Opus Magnum von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 5: Il commence - Opus I ------------------------------- Nocturns Hand lag auf dem bronzefarbenen Geländer der Treppe; sie war ein wenig verkrampft, er spürte, er war noch nicht gänzlich bereit. Er hatte die Rolle zwar gelernt, das Drehbuch verinnerlicht, aber das Stück, was er zu spielen hatte, machte ihn dennoch nervös –  obwohl es bereits begonnen hatte.   Mit einer fremdartigen Unruhe stand Nocturn wieder am Balkon des goldenen Eingangsbereiches seiner geliebten Oper, in der er so viel Zeit verbracht hatte. Er war dankbar für all diese Erlebnisse, für jeden Ton, den er hier hatte spielen dürfen. Er wusste nicht, ob er es jemals wieder tun würde. Er wusste es nicht. Er wusste nicht, was kommen würde, er wollte auch nicht darüber nachdenken. Er konnte es auch nicht. Das Spiel hatte begonnen und angespannt beobachtete Nocturn, wie Youma die Treppe empor gerannt kam. Youma hatte ihn gesichtet, aber nichts gesagt; nur seine Schritte beschleunigt, als würde Nocturn im nächsten Moment verschwinden. Statt das zu tun, ging er ihm jedoch entgegen.  „Guten Tag, Youma. Wie geht es deiner Hand?“ Youma reagierte nicht auf seine Frage; er funkelte ihn nur finster und ungeduldig an: „Was geht hier vor?!“ Als Nocturn ihn nur fragend ansah, führte Youma aus: „Der König hat mir gerade gesagt, dass du den Kampf wiederholen willst…“ „Das ist richtig.“ „... warum?!“ „Weil er nicht fair war. Du bist verletzt. Du bist eingeschränkt gewesen.“ „Das war doch der Sinn…“ Youma unterbrach sich selbst, wütend, dass es ihm überhaupt herausgerutscht war und die nach oben gezogenen Augenbrauen Nocturns gefielen ihm gar nicht. Um davon abzulenken fragte Youma: „Wie hast du den König von deiner Idee überzeugen können?“  „Mit Höflichkeit und der Untergebenheit, die einem König gegenüber angebracht ist.“ Youma knirschte mit den Zähnen, aber das sah Nocturn nicht, denn er war an ihm vorbei gegangen und war auf dem Weg die Treppe herunter, langsam, die Hand auf dem Geländer.   „Nach unserem Kampf habe ich ihn noch einmal aufgesucht und dem König meine Bitte unterbreitet, dass wir den Kampf noch einmal wiederholen.“ Youmas Augenbrauen hoben sich skeptisch: „Gut, Gratulation, das ist dir geglückt. Das ist eine Sache. Was mich viel mehr wundert…“ Er drehte sich zu Nocturn herum, der beinahe auf der letzten Stufe angekommen war und ihn nun über die Schulter hinweg ansah: „… der König berichtete mir, dass du trainieren möchtest, um seinen „Anforderungen“ und „Erwartungen“ gerecht zu werden, damit er dich in seine Horde aufnimmt?! Er hat dir sogar eine hohe Stellung versprochen!?“ „Das stimmt.“  „Kannst du mir mal erklären warum?! Ich dachte, du wolltest einfach nur White treffen; was hat das alles noch mit ihr zu tun?!“ Nocturn sah ihn kurz einen Moment lang schweigend an, dann drehte er sich auf der Treppe herum, um ihn nun gänzlich anzusehen, die Arme auf dem Rücken, ineinander verschränkt, womit er die Hand, die sich während seiner Antwort verkrampfte, verbarg. „Während unseres Kampfes ist mir etwas bewusst geworden; dieses Leben hier, meine Karriere…das ist alles nur ein Teil einer Illusion, einer Traumwelt. Ich gehöre nicht hierher. Ich gehöre in die Welt der Dämonen und als Dämon gibt es doch keine größere Ehre als dem König zu dienen, nicht wahr?“ Nocturn achtete nicht darauf, dass Youma bei jedem Wort blasser und schockierter geworden war und rundete seine Worte mit einer Frage ab: „Ist es nicht auch für dich eine Ehre?“  „Eine… Ehre?!“ Wie säuerlich, wie verbittert Youma dieses Wort voller Abscheu ausspie bemerkte nicht nur er selbst, aber Nocturn wankte nicht, auch als der Halbdämon ihn nun direkt anspie: „Wie kannst du dein Leben hier aufgeben!? Du hast eine Familie, ein Zuhause! Hast du keine Ahnung, wie glücklich du dich schätzen kannst?!“ Diese Worte brachten Youma selbst zum Schweigen, denn er begann plötzlich, es zu verstehen; das Gefühl, das er immer hatte, wenn er Nocturn ansah, wenn er ihn reden hörte… eine Mischung aus Eifersucht und Sehnsucht nach dem, was er selbst verloren hatte.  Und dass er es so einfach aufgeben wollte, machte ihn noch wütender. „Wir können nicht vor unserem Blut davon rennen.“  Es war gut, dass die beiden Dämonen in diesem Moment nicht die Gesichter des jeweils anderen sahen.  Kasra hatte Youma einen neuen Befehl gegeben; er solle Nocturn in seinem Bestreben, den Erwartungen seines Vaters gerecht zu werden – was Kasra sehr theatralisch verkündet hatte – unterstützen. Was sei er doch für ein guter Sohn, obwohl er nicht einmal wisse, dass er sein Sohn war! So gut erzogen, daran könnten sich andere wirklich ein Beispiel nehmen… er sei doch nicht einmal ein so schlechter Kämpfer; Kasra hätte ihn auch unter den jetzigen Bedingungen bei sich aufgenommen… aber einen Jungen mit so einem Elan, mit so einem Talent, dürfte man jetzt doch nicht bremsen!  Im Stab des Königs befanden sich natürlich viele Dämonen, die für das Trainieren und Ausbilden der Jungdämonen zuständig waren, aber anstatt ihnen diese Aufgabe anzuvertrauen, hatte Kasra den Vorschlag seines Sohnes angenommen, dass dieser in der Menschenwelt trainieren wollte. Nocturn hatte ihm erklärt, dass er ihn überraschen wolle, aber Nocturns eigene Intentionen waren Kasra in diesem Fall ziemlich egal; er selbst hielt es aus gänzlich anderen Gründen für eine gute Idee, wenn Nocturn nicht in Lerenien-Sei trainieren würde… Ri-Il hatte seine Nase einfach überall und Kasra vertraute nicht darauf, dass die Ausbildung seines Sohnes lange geheim bleiben würde, wenn man ihn in der Dämonenwelt trainieren würde.  „Wenn mir die Frage erlaubt ist, Hoheit… warum setzt Ihr nicht einen Lehrmeister für Nocturn ab, der ihn in der Menschenwelt trainiert?“  „Hast du mir etwa nicht zugehört, Youma!? Er will seinen Vater überraschen und hat mir versichert, dass er keinen Lehrmeister braucht; also lassen wir ihn mal! Aber eine Absicherung muss sein, und damit ich die Gewissheit habe, dass er auch wirklich trainiert…“ Er grinste Youma feixend an, seine gute Laune war sehr deutlich zu erkennen; man spürte sie förmlich: „… wirst du sein Training observieren und dafür sorgen, dass…“ Er lachte, fast so als müsste er sich selbst noch weiter erheitern: „… mein Sohn keine Faxen macht, haha! Du bist momentan doch sowieso ein Krüppel; da ist so eine entspannende Mission doch genau das richtige für dich? Wer weiß!“ Er klopfte – oder eher schlug – Youma mit der flachen Hand auf den Rücken und fuhr lachend fort: „Vielleicht hast du dann ja in eurem zweiten Kampf eine größere Chance, haha!“  Youma kochte vor Wut, wenn er nur daran dachte! Ja, vielleicht hätte er ja eine größere Chance – allein schon, weil seine Hand dann verheilt sein würde?!  Jetzt hatte er also die Mission, den Babysitter zu spielen. Aber gut, auch wenn ihn das ärgerte und er wirklich nicht mehr Zeit mit Nocturn verbringen wollte als nötig, so sollte er versuchen, das Positive daran zu sehen; es war immer ein großer Vorteil, nicht in Kasras Nähe zu sein. Und dazu kam, dass die Mission an sich ja auch keine Schwere war; einfach nur observieren und sichergehen, dass Nocturn seine Versprechungen hielt, denn natürlich brauchte Kasra eine Absicherung, ganz gleich wie sehr er sich über den Enthusiasmus seines Sohnes freute. Kasra war eine skeptische Person; er vertraute niemandem. Vielleicht vertraute er nur Youma… weil er wusste, dass er auf ihn angewiesen war.  Nocturn schien sofort beginnen zu wollen. Er hatte Youma am Arm gepackt und ihn ohne Vorwarnung an einen anderen Ort gebracht, womit sich der Halbdämon plötzlich in einem Wald wiederfand. Es war warm, obwohl sie im Schatten standen; etwas weiter entfernt hörte er Stimmen von Menschen. Die beiden Dämonen standen auf einem Pfad, der sich durch den Wald nach oben schlängelte und direkt zu einem großen, dunklen Haus führte, im welchem Nocturn die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Raria stand am Fenster des ersten Stocks; ihre eigentlich immer skeptisch aussehenden Augen lagen auf Youma, der Nocturn den Pfad hinauf folgte und ebenfalls einen skeptischen Eindruck machte; er hatte ihren Blick nicht bemerkt, anders als ihr Neffe, der kurz zu ihr hochsah, aber keine Anzeichen auf Verunsicherung in seinem Gesicht. Gut.  Die Dämonin lauschte dem sachten Gurgeln der Gießkanne, als das Wasser aus dieser hinauslief und die Erde der Hortensie nässte. Auch sie fragte sich, wo das alles hinführen würde; etwas, was ihr absolut nicht gefiel, denn sie war keine Person, die sich auf Ungenauigkeiten verließ. Sie war eine Planerin und mit dieser Charaktereigenschaft war es ihr nicht nur gelungen, sich eine Existenz in der Menschenwelt aufzubauen, sondern auch versteckt zu bleiben. Es war viel Arbeit gewesen. Viele Jahre bevor sie der Dämonenwelt endgültig den Rücken zugekehrt hatte, hatte sie bereits begonnen, Geld zu sammeln; überall in der Welt der Menschen hatte sie sich bei jeder freien Gelegenheit Geld zusammengestohlen. Sie hatte immer ein großes Interesse für die Menschenwelt gehabt und anders als viele ihrer Mitdämonen hatte sie das finanzielle System verstanden; für sie waren es nicht einfach nur „Goldmünzen“ oder „Zettel“; sie verstand was eine Währung war und wusste im Gegensatz zu anderen Dämonen, dass die „Zettel“ mehr Wert hatten als die Münzen. Sie war geduldig gewesen, niemals hatte sie den Bogen überspannt, hatte sich ihren Mitdämonen gegenüber nie etwas anmerken lassen und ihr gesammeltes Geld stets in Dollar umgetauscht, ohne es irgendwie anzurühren oder ihre eigentliche Aufgabe als Lehrmeisterin zu vernachlässigen, bis sie sich dann per Zufall in das Haus verliebt hatte, in welchem sie auch jetzt noch wohnte. Sie hatte immer von einem solchen Haus geträumt; ein Haus, wie es die Menschen hatten, ein Haus mit vielen, verschiedenen Zimmern, mit Treppen, nicht mit Schächten, in denen man hochfliegen musste, mit zwei Badezimmern, mit Fenstern, aus denen man hinausgucken konnte und die einem nicht die Sicht versperrten. Mit einem Garten, mit Grün, mit dem Rauschen des Meeres. Mit Wasserhähnen, aus denen Wasser floss; Wasser, das man trinken konnte, was die Badewanne füllte, für welches man kein König sein musste, um es mit Duftöl zu versetzen; Wasser, wofür man nicht betteln oder töten musste.  Das Auditorium war das Herzstück des Hauses. Es war früher eigentlich das Esszimmer gewesen, aber Raria hatte es zum Musikraum umfunktionieren lassen: es war der schönste Raum, mit großen Fenstern, die keine Vorhänge besaßen, weil nichts die Aussicht auf das Meer stören durfte. Das Meer und die Musik – das waren die Schätze, die Raria in der Menschenwelt gefunden hatte und die sie behütete und liebte.  Das Haus hatte fast ihre gesamten Ersparnisse verbraucht und sobald sie das Haus und damit einen Wohnsitz besaß, musste sie lernen, sich anzupassen. Sie war immer sehr gut darin gewesen; aber es war etwas anderes, sich vorübergehend für eine Mission anzupassen, als die Fassade dauerhaft aufrechtzuerhalten. Das Dorf, in dem sie lebte, war klein, in sich gekehrt und ruhig; es gab hier nicht einmal einen Supermarkt. Nur Landwirtschaft und niedrige Häuser mit Blick aufs Meer. Umso wichtiger war es gewesen, nicht aufzufallen. Es war schwer gewesen, sich anzugewöhnen immer Kontaktlinsen zu tragen, sich beizubringen, dass sie diese vor ihre rote Iris schieben musste, sobald sie das Bett verließ. Am Anfang hatte sie es nur getan, wenn sie das Haus verließ, bis sie herausgefunden hatte, dass Menschen einen Begriff besaßen, der sich „Nachbar“ nannte und dass dieser etwas anderes bedeutete als „Gebietsnachbar“ – Essen vorbeibringen, einfach auftauchen, um zu fragen, wie es einem ging, Zucker für den Sonntagskuchen zu leihen…. all das gehörte zu diesem eigenartigen Begriff.  „Wie ein Mensch zu sein“ war wahrscheinlich die größte Herausforderung ihres Lebens gewesen. Sie hatte sich vielen Problemen stellen müssen, von ökonomischen bis hin zu den sozialen, doch sie hatte sie gemeistert. Sie war immer zurückhaltend gewesen – nur in Instrumente investierte sie Geld – vielleicht auch geizig, geduldig hatte sie das Geld beiseitegelegt, ihm beim Wachsen zugeguckt und konnte jetzt behaupten, dass sie vermögend war. Aber wichtiger als das; sie war in die Dorfgemeinschaft integriert.    Sie hätte allen Grund, Nocturn für seine Unüberlegtheit Vorwürfe zu machen. Er brachte all das, was sie erarbeitet hatte, in Gefahr.  Aber sie tat es nicht. Dafür liebte sie ihn zu sehr.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)