehren, nehme ich an, dass du bereits weißt, was passiert, wenn du es tust…“ Mit einem belustigten Zeigefinger deutete er auf die schmerzvollen Videoübertragungen: „… dann werden all diese hübschen Puppen herausfinden, wie es sich anfühlt, im Höllenfeuer zu schmoren und darin in Flammen aufgehen. Und nur um dir noch weiter zu beweisen, wie gut ich mich für dich vorbereitet habe – all deren, haha, Aufpasser sind in der Lage, die dritte Stufe dieser wunderschönen, verbotenen Kunst anzuwenden.“ Wie ein Künstler gönnte er sich eine theatralische Pause, ehe er sich wieder vorlehnte, sich sogar zu dem wütenden Ri-Il herunterbeugte und fortfuhr: „Aber es ist gar nicht so, dass ich nicht will, dass du dich wehrst – nein, ich lade dich sogar herzlich dazu ein. Ich möchte nur das richtige… Ambiente schaffen. Und was könnte eine bessere Hintergrundmusik sein als die Schreie von 100 Frauen, deiner 100 Frauen, die ihrem Tode entgegen schreien?“ Seine Augen verengten sich genüsslich, als könnte er dieselben Gedanken hören, die Ri-Il gerade von Mekare vernahm – die Angst. Die schiere Angst. „Ich und du, wir haben beide keine Bindungen zu anderen, wir wissen, dass solche Bindungen nur Schwäche bedeuten – aber dennoch war mir immer klar, wo ich einen so profitgeilen Dämon wie dich treffen könnte; bei deinem wunderbaren Etablissement. Denn natürlich reicht es mir nicht, dich nur zu bekämpfen und zu töten, Ri-Il! Wie könnte es auch!“ Kasra richtete sich mit einem verspielten Lachen wieder auf und zeigte auf den Bildschirm Mekares, dem größten der vielen Bildschirme; der einzige, auf dem das Bild nicht wechselte und wo die Kamera deutlich Mekares Trauer und Schmerz – und obendrein mehr als zwei Füße – zeigte. „Übrigens, falls du es noch nicht bemerkt hast; für Mekare-chan habe ich eine Zweiweg-Kamera installieren lassen. Sie kann uns also auch hören und sehen. Die anderen nicht… die anderen wissen nicht einmal, dass du sie sehen kannst. Sie klammern sich einfach an ihre elendige Hoffnung und warten auf ihr Ende!“   Kasra verschränkte die Arme, was Darius als bodenlose Beleidigung auffasste – eine so entspannte und selbstsichere Haltung untermauerte nur noch weiter seine Überlegenheit und wie wenig er mit einem Gegenangriff von Ri-Il rechnete. Als Ri-Il dann aber endlich seine Stimme erhob, war diese sofort in der Lage, Darius zu beruhigen. Er lag auf dem Boden, entwürdigt und entehrt in seinem eigenen Gebiet, in seinem eigenen Büro, unter dem Fuß seines Gegners begraben… und dennoch klang seine Stimme höflich, ruhig und ernst, ohne jegliche Verunsicherung. Die tiefe Bewunderung, die Darius für seinen Fürsten empfand, ließ ihn das klaffende Loch an seiner Schulter vergessen. Auch Mekare am anderen Ende der Dämonenwelt horchte auf, als wäre alleine Ri-Ils Stimme ein Rettungsseil.   „Majestät, wenn Ihr mir die Frage erlauben würdet – wie ist es Euch gelungen, 100 meiner Kunden von einem solchen Akt zu überzeugen?“ Natürlich kannte Ri-Il die Antwort: nicht weil er die Antwort bereits in Kasras Gedanken gelesen hatte – anders als Nocturn konnte er dessen Gedanken zwar lesen, aber es benötigte große Anstrengung und Konzentration, die er gerade nicht hatte – sondern weil seine Erfahrung, seine Lebenserfahrung, ihm diese Frage beantwortete. Aber er hatte die Frage dennoch gestellt, weil er wusste, wie sehr die, die ihn in diesem Moment hören konnten, seine Stimme brauchten. Nicht nur Darius und Mekare, sondern auch die komplett verängstigten Dämonen des Dienstpersonals vor und um Ri-Ils Büro herum. Er musste seine Stärke bewahren. Sie alle würden ansonsten mit ihm fallen.   Kasra amüsierte diese Frage offensichtlich, auch wenn kurz ein wütendes Zucken über sein Gesicht huschte, als er hörte, dass Ri-Il immer noch diese verhasste Höflichkeit an den Tag legte – angesichts eines Angreifers, der ihn zu Boden genagelt hatte; angesichts der Tatsache, dass er sich in einer Position befand, in der er eigentlich nicht einmal mehr sprechen sollte. „Nun, Ri-Il, du weißt es selbst genauso gut wie ich. Wer mächtig ist, hat immer Feinde! Das ist doch das Tolle daran! Zu wissen, dass man Feinde hat - aber dass sie sich nicht trauen, dich anzugreifen, dass sie sich vor einem fürchten! Aber es gibt auch die, die es dennoch tun und die sich lange vorbereiten…“ Der Tonfall seiner Stimme verriet, dass er damit sich selbst meinte und ziemlich stolz auf seine Leistung war: „… und andere springen mit ins Boot, wenn sich die Gelegenheit bietet. 600 Jahre lang lebst du nun schon und mehr als die Hälfte dieser Lebenszeit bist du Fürst gewesen – du weißt genauso gut wie ich, dass du Feinde hast! Unter deinen Kunden, den anderen Mitgliedern meiner persönlichen Speichellecker – sie sind überall! Und jetzt haben sie eine Seite gewählt! So lange hattest du das größte Gebiet, so lange bist du den Königen vor mir auf der Nase herumgetanzt wie ein dauernder, quälender Schatten – aber nie hat dich ernsthaft jemand versucht anzugreifen. Bis jetzt! Und diese Gelegenheit haben die besagten 100 dann auch gleich genutzt, um sich auf meine Seite zu schlagen…“ Er legte mehr Kraft in seinen Fuß… „… überzeugt davon, dass ich der Mächtigere bin von uns beiden und dass ich derjenige sein werde, der dich nach 600 Jahren endlich tötet!“ Ri-Il spürte den Druck auf seinen Rippen… „Du bist mächtig, Ri-Il, das will dir niemand streitig machen. Nein, im Gegenteil sogar – ich sehe dich als meinen einzigen Gegner an; ich erkenne deine Macht. Genau wie ich es tue, verlässt auch du dich nur auf dich selbst, weißt wie ich, dass die Bindung zu anderen Schwäche bedeutet. Aber du hast einen Fehler begangen, der dir heute zum Verhängnis geworden ist! Du hast deine Macht nicht stetig erneuert, sie nicht stetig durch Schrecken genährt – man hat nicht mehr genug Angst vor dir, Ri-Il, ansonsten hätten 100 hochrangige Dämonen sich nicht auf meine Seite geschlagen!“   „Ri-Il-samas Macht beruht nicht auf Angst!“   Die Augen Ri-Ils weiteten sich entgeistert, genau wie die von Kasra, als die Stimme des blutenden Darius‘ ihn unterbrach. „Wir fürchten ihn nicht!“ Auch die mit dem Gesicht auf den Boden gepresste Mekare öffnete die Augen, als sie die unbeirrte Stimme des Kommandeurs hörte. „Wir alle dienen Ri-Il-sama, weil wir ihn respektieren und ihn als unseren Fürsten anerkennen! Wir sind stolz, seinem Gebiet anzugehören und stolz würden wir für ihn in den Tod gehen!“ Tränen rannen aus den schwarzen Augen Mekares; es waren nicht nur Tränen des Schmerzes, sondern auch Tränen der Zustimmung. „Aber nicht, weil wir ihn fürchten, sondern weil wir ihn ehren – wir empfinden tiefe Ehrfurcht vor ihm---“      „Du hast deine Schweine wirklich gut dressiert, Ri-Il. Meine Hochachtung!“   Ein schwarzer, wie aus dem Nichts auftauchender Strahl, erfasste den bereits so verletzten Kommandeur, warf ihn zuerst, als hätte eine Schlange ihn erfasst, gegen die Decke und schleuderte ihn dann durch die Papierwand, womit er rücklinks die Treppe herunterstürzte, dabei einen anderen Dämon mitreißend, der sich beim Sturz das Genick brach und augenblicklich nichts anderes als Funken war. Kasras spezielle Fähigkeit war mal wieder zum Einsatz gekommen; das Verbiegen und Krümmen der dämonischen Magie, die ihm auch den nicht gerade schmeichelhaften Namen „die Schlange“ eingebracht hatte, der allerdings nur hinter vorgehaltener Hand genannt wurde. Er mochte es nicht, mit einem Kriechtier verglichen zu werden - ganz egal, wie tödlich es sein konnte.   Für einen kurzen Augenblick hatte Mekare die Augen zugekniffen, weswegen sie nicht sah, wie Kasra Ri-Il plötzlich am Kragen emporzog, als dieser sich nach Darius umgedreht hatte, als er plötzlich seine Gedanken nicht mehr gehört hatte. Aber Mekare öffnete sie genau in dem Moment, als Kasra seine gespreizten Finger dort hinwarf, wo er eben noch seinen Fuß platziert hatte – und ein schwarzer Magiestrahl durchdrang Ri-Ils Brustkorb.   Zum ersten Mal hörten Mekare und der fast bewusstlose Darius Ri-Ils Schmerzensschrei.     „Huh?“ Bei Ankunft in dem Gebiet von Merrlius hatte Lycram eine kleine, nette, begrüßende Schneise der Verwüstung hinterlassen. Er war wütend gewesen; immerhin hatte er sich so viel Mühe gegeben, Ri-Il irgendeine Form der Bewunderung zu entlocken, ihn davon zu überzeugen, dass er nicht der Einzige war, der Pläne schmieden konnte – und dann hatte Lycram so ein Randdetail – ja, er nannte das Randdetail! – vergessen. Alles zum Kotzen.   Und Merrlius und er vertrugen sich sowieso nicht gut. Da fielen wohl ein paar tote Hordenmitglieder kaum ins Gewicht; und wenn, dann war es ihm auch egal, sollte er doch kommen mit seiner ach so giftigen Horde. Giftig!? Pah! Schmierig waren die! Das war alles!   Nachdem seine blau-leuchtenden Fäden durch die warme Luft gesaust waren, wieder in Lycrams Fingerspitzen verschwanden und mit ihnen drei Dämonen, deren funkende Überreste an Lycram vorbeitänzelten und sich dann auflösten, drehte der Blauhaarige sich plötzlich verwundert herum. Er war noch am Rand des Gebietes, nicht sonderlich weit vorgedrungen. Natürlich hätte er sich direkt zu Merrlius teleportieren können, wie er es auch beim ersten Mal getan hatte, um es dann einfach schnell vom Tisch zu bekommen, aber er war zu wütend gewesen und wollte sich abreagieren. Jetzt verschwand die Wut plötzlich, als Lycrams orangene Augen Richtung Westen wanderten. Er hatte etwas gespürt. Nein. Lycram runzelte die Stirn; nein, gespürt war falsch. Er hatte eher etwas… gehört. Aber die kahle, steppenähnliche Landschaft lag öde vor und hinter ihm. Er hatte die mickrige Anzahl Wachdämonen ausgelöscht und war alleine. Die nächsten Dämonen würden sicherlich bald antanzen, aber sie waren noch weit weg – das war nicht das, was er gehört hatte.   Was war das gewesen?   Lycram mochte es nicht, aber als er sich wieder daran erinnerte, wie Ri-Il ihn förmlich damit aufgezogen hatte, dass Lycram so etwas Wichtiges – nein, Randdetail! – vergessen hatte, wandte er sich wieder herum, sich überlegend, ob er sich vielleicht doch lieber teleportieren sollte. Immerhin war Merrlius‘ Gebiet nicht gerade klein; es sollte wirklich dringend verkleinert werden… und zwar von ihm, ohja!   Aber dann blieb er plötzlich stehen. Denn als Lycram wieder an das letzte Gespräch mit Ri-Il zurückdachte, fiel ihm plötzlich etwas wie Schuppen von den Augen. Er hatte ihn „Lycram“ genannt.   Mit förmlich peitschendem Zopf wirbelte Lycram herum und schrie wütend in den roten Himmel hinein: „Dieser verdammte Bastard!“     Nur einen kurzen Moment hatte Kasra verwundert ausgesehen, als seine Attacke zwar durch Ri-Ils Oberkörper geschossen war, aber nicht das von ihm herbeigesehnte Loch hinterlassen hatte. Es schien so, als hätte die Attacke Ri-Il „nur“ durchsiebt, seinen Körper aber an sich heil gelassen - doch dann verschwand die Verwunderung, als er Ri-Ils Kopf mit seiner großen Faust packte und ihn mit aller Macht auf den Boden presste. „Ist das irgendeine Spezialfähigkeit von dir, Ri-Il?!“, lachte Kasra voller boshafter Vorfreude, Ri-Ils Kopf nun förmlich in den Boden hineindrückend. „Ich wusste, dass du mich gut unterhalten würdest! Und du enttäuscht meine Erwartungen nicht! Was für eine interessante Fähigkeit! Ich freue mich darauf, sie zu erforschen, sie auszukosten! Wir werden eine ganze Menge Spaß haben! Oho! Ist das Blut!? Haha, also bluten kann der große Ri-Il schon und das genauso gut wie andere!“ Laut erschallte sein Lachen. Es erfüllte nicht nur den fast völlig zerstörten Raum, sondern breitete sich auch auf das gesamte Anwesen aus, jagte den Schrecken in die Knochen der übriggebliebenen Frauen, Mädchen und Jungen und der ohnmächtigen Hordenmitglieder – es schien sogar bis an die Grenzen des Gebietes zu dringen – und darüber hinaus bebte es in Mekares Herzen wider, die wünschte, sie könnte so bewusstlos sein wie Darius es war, um dieses traurige Grauen nicht mitansehen und mitanhören zu müssen. Doch als sie abwendend die Augen geschlossen hatte, hatte der Fürst ihr Gesicht gepackt und sie zur Kamera gezerrt, um sie dazu zu zwingen, es mitanzusehen. Sehen wie Ri-Il auf dem Boden lag, die Hände nun mittels Kasras Magie aneinander gefesselt, mit immer mehr Blut, das sich unter seinem Oberkörper ausbreitete und die hellen Tatami-Matten rot färbte.   Ri-Il könnte sich wehren, dessen war sie sich sicher. Aber er tat es nicht. Er befreite sich nicht. Aus dem gleichen Grund, weshalb er sich nie wirklich zur Ruhe begab und sich immer nur an das nun zerstörte Fenster lehnte, um nicht zu schlafen, sondern nur kurz zu ruhen, während er trotzdem über sein Gebiet und dessen Einwohner wachte. Er war ein strenger Herrscher, mit festen Regeln, der auch bereit war, Opfer einzugehen für die Gesamtheit. Aber das tat er nicht für sich selbst; nicht aus Egoismus oder weil er es genoss, Macht zu haben. Ri-Il tat es, weil er für sie verantwortlich war. Deswegen ertrug er diese Schmerzen, diese Demütigung. Für sie. Für sie alle. Für sein Gebiet.   Als Kasras Lachen endlich verklang, begann das wahre Grauen.   Immer noch spielte ein Lachen in seiner Stimme; er war zu freudig erregt, um das Lachen gänzlich zurückzuhalten: „So, Ri-Il, spitz deine Ohren…“ Wieder beugte Kasra sich herunter, den Druck seiner Ri-Il packenden Hand immer weiter verstärkend, das Knie nun auf seinem Rücken, in dessen Wirbelsäule quetschend – aber Ri-Il stöhnte nicht, ließ sich keinen Schmerz anmerken, obwohl sich immer mehr Blut unter ihm sammelte. Die Zähne blieben aber fest zusammen gebissen. Er würde nicht schreien; er würde kein Leid offenbaren, obwohl er so lange keinen Schmerz mehr gespürt hatte und fast vergessen hatte, wie sich ein solcher Schmerz anfühlte. Nein, dieser eine Schmerzensschrei war bereits genug gewesen – mehr würde Kasra nicht aus ihm herausbekommen! Mehr würde er denen, die ihn hören konnten, nicht antun. Kasra konnte ihn foltern und demütigen, so viel er wollte - er würde seinen Schmerzen nicht nachgeben.   Wut, bodenlose Wut war daher das alles dominierende Gefühl, das in Ri-Ils Augen zu sehen war. Kein Schmerz. Keine Angst. Nur eine Wut, die sich ganz und vollkommen gegen die Person richtete, die sich so genießend zu ihm heruntergebeugt hatte.   „… ich werde dich mit in meine Stadt nehmen. Dort werde ich dich hinrichten, genau wie meine anderen Feinde vor dir. Ich werde dich nicht anders behandeln – ich werde allen Dämonen, die damit aufgewachsen sind, dass du immer da warst, beweisen, dass du nichts besonders bist. Ich werde ihnen und auch dir beweisen, dass du genauso blutest und schreist wie alle anderen – und genauso sterben wirst. Ganz egal, wie lange ich dafür brauchen werde! Im Gegenteil sogar! Ich hoffe, du wirst lange aushalten – und das wirst du, ich weiß es! Lange wirst du mich unterhalten können; mich und jeden meiner Dämonen, denn ich werde sie daran teilhaben lassen; die Öffentlichkeit soll sehen, wie du brichst! Und mit dir dein Gebiet!“   Da verschwand Ri-Ils Wut einen kurzen, kurzen Augenblick – um dann umso hasserfüllter zurückzukehren und seine Stimme war schneidender als jedes Schwert.   „Ihr hattet also niemals vor, irgendeinen Bewohner des Gebietes am Leben zu lassen, Hoheit?“ Finster lachte Kasra, als hätte Ri-Il einen Witz gemacht – einen überaus unterhaltsamen:   „Wo denkst du hin!? Die Schreie der 100 Frauen werden dein Abgesang sein, Ri-Il!“, zischte Kasra höhnisch: „Natürlich hatte ich niemals vor, sie wieder gehen zu lassen oder gar dein Gebiet und deine Hordenmitglieder zu verschonen! Sie sind doch ein Teil von dir, eine Verlängerung, ein Beweis deiner Macht – und ich werde all das auslöschen. Erst dann bist du tot. In meiner Welt wird nichts mehr von dir übrig bleiben! Dein Gebiet werde ich dem Erdboden gleichmachen; jedes hier lebende Wesen werde ich eigenhändig auseinandernehmen. Jedes Hordenmitglied, jede Frau. Sie sollen mit dir in Flammen aufgehen, es bereuen, sich dir jemals angeschlossen zu haben! Deine Ära, Ri-Il, wird heute, nach mehr als 600 Jahren, enden!“   Da traf Lycrams Faust den König der Dämonen mitten ins Gesicht.     Kälte und Dunkelheit. Eine dünne Blutspur und Blasen, die zur Oberfläche hinaufstiegen. Zwei Dämonen, die verschlungen fielen und fielen – immer tiefer, immer tiefer. Beide waren nicht länger bei Bewusstsein – sie sanken und sanken.   Zuerst waren es nur kleine Funken, die plötzlich um eines der drei Glöckchen herum auftauchten, dann wurden es mehr und mehr, die sich vereinten, um die beiden fallenden Dämonen herumwirbelten – wie ein Engel, der ihren Sturz in die Tiefe aufhielt, indem er die Arme nach ihnen ausstreckte und sie wärmend in diese schloss.   Wieder Luft bekommend und geweckt von dieser Wärme der Geborgenheit, die auf einen Schlag sämtliches an ihm zehrendes Heimweh verdrängte, öffnete Youma die Augen, Nocturn immer noch gegen sich drückend, mitten im Wasser schwebend.   Tränen stiegen in seine Augen, als er kurz das lächelnde Gesicht Lights zu sehen glaubte – aber dann verschwand es und als Youma auf allen Vieren das Wasser aushustete, nachdem er am Strand erwacht war, war er sich nicht sicher, ob er sich das nicht eingebildet, es geträumt hatte… eingebildet, weil er es sich gewünscht hatte. Der Halbdämon kniete sich hin, nicht auf die Wellen achtend, die um seine Knie herum ihrem sachten Gang nachgingen und sich die drei Glöckchen ansehend, die beim Sturz ins Wasser herausgerutscht waren.   Sie sahen… normal aus. Unverändert. Nichts deutete an, dass eines von ihnen sie gerade gerettet hatte – aber… warte, seine Schmerzen. Sie waren weg; Youma konnte frei atmen und als er seinen Oberkörper abtastete, spürte er deutlich, dass seine Rippen verheilt waren. Wie… wie war das möglich?   Aber während er sich aufgeregt abtastete, bemerkte er noch etwas anderes. Er war alleine.   Die aufkommende Sorge riss Youma sofort auf die Füße; eine Tat, die zu schnell für seinen Körper gewesen war. Ihm wurde schwindelig; das Gleichgewicht drohte ihm zu entfliehen, aber er konnte sich noch im letzten Moment zusammenreißen und seinen Körper dazu bringen, sich umzusehen… doch nein, nirgends war auch nur die kleinste Spur von Nocturn.   „Nocturn?!“ Angstvoll wirbelte Youma zum Meer herum – aber das… das konnte doch nicht sein, er war doch nicht immer noch…!?   Absolut entschlossen, wieder ins Meer zu tauchen, wollte Youma gerade durch die Wellen waten, als ihm etwas aus den Augenwinkeln heraus auffiel – Schleifspuren. Sie waren zwar schon fast von den Wellen verschluckt worden, aber man konnte sie noch erkennen. Und als er den Spuren mit den Augen folgte, sah er die halb vom Sand verborgene Hengdi. Aber keine Spur von Nocturn.    Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)