Opus Magnum von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 1: Le Prélude - Opus I ------------------------------ Die Welt der Dämonen. Eine Welt nur regiert vom Gesetz des Stärkeren. Unter dem schwarzen Zweimond, gebettet in ein blutrotes, unbewegliches Himmelsmeer, kämpfen deren Bewohner sich von einem Tag zum nächsten. Die einen mit resignierender Faulheit, die anderen mit jedem Funken Stärke, der ihrem vom Krieg gegen die Wächter gestählten Körper innewohnt. Kämpfend, bis zu dem Tag, an dem sie sich in nichts außer Funken auflösen und damit ihren letzten Gegner, dem Tod, gegenüberstehen. Bis zu diesem Tag, an dem nicht einmal mehr ihr toter Körper übrig bleibt, kämpfen sie. Jeder auf seine Weise. Ums Weiterleben.    Ein individualistisches, Freiheit liebendes Volk.     Eine Welt, deren Gesetz vorschreibt, dass der stärkste Dämon die Krone trägt. Ein Wechsel der Krone kann nur durch Tod geschehen. Lange hat ein solcher Wechsel nicht mehr stattgefunden, denn der stärkste Dämon strahlt seit nun mehr als 100 Jahren von goldener Pracht gekrönt an der Spitze, als absoluter Sieger des ewigen Kampfes.    Der am liebsten namenlos verbleibende Erschaffer dieser roten Welt lächelt in sich hinein. Überblickt von seinem Turm aus sein geliebtes Spielfeld, das ihm seit Äonen mit seinem nie gleich seienden Wechsel von Tragödien und Komödien immer gute, unterhaltsame Dienste geleistet hat. Aber mehr als hundert Jahre will er nicht denselben König sehen. Seine Welt schreit. Sie fleht ihn an, einzugreifen mit seinen göttlichen Händen.   Er beobachtet diese Geschichte bei ihrer Entfaltung. Sein eigenes Epos, in das er nun seinen Schützling hinein wirft, um ihn auf seinem Weg zu begleiten.     Aufwachen, Youma… die Krone wartet auf ihren wahren Besitzer.     OPUS MAGNUM Le Prélude - Opus I       Youma hatte sich nie für Musik interessiert. Er konnte daher nicht beurteilen, ob das, was er hörte, „gut“ war; störend war das Spiel des Flötenspielers nicht und es war wahrscheinlich schon ein Kunststück, so viele Menschen anlocken zu können, die augenscheinlich alle nur aus einem Grund in diesem roten Auditorium versammelt waren – um einem einzelnen Flötenspieler zu lauschen. Es war sogar schwer gewesen, einen Platz zu bekommen, hatte man Youma erzählt, „alles ausgebucht“ hatte es weiter geheißen, sehr nachgefragt seien der Flötenspieler und sein Spiel, der es vollbrachte, ein so großes Publikum ganz alleine und ohne die Begleitung eines anderes Instruments so zu verzaubern. Auch das hatte Youma nur gehört, denn er hätte sich nicht darüber gewundert, dass da oben auf der Bühne nur eine einzelne Person stand; er wusste nicht, dass das recht ungewöhnlich war und die Flöte normalerweise nur ein Begleitinstrument war, aber nur sehr selten der Kern einer ganzen Aufführung.   Die schwarz gekleideten Menschen um ihn herum lauschten fasziniert, die meisten mit dem Blick auf den in weißes Scheinwerferlicht gebadeten Flötenspieler, der von dieser bedingungslosen Aufmerksamkeit allerdings nichts sah. Er hielt die Augen geschlossen; fernab von jeglicher konzentrierter Anspannung schien er zu sein, völlig in seinem eigenen Spiel vertieft. Youma versuchte, das ihm vorgespielte Lied für sich selbst zu beschreiben; aber es fiel ihm schwer, Worte zu finden, die zu diesen sanften Tönen passen würden. War es eine traurige Melodie? Nein, das war sie nicht... sie war viel eher von einer mysteriösen Aura erfüllt, die den ganzen Saal auszufüllen schien. Ob es diese Mystik und der unbekannte Zauber war, der so viele Menschen anzulocken vermochte? Die Töne schienen einen in eine andere Welt einladen zu wollen... Man spürte förmlich in diesen einlullenden Tönen, dass ihr Urheber kein Teil dieser Welt war, der Welt der Menschen, dass er sich von ihnen unterschied, abgrenzte, auch wenn sein unscheinbares Aussehen es nicht verriet – und doch, wenn man genauer hinsah, stachen einem seine langen Finger ins Auge... wahre Skelettfinger, die sich mal schnell, mal langsam hoben und senkten; die Flöte gekonnt nach oben und nach unten flitzten. Er war sehr dünn; das Scheinwerferlicht war eigentlich ungünstig gewählt, denn es betonte ein ungesund aussehendes, spitzes Becken, obwohl der schwarze Anzug mit allen Mitteln versuchte, die Unförmigkeit seines Trägers zu verbergen. Seine bereits erwähnten Skelettfinger, sein spitzes Kinn, die langen Stangenbeine und seine für einen Menschen überdurchschnittliche Höhe machten ihn nicht gerade ansehnlich.   Aber sein Aussehen war definitiv gänzlich nebensächlich; alles, was zählte, war, dass er ihn endlich gefunden hatte.   Den Dämon, von dem er wusste, dass sein Name Nocturn war.     Der begeisterte Applaus brach sofort aus, als der Dämon die schwarze Flöte senkte und langsam die Augen öffnete; braune Augen, wie es Youma von der Ferne her vorkam – Kontaktlinsen; natürlich trug er solche, wenn er unter den Menschen nicht auffallen wollte.    Von tosendem Beifall begleitet senkte Nocturn den Kopf, platzierte die flötenspielende Hand auf dem Rücken und verneigte sich elegant. Youma bekam den Gedanken, wie ungewöhnlich unschön Nocturn aussah, nicht aus dem Kopf gefegt, aber die Menschen schien es nicht zu stören. Vielleicht lag es daran, dass ihnen die Musik wichtiger war als sein nicht gerade vorteilhaftes Aussehen.   Der Beifall war noch nicht verebbt, als Nocturn wieder aufsah und nonchalant in sein Publikum lächelte. Anstatt seinen Blick allerdings über die Menge schweifen zu lassen, blickte er zu Youma. Jeder Zufall war ausgeschlossen; er hatte den Augenkontakt mit ihm quer über das Auditorium mit Wissen und Wollen gesucht. Sein Lächeln beibehaltend, nickte er kurz grüßend und kaum auffallend mit dem Kopf, ehe er abgelenkt wurde, als eine in rot gekleidete Frau ihm mit schmeichelndem Lächeln einen weißen Rosenstrauß überreichte.   Auch noch als Youma das Auditorium verließ und den gigantischen, goldenen Eingangsbereich mit seinen zwei großen Treppen betrat, sich einfach von der Menge mitziehen ließ, fragte er sich, ob er es sich nicht vielleicht eingebildet hatte? Nocturn kannte ihn nicht – er konnte ihn unmöglich kennen! – wieso hatte er ihm dann zugenickt? Wahrscheinlich hatte er seine Aura unter den Menschen erkannt ... also doch dämonische Aktivität... aber an seinem Gestus war nichts Feindliches gewesen... und müsste er ihm nicht feindlich gestimmt sein?   Aber das Ganze wurde noch eigenartiger, was Youma beinahe nicht bemerkt hätte, denn die Sprache der Menschen war ihm fremd, weswegen er fast nicht erkannte, dass ein kleines Fräulein ihn ansprach; sie musste ihn am Arm berühren, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Kein guter Start eines Gesprächs; Youma war von vornherein kein Dämon, der an Menschen sonderlich Gefallen fand, weshalb er sowieso auf jede Konversation verzichten konnte – und dann machte sie auch noch so pedantisch auf sich aufmerksam... aber von seinem finsteren Gesichtsausdruck ließ sie sich nicht abhalten; sie schien erleichtert zu sein, dass sie ihn dazu gebracht hatte, stehen zu bleiben. „Monsieur, excusez mon impolitesse, mais Monsieur Le Noires souhaiterait s'entretenir avec vous. Il vous saurait gré d'accepter cette sollicitation bien entendu...“ Youma war nicht einmal gewillt, ihr auf diese in seinen Ohren unzusammenhängende Ansammlung von Lauten zu antworten und wollte sich gerade tonlos, aber mit einem vernichtenden Blick abwenden, als er es sich doch anders überlegte: hatte er den Namen „le Noires“ nicht schon einmal gehört? War das nicht... Nocturns Nachname? Oder wie auch immer Menschen das nannten… jedenfalls hatte er diesen Namen im Zusammenhang mit Nocturn gehört.   Trotz Sprachbarriere schien sie zu verstehen, dass er ihr doch widerwillig folgen würde. Sie lösten sich aus der Menschenmenge und sie lotste ihn mit hin und her schwenkendem brünetten Zopf die linke Treppe hinauf und den goldenen Gang hinunter. Wenn seine Vermutung allerdings richtig war... was wollte dieser Nocturn dann von ihm? Youma gefiel das nicht; ja, er hatte ihn gesucht und ja, er wollte ein Gespräch mit ihm, aber... unter anderen Umständen. Unter Umständen, in denen er die Zügel in der Hand hatte und nicht umgekehrt. Diese Fragen... diese Unklarheiten gefielen ihm nicht.   Zusammen mit der Menschenfrau passierte er einen reich verzierten Säulengang, der Youma unter normalen Umständen sicherlich in Staunen versetzt hätte, aber jetzt in diesem Moment war er zu angespannt, um sich auf seine Umgebung einzulassen – und seine Anspannung nahm zu, als die Frau ihn tatsächlich direkt zum Flötenspieler führte.   Sie befanden sich in einem großen rechteckigen Saal, über und über in Gold getaucht; von den pompösen Vorhängen, über die hohen Säulen, zur bemalten Decke bis hin zu den dekorierten und hell strahlenden Lüstern. Der hellbraune Parkettboden knirschte ein wenig unter Youmas Stiefeln, welcher sich hier sehr deplatziert vorkam; aber Nocturn sah genauso deplatziert aus in seinem schwarzen Anzug mit kleiner, sich wellender Schleppe. Er stand an einem der hohen Fenster, Youma den Rücken zugekehrt, hinaussehend in die Nacht, die von dem Treiben der Stadt erhellt wurde – Paris nannte man sie wohl, diese Stadt.   „Dix minutes, Monsieur Le Noires. La presse...“ „Oui, bien sûr. Je sais“, fiel Nocturn ihr ins Wort – mit einer Stimme, die nicht sonderlich tief war, wie Youma bemerkte; sie wirkte ein wenig kindlich. Sein Tonfall war ein wenig ungeduldig, aber das war nicht das, was Youmas Aufmerksamkeit erregt hatte... Die Menschenfrau schien noch etwas sagen zu wollen, aber stattdessen warf sie Youma noch einen argwöhnischen Blick zu, ehe sie sich auf den Hacken herumdrehte und den Saal verließ.   Nocturn wartete nicht lange – kaum, dass sie den Raum verlassen hatte, wandte er sich herum und sofort lagen seine untersuchenden Augen auf Youma. Dieser war nun allerdings nicht länger gewillt, ihm die Zügel zu überlassen, weshalb er das Schweigen zuerst brach: „Mein Name ist Youma“, stellte er sich auf Dämonisch vor, in der Hoffnung, dass Nocturn seine Wurzeln nicht gänzlich vergraben hatte und ihn hoffentlich verstehen würde. Nocturn blieb relativ unbeeindruckt; seine dünnen Augenbrauen zuckten kurz, dann prüfte er ihn noch einmal von oben bis unten, ehe ein zynisches Lächeln sich auf seinem Gesicht ausbreitete.  „Und Sie sind ein Dämon. Mir war gar nicht bewusst, dass ich sogar Fans in Enfer habe.“ „Ich interessiere mich nicht für Musik“, lautete Youmas Antwort, versucht, ernst statt bissig zu klingen; er wollte immerhin etwas von ihm – und es erleichterte alles, dass Nocturn wenigstens in der Lage war, Dämonisch zu sprechen, auch wenn es eingerostet klang. „Welch trauriges Leben Sie führen müssen. Ein Leben ohne Musik... unvorstellbar. Wie schrecklich leer das sein muss.“ Das musste gerade jemand sagen, der so konsequent seine Wurzeln verleugnete! „Mir geht es blendend, danke.“ Oh, das lief nicht gut; Youma musste sich zusammenreißen, sich an die Mission, an die Pläne erinnern... aber wieder war es Nocturn, der die Führung des Gespräches übernahm und immer mehr verhärtete sich Youmas Verdacht, dass nicht nur er etwas von ihm wollte, sondern auch umgekehrt. „Sie sind also ein Dämon“, stellte er wieder fest, was Youma fast dazu brachte, genervt mit den Augen zu himmeln; stattdessen brachte er sich zu einem verhältnismäßig ruhigen Kopfnicken. „Dann sind Sie also auch im Krieg aktiv? Im... Elementarkrieg? Die Kriege gegen die Wächter? Nennt ihr diese nicht so?“ Youma runzelte die Stirn: „Ja, die nennt man so. Und ja, durchaus, das bin ich.“ Eine halbe Lüge, aber Nocturn war gewiss nicht die Person, mit der er das besprechen wollte. „Dann haben Sie schon viele Wächter getroffen?“ Getroffen? Was für eine... eigentümliche Formulierung. Dämonen trafen keine Wächter; Dämonen bekämpften und töteten Wächter, genau wie umgekehrt. Er hatte wirklich sehr abgegrenzt gelebt. „Ich stand ihnen schon oft im Kampf gegenüber, ja.“ Nocturn stimmte diese Antwort scheinbar nachdenklich und zum ersten Mal wandte er seinen Blick von Youma ab, begann mit den weißen Blüten seines Geschenks zu spielen, welches er auf dem Fenstersims abgelegt hatte. Youma wollte sich schon diskret räuspern, als er von selbst fortfuhr: „Ich mag weiß. Weiß ist meine Lieblingsfarbe, daher bekomme ich immer weiße Rosen... ungewöhnlich für einen Dämon, nicht wahr?“ Der Dämon vor ihm tat eine Menge Dinge, die Youma „ungewöhnlich“ nennen würde; farbliche Präferenzen waren nicht unbedingt das, was er an oberste Stelle einer möglichen Liste setzen würde... wohl eher, dass er in der Welt der Menschen lebte statt in der Dämonenwelt.                                                                                            „Es gibt jemanden, den ich gerne treffen möchte... Youma war der Name? ... vielleicht können Sie mir ja dabei behilflich sei-“ Gerade als Youma darüber die Stirn runzeln wollte, ertönte plötzlich ein klingelndes Geräusch. Verwirrt über die plötzliche Unterbrechung sah Youma sich um, bis er bemerkte, dass das ziemlich irritierende und störende Geräusch von Nocturn ausging.     „Oh, excusez-moi – einen Moment...“ Nocturn holte ein schwarzes, kleines Gerät aus seiner Hosentasche, welches Youma auf den ersten Blick nicht identifizieren konnte, aber dann dämmerte es ihm: war das nicht eines dieser Kommunikationsgeräte der Wächter? Er hatte Karou öfter darüber klagen hören, dass sie solche nicht besaßen, aber warum hatte Nocturn eins? Und dieses anormale Individuum glaubte, seine Lieblingsfarbe wäre eigenartig?! „Bonsoir Raria !.......oui, oui, c'était splendide ! Non, je n'ai fait aucune erreur.... Non ! Mon Troisième Opus Nocturne était parfait... Parfait, te dis-je. Je ne suis pas en train de me venter.... Oui, bien sûr.... Oui, je rentre bientôt... La presse? Oui! Tant-pis, haha!“ Dann warf er wieder einen Blick zu Youma, überlegte kurz, widmete sich dann allerdings wieder dem eigentümlichen Gerät, das er eigentlich gar nicht besitzen sollte.   „Non, arrête ça.* A Paris, le temps est magnifique.... Oui, je sais....... Je reviens avant minuit, d'accord ? ... Dis bonsoir à Madeleine de ma part !... Oui.... je sais, Raria, je sais....“ Das Gespräch schien er damit abgeschlossen zu haben; jedenfalls ließ er das Gerät wieder geräuschlos in seine Hosentasche gleiten. Während er seinen weißen Rosenstrauß schulterte, lachte er in sich hinein und seufzte: „Ich verehre sie ja, aber ein wenig übervorsichtig ist sie.“ „Wer?“, fragte Youma automatisch, obwohl er nicht damit rechnete, eine Antwort zu erhalten. Aber das sollte nicht das letzte Mal sein, dass Nocturn ihn überraschte: „Meine Tante, Raria.“   Youma stutzte nicht nur darüber, dass er ihm das so bereitwillig erzählte, sondern auch über den Namen – denn das war die einzige Warnung, die ihm Nathiel mitgegeben hatte... er solle Acht geben vor Raria. Raria war gefährlich, meinte sie. Aber sie meinte viel und Youma glaubte wenig davon.   „Sie sagt immer, ich solle vor Fremden Acht geben. Aber Sie sind ja gar kein Fremder, ich kenne ja Ihren Namen, nicht wahr, Youma? Und ich nehme an, dass Sie meinen kennen...“ Plötzlich stand Nocturn neben ihm, seine Hand auf seine Schulter gelegt; eine plötzliche Annäherung, die Youma skeptisch beäugte, was Nocturn aber nicht abzuschrecken schien. Im Gegenteil; er schien in freudiger Erwartung zu sein: „Leisten Sie mir doch auf meinem Spaziergang Gesellschaft, Youma! Es hat gerade geregnet und Paris ist wunderschön nach einem Regenschauer, besonders bei Nacht.“  Hosted by Animexx e.V. 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