Nur zur Weihnachtszeit von sissyphos ([Erwin x Levi]) ================================================================================ Kapitel 1: Weihnachtszauber --------------------------- Das darf doch nicht wahr sein. Draußen ist es schon wieder dunkel. Wird es in letzter Zeit überhaupt noch richtig hell? Morgens im Dunkeln zur Uni fahren, abends im Dunkeln nach Hause in die kalte Wohnung heimkehren – das ist ein echt ermüdender Tagesablauf. Vor dem Fenster fahren zwei helle Scheinwerfer vom Parkplatz. Da hat irgendjemand aber verdammt Glück, dass er oder sie schon nach Hause darf. Dafür sitzen wir hier drinnen im Trockenen, müssen nicht durch den Regen zur Bushaltestelle oder unseren Autos laufen. Es ist ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit und wenn etwas vom Himmel fällt, dann ist es Regen und kein Schnee. Nicht ein Flöckchen hat bisher unsere Vorfreude auf Weihnachten angekurbelt. Und wenn ich die düstere Prophezeiung aussprechen darf – ich glaube auch nicht, dass da noch was kommen wird. An Heiligabend werden wir durch Matsch und Pfützen zu unseren Verwandten stapfen, um dem alljährlichen, großen Fressen zu frönen. Das sind wirklich keine schönen Aussichten. »-win!« Eine Stimme wie durch Watte gedämpft ruft nach mir. »Hey, Erwin!«, schreit sie ein zweites Mal. Beim Umdrehen fliegt mir ein Papierklumpen gegen die Stirn. Mike dreht schon eifrig die nächste Kugel, guckt etwas verdutzt als er meine Aufmerksamkeit bemerkt. Er lässt den zum nächsten Wurf bereiten Arm langsam wieder sinken. »Haha!«, lacht er. »Bist du doch nicht eingeschlafen, du verträumter Kerl.« Meine Augen wandern auf den Schreibtisch. Den Kugelschreiber halte ich noch einsatzbereit in der Hand. Um ihn herum hat sich ein kleiner Haufen Papierschnipsel versammelt. Mike ist wirklich ein Spielkind. Das zeigt nicht nur das süße, weihnachtliche Muster auf seinem dunkelbraunen, selbstgestrickten Baumwollpullover, den er letztes Jahr von seiner Mutter zu Weihnachten geschenkt bekommen hat. »Was ist denn?«, brumme ich und werfe kurz einen Blick nach vorne. Am Pult präsentiert sich mir ein leerer Platz. Oh, unser Dozent ist also bereits gegangen? Geht er mal wieder irgendetwas kopieren, um dann mit einem Kaffee – und zwar ausschließlich einem Kaffee! - wiederzukommen? »Noch zwei Wochen bis Weihnachten. Was machst du über die Feiertage?« Eine Frage, die Interesse vorgaukelt. Eigentlich möchte Mike nur gerne selbst erzählen, was er über die Ferien tolles geplant hat. »Am zweiten Weihnachtstag trifft sich die ganze Familie. Ansonsten bin ich zuhause und... keine Ahnung, bereite was für die Uni vor.« Mike hebt eine Augenbraue. »Herr Smith, wir haben zwei Wochen Weihnachtsferien! Nutzen Sie Ihre Zeit gefälligst sinnvoller!«, er holt kurz Luft, legt seine tadelnde Stimme beiseite, »Willst du nicht mit mir und meiner Freundin mit nach Dubai fliegen?« Oh, daher weht also der Wind. »Ihr fliegt nach Dubai?« Das Grinsen reicht bis über beide Ohren, sieht fast ein bisschen schmerzhaft aus. »Für anderthalb Wochen, über Silvester. Weihnachten verbringen wir bei ihrer und meiner Familie.« »Wow«, staune ich, »straffer Zeitplan. Deine Freundin wäre wohl weniger begeistert, wenn du plötzlich einen Kumpel mit anschleppen würdest.« Lachend verschränkt Mike die Arme hinter dem Kopf, kippelt mal wieder mit seinem Stuhl. Irgendwann legt er sich nochmal auf die Schnauze und dann werde ich es sein müssen, der ihn ins Krankenzimmer trägt. »Mag schon sein«, grinst er der Decke entgegen. Er schwärmt noch wahnsinnig für seine Neue, sie sind erst seit zwei Monaten ein Paar. »Du, Erwin, sag mal-...« Laut polternd treffen die Stuhlbeine zurück auf den teuren Parkettboden. »Hast du eigentlich inzwischen wieder eine Freundin gefunden? Von der ich noch nichts weiß?« Auch das noch. »Nicht schon wieder das Thema«, seufze ich und senke für einen Moment müde die Lider. Mike ist ein guter Kumpel, aber manchmal weiß er nicht ganz, wann man es einfach gut sein lassen sollte. »Na hör mal, das ist wichtig«, murrt er. Zum Glück sitzen wir weiter hinten, links in der Ecke. Die anderen sind mit ihren eigenen Gesprächen beschäftigt, hören uns nicht weiter zu. Die Lautstärke um uns herum ist hoch genug, dass man sowieso nichts verstehen könnte. Lautes Gebrabbel und Gelächter über bevorstehende Familienfeiern, Studentenpartys, Urlaube und noch nicht gekaufte Geschenke ist zu hören. »Du kannst doch nicht ewig Trübsal blasen, nur weil Nile dir irgendein Mädel ausgespannt hat. Das ist jetzt schon fast ein halbes Jahr her, Mann.« »Es war nicht irgendein Mädel«, werfe ich ein. Mike seufzt; lang, tief und eine Spur zu mitleidig. »Erwin Smith, wir müssen eine neue Beschäftigung für dich finden. Es geht gar nicht klar, dass du wochenlang in deiner Bude rumhockst und dort versauerst.« Er hebt die Hand als ich den Mund öffnen will. »Erzähl mir nicht so einen Scheiß, dass du zuhause genug für die Uni zu tun hast. Einen Scheiß musst du machen. Du bist der beste Student der letzten drei Semester. Du machst gar nichts für die Uni und wenn – dann kannst du beim Lernen vermutlich auch an etwas anderes denken als Zahlen und Fakten oder irgendwelche psychologischen Zusammenhänge.« Da hat er nicht ganz unrecht. »Keine Sorge, wir finden schon was für dich, das dich ablenkt.« »Ja, das befürchte ich. Dass du irgendetwas für mich findest«, denke ich laut. Mike lacht, die Tür zum Vorlesungssaal geht auf und ein kleiner, dicklicher Mann mit Brille kommt herein. In seiner Hand trägt er eine dampfende Tasse Kaffee, aber keine Kopien. * Der Regen hört nicht auf. Das Sichtfeld ist so eingeschränkt, dass man die Straße kaum noch erkennt. Sie verschwindet hinter einem wässrigen Schleier. Hinzu kommt dieses fürchterliche Quietschen, das Mikes Scheibenwischer bei jedem Wischen auf der Frontscheibe hinterlässt. Wir sitzen seit zehn Minuten im Auto, fahren durch die leergefegte Stadt und lauschen dem Radio und es macht mich langsam wütend. Dieses unaufhörliche Quietschen. Das ist wie bei einem Wasserhahn, den man nicht richtig zugedreht hat. Immer der gleiche Ton, immer in den gleichen Abständen. Man weiß, was kommt und man weiß, dass man es hasst. Es macht einen wahnsinnig. »Du solltest dein Auto mal wieder in die Werkstatt fahren«, merke ich ruhig an, aber mein zerknirschtes Gesicht sagt alles. »Das brauche ich nicht mehr«, grinst Mike und klopft sein Lenkrad wie den kräftigen Hals eines Pferdes mit dem er gerade eine erfolgreiche Dressur geritten ist. »Mein lieber Daddy schenkt mir zu Weihnachten ein neues Auto. Cool, was?« Er nennt ihn nie Daddy. »Hast du den hier nicht erst zu Beginn des Studiums bekommen?«, grinse ich. »Eben«, erwidert Mike lachend, etwas zu laut. Früher war er eher ruhig, aber seit er diese Frau kennt, hat er sich total verändert. Nicht unbedingt zum Negativen. Nur verändert. Lässig versinkt mein angespannter Körper tiefer in der gemütlichen Echtlederausstattung. Ich freue mich auf meine ruhige, kleine Wohnung. Auf ein warmes Bad; darauf, endlich die Krawatte und das Hemd auszuziehen. Gute Musik, ein fabelhaftes Buch und kurz vor dem Einschlafen nochmal in die Glotze zu gucken. Das könnte mir gefallen. »Willst du nicht auch über die Ferien wegfliegen? Ein bisschen Sonne würde dir vielleicht ganz gut tun, Erwin. Du siehst ein wenig... - nimm mir das jetzt nicht übel, okay? - krank aus. Die Philippinen haben dir letztes Jahr doch ziemlich gut gefallen.« Allein die Vorstellung noch buchen, packen und irgendetwas Sinnvolles unternehmen zu müssen, ermüdet mich. »Nein, ich-... glaube, ich genieße die Zeit lieber zu Hause.« Das laute, penetrante Geräusch der Hupe lässt mich hochfahren. »Oh, entschuldige«, lacht Mike verlegen als meine Augen nach einer möglichen Verkehrsbehinderung Ausschau halten. »Das war ein Versehen.« »Bei dir sterbe ich nochmal an einem Herzinfarkt«, schmunzle ich, lehne mich aber wieder zurück und sehe aus dem Fenster hinaus. Im Hintergrund spielen sie gerade einen uralten, bekannten Weihnachtssong. Das und die dekorative Weihnachtsbeleuchtung an den Straßen und in den Schaufenstern, wirken doch sehr idyllisch und besinnlich. Auch, wenn in diesem Viertel nicht so viel davon zu sehen ist wie in den übrigen Teilen der Stadt. Hier spart die Politik, damit die Straßen im Zentrum weiter ausgebaut und ausgebessert werden können. Im Radio unterbrechen sie den Songmarathon für einen kurzen Zwischenschub. In dem wird dafür geworben, ein paar Familien zu unterstützen, die sich zu Weihnachten nicht viel leisten können. Die kein Geld haben, um ihren Kindern vernünftige Geschenke zu kaufen. Es wird um Spenden gebeten und auf einmal jubelt Mike auf. »Ich hab's!«, brüllt er und spuckt beim Reden gegen seine Windschutzscheibe. »Du hast gegen die Scheibe gerotzt, stimmt«, sage ich. Mike winkt ab. »Nein, nein! Ich hab's! Was du machen kannst, Erwin.« Skeptisch nehme ich sein Seitenprofil in Augenschein. Seine Pupillen huschen kurz leuchtend in meine Richtung, blicken dann aber wieder geradeaus auf die Straße. »Soll ich auch spenden oder wie meinst du das? Das mache ich d-...« »Quatsch«, unterbricht mich Mike direkt. »Spenden ist was für Leute, die zu faul sind, wirklich etwas zu bewegen. Mit ihren eigenen Händen, ihrem Schweiß und ihrem vollen Körpereinsatz.« Du spendest sicher auch, Mike. »Erzähl mir mehr von deiner tollen Idee«, fordere ich ihn auf. Auf einmal fährt er rechts ran, in eine der freien Parklücken neben dem Bürgersteig. Er stellt den Motor ab und dreht sich im Ganzen zu mir. Den Arm stützt er locker auf dem Lenkrad ab. »Du kannst doch irgendwo aushelfen«, fängt er an. Meine Augenbrauen heben sich im Unglauben. »Wie meinst du das?« »Na hier in dieser gottlosen Gegend. Hier kann jeder Hilfe gebrauchen. Die Menschen, die hier leben, haben doch nichts. Damit tust du etwas Gutes!« »Ist das dein Ernst?«, frage ich und zweifle ernsthaft an der Zurechnungsfähigkeit meines Kommilitonen. »Wie stellst du dir das vor?«, lege ich nach, »Soll ich einfach an irgendeine Tür klopfen und fragen: Hallo, können Sie Hilfe gebrauchen?« »Warum nicht?«, schmunzelt er, »Das ist doch mal originell.« »Ich halte das für aufdringlich und lächerlich.« Damit ist die Diskussion eigentlich für mich beendet, aber-... »Weil du total in einer Winterdepression steckst. Es ist Weihnachten, Erwin!«, sagt er und mir klappt innerlich die Kinnlade herunter. Es fällt mir schwer, seine Mutmaßung unkommentiert stehen zu lassen. »Wenn man dich ablehnt, dann ist das eben so. Versuch's doch mal. Vielleicht lernst du ganz neue Leute kennen? Ich meine, hier«, er nickt einmal mit dem Kopf nach draußen, »lebt ein ganz anderer Menschenschlag als bei uns.« »Und außerdem«, fügt er geheimnisvoll an, »kannst du Feldforschung betreiben. Du interessiert dich doch für die Psyche der Menschen. Schau doch mal wie die Menschen leben, die du irgendwann mal herumkommandieren willst.« »Das klingt ziemlich negativ, Mike«, meine ich und reibe mir die nachdenkliche Stirn. Mein Blick wandert noch einmal aus dem Fenster hinaus, trifft direkt auf eine Hauswand mit verschiedenen, hässlichen Graffitimotiven. Obwohl – Graffiti kann man das nicht nennen. Graffiti ist Kunst, die nicht jeder an seiner Wand will, aber das hier... Sind nur obszöne Schmierereien, die niemand will. »Komm schon, tu es für die Menschen – und wenn nicht für die Menschen, dann eben für die Wissenschaft und für dich selbst. Du musst aus deinem Rattenloch raus, direkt an vorderste Front. Erweitere deinen Horizont, Erwin!« Er ist nicht schlecht darin, Menschen zu überreden. Außerdem hat er recht – was habe ich schon zu verlieren? Außer gleich dumm angegafft zu werden und eine Tür vor der Nase zugeknallt zu bekommen? Damit kann ich umgehen und dann ist das Thema vom Tisch. Einen gewissen Reiz hat es ja. Diese heruntergekommene Gegend; zu sehen, was hier für Menschen hausen und wie sie leben. Ansonsten verkehrt man nicht in diesen Kreisen. »Okay, na gut. Du hast mich überzeugt, Mike. Soll ich einfach an der nächsten Haustür klingeln?« Die Kapuze über den Kopf gezogen, bin ich schon bereit, die Autotür zu öffnen und in den Regen hinauszutreten, da hält mich Mike noch einmal am Oberarm zurück. »Halt. Lass dich nicht von deinem Auge leiten, okay? Du wirst irgendwo klingeln, wo du es selbst für am wahrscheinlichsten hältst, dass du eine Abfuhr bekommst, nicht?« Verblüfft blinzle ich. Nicht mehr als eine Vermutung, aber irgendwie interessant. Dabei bin ich momentan eher davon überzeugt, dass mich mein Unterbewusstsein an einen Ort führen würde, der besonders einladend für jemanden wie mich wirkt. »Nenn mir eine Zahl«, schlägt Mike vor. »Irgendeine.« »Dreiundfünfzig«, sage ich, rein intuitiv. Mike geht zurück in Position, dreht den Schlüssel im Zündschloss herum. Der Motor heult auf als er Gas gibt. »Dann mal ab zu Hausnummer Dreiundfünfzig«, lächelt er und behält die Gebäude an den Straßenseiten im Auge. Wir fahren nicht weit. »Da ist es«, sagt Mike schneller als mir lieb ist und sein Blick fällt dabei auf die linke Straßenseite, auf ein kleines, beleuchtetes... Café? Er parkt an der Seite und ich weiß nicht, warum, aber auf einmal schlägt mein Herz schneller als bei jeder bisherigen Prüfung, die ich geschrieben habe. Ich bin nervös und weiß nicht warum. Es hängt überhaupt nichts von diesem Besuch ab. Rein gar nichts und trotzdem bin ich ganz aufgeregt. Total bescheuert. Das Café sieht nett aus. Ein bisschen altmodisch, aber nett hergerichtet. (Mir sagte mal jemand, dass »nett« die kleine Schwester von »scheiße« ist, aber das stimmt nicht. Nicht wirklich jedenfalls.) Im Schaufenster leuchten ein paar Kerzen, Tannenzweige zieren es. Mehr kann ich durch den netten Regen aus dieser Entfernung nicht erkennen. Aber ich denke, dass es von innen nicht schlimmer aussieht als von außen. Meist sind die Gebäude von innen freundlicher als von außen und das... ist doch ein gutes Zeichen? »Wollen wir rein? Vielleicht haben die ja noch auf«, murmelt Mike und ich höre ein klackendes, dann ein summendes Geräusch des Anschnallgurts. »Es ist kurz nach 18 Uhr, Mike. Ich glaube, die schließen jetzt«, überlege ich laut, schnalle mich aber auch ab. Ich bin gespannt auf die oder den Besitzer. Sieht nach einem älteren Inhaber aus. Ja, ältere Herrschaften führen so ein Geschäft. Als eine alte Familientradition oder etwas in der Art. Wir steigen aus. Der Regen rauscht und ist kalt. Er hat ein paar tiefe, unschöne Pfützen hinterlassen, die mir meine guten Schuhe versauen wollen. Geschickt umgehe ich sie, halte mit Mike Schritt und mit meinem Augenheben erkenne ich eine Gestalt, die aus dem Geschäft tritt. Sie dreht uns den Rücken zu, trägt einen großen Sack; fast größer als sie selbst. Die Gestalt ist klein, zierlich und bewegt sich auf eine ganz einzigartige, anmutige Weise, die mir auf Anhieb imponiert. Und das behaupte ich von jemandem, der gerade einen Müllsack schleppt! Wenn es eine Frau ist, ist ihr Chef ein ganz schöner Dreckskerl, dass er sie mit schweren, körperlichen Aufgaben allein lässt. Das Scheppern übertönt sogar den lauten Regen als der blaue Sack in der großen Mülltonne landet. Die Gestalt klopft sich kurz die Hände ab, dreht sich dann in einer fließenden Bewegung um die eigene Achse und bemerkt uns, bevor sie wieder im trockenen Geschäft verschwinden kann. Wir sind näher gekommen und oh-... nein, keine Frau. Ganz und gar nicht. Korrekt, die Hüften sind auch viel zu schmal; ist mir gar nicht aufgefallen. Das Gesicht – na ja, ein bisschen androgyn, aber... nicht wirklich feminin. Dafür guckt er zu finster drein; aus seinen kleinen, fiesen Augen. Diese pure Ablehnung, die er ausstrahlt, wirkt eher maskulin. »Kann ich Ihnen helfen?«, brüllt er durch den prasselnden Regen und zieht sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Wir stehen direkt vor ihm. »Wir haben geschlossen, falls Sie noch ins Café wollten«, sagt er sehr höflich, aber seine Mimik ist das genaue Gegenteil. Unfreundlich, fast feindselig; ein: Verpisst euch, aber ganz schnell. »Ah... Ach so«, presst Mike heraus, etwas überrumpelt von dem Anblick vor uns, »Schade, kann man nichts machen.« Das sagt er jetzt, dabei war der Humbug doch seine Idee. »Komm Erwin, dann fahren wir eben nach Hause«, sagt er zu mir, wendet sich noch einmal an den Mitarbeiter, »Schönen Feierabend!« »Gleichfalls«, murrt der kleine Mann und verschwindet mit einem lauten Krawumm der Eingangstür im Ladenbereich. »Unheimlich«, sagt Mike nur kopfschüttelnd und macht sich im Schnellschritt auf den Rückweg zum Auto. Ich folge ihm, kann den Blick aber nicht von dem fein geschwungenen Schild abwenden, auf dem gut leserlich »Birkencafé« geschrieben steht. »Das war ja ein Reinfall«, murrt Mike als wir wieder im warmen Auto sitzen. »Dafür haben wir uns durch dieses Pisswetter gequält und außerdem-...« »Ich mach's«, werfe ich ein. Mike fährt nicht los, ist plötzlich still; richtig erstarrt. »Was?«, hakt er nach; absolut fassungslos. »Ich mach's«, wiederhole ich mit einem zuversichtlichen Lächeln auf den Lippen. »Gleich morgen werde ich fragen, ob ich bis zum neuen Jahr aushelfen kann. Vielleicht auch länger, wenn es passt.« »Irgendwo hast du echt verdammt 'ne Schraube locker, Erwin Smith, aber«, er holt kurz Luft und startet den Motor, »ich bin froh, dass du es doch machen willst.« Nachdenklich, ratlos hebt er die Schultern. »Auch, wenn ich nicht weiß, ob das für deine Gesundheit so gut ist. Wenn die da alle so drauf sind wie der Knirps... Na ja, vielleicht gibt es auch eine hübsche, weibliche Bedienung mit der du dich... sagen wir... anfreunden kannst?« »Ja, vielleicht«, sage ich lächelnd und blicke hinaus auf den nassen Bürgersteig, der an uns vorbeizieht. Wenn ich nach Hause komme, werde ich meine Bude schmücken, jawohl. Ich hole den ganzen alten Krempel aus dem Abstellraum und bringe die Lichterketten in den Fenstern an, baue meinen kleinen, künstlichen Weihnachtsbaum auf. Jawohl, das mache ich. Und während ich aus dem Auto in die leere Stadt blicke, sehen mich weiter die aufgeweckten, gemeinen Augen an. Ein dreckiges, schönes Graublau, erinnere ich mich richtig? Die Farbe eines wolkenverhangenen Himmels; melancholisch und hoffnungsvoll. Hübsches Gesicht und-... Das war echt ein tüchtiger Typ, ganz schön kräftig für seine zarten Maße! Eine Schande, dass er nichts Besseres aus seinem Leben macht, oder-... jobbt er vielleicht auch nur nebenbei dort? Ist er Student? »Erwin.« Langsam dreht sich mein Gesicht in die Richtung aus der die Stimme ertönt. »Ja?« »Wir sind da«, grinst Mike schelmisch und tippt ungeduldig mit den Fingerkuppen auf dem Lederlenkrad herum. »Du bist mit deinen Gedanken echt ganz woanders. Ich frage mich nur, wo.« Bevor ich irgendetwas erwidern kann, fügt er hinzu: »Halt! Ich will es gar nicht wissen. Behalt' es einfach für dich, Kumpel.« Er knackt einmal seine Nackenwirbel, rechts und links, laut und ich höre das Quietschen des Scheibenwischers wieder ganz deutlich. »Was machst du jetzt noch?« »Ich hole den Weihnachtsschmuck raus«, lächle ich und ziehe mir wieder die Kapuze über den Kopf. Mein guter Freund wirkt überrascht. Er lacht. »Hat dein plötzlicher, sehr löblicher Tatendrang irgendetwas mit der Begegnung von eben zu tun? Der Typ hat doch was mit dir gemacht, oder?« Grinsend zucke ich mit den Schultern. »Vielleicht hat er mich ein wenig inspiriert, kann schon sein.« Mikes helle Augen leuchten auf. »Gut!«, ruft er und schlägt mit den flachen Händen auf das Lenkrad. Wieder dröhnt die Hupe. Er hat zwei linke Hände – nein, zwei linke Bärentatzen. »Sehr gut!«, freut er sich. »Dann haben wir ja alles richtig gemacht«, reibt er sich das stoppelige Kinn. »Bewirb dich morgen bloß, Erwin. Wirklich. Mach das!« Klackend öffne ich die Tür ein Stück. Der Wind reißt sie freundlicherweise für mich auf. »Gute Nacht, Mike«, grinse ich und verabschiede mich mit einem letzten kurzen Gruß in die unruhige Nacht. Jetzt wird erstmal heiß gebadet. * Es hat aufgehört zu regnen. Die Spuren sind allerdings noch enorm. In jeder kleinen Kuhle hat sich eine Pfütze gebildet, die Straßen und Gehwege sind nass, die Luft ist kalt und erschöpft. In der Kälte stehe ich vor dem Birkencafé, die Hände in den Jackentaschen vergraben und beobachte das Geschehen im Inneren des Geschäfts aus sicherer Entfernung. Am frühen Nachmittag passieren viele Leute diese Gegend, es fällt also kaum auf, dass ich seit fünf Minuten in dieses Café starre und nicht hineingehe. In der Masse gehe ich unter; kann mir alles genau angucken. Der Laden ist wirklich hübsch geschmückt. Sehr winterlich und weihnachtlich. Sehr einladend. Möchte man gar nicht meinen, in dieser Gegend. Normalerweise wäre ich nie auf die Idee gekommen, hier auch nur anzuhalten. Die hübschen Bedienungen setzen der imposanten Deko den Gipfel auf. Die Arbeitskleidung kann sich wirklich sehen lassen. Ein weinrotes Hemd setzt den farbigen Akzent, ein schwarzes Tuch als lockere Krawatte gebunden greift das Schwarz der Hose, der nicht einmal knielangen Schürze und der Schuhe wieder auf. Wunderbar, das werde ich sicher auf tragen müssen. Warum nicht? Sieht schick und bequem aus. Gefällt mir. Hinter der Kasse mache ich mein brummiges Bärenjunges aus. Der junge Mann, der mit einer Hand einen vollen blauen Müllsack in die Tonne befördert – und zwar mit Schwung. Er erklärt einem jungen Mädchen irgendetwas, zeigt auf verschiedene Backwaren und blättert dann in einem Buch oder Katalog oder etwas in der Art. Sie sieht ihm gespannt dabei zu, nickt immer wieder und hat ein freundliches, neugieriges Lächeln auf den Lippen. Um die Gäste kümmert sich derweil ein blonder, junger Mann; optisch echt smart und charismatisch. Genug Wurzeln geschlagen. Auf in die Schlacht. Ein sanftes Glockenspiel ertönt als ich die Tür zum Geschäft öffne. Mir strömt der leichte Duft von Orangen und Zimt in die Nase. Die Blicke der beiden hinter dem Tresen heben sich sofort, sehen mich – den potenziellen, vermeintlichen Gast – genau an. Der kleine Mann flüstert ihr etwas zu, legt die Unterlagen beiseite und kommt auf mich zu. Wieder fällt mir seine anmutige, schnelle Gangart auf. Er schlendert nicht. Er ist auf zack. Ein Gepard, der sich seinem Opfer nähert – viel zu schnell, um die Gefahr zu wittern oder flüchten zu können. Sein Blick bleibt kalt und starr – erkennt er mich wieder? Fünf Sekunden und er steht direkt vor mir. Mustert mich von unten herauf. Ich ringe mir ein dämliches, reichlich unbeholfenes Lächeln ab. »Guten Tag«, grüßt er knapp, »Sind Sie nicht der Mann von gestern?« Die graublauen Augen sehen sich kurz um, der Himmel lichtet sich. »Wo haben Sie Ihren Freund gelassen?« Er hält die Arme vor der Brust verschränkt, verlagert das Gewicht auf ein Standbein, drückt die Hüfte leicht durch, ganz lässig, aber nicht nachlässig. Seine Körperbalance ist ausgezeichnet. Diese ungewohnte Mimik und Gestik mag auf den ersten Blick ein wenig distanziert und schroff wirken und doch... wirkt er nicht wirklich unfreundlich. Er scheint einfach ein rustikaler Typ zu sein. Das macht es angenehmer, gibt mir den freien Atem zurück. »Guten Tag«, grüße ich ebenfalls. »Mein Kollege war nur zufällig dabei. Eigentlich habe ich ein persönliches Anliegen«, sage ich. Wie er wohl auf mein merkwürdiges Angebot reagieren wird? »Ein persönliches Anliegen«, wiederholt er skeptisch. Im Hintergrund höre ich den Blonden gerade abkassieren. Direkt vor mir wird allerdings geschwiegen. »Können wir das vielleicht... woanders besprechen?«, nehme ich mir in aller Dreistigkeit heraus. Hier, mitten im Gang und jeden Moment kann die Tür aufgehen, gefällt es mir nicht besonders. Das ist keine angenehme Atmosphäre. »Na schön«, sagt er und irgendwie überrascht es mich. »Folgen Sie mir«, lockt er mich mit einer knappen Handbewegung und geht voraus. Ich kenne diesen Mann nicht, aber... trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass er mich dermaßen entgegenkommend und mit offenen Armen empfangen würde. »Big Bro?«, nuschelt das Mädchen als wir an der Kasse vorbeigehen. Big Bro nennt sie ihn? Niedlich und zugleich sehr seltsam, fast schon grotesk. Sie sehen nicht verwandt aus. Etwa ein... Kosename? »Ihr haltet die Stellung, Isabel. Ich bin gleich wieder da«, sagt er und öffnet die Tür zu einem der hinteren, privaten Räume. Er scheint eine höhergestellte Position zu haben, wenn er hier Anweisungen verteilt. Wunderbar, dann spreche ich direkt mit dem Richtigen. Er nimmt an dem kleinen, rechteckigen Tisch Platz. Sieht nach billiger Massenanfertigung aus. Vier Kunststoffstühle drum herum. Das ganze Konstrukt steht in einer Art Aufenthaltsraum mit kleiner Einbauküche. Ein paar Schränke, ein Wasserkocher, eine Spüle ohne Geschirr und ein Kalender an der Wand. Sonst gibt es hier nichts zu sehen. »Bitte setzen Sie sich«, sagt die genervte Stimme und begutachtet mich mit einem noch genervteren Blick. Ich gehe ihm auf den Keks. Jetzt schon. »Oh, danke«, versuche ich es auf die nette, freundliche Art und nehme ihm gegenüber Platz. »Mein Name ist Levi Ackermann und mir gehört das Geschäft hier«, stellt er sich kurz und knapp vor. Das nimmt mir prompt meine Illusion von einem jobbenden, gebildeten Studenten. Er sieht zu jung aus, um ein bereits abgeschlossenes Studium vorweisen zu können. Nein, vermutlich hat er nicht einmal eine Ausbildung gemacht. Zu schade, also doch nichts weiter als ein Anhänger des gemeinen Pöbels. Laut und reißerisch, aber dumm. Erklärt allerdings, warum er derart... unzufrieden – ja, genau, das ist das richtige Wort! - aussieht. Ich wäre auch unzufrieden, wenn ich in diesem Teil der Stadt versauern müsste und dieses Café meine Perspektive wäre. Falsch. Ich wäre nicht unzufrieden. Ich würde mich erschießen. »Mein Name ist Erwin Smith«, stelle ich mich ebenfalls vor, mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen, das mir sein Anblick und seine Geschichte aufs Gesicht setzt. »Ich bin Student im Bereich Management mit dem Nebenfach Wirtschaftspsychologie und ich bin derzeit im vierten Semester.« Levi Ackermann scheint wenig interessiert an dem, was ich mache. Ein »Aha« ist alles, was ihm dazu einfällt. Natürlich, vermutlich wäre ich selbst auch nicht begeistert, wenn mir – in seiner Situation – jemand gegenüber säße, dem wirklich alle Türen im Leben noch offen stehen. Das muss deprimierend sein. »Und was ist Ihr persönliches Anliegen, Herr Smith?«, fragt er. Ein wenig unruhig, aber möglichst unauffällig rutsche ich mit dem Po auf dem Stuhl herum. »Ich möchte hier gerne arbeiten. Also neben der Uni. Wir haben eh bald Ferien, da habe ich massig Zeit«, verkünde ich und warte gespannt auf seine Reaktion. »Das freut mich zu hören, aber wir haben momentan leider keinen Bedarf. Wir sind voll ausgelastet«, sagt er und will schon aufstehen. Er ist wirklich auf zack; will einen in Sekundenschnelle einfach abspeisen. »M-Moment«, sage ich etwas lauter und die graublauen Augen nehmen mich noch einmal erwartungsvoll ins Visier. »Ich möchte gar nicht für meine Arbeit bezahlt werden«, werfe ich schnell ein, hole tief Luft, »Zwischen den Feiertagen werden doch sicher einige Leute das Café besuchen, nicht wahr? Sie können einem von Ihren Mitarbeiten dafür frei geben.« Er gleitet wieder entspannt zurück auf seinen Stuhl, nimmt mein Gesicht genau unter die Lupe. Dann rückt er ein Stück zurück, überkreuzt die Beine und legt seinen rechten Arm auf der Lehne ab. »Sie wollen arbeiten, ohne dafür angemessen entlohnt zu werden?« Er wirkt skeptisch, fast ungläubig. »Ich bin auf das Geld nicht angewiesen. Hauptsache, ich komme mal zuhause raus und kann dabei noch etwas Sinnvolles tun«, erkläre ich, wieder lächelnd. Meine Freundlichkeit geht nach hinten los, seine Augen verengen sich plötzlich zu Schlitzen. Diese Argumentation scheint ihm gar nicht zu schmecken. »Und was können Sie vorweisen?« Er geht nicht näher darauf ein, weicht mir plötzlich mit dem Blick aus. »In meinem Studium habe ich alle Prüfungen mit-...« »Was interessiert mich Ihr verdammtes Studium?«, fällt er mir rigoros ins Wort, schneidet mir jegliche Erklärungsmöglichkeit ab. »Was können Sie an Fähigkeiten nachweisen, die für mich und Ihren Job hier interessant sind?« Mir bricht der Schweiß in kleinen Tröpfchen aus. Schnellstmöglich sortiere ich meine Gedanken. Bloß einen kühlen Kopf behalten. Nach außen weiter ruhig wirken. Er scheint nichts zu bemerken. »Mein Umgangston ist ausgezeichnet, ich bin flexibel und kann mich gut mit neuen, ungewohnten Situationen arrangieren. Außerdem lerne ich sehr schnell und kann Theorie sofort in die Praxis umsetzen. Mein Gedächtnis ist-...« »Haben Sie schonmal in einem Café gearbeitet?«, unterbricht er mich wieder. Ganz schön unverschämt, der Kerl. Kein Wunder, dass er es zu nichts gebracht hat, wenn man nicht einmal in der Lage ist, andere Menschen ausreden zu lassen. »Nein«, erwidere ich wahrheitsgemäß. »Noch nie«, verstärke ich meine Ahnungslosigkeit. »In Ordnung, dann erkläre ich Ihnen den Ablauf in Ruhe. Vorher brauche ich noch Ihre Kleidungsgröße, damit ich Ihnen die entsprechende Arbeitskleidung besorgen kann. Das dauert nicht lange. Zwei bis drei Tage vielleicht, dann können Sie anfangen. Bevor Sie anfangen, besprechen wir einfach das Grundlegende in der Theorie und Sie sehen mir und meinen Mitarbeitern über die Schulter.« »Fabelhaft«, sage ich und Levi Ackermann steht auf, reicht mir die Hand über den Tisch hinweg. Scharrend schiebe ich den Stuhl ebenfalls zurück, schlage sofort ein. »Wir beginnen morgen Früh um neun Uhr. Seien Sie pünktlich.« Das braucht er mir nicht zu sagen. Das ist eine reine Selbstverständlichkeit. Auch, wenn ich da eigentlich noch ein paar Vorlesungen habe. Wen kümmert das schon? Mich jedenfalls nicht. * Um Punkt zehn vor Neun stehe ich vor dem Birkencafé. In drei Tagen sind die Vorlesungen sowieso vorbei, scheiß auf die letzten Tage. Ein etwas mulmiges Bauchgefühl kann ich trotz aller guten Vorsätze nicht ganz unterdrücken. Levi wirft einen Blick auf die Armbanduhr als er mir die Tür aufschließt. »Guten Morgen«, sagt er und dreht mir direkt wieder den Rücken zu. Echt unverschämt. Kaum zu glauben, dass er sich die Kunden nicht vergrault. »Das sind übrigens Farlan und Isabel«, stellt er kurz die anderen beiden vor, die hinter dem Tresen stehen und mich finster angucken. »Im Team duzen wir uns«, er dreht sich um, »ich bin Levi.« Er reicht mir die Hand als ich meinen Mantel aufknöpfe. Natürlich ergreife ich sie sofort. »Erwin«, sage ich mit einem Lächeln. Er hat kalte Hände. Arbeiterhände, ich kann die Schwielen bei unserem Händedruck spüren. Levi werkelt also gerne herum. »Wenn du dich gut anstellst, gebe ich Farlan und Isabel über Weihnachten und Neujahr frei. Das war die letzten Jahre nie möglich. In einem kleinen Café wie diesem hat man niemanden, auf den man im Notfall zurückgreifen könnte.« »Das wird sich nun ändern«, sage ich warm und lächelnd. Levi erwidert es nicht. »Farlan, zeigst du ihm den Laden? Isabel, du kümmerst dich um die Theke«, weist er an, »wir arbeiten übrigens mit einem namhaften Bäcker zusammen«, an mich gerichtet, »ich gehe in der Zeit nach hinten und kümmere mich um die Buchhaltung.« »Na dann komm mal mit«, seufzt Farlan, der Blonde, Charismatische. Er scheint wenig begeistert von seiner Aufgabe, gibt sich aber größte Mühe seinen Unmut zu verstecken. Er zeigt mir kurz den Kundenbereich, Isabel öffnet nebenbei das Geschäft, erklärt mir im Groben die Kasse, zeigt mir, was wo ist, wie die Kaffeemaschine funktioniert und geht dann mit mir ins Lager. Auch dort erzählt er dies und das, zeigt mir vorrangig Putzlappen und andere Reinigungsutensilien und weist mich ausdrücklich darauf hin, die Hygiene niemals zu vernachlässigen. Levi sei in der Hinsicht besonders kritisch. Er redet insgesamt viel von seinem Chef. Anscheinend hält er große Stücke auf ihn. »Machst du das hier hauptberuflich?«, frage ich nebenbei. Farlan knipst gerade das Licht aus. »Na ja, abends jobbe ich noch in einer Gaststätte, um mich über Wasser zu halten.« Na prima. »Willst du nicht noch ein bisschen mehr aus deinem Leben machen? Hast du keine Ziele?« Farlan mustert mich überrascht, bleibt im Flur stehen. »Ziele?«, hakt er nach. »Na ja«, ich zucke mit den Schultern, »studieren, um später mal eine Führungsposition zu übernehmen.« »Studieren?«, wiederholt er. »Ich habe gar kein Abitur. Wird also schwierig, was?« O Mann, hier scheint sich niemand um seine Zukunft zu sorgen. »Levi hat auch nicht studiert und trotzdem eine Führungsposition«, grinst er. Ja und was für eine. Wahrscheinlich kann er sich selbst kaum über Wasser halten. »Du könntest doch eine Abendschule besuchen, um das nachzuholen«, schlage ich vor. Wir gehen weiter und Farlan schüttelt seine blonden, gesund glänzenden Haare. »Da habe ich gar keine Zeit und auch keinen Kopf für. Für mich ist das okay so. So wie es ist.« Mit einem okay würde ich mich nie zufrieden geben, niemals, aber die Ansprüche an sich selbst und das eigene Leben sind eben verschieden. Insgeheim ärgert er sich bestimmt von Zeit zu Zeit darüber, dass er damals in der Schule nicht mehr Gas gegeben hat. Auf Dauer ist das hier doch kein Leben. Zwischenstation oder Sprungbrett, meinetwegen, aber für immer und ewig? Nicht auszudenken. »Erwin!«, ruft Levis lautes, dunkles Organ. »Kommst du mal bitte?« »Viel Spaß«, schmunzelt Farlan in meinen Rücken. Levi hält einen Eimer und Reiniger in der Hand. »Hier«, sagt er und drückt mir beides in die Hände. »Die Toiletten werden dreimal die Woche geputzt. Blitzblank. Montags, mittwochs und freitags. Zeig mir, was du kannst.« Er geleitet mich mit seinen schnellen, anmutigen Beinen zu den Toiletten, spricht kein Wort und meine Augen wandern unweigerlich auf sein fein schwingendes Becken, über dem die Schürze in einem festen Knoten zusammengebunden ist. Levi hat einen erstaunlich prallen, wohlgeformten Hintern... für einen Mann. Plötzlich schnalzt er abfällig mit der Zunge und mein Blick hebt sich zurück auf Augenhöhe. Über die Schulter mustert er mich, nickt in Richtung Toilettenschüssel. »Da.« Seine Stimme klingt etwas grimmig. Mir schießt das Blut in die Wangen. Ist ihm das aufgefallen, dass ich ihn so... ungeniert angestarrt habe? Wie peinlich. Ich räuspere mich, mache mich direkt ans Werk. Deckel hoch und... er reicht mir ein Paar Einweghandschuhe. Dankend nicke ich ihm zu und ziehe mir die engen Dinger über. Nicht verkehrt, wenn man mit purer Chemie herumhantiert. Ein Blick in die Schüssel lässt mich blinzeln. Das Ding sieht wie neu aus. Warum soll man das putzen? Na ja, mir kommen da Farlans Worte wieder in den Sinn. Ich nehme den WC-Reiniger zur Hilfe und verteile die Flüssigkeit unter dem Rand der Toilettenschüssel. Das muss jetzt eine Zeit einwirken. »Okay«, grinse ich meinem kritischen Beobachter über die Schulter hinweg zu und will mich gerade aus meiner ungemütlichen Sitzposition erheben, da lässt mich sein Blick an Ort und Stelle festfrieren. »Machst du das zuhause auch immer so?« Ich blinzele verwundert. »Ja?«, murmle ich unsicher. Levi rollt die Augen. »Muss ja ein Saustall sein.« Mein Blick wird finster. »Vielleicht kann man bei mir nicht vom Fußboden essen, aber sauber ist es schon«, kontere ich. Das muss ich mir doch von so jemandem nicht sagen lassen. Was denkt er eigentlich, wer er ist? Zwei Schritte und Levi steht direkt neben mir, beugt sich über meine Schulter. Mir zieht sein süßliches Parfum in die Nase. Oh, was für ein angenehmer Duft. »Du musst wenigstens auch die Toilettenbrille desinfizieren. Gründlich. Von oben und unten.« Er macht es mir vor und er geht dabei mit einer ungewöhnlich euphorischen, genauen Zielstrebigkeit an die Arbeit, dass es mir kalt den Rücken hinunterläuft. Flink wischt er alles sauber, wringt den Lappen aus, sprüht wieder Desinfektionsmittel auf das Porzellan, wischt noch einmal und ich sehe ihm fasziniert dabei zu. Mein Gott, er putzt doch nur die Toilette, ja klar, aber wie er das macht. Sehr gründlich, er reinigt jeden Winkel. »Hast du mir gut zugesehen?«, fragt er und sieht mir dabei in die Augen. Sein Gesicht ist nur Zentimeter von meinem entfernt, auf diesem engen Raum. Dichte, schwarze Wimpern, porzellanweiße Haut. Eine kleine, niedliche Nase, schön geschwungen, deren Nasenflügel sich bei jedem tieferen Atemzug weit ausdehnen. »Hab ich«, erwidere ich ein bisschen überfordert, rücke mit meinem Gesicht so weit weg wie nur möglich. »Gut, dann kannst du noch die Herrentoilette machen. In der Zeit kann das hier einwirken. Die Waschbecken müssen auch gesäubert werden und den Boden wischst du ordentlich.« Er richtet sich wieder gerade auf. Am liebsten hätte ich ihn an dem baumelnden, schwarzen Tuch gepackt, das krawattengleich unter seinem Kragen verläuft und wieder zu mir herab gezogen. Wirklich, ich verspüre ein starkes Verlangen danach, diese Lippen zu berühren. Oder sagen wir – für den Anfang überhaupt etwas von ihm zu berühren. Und das schon am dritten Tag. Unfassbar. Dass jemand eine derart starke, faszinierende Anziehungskraft auf mich auswirkt, ist mir fremd. Komisches Gefühl. »Wird gemacht«, verspreche ich. »Ich verlass mich drauf«, sagt er, drückt mir den Lappen in die Hand und lässt mich allein. Den Vormittag werde ich also mit den Toiletten verbringen. Das hätte ich mir auch nie träumen lassen, dass ich mal die Klos von fremden Leuten schrubben würde. Reicht schon, dass ich das zuhause selbst mache. Und das auch nur notgedrungen, weil ich alleine lebe und Putzfrauen allgemein misstraue. Im Nachmittag schaue ich den anderen bei der Arbeit zu, halte mich mehr im Hintergrund auf. Durch die fehlende Uniform gehöre ich noch nicht zum Team. Isabel befindet, dass mir die Arbeitskleidung sicher nicht stehen wird. Lächerlich würde das aussehen. Farlan sagt, das könne er sich nicht vorstellen. Er glaubt, sie werde gut zu mir und meiner Person passen. Levi sagt gar nichts dazu. Beim Aufräumen werde ich nach Ladenschluss wieder vollständig eingeplant. Ich wische die Tische ab, Farlan fegt den Boden und Levi übernimmt den Kassenabschluss. Isabel kümmert sich um die übrig gebliebenen Backwaren. Um halb Sieben sind wir mit allem fertig und verlassen das Geschäft. »Bis morgen!«, ist die allgemeine Verabschiedung und ich mache mich auf den Heimweg. Mein Auto habe ich direkt gegenüber geparkt. Fühlt sich gut an, nach getaner Arbeit nach Hause zu fahren. Ich bin seltsam zufrieden. * Es ist so gekommen wie Farlan es prophezeit hat: Die Uniform steht mir tatsächlich exzellent. Die letzten Tage habe ich morgens ein bisschen mehr Zeit im Bad verbracht als sonst. Alles sitzt perfekt, wirklich tadellos. Die letzten Tage habe ich mich gut eingelebt, inzwischen erkenne ich sogar schon den ein oder anderen Kunden, der nahezu täglich vorbeikommt. Stammkunden sind etwas Tolles. Man erkennt sie und sie erkennen dich. Stellen aber auch unangenehme Fragen. So wie dieser ältere Herr vor mir. »Sind Sie neu hier?« »Ja«, sage ich, »Ich habe erst diese Woche angefangen. Die Arbeit dient mir als Ausgleich neben dem Studium.« In seinem Gesicht bilden sich tiefe, fröhliche Gruben. »Oh«, raunt er anerkennend. »Sie sind Student an unserer weltberühmten Universität? Hervorragend, was für ein tüchtiger, junger Mann. Was studieren Sie, wenn ich fragen darf?« Mein Lächeln wird ehrlicher. Schön, dass jemand meine Mühe zu schätzen weiß. »Management in Kombination mit Wirtschaftspsychologie. Ich kann nur Positives von diesem Studiengang berichten. Unsere Dozenten und Professoren sind ausnahmslos ausgezeichnet.« »Wundervoll!«, staunt er. »Wirklich ganz fantastisch. Viel Erfolg, Herr...« Er sucht nach meinem Namensschild. »Smith«, helfe ich ihm. Anscheinend sind seine Augen nicht mehr die besten. »Herr Smith«, strahlt er, »würden Sie mir noch zwei Stück von diesen leckeren Marmeladentörtchen einpacken? Und ein Stück von der Schokoladentorte bitte, heute kommt mein Enkelkind vorbei.« »Sehr gerne, Herr Engelsmann«, sage ich und packe alles feinsäuberlich ein. Levis kritischer Blick ruht dabei auf mir, ich weiß es genau. Ich spüre es. Gut, dass ich mir den Namen von dem Herrn auf Anhieb gemerkt habe als Isabel ihn mir zugeflüstert hat. »Vielen Dank«, lächelt er breit und alt und geht langsam seines Weges. Meine guten Manieren treiben mich voran – momentan ist eh nicht viel los – ich folge ihm also und halte ihm zum Abschied die Tür auf. »Sie sind wirklich ein ganz reizender junger Mann.« »Kommen Sie gut nach Hause«, lächle ich und schließe die Tür. Nett, aber auch anstrengend. Hoffentlich kommt er nicht allzu oft vorbei, sonst kaut er einem sicher beide Ohren ab, wenn er die Zeit hat. Heute bekommt er Besuch, wie mag das an anderen Tagen wohl aussehen? Als ich mich umdrehe, streift mich Levis Blick – anerkennend. Nur für einen Moment, bis er sich abwendet und im hinteren Bereich des Cafés verschwindet, aber ich habe es genau gesehen. Meine Freude darüber kann ich kaum verbergen. Isabel läuft mir über den Weg – Farlan macht gerade Pause. »Du machst dich erstaunlich gut«, lobt sie. »Ahnung hast du echt null, man muss dir immer hinterher räumen, aber immerhin kannst du gut nachmachen«, fügt sie hintenan und zerstört damit meine kurze Freude. »Big Bro mag dich jedenfalls«, sagt sie. »Warum nennst du ihn eigentlich Big Bro?«, frage ich interessiert. »Oh, na ja«, sie zögert, »ich, ähm... Er ist einfach wie ein großer Bruder für mich. Ich hab selbst keine Geschwister.« Ihre Wangen sind feuerrot. Ach so? Ist das wirklich nur eine Form von Geschwisterliebe, rein platonisch oder kann es sein, dass zumindest von ihrer Seite aus da mehr ist? Blinzelnd starre ich die gegenüberliegende Wand an. Ich bin verwundert über meinen eigenen Gedanken. Moment mal, warum sollte Levi denn nichts für sie empfinden? Die Möglichkeit besteht zumindest. Unwahrscheinlich, aber mit Sicherheit ausschließen kann ich es auch nicht. Trotzdem hab ich es getan... Oh. »Erwin?« Sie schnippst vor meinen Augen. Ich blinzle noch einmal, dieses Mal in ihre Richtung. »Entschuldige«, sage ich. »Das ist toll, dass ihr eine so gute Beziehung zueinander habt.« »Nicht wahr?«, lächelt sie freudig. Sie geht ihres Weges und ich komme nicht umhin mich darüber zu wundern, dass jeder Levi mag, obwohl er die meiste Zeit so ein Eisklotz ist. Ich mag ihn ja auch. Obwohl ich inzwischen zugeben muss, dass meine Sympathie auch andere Ursprünge hat als nur Levis unterschwellige, sehr verborgene Nettigkeit. Ja, wenn man es genau nimmt, dann ist er ein netter Mensch. Seufzend mache ich mich auf den Weg zu den Toiletten. Zwischendurch soll gecheckt werden, ob noch alles in Ordnung ist. Sauberkeit, Seife, Toilettenpapier – sowas soll geprüft werden. Auf dem Weg dorthin höre ich ein etwas zu lautes »Scheiße!«, um es ganz einfach zu ignorieren. Es dringt aus dem nahegelegenen Zimmer, in dem sich Levis privates Arbeitszimmer befindet. Dahin zieht er sich zurück, wenn er die Buchhaltung macht. Vorsichtig kündige ich mich mit einem Klopfen an und trete dann ein. Dieses Zimmer ist wirklich klein. Kaum ein Schreibtisch und eine Wand voller Ordner passen hier rein. Die Lampe auf Levis Tisch strahlt ein penetrantes, sehr helles Licht aus. Es wirkt bedrohlich. »Erwin«, blinzelt er. Vor ihm liegt eine handschriftliche Bilanz, das erkenne ich auf den ersten Blick. »Alles in Ordnung?«, frage ich nach. Die Antwort liegt auf der Hand, aber na ja – am besten fällt man nicht mit der Tür ins Haus. »Geht so«, stöhnt er, »Im Moment läuft nichts so wie es soll.« Ich trete einen Schritt näher, schaue ihm über die Schulter. Das hier ist ein Metier auf dem ich mich bestens auskenne. »Lass mich mal einen Blick auf die Zahlen werfen. Vielleicht kann ich dir helfen, immerhin studiere ich das«, biete ich an. »Ich habe eine Menge Ahnung von Finanzbuchhaltung.« Levis Körper zuckt kurz unter meinen Worten. »Die habe ich auch«, entgegnet er. Ein erheitertes Schmunzeln kann ich mir kaum verkneifen. Sicher, aus dem Internet und irgendwelchen anderen unzuverlässigen Quellen zusammengesucht. Das kann man kein Wissen nennen. »Im Studium haben wir uns sehr tief mit der Materie befasst. Ich kann sicher Schlupflöcher erkennen, die dir gar nicht bewusst sind«, argumentiere ich. Meine Finger wollen nach den Zetteln greifen, doch Levi hält sie mit beiden Händen auf dem Tisch. »Nein«, widerspricht er. Fassungslos blinzle ich. »Warum nicht?« Sein kindisches Verhalten macht mich wütend. Da erkennt man ihn wieder – den Unterschied zwischen Akademikern und irgendwelchen Handwerkstrotteln. »Ich komme schon klar. Ich brauche deine Hilfe nicht«, lehnt er ab. Mit größter Mühe versuche ich meine Zunge zu zügeln, leider ohne Erfolg. »Ja, offensichtlich. Deshalb hängst du hier auch seit Tagen fast pausenlos in deinem Büro.« Den zynischen Unterton kann ich nicht unterdrücken. »Warum lässt du dir nicht von jemandem helfen, der einfach mehr Ahnung davon hat als du? Anstatt dich hier mit falschem Stolz zu schmücken und stur zu stellen, könntest du die günstige Situation lieber zu deinem Vorteil nutzen und mich heranziehen.« Levis Blick ist eisern. »Raus«, sagt er klipp und klar, mit nur einem Wort. »Von einem Fachidioten wie dir brauche ich mir nicht erzählen zu lassen wie ich mein Geschäft zu führen habe«, knurrt er bissig. Gleich beißt er zu. Levi ist fuchsteufelswild, aber ich bin es auch. »Um erfolgreich ein Geschäft führen zu können, sollte man zunächst ein Fachidiot sein – wie du es nennst – und studiert haben, sonst kommt das dabei raus«, brumme ich und tippe mit dem Zeigefinger auf die negativen Zahlen, die Levis Unternehmen bisher geschrieben hat. Damit ist das Gespräch für mich beendet. Wütend und mit angespannten Schultern mache ich auf der Stelle kehrt und verlasse das Büro. Vor der Tür warten Farlan und Isabel, denen ich fast die Tür ins Gesicht schlage. Offensichtlich waren wir nicht so leise wie ich gedacht habe. Isabel verschwindet in Levis Büro, Farlan folgt mir. »Erwin, hey, bleib' mal stehen!«, ruft er und versucht mit mir Schritt zu halten. Ich brauche jetzt frische Luft. Das hat mich zu sehr aufgeregt. Dabei fahre ich sonst nie aus der Haut. Das Café ist momentan leer – zum Glück. Nervige Kunden wären jetzt das letzte, was ich gebrauchen kann. Polternd laufe ich über billiges Laminat und trete mit Glockenläuten in die frische, eisige Winterluft hinaus. Inzwischen ist es schon wieder dunkel geworden. Die Straßenbeleuchtung ist an und es regnet wieder. Vor dem Eingang bleibe ich stehen, um nicht nass zu werden. Farlan folgt mir, lehnt sich neben mir gegen die Glasscheibe. »Du und Levi, ihr habt euch ganz schön gezofft«, stellt er nur das Offensichtliche fest. Ich nicke. »Sicher hast du es nur gut gemeint, Erwin, aber Levi ist sehr eigen, was seine Geschäftsführung angeht. Da lässt er sich nicht gerne reinreden. Schon gar nicht von jemandem, den er kaum kennt«, sagt Farlan sehr ruhig und einfühlsam. Seine Stimme nimmt mir den Wind aus den Segeln. »So kann er aber auf Dauer kein Geschäft führen. Wie kommt man auch auf die hirnrissige Idee mit – wie alt ist er? Anfang Zwanzig? - ein Geschäft ohne ein spezifisches Studium oder zumindest eine Ausbildung mit langjähriger Berufserfahrung führen zu wollen? Das ist einfach nur dumm und zum Scheitern verurteilt.« Ich atme tief durch; die kühle Luft tut mir gut. Ein Blick zu Farlan lässt mich in ein trauriges Gesicht blicken. »Tja, er... hatte keine andere Wahl, weißt du? Ihm bedeutet das Café sehr viel.« Das klingt interessant? Vielleicht mag er mir noch ein bisschen mehr erzählen, mehr... Details. »Wie meinst du das?«, frage ich ruhiger nach. Auf einmal bin ich wieder mehr der Student, der an wichtige Informationen gelangen will – ein Ziel vor Augen. »Wir kommen alle nicht gerade aus reichen Elternhäusern«, schmunzelt Farlan mit Galgenhumor, »und Levi hat dieses Café von seinem Onkel vermacht bekommen, der sich ins Ausland abgesetzt hat. Für ihn war das die beste Chance, um ein sicheres Standbein aufzubauen. Außerdem hängen an dem Ding hier auch Erinnerungen.« Ach, so ist das. Also doch die bekannte Familientradition – im weitesten Sinne. Was für ein Arschloch von Onkel, dass er ihn einfach ins kalte Wasser geschmissen hat. Vermutlich ahnte er, dass er kläglich scheitern würde. »Das Birkencafé lief nie besonders gut, aber Levi wollte es ganz neu aufziehen. Er hat hier viel gemacht. Okay, wir haben hier viel gemacht. Isabel und ich haben mit angepackt.« In seinem Café wird er also zum Hobbyhandwerker. Mir schwebt die blasse Erinnerung an das Gefühl von Levis Handinnenflächen durch den Kopf. »Wenn du mich persönlich fragst«, fängt Farlan noch einmal an, nachdem Ruhe eingekehrt ist, »würde ich es echt gut finden, wenn du mal einen kritischen Blick auf das Unternehmen werfen könntest. Ich meine, du studierst das immerhin und zwar an einer der besten Universitäten. Du hast Ahnung, davon bin ich überzeugt.« Er holt einmal tief Luft. »Aber Levi gesteht sich nicht gern selbst ein, dass er irgendeiner Herausforderung nicht gewachsen ist, also... gib ihm etwas Zeit. Vielleicht wirst du das nicht glauben, aber Levi muss man mit Samthandschuhen anfassen.« Das glaube ich sogar ohne zu zögern. Farlans Grinsen ist breit und zeigt Zähne, aber er wirkt auch ein wenig ängstlich. Seine Hände sind zu Fäusten geballt, der Körper ganz steif. Vermutlich macht er sich auch Gedanken über seine ungewisse Zukunft, wenn der Extremfall eintreffen und Levi das Café schließen müsste. »In Ordnung«, sage ich leise und richte mich wieder ganz auf. »Lass uns wieder reingehen. Es wird langsam kalt.« Noch in dieser Sekunde treffe ich den Entschluss, mich bei Levi zu entschuldigen. Dabei werde ich sogar die ganze Schuld auf mich nehmen. Dass Levi sich selbst auch nur eine Teilschuld zuschiebt, kann ich nämlich nicht glauben. Dass er nachtragend ist, kann ich mir – nur zu meinem Vorteil – allerdings auch nicht vorstellen. Ich glaube nicht, dass Levi auf Streit aus ist. Nein, ich denke eher, dass er sich Ruhe und Frieden mehr wünscht als jeder andere von uns. * Erwartungsgemäß hat Levi meine Entschuldigung akzeptiert. Unser Umgang ist seitdem wieder ganz normal. Nein, ich möchte sogar behaupten, dass er sich seit unserer Meinungsverschiedenheit und der Versöhnung danach ein wenig verbessert hat. Wir sind uns näher gekommen – beim Putzen und seinen ewigen Zurechtweisungen - und ich kann nicht mehr leugnen, dass ich mich für ihn interessiere. Dass ich mich zu ihm hingezogen fühle. Auf eine Weise von der ich nicht weiß, ob sie ihm gefallen würde. Oder ob es ihm schmeichelt, wenn ich gestehe, dass ich mich nicht oft für Männer interessiere. In der Vergangenheit hat es nur eine Handvoll gegeben. Ich habe mir aber vorgenommen, das herauszufinden. Und zwar so bald wie möglich. Es ist nach Ladenschluss und wir sind derzeit alle im Tresenbereich versammelt als Farlan unvermittelt das Wort erhebt: »Was macht ihr eigentlich über die Feiertage?« »Ich bin bei meinem Freund und seiner Familie«, berichtet Isabel als Erste. Ah, sie hat also schon einen Freund. Schön für sie. »Und du, Erwin?«, wendet Farlan das Wort an mich. Ich wische gerade mit einem feuchten Tuch über die Theke. »Ich werde wohl bei meiner Familie sein«, erzähle ich. Zumindest den zweiten Weihnachtstag zum alljährlichen Fressen unter Verwandten. Die anderen Weihnachtstage sind noch unverplant. »Levi?«, fragt Farlan weiter. Der bückt sich gerade, um den Dreck mit dem Kehrblech aufzusammeln. »Zweiten Weihnachtstag bei der Familie. Ansonsten zuhause. Zum Glück.« Levi geht nach hinten, um den Dreck wegzubringen. »Er ist an seinem Geburtstag allein?«, fragt Isabel schockiert, mit aufgeplusterten Wangen. »Ist er doch jedes Jahr«, seufzt Farlan unbeeindruckt und räumt ein paar Gläser ein. »Jedes Jahr?«, hinterfrage ich interessiert. »Wann hat er denn Geburtstag?« »Am Fünfundzwanzigsten«, antwortet Farlan. Die Gläser klirren. Der Regen prasselt gegen die Fensterscheiben. »Er braucht die Zeit für sich, sagt er.« Farlan zuckt mit den Schultern. »Als wir mal bei ihm aufgetaucht sind, ist er richtig wütend geworden. Seitdem lassen wir das. Geschenke will er auch nicht.« Die Schritte auf dem Laminat werden lauter. Wir werfen uns alle einen eindeutigen Blick zu und wechseln das Thema. »Die eine Frau heute war echt mega nervig, oder?«, grinst Isabel. »Wie viele Kalorien hat das Stück? Und wie viele das?«, äfft sie die Frau mit übertriebener Gestik und Mimik nach. »Verflucht, dann soll sie doch keinen Kuchen essen, die Zimtziege!« Wir lachen alle über Isabels Darbietung und selbst Levis Blick schmilzt unter unserem Anblick. * »Du musst einen doppelten Knoten reinmachen, dann geht das auch nicht immer auf«, tadelt Levi und streckt sich, um meinen Hals zu erreichen. Er öffnet den einfachen Knoten meines schwarzen Tuchs und zurrt es neu fest. Dieses Mal doppelt gesichert. Die kalten Finger streifen dabei ein Stück nackte Haut und ich erschaudere unter ihnen. Levis Mundwinkel ziert ein Schmunzeln. Wir sehen einander in die Augen. »So«, sagt er abschließend und seine Hand sinkt abwärts, bleibt noch einmal auf meiner Brust ruhen. Sie liegt gut dort. Er blinzelt, sucht nach geeigneten Worten. »Farlan hat recht. Wegen der Uniform«, sagt er leise, befeuchtet kurz seine Lippen und wendet sich dann zum Gehen ab. Seine Worte haben mich überrascht. Er ist weg bevor ich reagieren kann. Das mit uns... kann das klappen? Ein bisschen benommen trete ich zurück in den Kundenbereich und sehe Levi dabei zu wie er Farlan und Isabel verabschiedet. Es sind nur noch drei Tage bis Weihnachten. »Ist das wirklich in Ordnung?«, fragt Farlan nach. Er fühlt sich unwohl in seiner Haut. »Wir schaffen das hier auch gut ohne euch«, sagt Levi. »Ihr habt es euch verdient, also geht. Bevor ich es mir doch noch anders überlege und euch zwei Wochen lang die Toiletten auf Hochglanz polieren lasse. Die Abstellkammer könnte auch mal wieder-...« »Schon gut!«, lacht Farlan mit hoch erhobenen Händen. Isabel blickt auch ein wenig unschlüssig drein. »Wir gehen ja schon.« »Dann euch gutes Gelingen«, er sieht kurz zu mir, »und frohe Weihnachten und... tja, einen guten Rutsch, nicht wahr?« »Frohe Weihnachten«, wünsche ich den beiden mit meinem frisch gebundenen doppelten Knoten und lehne mich in den Türrahmen. Ehrlich gesagt kann ich es kaum erwarten, ganz allein mit Levi zu sein. Gerade rechtzeitig bekomme ich noch mit wie Levi den beiden zwei Umschläge zusteckt. »Levi...«, murmelt Isabel, will den Umschlag zurückgeben, aber der Chef bleibt stur. Farlan legt ihr eine Hand auf die Schulter, lächelt ihr aufmunternd zu. »Komm schon, freu dich doch drüber. Levi nimmt das eh nicht zurück.« Sie seufzt, sortiert sich neu. »Danke, Big Bro«, lächelt sie dann, ein bisschen traurig. Was wohl in dem Umschlag ist? Etwa Geld? Die beiden verabschieden sich mit einer Umarmung von Levi, der er nicht ganz gewachsen ist, drücken auch mich kurz und verschwinden dann mit einem leisen, hübschen Klingeling der Tür. Levi sieht ihren Silhouetten noch einen Moment nach, dann wendet er sich mir zu. Im Fensterbereich sitzen zwei Gäste, die uns seit Beginn der Szene interessierte Blicke zuwerfen. Nun hält Levi auch mir einen weißen Umschlag entgegen. Mit starrem, ernstem Blick. Zweifelnd nehme ich ihn entgegen, öffne ihn und halte eine Karte in den Händen. Beim Aufklappen springt mir zuerst das Geld entgegen. Zweihundert Tacken. Für ihn ist das sicher ein Batzen Geld. Kurz sehe ich in seine Augen. Noch immer eine verschleierte Wolkendecke. In der Karte steht geschrieben: Danke für deine tatkräftige Unterstützung. Ich hoffe, du bleibst uns noch erhalten. - Levi Das hat er geschrieben? Kaum zu fassen, das-... klingt ja richtig nett. »Danke«, entgegne ich nur perplex. »Levi, ich«, mein Blick hebt sich, trifft auf seinen, »ich weiß deine Geste wirklich zu schätzen, aber... Ich brauche das Geld nicht. Wirklich nicht. Bitte behalt es«, sage ich und halte ihm zumindest das Geld entgegen, die Karte möchte ich natürlich behalten; wie meinen Augapfel hüten. Er schüttelt den Kopf. »Du hast gut und hart gearbeitet, also sollst du auch was davon haben.« »Davon habe ich aber nichts«, wehre ich ab. Vermutlich verletze ich damit wieder irgendeinen falschen Stolz, aber... das ist mir egal. Er sieht nicht so aus als könne er mit Geld um sich schmeißen. Er soll es verdammt nochmal behalten. »Ich arbeite hier gern. Auch ohne Geld dafür zu bekommen. Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann möchte ich etwas anderes, anstelle des Geldes.« Er verschränkt die Arme vor der Brust. Das ist seine klassische Verhandlungspose. »Schieß los«, sagt er gleich darauf. Ich muss nicht lang überlegen. »Gib mir deine Adresse.« Seine Augenbrauen heben sich im Unglauben. Damit scheint er nicht gerechnet zu haben. »Auf Wiedersehen und frohe Weihnachten!«, ruft uns das Pärchen zu als es den Laden verlässt. »Frohe Weihnachten!«, rufen wir beide zeitgleich und ich kann darüber nur schmunzeln. Das Glöckchen ertönt und schenkt uns ein wenig Zweisamkeit. Auch, wenn wir hier mitten im Geschäft immer noch auf dem Präsentierteller stehen. »Meine Adresse? Wozu brauchst du die?«, fragt er nach. »Ich würde dir gerne mal etwas Persönliches zukommen lassen, wenn du mir das erlaubst.« Levi hadert zwischen Neugierde und Abweisung. Er sieht mir direkt in die Augen, blinzelt ein- oder zweimal. »Na schön«, sagt er noch in der Drehung als er zum Tresen stiefelt. Er zückt einen Kugelschreiber und einen Notizzettel und notiert einigermaßen leserlich seine Adresse für mich. Wenig feierlich überreicht er mir den Zettel. »Danke«, sage ich und gebe ihm im Austausch das Geld zurück. »Dieses Papier ist mir viel mehr wert als das andere.« Levi wendet den Blick zur Seite ab als ich nach ihm suche. Ist ihm das unangenehm? Schon möglich, war auch ein bisschen kitschig. Das mag er wohl nicht. »Holst du aus dem Lager neue Küchenrolle? Wir haben hier vorne nichts mehr«, sagt er, während ich den Zettel zusammenfalte und in meiner Hosentasche versinken lasse. »Natürlich«, erwidere ich und mache mich direkt auf den Weg. Levi hat in vier Tagen Geburtstag. Er ist zuhause und ich habe seine Adresse. Und er mag keine Geschenke. Ich werde ihm trotzdem eins mitbringen. * »Okay, das war's«, sagt Levi um vierzehn Uhr an Heiligabend. Alles ist sauber, die Tür ist zu und die Kasse ist abgeschlossen. Er nimmt sich die Schürze von den Hüften. Schnell wie immer geht er an mir vorbei und verschwindet dann kurz in seinem Arbeitszimmer, um sich umzuziehen. Ich persönlich ziehe mich immer erst zuhause um, damit ich die Arbeitsklamotten direkt in die Waschmaschine schmeißen kann und gleich weiter unter die Dusche laufe. Die Wartezeit überbrücke ich mit prüfenden Blicken auf die Straßen vor unserer Haustür. Es liegt leider immer noch kein Schnee, arschkalt ist es trotzdem geworden. Zu schade mit dem Schnee, dabei gehört der zu Weihnachten einfach dazu. Leider lässt sich die Natur von unseren Kulturvorstellungen weniger beeinflussen. Draußen toben ein paar Jungs über den Bürgersteig. Sie schreien so laut, dass ich es selbst hier hinten – hinter dickem Glas und geschlossenen Türen - noch gut verstehen kann. »Du bist ja immer noch da«, merkt Levi an und ein kurzer Blick über die Schulter zeigt ihn in äußerst vorteilhaften engen Jeans und einem lockeren, dunklen Pullover; den Mantel noch unter den Arm geklemmt. Das steht ihm einfach fabelhaft. Ganz schlicht, aber schön. Der Fokus auf seinen schönen Beinen und dem hübschen Gesicht. Er weiß wie er sich zu kleiden hat. »Ich wollte dir noch frohe Weihnachten wünschen«, lächle ich. Levi rollt kurz mit den Augen. »Wünsche ich dir auch, Erwin«, sagt er und fügt hinzu: »Kommst du noch mit raus eine rauchen?« Oh, ich rauche zwar nicht, aber eine solche Gelegenheit lasse ich mir trotzdem nicht entgehen. »Gern«, sage ich. Für diesen Moment vergifte ich bereitwillig einmal meine Lungen. Auf Partys habe ich das auch schon zwischendurch gemacht. Betrunken macht man einige dumme Sachen, die man bei klarem Verstand nicht unbedingt machen würde. Außer in bestimmten Ausnahmesituationen wie dieser hier. Auf der anderen Straßenseite, gegenüber vom Birkencafé, befindet sich eine kleine Parkbank, auf der wir Platz nehmen. Levi sitzt neben mir, in seinen dicken Parka gekuschelt und mit einer dunkelblauen Wollmütze auf dem Kopf. Das sieht ziemlich goldig aus. Auch wie er vor Kälte die Schultern nach oben zieht und sich dabei eine ansteckt. »Ist was?«, murmelt er mit seinem Zigarettenstängel im Mund. Auf diese Weise klingt er wie jemand, der beim Essen mit vollem Mund spricht. Mein Lächeln wird breiter. »Nein, nichts.« Ich zünde mir auch eine an. »Du fährst nachher zu deiner Familie?«, fragt er und bläst den Rauch in die kalte Luft hinaus. Ein Taxi fährt an uns vorbei. »Genau«, lüge ich. Er nickt verstehend, lehnt sich zurück. »Das ist gut«, sagt er. »Das ist gut«, wiederholt er noch einmal, mehr zu sich selbst. »Weißt du schon, was du nach deinem Studium machen willst?«, fragt er weiter. Es wundert mich, dass er auf einmal so viele interessierte Fragen stellt. Er sucht nach Konversation. Eigentlich willst du gar nicht alleine sein, oder Levi? »Erstmal will ich noch meinen Master machen nach dem Bachelor und mich damit noch mehr spezialisieren«, erwidere ich ganz allgemein gehalten. Eigentlich interessiert er sich ja nicht wirklich für mein Studium. Das ist nur ein Versuch, um ein Gespräch zustande zu bringen. »Oh, das ist gut«, sagt er wieder. Mein Blick wird glasig. Er hat wirklich keine Ahnung von diesen ganzen Dingen, oder? Hat er sich jemals Gedanken darüber gemacht, was man alles im Leben erreichen kann, wenn der Wille nur stark genug ist? »Du wirst es bestimmt weit bringen«, sagt er und das aus seinem Mund zu hören, macht mich wahnsinnig traurig. Er meint das ganz ehrlich, er wünscht mir... Glück? Levi ist wirklich ein ganz besonderer Mensch. Ein wirklich guter Mensch. Solche Leute trifft man nur ganz selten. Wenn man ihn kennt, merkt man wie uneigennützig er eigentlich ist. Wie viel Wert er darauf legt, dass es seinen Mitmenschen gut geht. Dabei lässt er sich selbst ganz außer Acht. »Du wirst es auch noch weit bringen«, versuche ich aufzumuntern. Levi zieht das letzte Mal an seiner glühenden Zigarette, dann drückt er sie im Aschenbecher aus und murmelt dazu: »Ja, na ja. Mal sehen wie das nächste Jahr wird.« »Das wird gut«, sage ich. »Du hast ein tolles Team, das wird schon.« Kleine Augen mustern mich skeptisch, ein wenig erwartungsvoll. Diese Augen scheinen schon oft gewartet zu haben. Und in diesem Moment fällt es mir plötzlich auf. Das, was eigentlich ganz offensichtlich ist. Er ist einsam. Mein Herz rutscht mir in die Hose als er aufsteht. »Am besten wir machen uns auf den Heimweg«, verkündet Levi und schiebt die Hände in die Jackentaschen. »Ja«, sage ich nur; atemlos. Er sieht nicht noch einmal zurück. Levi geht links seines Weges, ich gehe in die entgegengesetzte Richtung zu meinem Auto. Kurz bevor ich einsteige, blicke ich mich ein letztes Mal um. Wie kommt er überhaupt nach Hause? Fährt er mit der Bahn? Das habe ich mich noch nie gefragt. Warum bin ich nicht auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, ob ich ihn mitnehmen kann? Der Umweg wäre mir doch egal gewesen. Manchmal denke ich wirklich nicht richtig nach. * Der Abend kommt schneller als er eigentlich sollte. In den Beutel packe ich die Zutaten für eine wunderbare Pasta, die ich seit Jahren zu besonderen Anlässen zubereite. Da ich nicht weiß, was Levi gerne isst, denke ich, dass Pasta die beste Wahl ist. Eigentlich mag fast jeder Pasta. Und wenn nicht, na ja, dann kenne ich zumindest einen Laden, der heute noch Pizza liefert. Oder wir zaubern etwas aus den Lebensmitteln, die Levi im Haus hat. Da bin ich gerne spontan. In den Beutel kommt noch etwas anderes, das sozusagen... das Highlight des Abends werden könnte. Entweder im positiven oder im negativen Sinn. Es ist kitschig, aber witzig und ich hoffe, dass ich keinen Korb bekomme. Nun gut, die Uhr zeigt fast sechs Uhr. Wenn nicht jetzt, wann dann? Nachher kommt er noch auf die Idee, doch noch etwas zu unternehmen und dann stehe ich vor verschlossener Tür mit meinen ganzen, grandiosen Einfällen. Aus meinem Portemonnaie hole ich einmal mehr den kleinen Zettel hervor, den Levi mir gegeben hat. Nur, um mich zu vergewissern, dass ich die Adresse richtig im Kopf habe. Dann fahre ich los. Die Straßen sind leer, etwas anderes kann man an Heiligabend auch nicht erwarten. Nur vereinzelt kommt einem Gegenverkehr entgegen. Man steht an roten Ampeln, obwohl niemand da ist. Das hat etwas Verlassenes, Apokalyptisches an sich. Vor allem in einer Großstadt. Levi lebt ein bisschen am Stadtrand. Keine besonders gute oder schlechte Gegend. Durchschnittlich, würde ich behaupten. Ich halte vor den Türen eines Reihenhauses. Weißer Putz, kleine Fenster, wenig Grünzeug im Vorgarten. Auf der rechten Seite befindet sich Levis Haushälfte. Sieht nicht groß aus, aber für eine Person durchaus angemessen. In den Fenstern brennt Licht, auf beiden Seiten. Also ist er auch zuhause, nehme ich an. Mit dem Beutel in der Hand und langen, ungeduldigen Schritten überquere ich die breite Hauptstraße, erreiche den kleinen Vorgarten und stehe schließlich vor der schweren Haustür. Neben der Klingel entdecke ich einen kleinen Zettel mit Levis Handschrift: Klingel kaputt, bitte klopfen. Oh, na gut? Also klopfe ich. Einmal, zweimal. Nichts passiert. Einmal, zweimal. Wieder nichts. War ja klar, dass das niemand hört. Wer weiß, wo er sich gerade rumtreibt. Vielleicht ist er vor dem Fernseher eingeschlafen. Noch einmal probiere ich mein Glück. Und wieder geschieht absolut nichts. Seufzend und mehr aus einer Laune heraus, drücke ich die Türklinke herunter. Die Tür lässt sich öffnen. Das gibt mir zu denken. Er hat nicht abgeschlossen? Das ist aber ganz schön leichtsinnig. Oder hat er es in all dem Weihnachtsstress vergessen? Gut, ich trete ein. Draußen in der Kälte zu stehen ist nicht gerade nach meinem Geschmack und wenn er die Tür schon so einladend offenstehen lässt, kann man sich das auch zunutze machen. Im Flur ziehe ich die Schuhe aus und sehe mich um. Sehr spartanisch eingerichtet, möchte ich sagen. Kaum ein Bild, nur das Nötigste – hier jedenfalls. Von rechts dringt das Rauschen der Dusche durch die geschlossene Tür. Aha, da steckt er also. Währenddessen kann ich mich in Ruhe umsehen. Ich brenne darauf zu erfahren wie er lebt. Schon die ganze Zeit, seit wir uns kennen. Ich möchte einfach mehr über ihn wissen. Die erste Tür, die ich öffne, führt mich in die Küche. Ebenso spartanisch, aber kuschelig warm. Ich sehe mich um. Keine Weihnachtsbeleuchtung oder Weihnachtsschmuck, gar nichts. Das springt mir direkt ins Auge. Dafür türmt sich ein Stapel von ungeöffneten Briefen auf dem Esstisch. Ordentlich gestapelt, aber... sind das Rechnungen? Oder Grußkarten zum Geburtstag und zu Weihnachten? Vermutlich eine Mischung aus beidem. Durch den Flur kann ich zwei weitere Zimmer betreten. Wohn- und Schlafzimmer nehme ich an. Ich entscheide mich zunächst für die linke Tür. Man glaubt es kaum, aber das ist unheimlich spannend, fremde Türen zu öffnen und nicht zu wissen, was sich dahinter verbirgt. Mir klappt fast die Kinnlade herunter als ich den Anblick auf mich wirken lasse. Das ist ja gigantisch! Unfassbar, dass Levi so etwas besitzt! Mit großen, staunenden Augen begutachte ich eine richtige Bibliothek. Eine komplette Wand besteht nur aus Büchern und Regalen, bis unter die Decke gestapelt. Daneben steht eine kleine Trittleiter, um auch die obersten Exemplare erreichen zu können – vor allem mit Levis Größe. Ich lache einmal begeistert in die Stille hinein und trete näher. Was er wohl so liest? Krimis oder doch eher Fantasy, hm? Den Kopf lege ich leicht schief und überfliege so die verschiedenen Titel. Mit jedem weiteren werden meine Augen immer größer. Das darf doch nicht wahr sein. Das... ist fast ausschließlich gehobene, intellektuelle Literatur – Lyrik, Prosa und daneben ein Haufen Fachliteratur. Dichter und Autoren wie Kafka, Celan, Murakami oder auch Heine und Goethe gesellen sich hier zueinander. Und das ist nur ein Bruchteil von dem, was es hier zu sehen gibt. Mein besonderes Augenmerk gilt plötzlich zwei Büchern, die sogar direkt nebeneinander stehen. »Der Tänzer« und »Im Meer, zwei Jungen«, das ist doch... gehobene, aber homoerotische Literatur, nicht wahr? Ich habe die Bücher zwar selbst nicht gelesen, aber mir sagen die Titel etwas. Ich habe davon gehört. Hat Levi sie denn gelesen oder stehen sie nur zur Zierde hier im Regal, weil sie die Lücken füllen? »Dafür brauchtest du also meine Adresse«, ertönt es plötzlich grollend hinter mir. »Um problemlos in meine Wohnung einsteigen zu können.« Blinzelnd drehe ich mich mit einem Schulterblick zu Levi. Mit nassen Haaren steht er im Türrahmen, frisch geduscht, in Jogginghose und Kapuzenpullover. Auf nackten Füßen. »Hast du die alle gelesen?«, frage ich. Ziemlich dreist, wie ich ein paar Sekunden später selbst finde. Kein Wort der Erklärung – dabei hat er recht; das hier ist Hausfriedensbruch. »Nein, ich kaufe mir meine Bücher selbstverständlich nur, um sie ungelesen ins Regal zu stellen«, antwortet er sarkastisch. »Natürlich habe ich sie gelesen«, knurrt er, »und stell dir vor: Ich habe sie sogar alle verstanden.« »Ich wusste nicht, dass du solche Literatur liest«, sage ich anerkennend und positiv überrascht. »Nur, weil ich nicht studiert habe, heißt das nicht, dass ich ungebildet bin, Erwin.« Seine Stimme ist fest und stark, aber sein Blick ist enttäuscht, fast schon traurig. Er scheint mich zu bemitleiden. »Das habe ich nie gesagt«, versuche ich mich zu verteidigen. Levi seufzt, lehnt den Kopf gegen den Türrahmen und verschränkt wie üblich die Arme vor der Brust. »Nein, das hast du nicht. Du hast es mir nur mit vielen kleinen Gesten zu verstehen gegeben, dass du mich für dumm hältst.« Eine reine Feststellung seinerseits. Nicht sonderlich klagend oder mitleiderregend. Nur eine ganz sachliche Feststellung. »Und du hast mir bewiesen, dass du es nicht bist«, sage ich und mache ein paar Schritte auf ihn zu. »Du glaubst doch nicht, dass ich für jemanden arbeiten würde, den ich für dumm halte, oder? Und das auch noch ohne Bezahlung.« Gut, das stimmt alles nicht ganz, aber... ich will mich nicht mit ihm streiten. Viel lieber möchte ich auf einer höheren, ganz besonderen Ebene mit ihm sein. Und zwar auf einer gemeinsamen. Das ist mir das Wichtigste. Er sieht mir fragend in die Augen als ich direkt vor ihm stehe. »Was hast du hier zu suchen, Erwin? Solltest du nicht bei deiner Familie sein?« Der Grund scheint ihn wirklich zu interessieren. »Ich habe ein bisschen geflunkert, um dich zu überraschen. Bei meinen Eltern bin ich erst am zweiten Weihnachtstag eingeladen«, erkläre ich und fahre fort, noch bevor er den Mund aufmachen kann: »Hast du Hunger? Ich habe etwas zu Essen mitgebracht. Pasta, wenn du magst. Glaub mir, ich koche hervorragende Pasta. Sagt man mir zumindest nach.« Levi blinzelt, er scheint ein wenig überfordert zu sein. »Ganz unter uns«, raune ich geheimnisvoll und beuge mich zu ihm herab, ganz nah an ihn heran, »etwas anderes kann ich auch nicht kochen.« Wieder eine Lüge, aber sie bricht das Eis. Sein tauender Blick fällt auf meinen vollgepackten Beutel. »Dann zeig mal, was du kannst.« »Gern«, erwidere ich und folge ihm den Weg in die Küche, den ich längst kenne. Anfangs lässt Levi mich allein machen, deckt den Tisch und sieht mir zu, irgendwann greift er mir dann aber doch unter die Arme. Unser gemeinsames Kochen ist sehr ruhig und verläuft mit wenigen Worten, aber deshalb nicht weniger intim oder schön. Es gefällt mir. Es macht mir Spaß. Zwischendurch ertönt ein knackendes, nahezu schmatzendes Geräusch aus Levis Richtung. Ich glaube, dass es sein Magen ist. Vermutlich ist er hungrig. Beim Essen unterhalten wir uns flüchtig über ein paar Werke, die ich bei ihm im Regal entdeckt habe. Auf die interessantesten beiden Bücher, die ich gesichtet habe, kommen wir nicht zu sprechen. Immerhin habe ich eh längst beschlossen, heute aufs Ganze zu gehen. Ich muss es einfach wissen. Ich will wissen, ob er mich zurückweist. »Hat es dir geschmeckt?«, frage ich beim Abräumen der Teller. Gemeinsam stellen wir sie in die Spüle. Levi nickt kurz. »Ja, nicht schlecht.« Sein Lob ehrt mich, zaubert mir ein weiteres, breites Lächeln auf die Lippen. Okay, jetzt oder nie. Aus dem Beutel ziehe ich meine Geheimwaffe. Das kitschige Geschenk, das man nur zu Weihnachten zum Einsatz bringen kann. »Was ist das?«, fragt Levi als er den grünen Zweig mit den roten Beerenfrüchten erblickt. Eine hübsche Schleife ziert das Konstrukt. »Ein Mistelzweig. Du weißt, was das bedeutet, nicht wahr? Oder muss ich ihn erst noch aufhängen?« Ich wiege ihn kurz in den Händen, lasse ihn in Levis Finger gleiten. »Was für ein kitschiger Scheiß«, ist sein brummiger Kommentar, aber kurz darauf stellt er sich plötzlich auf seine Zehenspitzen und drückt mir einen flüchtigen, gehauchten Kuss auf den Mund. Das süße Parfum kitzelt alle Sinne. Der Moment, in dem unsere Lippen eine Einheit bilden, verfliegt zu schnell, um ihn ganz auskosten zu können. Es ist vorbei, bevor es überhaupt richtig angefangen hat und deshalb... »Das ging mir zu schnell«, schmunzle ich seinem ungeduldigen, überraschten Gesicht entgegen. »Das war doch kein Kuss«, beschwere ich mich spielerisch und ziehe ihn noch einmal zu mir heran, umfasse sein Gesicht mit meinen Händen und küsse ihn. Innig und leidenschaftlich. Unter meinen Lippen gibt er nach. Bereitwillig lässt er sich von mir führen, leiten und lenken. In Richtungen, die ihm ein toter Winkel sind. Wir küssen uns bis wir ganz außer Atem sind. Alle Berührungen spielen sich nur und ausschließlich in Kopfhöhe ab und doch ist es seltsam intim. Ein Kuss, dem keine Intimitäten unterhalb der Gürtellinie gerecht werden. Die Wärme ist in Levis Wangen gezogen. Mein Chef wirkt unsicher und unschlüssig wie er mit der derzeitigen Situation umgehen soll. In einem anderen Moment hätte ich es vermutlich niemals auch nur zu denken gewagt, aber ich denke: Er ist süß. Und ich sage: »Du bist süß.« Im Flüsterton, gehaucht, nicht böswillig. Ein kurzer Schockmoment, um die Worte zu verarbeiten, dann ist ein wütendes Augenpaar auf mich gerichtet. Er wirkt geladen. Von null auf hundert und wieder zurück. »Entschuldige«, presse ich mit hoch erhobenen Händen hervor. »Ist mir nur so rausgerutscht. Ich hab's nicht so gemeint.« Sein Blick wird nicht weicher. Er starrt mir kugelgroße Löcher in den Kopf. »Levi, bitte denk daran, dass du ganz allein den Laden schmeißen musst, wenn du mich jetzt umbringst.« Die linke Hand streicht mit den Fingerspitzen über die Küchentheke, streift noch einmal den Mistelzweig, auf der Suche nach einem scharfen Gegenstand. »Falsch. Ich schicke einfach Farlan eine SMS«, sagt er. »Oh«, mache ich, »aber denk an die Sauerei in deiner Bude.« »Ich bin sehr gründlich und vorsichtig«, entgegnet er. Ein erheitertes Grinsen ziert meine Lippen, absoluter Galgenhumor. »Sieht schlecht für mich aus, was?« »In der Tat.« Levis Stimme ist nicht mehr bissig, sein Blick ist wieder weich und suchend. Offen für mich. Meine Hand ruht in seinem Nacken, spürt die kurzen, abgeschorenen Haare seines Undercuts. Seine Haare sind inzwischen getrocknet, sind ganz weich vom frischen Waschen. »Wenn du mich mit deinen eigenen Händen getötet hast – wirst du an meinem Grab etwas von Celan zitieren?«, hauche ich gegen seine Lippen. Er steht wieder auf Zehenspitzen, zieht sich an meinen Schultern ein Stück höher, blinzelt mit müdem Blick, geöffneten Lippen. Er holt Luft. »Vom Blau, das noch sein Auge sucht, trink ich als erster«, kurze Pause, »Aus deiner Fußspur trink ich und ich sah: du rollst mir durch die Finger, Perle, und du wächst!«, spricht er leise, wohlig betont und mit warmem Atem gegen meinen geschlossenen Mund. Meine Arme schließen sich herzlich und schützend um seinen schlanken Körper. Er ist umwerfend und meine Umarmung soll es ihn spüren lassen, alles, was ich für ihn jetzt gerade, in diesem Augenblick, empfinde und nicht empfinde. Er soll sie kosten; meine ehrliche Anerkennung, mein Staunen und meine offenen Augen. Für eine Sekunde hält Levi die Luft an, sein Körper bittet mich und ich erfülle die stumme Bitte. Ich küsse ihn ein zweites Mal, ganz sanft und dramatisch wie die Perlen, von denen er spricht. Er zitiert Celan aus dem Kopf. Er zitiert diesen klugen Mann, ohne über seine Worte nachzudenken. Es sind Levis Worte und ich bin... schockiert und fasziniert zugleich. Einigermaßen überwältigt von unserer Begegnung, unserem heftigen Aufeinandertreffen, streiche ich ihm die Haare aus der Stirn. Ich weiß nicht, wo ich hinsehen soll. Alles will gesehen werden. »Erwin«, haucht er. Noch niemand hat meinen Namen auf diese Weise betont. Ein bisschen genervt, aber ganz ruhig und im Unterton... sanft. Levi stellt seine Füße wieder ab, ist plötzlich wieder viel kleiner als ich. Er wendet den Blick ab. »Hast du Zeit mitgebracht?« »Genügend«, sage ich sofort, wenn auch ein wenig überrascht. Möchte er, dass ich bleibe? Ich erinnere mich an seinen Geburtstag und die Einsamkeit, die er an diesem Tag normalerweise genießen möchte. Oh, in meinem Innern breitet sich eine fast erdrückende Wärme aus. »Dann bring es mir bei«, fordert er, plötzlich wieder ganz ernst. Ich blinzle. »Schwarze Zahlen zu schreiben«, fügt er ergänzend hinzu. Oh. ...Oh! »Ich denke, es ist an der Zeit, dass-...« »Es ist Zeit, dass es Zeit wird«, unterbreche dieses Mal ich seinen Text und greife ganz spontan unseren wundervollen Paul Celan wieder auf. Auf Levis Lippen bildet sich ein kleines, unscheinbares Lächeln. Wer ihn kennt, weiß es zu schätzen. Wird es nicht vergessen. Ich vergesse nicht. »Es ist Zeit«, schließt er das Gedicht ab, schiebt den Mistelzweig beiseite und stellt sich ein weiteres Mal für mich auf die Zehenspitzen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)