A gentle Song von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Prolog: Verloren im Paradies ---------------------------- Menschen werden geboren, um zu leben. Sie wachsen zu eigenständigen Individuen heran und sind sich niemals gleich, höchstens ähnlich. Jeder von ihnen ist wie ein Buch, das seine ganz persönliche Geschichte schreibt, die zwar manchmal Ähnlichkeit mit anderen haben mag, aber doch wird es Zeilen geben, deren Beschaffenheit einzigartig ist und die den Unterschied ausmachen. Alpträume dagegen werden erschaffen, um zu existieren. Sie wachsen zu einer einheitlichen Präsenz heran und sind niemals unterschiedlich, höchstens fortgeschrittener oder zurückgeblieben in ihrer Entwicklung. Jeder von ihnen ist wie eine Uhr, deren Zeiger sich unaufhaltsam in eine einzige Richtung bewegen, die ohne Ausnahmen beschritten wird, selbst wenn sie sich danach sehnen, aus diesem Kreis auszubrechen. Zeit ist unser größter Feind. Ja, unser. Ich gehöre zu ihnen. Ich bin ein Alptraum. Schon seit der ersten Sekunde meiner Existenz habe ich es gehasst, einer von ihnen zu sein. Hass ist eines der wenigen Gefühle, zu denen wir in der Lage sind. Kein Wunder, dass wir es gern tun, es gibt uns Beschäftigung und die Illusion, ein Teil von dieser Welt voller Gefühlen zu sein. Einer Welt, von der, zu Beginn, ausnahmslos jeder von uns komplett abgeschnitten ist und doch kennen wir sie. Aber wir gehören nicht dorthin. Unsere Heimat nennt sich Eden Howl, die Bezeichnung Gefängnis trifft es jedoch eher. Es ist mir zuwider, das hier als mein Heim anzuerkennen. Das hier ist eine Zelle. Eine Endlosigkeit mit Grenzen und ich teile sie mir mit vielen anderen Alpträumen, also mit Verbrechern, zu denen auch ich gehöre. Wir sind keine Familie, wir sind eine Einheit und haben uns gegen die Menschen verschworen. Empfindungen wie Geborgenheit und Sicherheit sucht man vergeblich an diesem Ort, deshalb ist es auch falsch, ihn als Heimat zu bezeichnen. So verdammt falsch. Es ist und bleibt ein Gefängnis, das irgendwann jemand als Paradies betitelt hat. Dieser jemand hat entweder wahrlich keine Ahnung oder will uns absichtlich mit diesem Namen quälen. Das Eden Howl ist kein Paradies und erst recht keine Heimat. Allerdings ist es der Ort, an dem wir alle erwachen. Wären wir Menschen, könnte man das Eden Howl als unsere Geburtsstätte beschimpfen, aber wir sind Alptraume. Nichts weiter als eine düstere Präsenz zwischen Traum und Wirklichkeit, die nicht lebt. Was nicht lebt, wird auch nicht geboren. Wir existieren nur. Darin sind wir gut, schließlich harren die meisten von uns schon seit Jahrtausenden hier aus und wir sind viele. Sehr viele, uns zu zählen dürfte mehr als eine Ewigkeit dauern. „So viele von uns“, entgleiten mir die Worte, während ich meine Artgenossen bei ihrem Treiben beobachte, das nirgendwohin führt. Meine Stimme ist nur ein leises Echo unter Tausenden, wenn nicht sogar mehr. Es erstickt stets, bevor es sich richtig ausweiten kann. „Verloren im Paradies.“ Seit Jahren schon starre ich vom Grund meiner Zelle aus empor zum höchsten Punkt des Eden Howl und sehe nichts weiter als Verzweiflung, die unseren Hass nährt. Ich stehe im Mittelpunkt von einer Art Strudel im gigantischen Ausmaß, der ununterbrochen in Bewegung ist und nicht aufhört zu fließen. Nach oben, an die Spitze. Zum Ausgang. Ein gewaltiger, pechschwarzer Strom aus Alpträumen, der sich kreisförmig nach oben zieht, ohne jemals sein Ziel zu erreichen. Unzählige von uns sind schon mal bis zur Grenze vorgestoßen, doch natürlich öffnet uns niemand die Tür, wenn wir klopfen und schreien, dass wir rausgelassen werden wollen. Dicht an dicht pressen sie sich aneinander, meine Mitinsassen in diesem Gefängnis. Wir besitzen keine materiellen Körper und sind nur ein dunkler Hauch, der bei Menschen Gänsehaut verursacht. Ein dunkler Hauch aus Verzweiflung, der den Hass nährt und durch den wir im Laufe der Zeit anfangen uns zu schwarzen, nebelhaften Schatten zu entwickeln, dazu verdammt auf ewig hier auszuharren. Mehr und mehr Schwärze anzusammeln, bis wir nicht mal mehr als Präsenz wahrzunehmen sind, weil wir dann von unserer eigenen Existenz verschlungen werden. Menschlich sind wir nicht, aber wir können sterben. Das finde ich ironisch – ich dürfte nicht wissen, was Ironie ist. Ein Chor aus Stimmen bildet sich in diesem dunklen Strudel aus schwarzen Schatten, der sich nach oben zieht und verzweifelt an die verschlossene Tür unserer Zelle klopft. Freiheit ist es, von der die Alpträume sprechen. Ihre Stimmen sind laut und sie schicken sich diese Sehnsucht in Form von Worten hin und her, während sie diesen Strom bilden. Ein Mensch könnte unsere Sprache nicht verstehen, sie zeichnet uns von allem ab, was es auf der Welt gibt, weil sie nie jemand zu hören bekommt. Wie auch, wenn wir hier eingesperrt sind? Ich stehe also auf dem Grund meiner Zelle, ganz unten, von wo aus ich den anderen dabei zusehen kann, wie sie verzweifelt versuchen dort oben in der Ferne den Ausgang zu erreichen. Ein gewaltiger, schwarzer Strudel, der das Eden Howl mit Dunkelheit füllt. Eine Endlosigkeit mit Grenzen, in der unzählige Alpträume gefangen gehalten werden. Wir sind verloren und niemand hört uns schreien. Man sagt uns nach, dass wir nicht zu Gefühlen fähig sind und das stimmt auch. Bei uns ist es anders, als bei den Menschen, da wir mit einer Leere im Herzen erschaffen werden, das niemals Gefühle erfahren hat. Zeit ist unser größter Feind, denn sie bringt Verzweiflung mit sich und durch die lernen wir den Hass kennen, der sich wie eine unheilbare Krankheit an uns festklammert. In der Regel lässt er nicht mehr los, sobald er uns einmal zu fassen bekommt. Er treibt uns an oder vielmehr die meisten von uns. Am Grund des Eden Howl bleiben die zurück, die auch verzweifelt sind, aber nicht den Drang zu hassen entwickeln – ich hasse durchaus. Auf den ersten Blick sieht es aus, als unterscheiden wir uns von denen, die mit dem Strom schwimmen und ihren klagenden Chor singen, doch das täuscht. Würde einer von uns entkommen, tun wir das gleiche, wie jeder andere Alptraum: Wir vergreifen uns an den Träumen der Menschen, um uns davon zu stärken und zu wachsen, bis wir mächtig genug sind. Mit dieser Macht zerstören wir alles und jeden, das muss so sein. Dafür sind wir da. Wir lernen zu verzweifeln, damit wir keine Scheu davor haben alles zu zerstören. Wer verzweifelt ist tut alles, was möglich ist, um sich selbst zu schützen. Darum wollen wir zerstören. Zerstörung hilft uns zu verhindern, dass wir uns eines Tages selbst verschlingen und sterben. Dank Zerstörung wird es nichts mehr geben, was uns einen Grund geben kann, weiterhin so verzweifelt zu sein. So sind wir. Alpträume. Und ich bin einer davon. „Arme Geschöpfe“, sage ich leise, nur für mich. „Das hast du schon lange nicht mehr gesagt“, reagiert eine Stimme, die mir vertraut ist. Ich löse meinen Blick von dem Strudel der Verzweiflung und lenke ihn zu demjenigen, der gesprochen hat. Obwohl ich ihn als männlich einstufe, lässt sich das nicht mit Sicherheit sagen. Alpträume besitzen kein eigenes Geschlecht, trotzdem verwenden wir untereinander immerzu die männliche Anrede. Das ist einfacher für uns, wir denken nicht gerne nach. Nicht jeder von uns, ich denke sehr viel nach. Direkt seitlich neben mir sitzt ein menschlicher Schatten zu meinen Füßen, der sich mit dem Rücken an meine Beine angelehnt hat. In dieser Position sitzt dieser Alptraum schon seit einer langen Zeit neben mir, seit wir zum ersten Mal miteinander gesprochen haben. Er weicht mir nicht mehr von der Seite, weil er sich bei mir sicher fühlt, wie er mir einst gesagt hat. Sicherheit ist etwas, was wir nicht kennen und empfinden können, aber er fühlt sie in meiner Nähe, was mein Interesse an ihm geweckt hat – auch das soll angeblich nicht bei uns möglich sein. Wir zwei sind also beide Alpträume, die aus dem Rahmen fallen. Gleich und gleich gesellt sich gern. Irgendwann werden aber auch wir dennoch so wie alle anderen sein und das kränkt mich. Ich weiß, dass ich dem Schicksal, zu einem zerstörungswütigen Alptraum zu werden, sobald ich hier heraus komme, nicht entfliehen kann. Dieser Präsenz an meiner Seite geht es genauso, daher haben wir beschlossen, nicht mit dem Strom zu schwimmen und einfach auf dem Grund zu bleiben, bei den anderen, wenigen Ausnahmefällen, die emotionale Zustände aufweisen, wie wir sie nicht haben dürften. Der Strom ignoriert uns Außenseiter, weil auch sie wissen, dass wir am Ende doch alle eine einheitliche Präsenz werden würden – ich hasse es wirklich, ein Alptraum zu sein, der keine Wahl hat. „Stimmt“, erwidere ich knapp und halte meinen Blick auf ihn gerichtet. „Das habe ich schon lange nicht mehr gesagt, aber ich denke die ganze Zeit darüber nach.“ Von ihm kommt ein leises Seufzen. „Du glaubst immer noch, jemand erschafft uns aus einem bestimmten Grund?“ „Es ist doch ziemlich offensichtlich.“ „Ja?“ „Ja“, betone ich und lasse meinen Blick nun durch die Gegend schweifen, quer über den Grund des Eden Howl, um die anderen Außenseiter zu betrachten. „Aber denk nicht darüber nach.“ „Warum?“ „Weil du sonst nur noch mehr verzweifelst.“ „Das heißt, du bist also verzweifelt?“, fragt er. Seine Stimme klingt merkwürdig – ist das etwa Sorge? Woher weiß ich, wie die sich anhört? „Wer von uns hier ist das nicht?“ „Ich bin nicht verzweifelt“, streitet er ab und entfacht damit wieder mein Interesse an ihm. Ich glaube ihm nicht, aber das behalte ich für mich. „So? Was bist du dann?“ „Ich bin froh, dass ich hier bin.“ Darüber muss ich humorlos lachen. „Bist du dir sicher, dass du ein Alptraum bist?“ „Mach dich nicht lustig über mich“, schmollt er, wie ein kleines Kind. „Darf man fragen, wieso du froh darüber bist, hier zu sein?“ „Es ist doch ziemlich offensichtlich“, wiederholt er den Satz, den ich eben noch zu ihm gesagt habe. Wir müssen beide schmunzeln. „Wenn ich hier rauskomme, muss ich die Welt da draußen zerstören und das will ich nicht. Darum bin ich froh, dass ich hier bin.“ Erstaunlich. Ich weiß, dass ich bereits zu viel denke und empfinde für einen Alptraum, mein Freund hier scheint jedoch ein ganz besonderer Fall zu sein. Mein Interesse wird immer größer, so intensiv habe ich es noch nie verspürt. Das Gespräch mit ihm lenkt mich gut davon ab, wie traurig unsere Lage ist. „Klingt, als hättest du die Welt da draußen schon mal gesehen?“, hake ich nach. „Habe ich nicht“, verneint er und in mir will schon etwas wie Enttäuschung aufkeimen, vorher fügt er aber tatsächlich noch was hinzu. „Aber ich glaube, sie zu kennen. Aus einer Zeit, die ganz weit zurückliegt.“ „Ich beneide dich“, gestehe ich offen. „Musst du nicht.“ Wieder seufzt er. Sein Blick hebt sich, um erst mich und dann den Strudel anzuschauen. „Du und ihr alle habt wirklich Glück. Was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen.“ „Was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen“, wiederhole ich nachdenklich – ich sollte damit aufhören. „Klingt plausibel, aber traurig. Auch du bleibst für mich ein armes Geschöpf.“ „Hey! Ich sagte doch, du sollst dich nicht über mich lustig machen.“ „Ich mache mich nicht lustig“, beruhige ich ihn und lenke meinen Blick wie er nach oben, in den Strudel hinein. „Ich nehme dich ernst.“ „Davon merke ich nichts.“ Ich glaube, er ist beleidigt. Ich streiche ihm mit einer Hand über den Kopf, auch wenn er es sicher nicht spüren kann. „Ich nehme dich wirklich ernst.“ „... Danke“, murmelt er leise. Ist das jetzt etwa Verlegenheit? „Ändert aber nichts daran, dass ich dich beneide“, greife ich das Thema nochmal auf. Nun bin ich derjenige, der seufzt. „Ich kenne die Welt da draußen nicht, aber ich würde sie gerne kennenlernen.“ „Du wirst sie zerstören wollen, sobald du draußen bist.“ „Denkst du, das ist mir nicht bewusst?“ Etwas in mir fühlt sich auf einmal furchtbar schwer an. „Deine Verzweiflung ist ziemlich groß, oder?“ Da ist es schon wieder: Sorge. Er macht sich eindeutig Sorgen, die Frage ist nur: Um mich oder darum, dass ihm der Schutz fehlen wird, wenn ich nicht mehr da bin? Ich beschließe, ihn nicht danach zu fragen. Was würde das bringen? „Ja, das stimmt“, bringe ich die Worte langsam hervor und ich fühle mich noch schwerer. „Ich bin sehr verzweifelt.“ Leider kommen wir nicht dazu, uns noch länger zu unterhalten, denn an der Spitze des Strudels, am höchsten Punkt vom Eden Howl, tut sich etwas. Nein, es ist meinen Artgenossen nicht gelungen, die Tür zu durchbrechen – das würde mich auch sehr wundern. Es geschieht etwas, was öfter vorkommt, in unterschiedlichen Zeitabständen: Sechs golden leuchtende Klingen dringen durch die Tür ins Eden Howl ein und sie blenden uns alle mit ihrem Leuchten. Am Dach dieses Ortes positionieren sie sich kreisförmig zu einer Blume. Nun lauern sie. Jeder von uns weiß, was gleich passiert. Einer wird auserwählt werden, um dieses Gefängnis zu verlassen. Die Klingen symbolisieren Freiheit, weil sie uns nach draußen führen, an die Außenwelt. Sie durchbrechen die Gitterstäbe von diesem Gefängnis jedes Mal problemlos und können uns mitnehmen. Einen von uns. Wer wird diesmal das Glück haben? Der Schatten neben mir kauert sich verängstigt zusammen – endlich verstehe ich, warum er immer so reagiert, sobald die Klingen auftauchen. Ich dagegen blicke sie hoffnungsvoll an, rufe sie buchstäblich, so wie es der Rest auch tut. Nur in solchen Augenblicken wird der Chor aus Stimmen besonders laut. Der Lärm ist kaum zu ertragen, wir alle flehen um Gnade und verleihen kollektiv unserer Verzweiflung ein Bild. Plötzlich löst sich eine von den Klingen endlich von der Decke und stürzt sich in den Strudel hinab. Blitzschnell wie ein Pfeil rast sie nach unten. Sehr weit nach unten, geradewegs auf mich zu. Ich kann es kaum glauben. Meine Existenz wird sofort von dieser Klinge absorbiert und färbt sie rot, als sie in mich einschlägt. Ich bin es. Heute bin ich der Auserwählte. Endlich. „Hiwa!“, höre ich meinen Freund verzweifelt rufen. „Nein!“ Wieso spricht er mich mit einem Namen an? Alpträume haben keine, wir verdienen sie nicht. Wir sind bloß unscheinbare Existenzen. Woher nimmt er diesen Namen? Ein letzter Blick zu ihm verrät mir, dass er Angst hat, ganz alleine hier zurückzubleiben. Dieser schwarze Schatten ist erfüllt von Angst. Dieser Anblick löst in mir etwas aus, begleitet von einem Namen, der mir ebenfalls in den Sinn kommt. Sein Name. „Kian“, spreche ich seinen Namen leise aus. „Tut mir leid.“ Ich werde kämpfen, wenn ich draußen bin, aber ich will nicht zerstören. Ich werde mich dagegen zur Wehr setzen, wenn ich kann. Ich werde nicht die Welt zerstören, die Kian so sehr vermisst. Das ist alles, was ich für ihn – und auch für mich – tun kann. Alles, was ich will. Als die Klinge mich vollständig absorbiert hat, ist es, als würde ich vorübergehend in einen Schlaf fallen. Mit mir als Auserwählten in sich kehrt sie rasend schnell zur Decke zurück, vorbei an all den Alpträumen, deren neidische Rufe mich sogar im Traum erreichen. In diesem sehe ich bereits die Außenwelt, wie sie sein könnte. Auch Kian ist da, der alleine zurückbleibt und weint. Jetzt ist auch er verzweifelt. Kapitel 1: Ich durfte noch nicht sterben ---------------------------------------- Vane Belfond war seit fast einem Jahr als Traumbrecher tätig. So nannten sich die Jäger, die auf Alpträume spezialisiert waren. Es war seine Aufgabe sie zu suchen und jeden von ihnen so lange zu verfolgen, bis sie alle vernichtet waren und keinen Schaden mehr anrichten konnten. Alpträume waren nämlich eine größere Gefahr für die Welt und besonders für die Menschheit, als Außenstehende glaubten zu wissen – diese Wesen strebten nach Zerstörung. Unter ihnen herrschte sogar eine eigene Hierarchie und in der gab es bisher insgesamt sechs bekannte Gattungen von Alpträumen zu verzeichnen, angefangen vom schwächsten bis zum stärksten Glied einer Kette: Trugmahr, Nachtmahr, Dunstmahr, Reinmahr, Sakromahr und die Geißel. Die letzte Gattung galt allerdings nur als eine Art Legende, weil sie bisher nie in Erscheinung getreten war und kein Traumbrecher von einer Begegnung mit dieser Art berichten konnte. Vermutlich existierten Geißeln schon seit Jahrhunderten nicht mehr, wurden aber nie aus der Auflistung gestrichen, weil sie sonst nicht mehr vollständig wäre. Diese sechs Gattungen wurden nochmal in vier weitere Kategorien eingeteilt, um die Fähigkeiten zu bestimmen: Koloss, Schall, Atem und Schöpfer. Auch jeder Traumbrecher wurde jeweils einem dieser Bereiche zugeordnet, indem er eine entsprechende Prägung erhielt, sobald man seinen ersten Schritt in diesen außergewöhnlichen Beruf wagte. Vane selbst besaß eine Schall-Prägung, wodurch seine eigene Stimme zu seiner Waffe geworden war und er eher als passiver Kämpfer galt, was ihm nur recht sein konnte. Er kämpfte nicht gerne, das verabscheute er sogar. Den Kampf verabscheute Vane sogar so sehr, dass er bei der Begegnung mit seinem letzten Alptraum etwas getan hatte, was beim Anführer der Traumbrecher, mal wieder, für reichlich Missmut gesorgt hatte. Deshalb saß Vane jetzt auch bei ihm in seinem Büro und wurde von ihm nahezu apathisch angestarrt, was er mit einem warmen Blick samt einem sanften Lächeln erwiderte, um ihn etwas friedlicher zu stimmen. Schließlich waren sie so etwas wie Freunde, gerade aus dem Grund passte es Atanas auch sicher nicht, was Vane mit dem Alptraum versucht hatte. Atanas schien äußerlich gesehen etwas jünger zu sein als Vane, doch in Wahrheit war er viel, viel älter und es war bei allen Traumbrechern bekannt, dass ihr Anführer schon ziemlich lange lebte. Ob er unsterblich war, wusste dagegen niemand so genau, das Gerücht machte nur öfters mal die Runde, bis es eine Weile lang nicht mehr interessant genug war. Vor kurzem hatte Vane ihn tatsächlich mal darauf angesprochen, aber keine richtige Antwort auf seine Frage bekommen, nur die Aussage, dass Atanas wesentlich länger lebte, als er eigentlich sollte. Das weiße, schulterlange Haar rahmte das markante Gesicht von Atanas mit einer leichten Wellenbewegung ein, was ihm eine gewisse Eleganz verlieh, wie Vane fand. Auch seine Kleidung, farblich in Weiß mit viel Blau gehalten, wirkte stets edel und ließ ihn noch dazu erhaben wirken, weil sie sogar ein wenig an die Tracht eines Priesters erinnerte, nur mit einigen zusätzlichen Details. Leider war seine Mimik gerade schrecklich gefühllos, was das Bild der Eleganz und der Erhabenheit geradezu gewaltsam zerstörte. Durch den kalten Ausdruck in seinen Augen wurde es nicht besser. Im Moment stach nur im linken Auge von Atanas ein wenig hellblau heraus, sonst war das Paar an sich von einem Weiß erfüllt, das leicht silbern schimmerte. Inzwischen hatte Vane schon herausgefunden, dass es ein gutes Zeichen war, wenn seine Augen beide hellblau waren, statt weiß, also war er gegenwärtig wohl gerade ziemlich wütend. Offenbar nahm Atanas es ihm wirklich übel, was er mit dem Alptraum heute versucht hatte umzusetzen. Bestimmt dürfte auch jede Sekunde noch ein Gespräch dazu folgen, wie sie es schon öfters miteinander geführt hatten. Aus Erfahrung wusste Vane, dass er dieses besagte Gespräch selbst in Gang setzen musste, sonst würde Atanas ihn noch lange versuchen mit den Augen zu erdolchen. Vorsichtig lehnte er sich in dem Stuhl zurück, auf dem er saß, ohne sein Lächeln zu verlieren und machte eine einladende Geste mit der Hand, während er die Stimme erhob: „Wollen wir nicht reden?“ Atanas zuckte kaum merklich mit den Augenbrauen, als er Vanes Stimme hörte, zeigte sonst aber keinerlei Anzeichen dafür, etwas sagen zu wollen. Stattdessen lehnte er sich ebenfalls im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, um zu verdeutlichen, dass er sich diesmal ganz bestimmt nicht von Vane weichkochen lassen würde. Ganz besonders nicht von seiner Stimme, bei der Atanas in der Regel stets drohte schwach zu werden. Auch das war Vane schon durch einige Erfahrungen bekannt, weshalb er leicht schmunzeln musste. Ausnahmslos jeder sagte Vane nach, dass er eine unvergleichbar angenehme Stimme hätte, in der man sich leicht verlieren konnte. Wenn man es von allen Seiten her gesagt bekam, musste da etwas Wahres dran sein. Schon zu seinen Lebzeiten, bevor er Traumbrecher geworden war, hatte er viele Komplimente für seine Stimme bekommen und seit er obendrein auch noch eine Schall-Prägung besaß, musste ihre Wirkung sich um einiges verstärkt haben, was ihm selbst kaum bewusst war. Für ihn klang sie nicht allzu besonders, dabei war sie es offenbar. Vanes Stimme war sehr tief und trug immerzu eine Wärme in sich, die einen zu behüten schien, sobald er sprach. Seine Mitmenschen empfanden sie wohl als so herzlich, dass selbst Fremde schon beim allerersten Wortwechsel das Gefühl hatten, sich eigentlich mit einem guten Freund zu unterhalten, den sie sehr mochten. So war es ihm jedenfalls erklärt worden, als er mal bei einigen nachgefragt hatte. Außerdem verschwand seine Stimme auch niemals vollständig aus einem Raum, wie ihm berichtet worden war. Sie war wie eine nie versiegende Quelle der Geborgenheit, die in Form eines Echos melodisch von den Wänden widerhallte und sie auf diese Weise als unsichtbare Klaviertasten nutzte, um ein Lied zu spielen, das sich beruhigend auswirkte. Dieser Tanz spielte sich scheinbar auf einer Ebene ab, die nicht jeder wahrnehmen konnte, erst recht gewöhnliche Menschen nicht. Trotzdem war zu spüren, dass etwas für Leben sorgte. Auf diese Weise füllte Vane den Raum selbst dann noch mit seiner Anwesenheit aus, wenn er ganz woanders war und besonders Atanas hatte ihm schon mehrmals bestätigt, wie angenehm selbst er dieses Gefühl wahrnahm. Kein Wunder, der Mann verbrachte auch die meiste Zeit seines, scheinbar fast ewig währenden, Lebens alleine in seiner Schatzkammer. Athamos, das Hauptquartier der Traumbrecher, verließ er als einziger niemals und würde nicht mal für dringende Notfälle eine Ausnahme machen. Warum das so war, hatte Vane noch nicht in Erfahrung bringen können, denn bei dem Thema sperrte Atanas sich jedes Mal so sehr, dass es hoffnungslos war. Das war äußerst schade, Vane wollte ihn schließlich besser verstehen lernen. Nicht nur, weil er eine besondere Form der Freundschaft zu ihm pflegte, sondern vor allem weil etwas an Atanas ihn so traurig wirken ließ, dass es ihn schmerzte. Außer Vane schien das nur niemand so zu sehen, was an seinem sensiblen Gespür für solche Dinge liegen musste. Schon seit er denken konnte hatte er nie Probleme damit gehabt, sich in andere hineinzuversetzen und ihre Gefühlswelt zu lesen. Atanas war einer der ersten, bei denen es sich als schwierig erwies, deshalb verspürte er auch so sehr den Drang ihm näherzukommen, um ihm bei seinen Problemen helfen zu können. Was immer ihn traurig machte, konnte nur mit einem Problem zusammenhängen und es lag in Vanes Natur, anderen helfen zu wollen. Das würde sich niemals ändern, er tat es gerne. In den Augen von Atanas lag das etwas zu sehr in seiner Natur, da sich dieser Drang auch auf Alpträume ausgeweitet hatte. Womit er wieder bei dem Grund angekommen wäre, weshalb er überhaupt hier in diesem Büro saß und so streng von Atanas gemustert wurde. Dieses Büro sah auf den ersten Blick vollkommen gewöhnlich aus: Es gab einen Schreibtisch, an dem auf jeder Seite einer von ihnen saß sowie viele Regale mit Büchern an den Wänden, von denen sie buchstäblich eingeschlossen wurden. Insgesamt besaß dieser Raum einen Flair, der nochmal verdeutlichte, dass Atanas um einiges älter war als jeder andere in Athamos, denn hier herrschte eine nahezu antike Atmosphäre, die aber durchaus gemütlich war. Hier gab es nichts, was dieses Büro seltsam erscheinen ließ, nur wusste Vane im Gegensatz zu den meisten anderen Besuchern, dass es sich hierbei nur um eine Illusion handelte, hinter der sich das wahre Gesicht der Schatzkammer verbarg. Noch ein Zeichen, das Vane verriet, wie wütend Atanas auf ihn sein musste. Sonst hatte er kein Problem damit, ihn direkt in seiner Schatzkammer zu empfangen, statt in diesem künstlichen Vorort, der nicht mal wirklich existierte, obwohl sie hier saßen. Bestimmt tat er das, um zu verhindern, dass seine Stimme von den Wänden widerhallen konnte, die in diesem Falle gar nicht vorhanden waren. Gegen Vanes Stimme kam Atanas wahrlich selten an, weil sie ihn, wie schon gesagt, schwach werden ließ. „Atanas“, sprach Vane sanftmütig seinen Namen aus. „Du weißt, dass ich nicht ewig schweigen werde, also lass uns doch bitte reden. Ich rede ungerne alleine auf dich ein, dabei komme ich mir immer so gemein vor.“ Gemein, weil Atanas dann schweigend dasaß und mühevoll versuchte gegen Vanes Stimme anzukämpfen, was manchmal ziemlich anstrengend aussah. Womöglich tat er das an manchen Tagen auch absichtlich, nur damit Vane ein schlechtes Gewissen bekam. Das würde ihn nicht wundern, zu solchen Methoden griff Atanas in seiner Gegenwart öfters. Man sollte nicht meinen, dass dieser Mann vor den anderen Traumbrechern stets eine gerechte Autorität an den Tag legte, die er mit Freundlichkeit und einer offenen Art koppelte, zu der auch ein Lächeln zählte. Jetzt gerade lächelte Atanas nicht mal ein bisschen, doch wenigstens bekam Vane endlich eine Reaktion von ihm: „Du sollst mich nicht so nennen, wenn wir beruflich miteinander zu tun haben.“ Die Stimme von Atanas klang heller, als man es erwarten würde, fast makellos rein – wäre da nicht dieser dunkle Funken Trauer, den Vane heraushören konnte, wann immer er seinen Freund sprechen hörte. Wieder fiel es ihm ziemlich schwer, diese Trauer zu ignorieren, doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte, Atanas darauf anzusprechen. Das hatte er so viele Male versucht und war nur auf Granit gestoßen, also verzichtete er, schweren Herzens, darauf und ging auf seine Aussage ein. „Entschuldige“, erwiderte Vane und schloss lächelnd die Augen. „Vyron Athanagoras Dra’Thares. So besser?“ Selbst mit geschlossenen Augen konnte Vane sehen, dass Atanas die Stirn in Falten legte. „Du sollst es auch nicht übertreiben, Athanagoras hätte gereicht und aufziehen sollst du mich schon gar nicht.“ „Ich ziehe dich nicht auf.“ „Wie nennst du das dann?“ „Ich nenne das einen freundschaftlichen Rat“, meinte Vane und öffnete die Augen wieder. „Du solltest allen anbieten, dass sie dich Atanas nennen dürfen.“ „Wozu?“, wollte Atanas wissen, der noch keinen Sinn in diesem Ratschlag erkennen konnte. „Das würde deine Masche noch besser unterstützen. Oder deine Maske. Je nachdem, wie du es lieber nennen möchtest.“ Genervt stieß Atanas einen Seufzer aus und rieb sich mit einer Hand über die Stirn. „Vane, komm mir jetzt nicht wieder damit, sonst werde ich ungemütlich.“ „Wirst du nicht.“ Vane sprach so ruhig wie möglich, um ihm zu verdeutlichen, dass er sich nicht über ihn lustig machte. „Ich mache mir nur Sorgen um dich, das weißt du auch.“ „Und ich sage dir, dass es dazu keinen Grund gibt“, wehrte Atanas ab. „Du sollst deine Arbeit anständig machen, mehr nicht.“ So leicht ließ Vane nicht locker. „Ich bin aber auch dein Freund, habe ich recht?“ „Vane ...“ „Als dein Freund ist es auch meine Aufgabe, mich um dich zu kümmern und das nehme ich sehr ernst.“ „Schön, wie du willst“, ging Atanas auf das Spiel ein und beugte sich vor, die Kälte in seinen Augen war ein wenig geschmolzen. „Ich als dein Freund mache mir auch Sorgen um dich, also beantworte mir eine Frage: Warum bist du Traumbrecher geworden?“ Diese Frage sorgte dafür, dass Vanes Lächeln kurzzeitig starb und seine Mimik schlagartig einfror. Sofort setzte eine ganz bestimmte Erinnerung ein, von der er gewaltsam in eine kalte Novembernacht entführt wurde, die von zahlreichen Blaulichtern erhellt worden war. Sie färbten sich langsam rot, wegen dem Blut, das sich ausbreitete. Es war überall. Ärzte waren fieberhaft damit beschäftigt, ihm das Leben zu retten. Vergeblich. Ein Mädchen, das verzweifelt weinte, rief seinen Namen. Und dann war er tot. Der zwölfte November, ausgerechnet sein Geburtstag. Gleichzeitig war es stets der einzige Tag im Jahr, an dem er es sich erlaubte, seine Stimmung von oben nach unten rauschen zu lassen. Genau das war ihm letztes Jahr zum Verhängnis geworden. Ja, er war für einen kurzen Augenblick tot gewesen, aber nicht lange. Daran dachte Vane nicht gerne zurück, an dieses Gefühl von Kälte, das einen aus dem Leben riss. Eine Kälte, die auf ihre Art unheimlich sanft gewesen war. Als sich sein Geist von seinem Körper gelöst hatte, fing Atanas ihn auf Aureuph ab, der spirituellen Ebene, auf der immaterielle Existenzen lebten und wo sie sich aufhalten konnten, ohne gänzlich von dieser Welt zu verschwinden. Dort hatte er Vane das Angebot gemacht, den Tod noch einmal nach hinten zu verschieben und stattdessen Traumbrecher zu werden. Ihm waren all die Gefahren und die Arbeit egal gewesen, vor denen Atanas ihn am Anfang gewarnt hatte. Denn ... „Ich durfte noch nicht sterben“, lautete Vanes Antwort. Sogleich kehrte auch sein Lächeln wieder ins Leben zurück. „Es war einfach noch zu früh. Ich habe meine Bestimmung noch nicht gefunden.“ „Ja, deine Bestimmung“, griff Atanas seufzend auf und musste sich gerade sichtlich beherrschen, bei diesem Thema ernst zu bleiben. „Dein Lebensziel ist es doch, anderen Menschen zu helfen, richtig? Dabei hast du in deinem Leben doch schon so vielen Menschen geholfen und ihnen sogar das Leben gerettet. Vane, du bist der größte Samariter, der mir je begegnet ist und ich lebe schon sehr, sehr lange. Deine Bestimmung hast du zu deinen Lebzeiten schon reichlich erfüllt, meiner Meinung nach.“ Auch diese Diskussion hatten sie schon mehrmals geführt und in diesem Fall war es Atanas, der ihn einfach nicht verstehen wollte. Natürlich hatte Vane dafür gelebt, anderen Menschen zu helfen. Aus dem Grund war er auch Arzt geworden und ja, er war sehr erfolgreich gewesen, aber er hatte niemals das Gefühl bekommen, seinen Daseinszweck zu erfüllen. Für irgendetwas war er da und das musste er noch finden. Das war ihm wichtig. „Aber ich-“ „Nein, wir kommen jetzt endlich zu dem, weswegen du hier bist“, unterbrach Atanas ihn direkt. „Wenn du nicht endlich deinen Job anständig machst, wirst du am Ende doch sehr bald sterben und nochmal kann dich dann niemand ins Leben zurückholen.“ Vane sah ihn erst schweigend an, ehe er darauf gefasst sagte: „Ich weiß.“ „Das wage ich zu bezweifeln.“ Endlich änderte sich etwas am Gesichtsausdruck seines Anführers, denn er erwiderte den Blick tadelnd und klang nun sehr streng. „Statt den Menschen zu retten, der von diesem Schöpfer-Reinmahr befallen worden war, hast du versucht dem Alptraum zu helfen. Du hast ihn nicht einfach vernichtet, wie es deine Aufgabe gewesen wäre, sondern wolltest ihm wie ein Freund gut zureden. Was hast du dir dabei gedacht?“ „Ich wollte-“ „Erspare mir deine Erklärungen“, sprach Atanas ihm wieder gereizt dazwischen, obwohl er doch derjenige war, der die Frage gestellt hatte – sie sollte wohl nur verdeutlichen, wie sehr ihm Vanes Handlung missfiel. „Mich interessiert nicht, warum du es getan hast. Nachdem du von diesem Reinmahr hinterhältig angegriffen wurdest, weil du deine Deckung vernachlässigst hast und du ihm nur knapp entkommen konntest, bist du hier schwer verletzt angekommen. Das hat uns zu interessieren. Dr. Cope hat mir berichtet, dass du in Lebensgefahr geschwebt hast.“ Nima Cope war die Ärztin in Athamos und gleichzeitig für die Behandlung der Fortuna zuständig, mit denen Traumbrecher eine sehr enge Zusammenarbeit pflegten, doch man lief sich gegenseitig nur selten über den Weg. Durch die Vernichtung der Alpträume konnte die Reinheit der Träume bewahrt werden und daraus konnte eine Schicksalsgöttin Glück für die Menschen schmieden. Einer Fortuna war Vane bisher noch nie begegnet. Im Moment wollte er auch lieber Atanas von der Richtigkeit seiner Tat überzeugen, als über Schicksalsgöttinnen nachzudenken. „Du hättest den Reinmahr sehen sollen“, wandte Vane ein und in ihm kam gleich Sorge hoch, als er sich an dieses Bild erinnerte. „Er hat sich selbst in seiner eigenen Welt auf grausame Weise eingesperrt. Auf mich hat er nicht den Eindruck gemacht, als wollte er jemanden schaden.“ Atanas schüttelte leicht verzweifelt den Kopf, weil einer seiner Traumbrecher gerade vor ihm Partei für den Feind ergriff – noch dazu ein Freund. „Hast du mir nicht zugehört? Du hast in Lebensgefahr geschwebt, wegen einem Reinmahr, den du zu schützen versuchst und behauptest allen Ernstes, dieser Alptraum hatte nicht die Absicht, jemandem zu schaden? Vane, hörst du dir überhaupt selber zu?“ Auch Vane war nun ein wenig verzweifelt, da Atanas sich nicht mal die Mühe machen wollte, ihn zu verstehen. In Verbindung mit Atanas‘ Fakten hörte sich Vanes Schilderung wirklich nicht überzeugend an, eher unzurechnungsfähig und er wartete nur darauf, dass er gleich ein vorläufiges Jagdverbot an den Kopf geworfen bekam. Bestimmt würde jede weitere Erklärung komplett an Atanas abprallen und auf ewig einsam im Nichts herumirren, dennoch wollte Vane die Sache nicht so stehenlassen. „Lass mich doch bitte versuchen, es dir zu erklären“, bat Vane ihn inständig und fuhr einfach fort, ohne auf eine Erlaubnis von Atanas zu warten. „Ich habe in diesem Jahr Alpträume als sehr verzweifelte Wesen wahrgenommen, die all das nicht zwingend aus Bosheit tun. Nicht alle. Dieser Schöpfer-Reinmahr war auch verzweifelt und schien selbst verängstigt von dem Drang nach Zerstörung zu sein, deshalb hat er versucht sich selbst aufzuhalten, solange er noch Kontrolle über sich hatte. Er hat mich am Ende nur angegriffen, weil ich eben ein Traumbrecher war und er sich bedroht gefühlt hat.“ „Zu recht“, kam es nur knapp von Atanas, der ihn zwar aufmerksam, aber zweifelnd beobachtet hatte, während dieser Erklärung. „Traumbrecher vernichten Alpträume, Vane.“ Manchmal war es überaus schwer, nicht die Faust auf den Tisch knallen zu lassen und der Verzweiflung nachzugeben, die Vane in diesem Augenblick verspürte. Kein Wunder, dass Alpträume sich oft nicht mehr kontrollieren konnten und alles zerstören wollten, wenn man ihnen kein Verständnis entgegen brachte. Egal, was Vane noch sagen würde, Atanas wollte es nicht verstehen. Für ihn waren Alpträume gefährlich. Jeder von ihnen. Vane atmete durch und bewahrte sich seine ruhige Fassung, nur das Lächeln konnte er mittlerweile nicht mehr aufrecht erhalten. Ihm ging es nicht darum, sich vor der Strafe zu drücken oder sich aus einem Fehler rauszureden, den er, in Atanas‘ Augen, begangen hatte. Für ihn war es wichtig, zu vermitteln, dass nicht jeder Alptraum vernichtet werden musste. Einige von ihnen waren anders und das spürte er schon lange. Wie konnte er jemanden wie Atanas, der diese Jagd schon so lange ohne Ausnahmen leitete, vom Gegenteil überzeugen? Nachdenklich sah Vane seinen Freund mit einem dunkelbraunen Augenpaar an, das hinter einer Brille lag und eine unbezwingbare Güte sowie Wärme in sich trug, die dafür sorgte, dass Atanas ein wenig in seinem Stuhl zusammensackte. Ein Teil von seinem langen, ebenso dunkelbraunen Haar, über das er unbewusst mit einer Hand strich, fiel ihm stets über die rechte Schulter. Selbst sitzend war er viel größer als Atanas, so dass er auf ihn herabschauen musste, was er ohne jegliche negative Wertung tat. Schon immer hatte Vane eine erstaunliche Körpergröße aufgewiesen, vom Kindesalter an war er deswegen wieder und wieder für wesentlich älter eingeschätzt worden. Damit konnte er Atanas zwar nicht beeindrucken – seine Größe setzte er auch nur ungerne zu seinem Vorteil ein – aber ihm blieb die Schwäche gegenüber seiner Stimme. „Atanas“, fing er nochmal mit seinem Namen an, den er wieder so sanft wie möglich aussprach und behielt ihn fest im Blick. „Ich weiß, dass es dir schwerfällt, mich zu verstehen. Du lässt Alpträume schon sehr lange jagen, ohne selbst Athamos zu verlassen. So kann sich dein Bild, dass sie allesamt bösartig sind, natürlich nicht ändern. Bitte, gib mir die Chance, dir ein anderes Bild zu zeigen und sieh dir diesen Reinmahr selbst an.“ Immerhin war er noch da draußen, in seiner Welt, die er erschaffen hatte, da Vane fliehen musste, um nicht zu sterben. Wenn ein Traumbrecher verletzt zurückkam, hatte Atanas vorerst sicher ein Verbot erteilt, sich diesem Alptraum zu nähern und befohlen, auf weitere Anweisungen zu warten, bis er mehr über den Feind wusste. Hinzu kam noch die Zeit, in der Vane auf der Krankenstation gelegen hatte. Also war dieser Schöpfer-Reinmahr noch da und konnte gerettet werden. Vielleicht würde Atanas ihm endlich glauben, wenn er sich mit eigenen Augen davon überzeugte, wie verzweifelt der Alptraum war. Hoffend sah Vane ihn an, aber Atanas verzog keine Miene und nicht ein Muskel rührte sich, für eine qualvoll lange Zeit. Ob er darüber nachdachte, auf seine Bitte einzugehen oder sich schon überlegte, für welchen Innendienst er am besten geeignet wäre, konnte Vane nicht einschätzen. Leider hörten sich die folgenden Worte von Atanas nicht gut an, als er endlich die Stille zwischen ihnen brach, bevor sie dadurch zu weit voneinander getrennt werden konnten. „Ich werde dich als Arzt einsetzen“, verkündete Atanas mit so schneidend kalter Stimme, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Für ihn stand es fest. Vane kam es vor, als hätte er ihm soeben einen Schlag ins Gesicht verpasst. „Als Arzt?“ „Ja, du warst ein sehr guter Arzt, bevor du Traumbrecher wurdest und Dr. Cope kann Entlastung gebrauchen. So kann sie sich etwas gezielter um die Fortuna kümmern.“ Zufrieden mit dieser Entscheidung, nickte Atanas für sich selbst und entspannte seinen Körper. „Du kämpfst doch sowieso nicht gerne oder liege ich da falsch? Als Arzt im Innendienst bleibt dir das Kämpfen erspart und die Begegnungen mit Alpträumen werden dich nicht mehr so sehr verwirren.“ Als Arzt in Athamos zu arbeiten klang gar nicht mal so übel, wie Vane zugeben musste. Er konnte sich vorstellen, dass ihm das gefallen würde und er könnte vielen Menschen helfen, so wie früher. Genau, wie früher. Schlecht war das nicht, besonders nicht mehr kämpfen zu müssen hatte seinen Reiz. Vane wäre wieder ein Arzt, ohne seine wahre Bestimmung zu finden. Durch seine Arbeit als Traumbrecher war er ihr aber nähergekommen, das konnte er spüren. Das durfte Atanas ihm nicht wegnehmen. Offenbar war ihm diese Furcht anzusehen, denn Atanas hob beruhigend eine Hand. „Ich werde dir vorher deine Chance geben, Vane.“ „... Wirklich?“, hakte er erwartungsvoll nach. „Ich merke, dass dir das wichtig ist, also ja“, bestätigte Atanas ihm und das Blau kehrte langsam farblich kraftvoller in seine Augen zurück. Ein sehr gutes Zeichen bei ihm, also war Vane zu ihm durchgedrungen. „Ich gebe dir die Chance, mich davon zu überzeugen, dass nicht jeder Alptraum böse ist und zerstört werden muss. Sollte ich davon aber nichts sehen, erkläre ich dich als Jäger für ungeeignet und du wirst stattdessen als Arzt bei uns arbeiten. Das dient deiner eigenen Sicherheit, was in deinem Sinne sein dürfte. Du willst ja schließlich nicht nochmal sterben, richtig?“ Es gab also nur diese eine Chance, sonst saß Vane wieder in einem Leben fest, in dem er seiner Bestimmung keinen Schritt näherkommen würde. Jetzt musste er nur noch hoffen, dass Atanas es auch sehen würde, wie verzweifelt Alpträume waren und er seine Einstellung sowie Regeln in der Richtung anschließend etwas abänderte. Immerhin war deutlich, wie besorgt Atanas um ihn war, denn so leicht versetzte er Traumbrecher nicht in den Innendienst. Besonders nicht welche wie Vane, die noch nicht mal ein Jahr in der Jagd tätig gewesen waren. „Richtig“, bejahte Vane seine letzte Frage und sein Lächeln kehrte zu ihm zurück. „Ich danke dir, mein Freund. Du wirst mich also diesmal begleiten?“ „Nicht direkt“, widersprach Atanas. „Ich verlasse Athamos nicht, das weißt du.“ Irritiert hob Vane eine Augenbraue. „Wie willst du dir dann selbst ein Bild machen, wenn du wieder nicht persönlich gehst?“ „Ich werde dir jemanden mitgeben. Einen Partner.“ Partner. Schon lange predigte Vane ihm, dass er ein Partnersystem in Athamos einführen sollte und auf einmal nahm er diesen Verbesserungsvorschlag an? „Du wolltest doch, dass ich Traumbrechern Partner zur Verfügung stelle“, griff Atanas seine Gedanken gleich von selbst auf, ohne dass Vane sie laut aussprechen musste. „So kann ich auch gleich überprüfen, ob dieses System wirklich eine Verbesserung wäre.“ „Versteh mich nicht falsch, ich begrüße es, dass du noch daran gedacht hast“, meinte Vane ehrlich, blieb aber etwas misstrauisch. „Aber trotzdem sind es doch dann wieder nicht deine eigenen Augen. Besiegelst du damit nicht schon meinen Innendienst als Arzt?“ Zu seiner Überraschung schmunzelte Atanas ein wenig. „Beruhig dich, ich gebe dir nicht irgendjemanden mit. Er ist quasi mein zweites Augenpaar und was er sehen wird, bekomme auch ich zu sehen. Bei ihm kann ich mir auch sicher sein, dass der Alptraum notfalls doch noch seine Vernichtung findet und dir nicht wieder etwas passiert.“ Nun war Vane neugierig, denn es musste einiges bedeuten, wenn Atanas so über jemanden sprach – ohne seine freundliche Maske dabei aufzusetzen. „Und wer ist es?“ „Viorel Xylon“, antwortete er und seine Lippen formten sich zu einem Lächeln. Er sah traurig aus. Kapitel 2: Das sind Dinge, die ich sofort erkenne ------------------------------------------------- „Hallo“, grüßte der Junge ihn freundlich und mit einem Lächeln auf den Lippen. „Ich bin bis auf weiteres dein Partner und damit bilden wir heute das erste Traumbrecher-Team überhaupt. Ganz schön aufregend, diese Veränderung~.“ Vor dem Eingangsbereich zu den privaten Quartieren der Traumbrecher hatte Atanas für Vane ein Treffen mit seinem neuen Partner vereinbart, dessen Begrüßung schon mal überraschend angenehm ausfiel. Kaum hatten sich ihre Blicke getroffen, wurde er direkt offen von einem Jungen angesprochen und nun stand dieser gerade vor ihm. Sah schon mal nach einem guten Start aus, fehlte nur noch der erste Eindruck, für den Vane sein Gegenüber interessiert in Augenschein nahm. Bei Viorel Xylon handelte es sich um einen Jugendlichen, vielleicht um die sechzehn Jahre alt. Es störte ihn nicht, einen Partner an die Seite gestellt zu bekommen, der im Vergleich zu ihm weitaus jünger war als er – gestorben war er selbst mit siebenunddreißig Jahren und alterte seitdem nicht mehr. Was Vane dafür allerdings an diesem Anblick regelrecht schmerzte, war die Tatsache, dass dieser Junge viel zu jung gestorben sein musste, wenn er jetzt als Traumbrecher sein Leben hier auf diese Weise fortführte. Neben diesem Schmerz gab es noch etwas anderes, das ihn irritiert blinzeln ließ, während Vane Viorel weiterhin neugierig musterte: Es war eindeutig eine Ähnlichkeit zu Atanas vorhanden, die ihm geradewegs in die Augen sprang und für ihn nicht zu übersehen war. Das markante Gesicht musste man doch sofort wiedererkennen, nur war es bei dem Jungen noch nicht so stark ausgeprägt wie bei Atanas, dafür besaß er aber genau die gleiche, hellblaue Augenfarbe. Sein Haar dagegen war strahlend blond und kurz geschnitten, trotzdem besaß es auch bei ihm eine leichte Wellenform, die sich zur rechten Kopfseite hin ausrichtete. Würden nur ein paar Haarsträhnen anders fallen, wäre die Ähnlichkeit zu Atanas noch besser sichtbar. Einzig die Ausstrahlung passte nicht ganz zu dem Mann, den Vane als einen Freund betrachtete und daher andere Seiten an Atanas kannte als die meisten. Viele hätten nämlich sicher behauptet, dass Viorel mit seiner Freundlichkeit und diesem Lächeln locker der Sohn von Atanas sein könnte, in Verbindung mit seinem Aussehen. Nur wirkte der Anführer der Traumbrecher niemals so locker und verträumt wie Viorel, der mit den Gedanken ganz woanders zu sein schien, obwohl er sich gleichzeitig mit seinem Blick ebenfalls auf Vane zu konzentrieren bemühte. Aufgrund von Vanes übernatürlicher Körpergröße reichte Viorel ihm gerade mal ganz knapp an die Brust und musste zu ihm hoch schauen. Auch sein Körper war schmächtig und sah nicht danach aus, als wäre er geeignet für Kämpfe, deshalb geriet Vane gleich in Sorge um den Jungen, dabei mussten sie sich erst noch richtig kennenlernten. So etwas hatte ihn jedoch noch nie daran gehindert, jeden Menschen gleich als eine Art Freund zu betrachten. Immerhin lebten sie zusammen in der gleichen Welt, für ihn genügte diese Tatsache. Erwartungsvoll blickte Viorel ihn schweigend an und Vane erinnerte sich endlich daran, dass er den Gruß langsam mal erwidern sollte. „Schön, dich kennenzulernen“, sagte er aufrichtig und reichte ihm zum Gruß seine rechte Hand. „Mein Name ist Vane Belfond.“ „Ich weiß“, kam es daraufhin schmunzelnd von dem Jungen, der Vanes Hand entgegen nahm, um sie zu schütteln. „Ich bin Viorel Xylon.“ „Ich weiß“, konnte auch Vane sagen, der von sich aus den Händedruck übernahm, da Viorel etwas zu sachte dabei war. „Wir wurden also schon mal beide über den jeweils anderen informiert, was die Namen angeht.“ „Ist ein guter Anfang.“ „Finde ich auch.“ Viorel hielt nach diesem ersten Wortwechsel kurz inne. „Stellst du dich nie mit deinem Doktortitel vor?“ Darüber musste Vane leise lachen. „Ah, über meinen alten Beruf weißt du also auch Bescheid? Ich bevorzuge es tatsächlich, mich ohne Titel vorzustellen. Viele gehen nämlich gleich auf Distanz, weil sie zu viel Respekt vor Ärzten haben und das finde ich immer schade.“ Nickend speicherte der andere diese Information für sich ab. „So ist das, verstehe.“ „Nenn mich also ruhig Vane.“ Noch immer begutachtete er Viorel genau, auch als sich ihre Hände wieder voneinander lösten. „Sag mal, kann es sein, dass du mit unserem Anführer verwandt bist?“ Eigentlich konnte Vane aus dem hellblauen Augenpaar bereits ablesen, dass der Junge genau wusste, wieso er das fragte, doch der hakte wohl lieber vorsichtshalber nach. „Du meinst Athanagoras?“ „Richtig, den meine ich. Du siehst ihm erstaunlich ähnlich.“ Es war nicht nur die Ähnlichkeit, auch die Stimme glich der von Atanas, sie war ebenso hell, nur etwas jünger und der dunkle Funken Trauer war nicht vorhanden. Zwar hatte sein Freund ihm gesagt, Viorel wäre quasi sein zweites Augenpaar, aber was hatte das genau zu bedeuten? Inzwischen war Vane noch neugieriger geworden, besonders als er ihn jetzt vor sich stehen hatte und persönlich erleben konnte. Nachdenklich fuhr Viorel sich mit dem Finger über das Kinn. „Wir sind nicht direkt verwandt, aber uns verbindet etwas.“ „Das sieht man“, meinte Vane, der ihn nochmal von oben bis unten betrachtete. „Was verbindet euch denn?“ „Schau mich doch nochmal ganz genau an, denn eigentlich sollte es für dich offensichtlich sein.“ „Ist das so?“ Lächelnd schob Vane seine Brille zurecht und beugte sich dabei ein Stück zu ihm runter. „Du machst es aber ganz schön spannend.“ Unschuldig hob Viorel die Schultern. „Wäre doch sonst langweilig.“ „Na gut, dann lass mal sehen ...“ Erneut fuhr Vane mit seinem Blick über Viorel. Wenn er nicht mit Atanas verwandt war, was sollte sie sonst verbinden? Das war überaus geheimnisvoll. Zu schade, dass gerade kein anderer Traumbrecher in der Nähe war, aber auch ohne eine Bestätigung wusste Vane, dass Viorel zuvor sicher noch nie in Athamos unterwegs gewesen sein konnte. Sonst hätte man garantiert schon mal etwas von ihm gehört und Gerüchte darüber aufgeschnappt, was eine mögliche Verwandtschaft zu Atanas anging. Also war Viorel entweder frisch in diese Branche eingestiegen oder hatte sich bisher nur noch nie gezeigt, aus welchen Gründen auch immer. Während Vane darüber zu grübeln anfing, was es mit Viorel auf sich haben könnte, wurde die Stille um sie herum übermächtig. Die große, runde Halle war um die Mittagszeit rum immer so leer wie jetzt, weil die meisten in ihrem Zimmer waren und Schlaf nachholten, den sie nachts nicht bekommen hatten. Nur selten traf man um diese Uhrzeit hier auf jemanden, dabei kam man nur über die Haupttreppe, die kreisförmig um eine stabile Säule in der Mitte herum verlief, zu allen möglichen Stockwerken und Bereichen von Athamos. „Du denkst schon zu lange nach“, warf Viorel schließlich nach einer Weile in den Raum und sah ihn dabei seltsam bedauernd an. „Tut mir leid.“ Sofort schüttelte Vane den Kopf und stellte sich wieder aufrecht hin. „Mir tut es leid. Ich scheine ja das Offensichtliche zu übersehen, wenn du meinst, es sollte mir eigentlich auffallen.“ „Das ist echt ungewöhnlich, aber auch erstaunlich ... oder besorgniserregend.“ „Solltest du mich dann nicht langsam mal aufklären?“ Im Moment war Vane nämlich einfach nur verwirrt davon, neben Atanas jetzt auch noch aus Viorel nicht wirklich schlau zu werden. „Spann mich bitte nicht weiter auf die Folter.“ „Geht leider nicht anders“, entschuldigte er sich mit einem milden Lächeln. „Wir haben einen Auftrag, um den wir uns kümmern müssen. Meines Wissens nach wird der Alptraum, um den es geht, sowieso schon viel zu lange ignoriert.“ Ein wenig Misstrauen wurde in Vane geweckt, weil es sich für ihn so anhörte, als wollte Viorel den Feind um jeden Preis vernichten. Hatte Atanas ihm nicht erzählt, dass die Priorität diesmal etwas anders war als gewöhnlich? Sein Ziel war es doch, zu beweisen, nicht jeden Alptraum blind zur Strecke bringen zu müssen. „Du weißt aber schon, worum es hierbei in erster Linie geht?“ „Natürlich“, bestätigte Viorel. „Athanagoras hat mir die Lage erklärt. Ich werde mir anschauen, ob du recht hast mit dem, was du über Alpträume sagst.“ Beruhigt atmete Vane innerlich auf. Atanas hatte also sein Wort gehalten, nun musste nur noch alles so ausgehen, wie er sich das vorstellte. In Zukunft änderten sich dadurch hoffentlich ein paar Ansichten bezüglich Alpträume und es wurde nicht mehr ohne Ausnahmen Jagd auf sie gemacht. Womöglich war das sogar die Bestimmung, nach der Vane schon so lange suchte. Daher zeigte er sich auch sehr motiviert. „Prima, dann machen wir uns mal auf den Weg.“ „Du willst jetzt losgehen? Mitten am Tag? Ich fürchte, das wäre noch etwas zu früh.“ „Ach ja, richtig ...“ Alpträume waren nachtaktiv. Auch Reinmahre schliefen tagsüber und mit ihnen ihre Schöpfer-Welten, die in der Ruhephase verblassten, wodurch es für Traumbrecher noch schwerer wurde, sie überhaupt zu finden. Sicher, Vane kannte den genauen Standpunkt ihres Ziels glücklicherweise, aber am Tage könnten sie dort trotzdem nichts vorfinden. „... Moment, also haben wir doch noch reichlich Zeit“, bemerkte Vane. Bevor er noch mehr sagen konnte, nahm Viorel ihm schon vorher die Hoffnung auf eine Antwort, was seine Verbindung zu Atanas anging. „Für die Vorbereitungen, ja. Und damit wir vor unserem Einsatz noch genug Kraft tanken können.“ Diesmal wollte ihr Anführer anscheinend sichergehen, dass nicht wieder jemand schwer verletzt zurück nach Athamos kam. Wäre er bei jedem Einsatz so umsichtig, könnte es insgesamt weitaus weniger Verletzte geben und Dr. Cope müsste nicht so viel arbeiten. Bestimmt besserte sich dieser Zustand automatisch, sobald nicht mehr auf alle Alpträume Jagd gemacht wurde. „Schon verstanden.“ Lächelnd hob Vane die Hände, um seine Worte zu unterstreichen. „Ich frage dich einfach nochmal, nachdem wir unseren Job erledigt haben, aber dann musst du es mir auch verraten. Okay?“ „Vielleicht“, gab Viorel sich weiter geheimnisvoll und deutete Richtung Haupttreppe. „Gehen wir in den Speisesaal. Dort können wir Details besprechen und uns nebenbei stärken.“ „Einverstanden~.“ Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung. Mit etwas Glück erfuhr Vane vielleicht noch bei der Besprechung die eine oder andere Kleinigkeit über seinen neuen Partner, das würde ihn freuen. Sollte ihr Einsatz erfolgreich verlaufen, musste er nicht in den Innendienst und könnte weiter jagen, mit jemandem an seiner Seite. Also war es doch nur verständlich, dass er so viel wie möglich über seinen neuen Freund in Erfahrung bringen wollte. *** Die Besprechung war sehr informativ gewesen – leider mehr für Viorel als für Vane. In allen Einzelheiten hatte er ihm erklärt, wie die Schöpfer-Welt des Reinmahrs aufgebaut war und worauf es dort zu achten galt. Zumindest trug er das weiter, was er bisher beobachten konnte. Somit gab es für Viorel weniger Überraschungen und er wusste, worauf er sich einließ, genau wie Vane. Sie waren also auf demselben Wissensstand, fast. Nur darüber, auf welche Art sich der Alptraum selbst einsperrte, hatte er kein Wort verloren, denn das sollte man selbst gesehen haben, damit es auch die gewünschte Wirkung erzielte. Darauf baute Vane. Ansonsten hatten sie nur noch über einige Kleinigkeiten gesprochen und an sich sah es so aus, als kämen sie gut miteinander klar, bis auf die Tatsache, dass Viorel nichts über sich selbst verraten wollte. Nicht mal auf die Frage danach, welche Prägung er überhaupt besaß, hatte er geantwortet. Seine Erklärung bestand nur aus der Aussage, seine Fähigkeiten wären denen der Schöpfer ähnlich, unterschieden sich aber davon. Allmählich zweifelte Vane daran, ob Viorel ein Traumbrecher war und nicht doch etwas völlig anderes. Wären Fortuna nicht allesamt weiblich, hätte er darauf getippt. Ich gebe dir nicht irgendjemanden mit, hat Atanas gesagt, ging es Vane durch den Kopf, während er kurz vor Mitternacht im untersten Stockwerk von Athamos auf Viorel wartete. Du scheinst eine Menge Geheimnisse mit dir herumzutragen, mein Freund. Ob das einer der Gründe war, wegen dem Atanas auf ihn traurig wirkte? Irgendwann musste es doch zu einer Last werden, zu viele Dinge alleine auf sich zu nehmen und zu tragen. Nächstes Mal sollte Vane nochmal versuchen, mit ihm darüber zu sprechen, sofern seine empathischen Fähigkeiten ihn nicht im Stich ließen. Erst mal konzentrierte er sich auf den bevorstehenden Einsatz. Ganz unten in Athamos, im Keller, befanden sich die Portale, dank denen es ihnen möglich gemacht wurde, problemlos zu fast jedem Ort auf der Welt zu gelangen. Noch hielt Vane sich im Vorraum auf, der aus einer großen, runden Halle mit etlichen Türen in den Wänden bestand. Hin und wieder kamen einige Traumbrecher aus diesen heraus oder von der Treppe herunter. Sie grüßten ihn freundschaftlich beim Vorbeigehen und baten ihn darum heil zurückzukommen, nicht so wie letztes Mal. Ihm genügte bei manchen nur ein Blick, um sagen zu können, wie anstrengend dieser Job für ein paar Traumbrecher war. Kein Wunder, man bekam hier nicht einfach nur Superkräfte geschenkt, mit denen sich mühelos alles regeln ließ. Man musste lernen, Ängste zu unterdrücken und sich seine Traumzeit richtig einzuteilen. Viele waren gar nicht dafür geeignet, dieser Arbeit nachzugehen. Auch das war allerdings ein Thema, auf das Atanas sich nie einlassen wollte, sobald er es mal zur Sprache brachte. Dabei will ich dir doch nur helfen ... und den anderen. Nachdenklich blickte Vane die Haupttreppe empor, zupfte an seinem grünen Mantel herum und frage sich gerade, wo sein Partner blieb, als dessen Stimme plötzlich hinter ihm ertönte. „Wir können los.“ Erschrocken zuckte Vane zusammen und fuhr herum – dort stand auf einmal Viorel, der ihn fragend ansah. „Bist du Teleportation etwa nicht gewohnt?“ Teleportion. Bei den Traumbrechern entsprach diese Fähigkeit der Normalität, unter Schöpfern war sie weit verbreitet und von denen gab es auch die meisten in Athamos. Für Vane blieb es dennoch ungewohnt, wenn jemand aus dem Nichts heraus in seiner Nähe auftauchte, aber der Schreck hielt auch nur kurz an. „Ich schätze, das liegt daran, weil ich selbst eine Schall-Prägung habe“, antwortete er und klang bei dem nächsten Satz amüsiert. „Und der Jüngste bin ich ja auch nicht mehr.“ Vane mochte nicht mehr altern, aber für so einen Scherz genügte die Anzahl an Jahren, die er bereits hinter sich hatte. Von einigen Filmen her spukte außerdem noch in seinem Kopf herum, dass sich im Keller oft die schlimmsten Szenen abspielten. Eine ängstliche Person war er im Grunde nicht, doch bei manchen Dingen war sein Instinkt etwas stärker vertreten. „Angst ist für einen Traumbrecher aber keine gute Eigenschaft“, brachte Viorel an und neigte dabei den Kopf, sichtlich verwundert darüber, wie Vane bisher überleben konnte. „Das war nur ein kleiner Schreck“, korrigierte dieser ihn. „Für einen Traumbrecher ist es auch nicht gut, seine Zeit außerhalb eines Kampfes für eine Teleportation zu verschwenden.“ Zu Fuß wäre Viorel auch pünktlich hier gewesen und hätte nur früh genug losgehen müssen, aber er stimmte diesen Worten nur mit einem Nicken zu, statt sich zu rechtfertigen. Es war auch nicht in Vanes Sinne, ihm deswegen Vorwürfe zu machen, nur war es doch ein Grund zur Sorge. Sechs Stunden Traumzeiten waren nicht viel. Ohne weitere Worte gab Viorel mit einer Geste zu verstehen, dass er vorgehen sollte, was er auch tat – irgendetwas an dem Jungen beschäftigte ihn aber gerade und es hatte nichts damit zu tun, wie geheimnisvoll er sich gab. Gezielt ging er auf eine der Türen zu, blieb kurz davor jedoch nochmal stehen und begutachtete seinen Partner genauer, der den Blick ratlos erwiderte. Es mochte kaum zu sehen sein, aber Viorel war stark angespannt und atmete auch nur flach, als müsste er sogar das so gut wie möglich kontrollieren, um erfolgreich zu sein. Heute Mittag hatte er noch ein wenig verträumt gewirkt, jetzt erinnerte er Vane erst recht an Atanas. Was sie auch miteinander zu tun haben mochten, ihm gefiel dieser Zustand nicht. Etwas sagte ihm, dass es nicht nur Konzentration war, wie sie bei einigen aufleben konnte, sobald sie sich einem Auftrag stellten. Viorel fürchtete sich davor, zu versagen. Behutsam legte Vane ihm eine Hand auf die Schulter. „Beruhige dich. Wir kriegen das schon hin.“ Diese Worte sorgten nur für noch mehr Ratlosigkeit bei dem Jungen. „Beruhigen? Setzt das nicht voraus, dass man zuerst unruhig sein muss? Es geht mir gut.“ „Du merkst das vielleicht nicht, aber ich schon“, erklärte Vane und zwinkerte ihm zu. „Das sind Dinge, die ich sofort erkenne.“ „Dinge, die du sofort erkennst?“ Er verstand es offensichtlich nicht so wirklich. „Was sollen das für Dinge sein, wenn du nicht mal das Offensichtliche erkennst?“ „Na, die unoffensichtlichen Dinge~“, scherzte er und ließ es auch vorerst so stehen. „Komm, wir atmen zusammen mal kräftig durch.“ Nach diesen Worten holte er auch schon tief Luft und atmete entspannt wieder aus, was Viorel nur tatenlos beobachtete. Erst als Vane ein zweites Mal dazu ansetzte, schloss er sich dem an und sie atmeten zusammen durch. Den Zweck dahinter verstand Viorel nach wie vor nicht, was ihm anzusehen war, aber wenigstens machte er mit. „Gut so~“, lobte Vane ihn zufrieden. „Wir sind jetzt ein Team und müssen aufeinander achten. Also musst du das hier nicht alleine schaffen, verstanden?“ Zögerlich nickte er. „Okay, verstanden.“ Ob das stimmte, konnte Vane nicht einschätzen, aber Viorel atmete schon wieder etwas ruhiger als vorher, demnach musste er etwas erreicht haben. Wenn Viorel sich vor diesem Einsatz so angespannt fühlte, lag die Vermutung nahe, dass er zuvor noch nie zu einem aufgebrochen war oder schon mal versagt hatte. Ein Grund mehr, warum dieser Ausflug unbedingt erfolgreich ausgehen sollte. „Gut, dann mal los.“ Einen Augenblick lang starrte Viorel ihn noch schweigend an, ehe er nickte und ein Lächeln zustande brachte. Anschließend legte Vane auch die letzten Schritte zu der Tür zurück und öffnete sie, um dahinter den Bereich mit den Portalen zu betreten. Bald sah er den Alptraum wieder, der ihn fast umgebracht hätte, diesmal mit einem Partner an der Seite. Ich muss es schaffen. Wir müssen ihm einfach helfen. Kapitel 3: Nur einmal ... ------------------------- Anfang November. Eindeutig einer von den kalten Monaten, insbesondere während den Nächten. Vane mochte es, wie der warme Atem sich an der kühlen Luft in Nebel verwandelte, nur für einen flüchtigen Moment zwar, aber es blieb eine Kleinigkeit des Lebens, die er schon von klein auf faszinierend fand. „Ist dir nicht kalt?“, wollte er von Viorel wissen, der nur einen dicken Pullover trug. Dieser schüttelte mit dem Kopf. „Kein bisschen.“ So sehr ihn das auch verwunderte, Vane glaubte ihm. Schon weil er Viorel gut genug beobachtet hatte und keinerlei Anzeichen dafür verzeichnen konnte, dass der Junge fror. Also ließ er das unkommentiert so stehen und hob gedankenverloren den Kopf. Heute blickte nur ein unendlich weiter, dunkler Schlund auf sie herab, da kein einziger Stern am Himmel leuchtete. Durch dieses Bild konnte man sich in so einer kalten, ruhigen Nacht ziemlich einsam und verloren fühlen, deshalb vermisste Vane die kleinen Lichter in solchen Zeiten jedes Mal. An seinem Todestag hatten die Sterne sich auch versteckt, vielleicht kam ihm der Himmel ohne ihre Anwesenheit aus dem Grund so leblos vor. Bald, nur noch wenige Tage, war sein Tod und gleichzeitig der Neuanfang als Traumbrecher ein Jahr her. Ein Jahr, in dem Vane so viele neue Eindrücke und Erfahrungen sammeln konnte, wie noch niemals zuvor in seinem Leben. Wahrscheinlich fühlte er sich deswegen seiner Bestimmung endlich so nah. „Was hast du denn da drin gesucht?“, fragte Viorel verständnislos. Seine Stimme ließ es gar nicht erst zu, dass die Stille um sie herum es sich auch bei ihnen zu heimisch machte und half Vane dabei, den Blick von dem pechschwarzen Abgrund über ihren Köpfen zu lösen – er fokussierte seine Gedanken sofort wieder auf den Einsatz. „Gar nichts“, antwortete Vane darauf mit einem leichten Lächeln. Selbst während er sich darum bemühte, ernst und konzentriert zu sein, so wie jetzt, konnten seine Mundwinkel oft nicht anders, als sich nach oben zu ziehen. „Ich schaue mir solche Ruinen einfach nur gern an, das ist alles.“ Sie standen gerade vor einem alten, zerfallenen Gebäude, das etwas außerhalb einer Stadt namens Limbten lag. Schon dort schien ein rustikaler Flair vorzuherrschen, vermischt mit modernen Elementen. Im Umkreis dieses Ortes konnte man so einige verlassene Bauten vorfinden, die teilweise nur noch aus Trümmern bestanden. Selbst solche kläglichen Überreste konnten jedoch überaus interessant sein. Vane stammte selbst aus einer Gegend, wo es ebenfalls einige Ruinen zu entdecken gab und er hatte es geliebt, sie gründlich unter die Lupe zu nehmen, trotz der Gefahren. Von irgendwelchen Verbotsschildern hatte er sich schon als Kind nicht abschrecken lassen, dafür war sein Wunsch zu groß gewesen, die Geschichte hinter jedem noch so kleinen Stein in Erfahrung zu bringen. Mit der Zeit verlagerte sich dieses Interesse aber eher auf Menschen, doch er konnte auch in seinem jetzigen Alter nicht an Ruinen vorbeigehen, ohne sie sich einmal kurz genauer anzuschauen. In diesem Fall handelte es sich um ein Gebäude, von dem nur noch ein Türbogen und einige Teile der Mauern standen, während der Rest völlig in sich zusammengefallen war. Lauter Ziegel und andere Gesteinsbrocken lagen überall auf dem Boden verteilt herum. Es musste einst ein recht großes Bauwerk gewesen sein, wie einem die Maße von den wenigen Mauern verrieten, die der Zeit und dem Wetter bisher tapfer standhalten konnten. In der Ferne waren schwach einige Lichter aus der Stadt zu sehen, doch in der Nacht war es dort natürlich ruhig. Selbst aus dem Wald, der sich auf einer Seite von Limbten ausbreitete, herrschte Totenstille. Genau dazwischen ruhte unscheinbar diese Ruine, auf einer offenen, weiten Wiese. Außer dieser einen Stadt gab es sonst nur Landstraßen und viel Natur in der Nähe, wodurch die Atmosphäre angenehm friedlich wirkte. Er suchte mit Vorliebe in solchen Gegenden nach Alpträumen, nicht weil er hoffte, hier weniger von ihnen anzutreffen, sondern weil er die Ruhe erhalten wollte. Solange Atanas ihn nicht gezielt zu bestimmten Orten schickte, konnte er sich dort aufhalten, wo er selbst glaubte gebraucht zu werden. Und das war hier, in der Umgebung von Limbten sowie in der Stadt. „Ein Hobby also“, vermutete sein Partner, der das wohl immer noch nicht nachvollziehen konnte, aber er akzeptierte das scheinbar. „Und hier hast du ihn gefunden?“ Mit einem Nicken deutete Vane zu dem Türbogen der Ruine. „Genau, seine Welt hat er sich dort drin aufgebaut.“ „Wie ungewöhnlich ...“ Irritiert runzelte Viorel die Stirn. „Hier kommt doch bestimmt so gut wie nie jemand her. Was hätte ein Reinmahr denn davon, hier eine Welt zu errichten?“ „Ich sage ja, dieser Alptraum anders.“ Hätte Vanes Neugier ihn nicht mal durch diesen Türbogen in die Reste des Gebäudes gezogen, wäre der Reinmahr vielleicht niemals entdeckt worden. Normalerweise suchten sie sich Orte aus, wo die Chance größer war, Menschen in ihr Reich entführen und dort einsperren zu können, um sich dank ihrer Energie auszuweiten. Dieser hier hatte sich jedoch ein solch verlassenes Plätzchen ausgesucht, als wollte er nur seine Ruhe haben. „Na schön, ich sehe mir das mal genauer an“, sagte Viorel misstrauisch und ging auf den Eingang zu. „Komm.“ Dem stimmte Vane nickend zu und folgte Viorel. Als Traumbrecher war ihm die Dunkelheit zwar schon vertraut und seine Augen gewöhnten sich schnell an sie, aber er zog doch lieber seine Taschenuhr aus dem Mantel hervor, um sie sich umzulegen, bevor sie die Schöpfer-Welt betraten. Nicht mal auf der hellblauen Sichtebene, die daraufhin alles auskleidete, ließen sich Unruhen oder Hinweise darauf erkennen, dass sich hier ein Reinmahr aufhielt. Verdächtig war nur diese intensive Ruhe. Erst als sie gemeinsam durch den Türbogen traten, der aus der Nähe betrachtet doch recht brüchig aussah, veränderte sich etwas. Aufgrund der erweiterten Sicht der Taschenuhr bekam Vane kaum mit, wie sich die Dunkelheit um sie herum auf magische Weise verdichtete und bei gewöhnlichen Augen auf diese Weise für absolute Blindheit sorgte. Daran schien Viorel sich nicht weiter zu stören, der seine Uhr im Gegensatz zu Vane noch nicht umgelegt hatte. Es dauerte aber auch nicht lange und das Schwarz hellte sich wieder ein bisschen auf, womit sich das neue Gesicht ihrer Umgebung offenbarte: Anstelle einer Ruine standen sie beide nun tatsächlich in einem geschlossenen, völlig intakten Gebäude aus massivem Gestein, das vom Aufbau her einer Kirche ähneln sollte. Davon war jedenfalls auszugehen, rein optisch betrachtet. Hier gab es viele verschiedene Eindrücke und Details, was für hoch entwickelte, schöpferische Fähigkeiten sprach. Diese Welt bestand nur aus einer einzigen, großen Halle, war dafür aber gefüllt mit allerhand Symbolen, also Formen und Farben, wegen denen die Sinne des Betrachters reichlich gefordert wurden. Zunächst wären da die anderen Gäste, die mit ihrem Dasein für eine erdrückende Atmosphäre sorgten. Vor Vane und Viorel bildeten links und rechts mehrere gepolsterte Sitzbänke aus Holz jeweils eine lange Reihe durch die Halle. Bloß ein Blick genügte, um sicher sagen zu können, dass hier kein einziger, leerer Platz mehr vorhanden war. Jede freie Fläche wurde bereits von anderen Gestalten besetzt. Ihre Erscheinung war denen von Menschen ähnlich, nur hatten sie allesamt die gleiche Form und unterschieden sich nicht voneinander. Sie bestanden aus unzähligen, schwarzen Bindfäden, die eng miteinander verflochten waren, wie simple Strickpuppen aus Wolle und doch wirkten sie äußerlich nur wie körperlose Schatten. In ihren runden Köpfen waren zwischen den Fäden ganz schwach zwei rot glühende Punkte als Augen auszumachen. Ausnahmslos jede dieser Puppen wurde von einer meterlangen Stricknadel an ihren Platz festgehalten, die sich von hinten durch die Rückenlehne der Sitzbank hindurch in ihre Körper bohrte und aus der Brust wieder hervorkam. Statt einer Nadelspitze waren jedoch bunte, gläserne Fäden zu sehen. Sie waren lang genug, um sich durch die gesamte Halle zu ziehen und noch mit etwas anderem verbunden zu sein, auf das die Puppen mit ihren kurzen Armen deuteten. Langsam entfernten sich die beiden Traumbrecher zunächst vom Eingang, der weiterhin aus einem offenen Türbogen bestand. Sie waren hier also nicht eingeschlossen und könnten jederzeit gehen, was es Vane bei seinem ersten Besuch möglich gemacht hatte, rechtzeitig zu fliehen. Andere Alpträume sorgen stets dafür, ihren Opfern keinen offensichtlichen Fluchtweg mehr zu zeigen. Das hier ist eben nicht nur irgendein gefährlicher Alptraum. Als sie hinter der rechten Reihe aus Sitzbänken an der Wand standen und sichergestellt hatten, dass keine der Puppen sie von dieser Position aus sehen konnte, nahm sich Viorel weiter die Zeit, in Ruhe den Ort anzuschauen. Dazu gehörte auch das, worauf diese künstlichen Gestalten deuteten und mit dem sie über die Glasfäden verbunden waren. Bei diesem Etwas handelte es sich um einen runden, goldenen Käfig, der vor dieser versammelten Menge über einem Altar schwebte. Darin war ein weiterer Schatten eingesperrt, doch besaß der die Gestalt einer Schlange und hatte kaum Platz in seinem Gefängnis. Sein Körper presste sich von innen gegen die Gitterstäbe. Dazu kamen noch die gläsernen Fäden, mit denen die hilflose Schlange zusätzlich gefesselt wurde. Hilflos traf es nicht ganz, eher widerstandslos. Für diese hauchdünnen Glasfäden stellten die Gitterstäbe kein Hindernis dar, nicht mal für das Schwert, mit dem sie gerichtet wurde und das vorne in ihrer Brust steckte. Insgesamt stellten diese Fäden hier einen richtigen Blickfang und Knotenpunkt dar, so wie sie sich stramm durch die Luft spannten. Es gab nur eines, was doch noch etwas mehr ins Auge sprang und das waren die Fenster, von denen es in jeder Wandseite jeweils vier und noch ein zentrales hinter dem Alter zu betrachten gab. Buntglasfenster, wie in einer Kirche. Diese Exemplare zeigten fantasievolle Muster ohne tiefere Bedeutung, nur waren sie ohne Unterbrechung in Bewegung. Stetig vermischten die Farben sich miteinander und bildeten neue Konstruktionen, was sich mit dem Blick durch ein Kaleidoskop vergleichen ließ. In der sonst eher dunklen Halle tanzten dadurch dauernd bunte Lichtflecken durch die Gegend. Einzig das Fenster hinter dem Altar zeigte nur ein starres Muster, das mit lauter Rissen verunstaltet worden war: Eine rote, majestätische Schlange, umgeben von farbigen Blumen, bei denen es sich wohl um ihr Fressen handelte. Blütenblätter quellten aus ihrem Mund hervor. Vermutlich stellte das einen Zusammenhang zu den anderen Blumen dar. Über ihnen schwebten an der hohen Decke versteckt nämlich noch viele weitere goldene Käfige, allerdings waren darin keine Schatten gefangen. Sie beherbergten verdorrte Blumen in Massen, deren Schönheit vor langer Zeit geraubt wurde. Vanes Aufmerksamkeit galt hier aber einzig den Glasfäden, dem Schwert und der Schlange. Könnte nur an der Enge des Käfigs liegen, doch so sehr wie sie sich verkrampfte, musste sie Schmerzen haben. Trotz ihrer feinen Form machten die Fäden einen äußerst stabilen Eindruck und schnürten sie fest zu einer Kugel zusammen. Dann wäre da auch noch das Schwert. So fein und schmal die Klinge auch sein mochte, sie verursachte dennoch eine Wunde, die nur eine Menge Schmerz mit sich bringen konnte. Das zeigte sich auch in der pechschwarzen Flüssigkeit, die aus der Brust der Schlange hinab in einen Kelch tropfte, der genau unter dem Käfig auf dem Altar stand. Dieser Kelch war schon längst überfüllt und somit tränkte sich inzwischen auch fast der gesamte Boden schon mit schwarz. Genau wie der sternenlose Himmel, ein tiefer, dunkler See, in dem die Einsamkeit schlief. Es ist ein grausames Bild. Ihn schmerzte dieses Schauspiel noch genauso wie beim letzten Mal. Wenn man bedachte, dass dieser Alptraum alles in dieser Welt aus eigenem Antrieb erschaffen hatte, war es einfach nur traurig. Das schwache, kaum sichtbare Atmen der Schlange – er gab sich nicht mal selbst eine feste Form und stellte sich weiterhin nur als Schatten dar – unterstützte Vanes Wunsch nur noch mehr, ihm helfen zu wollen. Angespannt ließ er den Blick über die Puppen schweifen. Jede einzelne von ihnen deutete mit einem Arm unablässig auf die gefangene Schlange, wie Richter, die ihr auch noch beim Bluten zusahen. Es mochte weitaus schlimmere Bilder geben als das hier, doch für Vane war dieser Moment gerade Realität und er empfand es als grausam. Hoffend lenkte er den Blick lieber zu Viorel, der das alles mit einem wachsamen Auge begutachtete. Ihm fiel sofort auf, dass sein Partner sich nicht um die Bedeutung hinter dieser Darstellung kümmerte, sondern in erster Linie nach Gefahren Ausschau hielt. Anscheinend musste Vane etwas nachhelfen, damit Viorel sich darauf einließ, mehr zu sehen. Also griff er nach seiner Hand, womit er dessen Aufmerksamkeit sofort auf sich lenkte. Da in reinen Schöpfer-Welten keine Geräusche existierten und sie sich während ihrem Aufenthalt hier demnach nicht mit ihren Stimmen miteinander unterhalten konnten, musste Vane zu einer anderen Methode greifen. Dafür drückte er Viorels Hand gegen seine Taschenuhr, die frei zugänglich um seinen Hals hing, um sich vorläufig im Geiste mit ihm zu verbinden. Also? Was hältst du davon?, erkundigte er sich in Gedanken. Ich habe so etwas wirklich noch nie gesehen. Für gewöhnlich zogen die meisten Reinmahre es auch vor, sich in ihren Schöpfer-Welten versteckt zu halten, weshalb man erst das Herzstück finden und zerstören musste, bevor man gegen sie persönlich angehen konnte. Dieser hier versteckte sich gar nicht erst. Aber es bleibt ein Alptraum, fuhr Viorel fort. Wehrlos scheint er nicht zu sein, immerhin konnte er dich fast töten. Nur weil der Alptraum sich hier selbst gefangen hielt, musste das nicht bedeuten, dass er keine Angst davor hatte vernichtet zu werden. Traumbrecher stellten seinen natürlichen Feind dar, daher war es doch eher eine verständliche Reaktion, dass er sich gegen sie wehrte. Du musst verstehen, was diese Welt hier ausdrücken soll, bat Vane ihn geduldig. Dann wird es recht offensichtlich. Solange sie sich erst mal nicht rührten und nichts taten, was den Alptraum auf sie aufmerksam machte, konnten sie sich in Ruhe unterhalten. Im ersten Augenblick wirkte Viorel wenig überzeugt von Vanes Worten, etwas sorgte aber dafür, dass er doch darüber nachdachte. Bestimmt hatte es mit ihrem Wortwechsel kurz vor dem Aufbruch zu tun, wie ihm die folgenden Worte von Viorel auch gleich bestätigten. Haben wir nicht schon festgestellt, dass du das Offensichtliche nicht sehen kannst? Diesmal ist es auch so. Schon jetzt ahnte Vane, dass die Richtung, in die Viorel sich mit seinen Worten bewegte, sich von dem entfernte, was er erreichen wollte. Und er sollte recht behalten. Auch wenn du Dinge siehst, die ich nicht sehe, bleibt es ein Alptraum, betonte Viorel nochmal und blickte ihn dabei fest an, womit er wohl zu verdeutlichen versuchte, wie ernst er das meinte. Jeder Alptraum kann zu einer Gefahr werden, besonders wenn sie verzweifelt sind. Außerdem könnte uns dieser hier auch nur etwas vorspielen, eine neue Taktik sozusagen. Verzweifelt, so fühlte Vane sich ehrlich gesagt auch gerade. Zumindest wuchs das Gefühl langsam in seiner Brust heran und ließ sie schwerer werden. Allmählich dämmerte es ihm auch, warum Atanas ihm Viorel mitgegeben hatte. Noch war seine Hoffnung aber nicht erloschen und größer als nur ein Funken. Also erwiderte Vane den Blick ebenso fest. Das ist keine Taktik. Wieso willst du dir da so sicher sein? Weil ich Alpträume nicht einfach blind vernichte, erklärte er. Sein Gesichtsausdruck wurde automatisch sanfter. Ich beschäftige mich mit ihnen. Und genau das war es, wogegen Atanas sich so sehr sträubte. Ihm waren die Alpträume völlig egal, solange sie vernichtet wurden, so wie es sich gehörte. Sicher, der Mann arbeitete schon wesentlich länger als Vane in diesem Beruf und dürfte somit genug Erfahrungen gesammelt haben, um seine Vorgehensweise rechtfertigen zu können, aber schloss das wirklich Veränderungen aus? Selbst wenn jeder einzelne Alptraum vor vielen Jahren nichts weiter als eine Gefahr darstellte, könnte sich doch inzwischen etwas daran geändert haben. Knapp ein Jahr Berufserfahrung gab Vane sicherlich nicht das Recht dazu, sich nun derart gegen die Ansicht seines Arbeitsgebers zu stellen, allerdings konnte er nicht anders. Es war sein Gefühl, das ihn leitete, und daran glaubte er. Noch nie hatte es ihn im Stich gelassen. Gib mir eine Chance und hilf mir, diesen Alptraum zu beruhigen. Sein Blick glitt wieder über die Puppen. Letztes Mal habe ich es nicht alleine geschafft, als ich es versucht habe. Eben weil der Alptraum sich dann gegen ihn gewehrt hatte, zu zweit sollte es aber möglich sein, sofern einer die Angriffe ablenkte. Davon wirkte Viorel aber alles andere als begeistert, seine Anspannung kehrte schlagartig zurück und er musterte den Alptraum im Käfig nochmal misstrauisch mit einem Blick. Nein, lehnte Viorel ab und zog seine Hand von der Taschenuhr zurück – die Verbindung blieb noch für eine Weile erhalten. Ich bin hier, weil ich mir diesen Alptraum im Namen von Atanas anschauen sollte und das habe ich getan. Selbst wenn du ihn beruhigen kannst, was dann? Willst du ihn mit nach Athamos nehmen und dort erziehen oder was hast du dann vor? Zugegeben, so weit hatte Vane noch nicht gedacht. Erst mal wollte er nur zusehen, dass der Alptraum sich selbst nicht mehr einsperrte und zur Ruhe kam, danach geschahen die nächsten Schritte meistens von alleine. Der Versuch an sich konnte schon ausreichen, um einen Weg zu finden. Wenn sie es jetzt nicht versuchten ... Ohne eine Reaktion abzuwarten, bewegte Viorel sich wieder als erster von ihnen und begab sich zurück zur Mitte der Halle, in den Gang zwischen den Sitzbänken. Viorel! Mir ist klar, dass es für euch schwer zu verstehen ist, aber- Es gibt kein Aber hierbei. Der darauf folgende Blick, den Viorel ihm über die Schulter hinweg zuwarf, ließ Vane erschrocken innehalten, als er ihm gerade folgen wollte. Jeder Alptraum kann zu einer Gefahr heranwachsen und muss deshalb vernichtet werden. Das ist die einzig richtige Handlung. Auf einmal schien jegliches Gefühl aus Viorel gewichen zu sein. Die hellblauen Augen waren mit Kälte erfüllt, sie begrub seine Seele unter einer Decke aus Frost und ließ so keinen Blick mehr darauf zu. Von Anspannung war nichts mehr zu sehen, nur noch flüssige, sichere Bewegungen und eine unnatürlich kämpferische Ausstrahlung, für die Vane kein passendes Wort einfallen wollte. Viorel schien kein Mensch mehr zu sein. Wie war das möglich? Noch während Vane dieser Wandel in Starre versetzte, fing Viorel mit der Arbeit an – ohne vorher eine Taschenuhr zu aktivieren oder gar hervorzuholen. Wie aus dem Nichts entflammten seine Arme plötzlich und wurden komplett von einem goldenen, hellen Licht eingehüllt. Diese auffällige Veränderung blieb nicht unbemerkt und die Köpfe der Puppen wandten ihm synchron in einer ruckartigen Bewegung den Blick zu. In der nächsten Sekunde schloss sich das goldene Licht auch schon zu zwei langen, glühenden Klingen in Form von geschlossenen Flügeln zusammen, blieben aber mit Viorels Unterarmen verbunden. Die Luft um diese beiden Waffen flirrte. Bevor die Schöpfer-Welt überhaupt realisieren konnte, dass sich Eindringlinge hier aufhielten, vollführte Viorel bereits zwei schnelle Bewegungen mit den Armen, woraufhin Lichtsicheln aus den Klingen geschleudert wurden. Gezielt rauschten sie auf jeder Seite durch die Menge der Puppen und trennten dabei sauber mehrere Köpfe ab. Geräuschlos fielen sie zu Boden, einer nach dem anderen. Weitere Sicheln aus gebündeltem Licht folgten blitzschnell und raubten mit nur einem Schnitt auch den restlichen Körpern ihre Köpfe, bis es nach kurzer Zeit nichts mehr zu stutzen gab. Einzig durch die Glasfäden kamen diese Sicheln nicht hindurch, was Viorel wohl nicht erwartet hatte. Viel Zeit zum Wundern blieb ihm jedoch nicht, jetzt hatte Gewalt in dieser Welt stattgefunden und das machte jeden Alptraum aggressiv, sogar diesen hier. Außer dem Rot verblassten abrupt alle anderen Farben in den Buntglasfenstern und erstarrten, statt weiter neue Muster zu formen. Dadurch war kaum zu erkennen, wie die rötlichen Augenpaare die abgetrennten Köpfe verließen und orientierungslos durch die Luft flogen. Auf die achtete Viorel auch vorerst nicht, sondern holte zu einem nächsten Schlag aus, indem er mit beiden Klingen nach vorne schlug und eine größere Sichel erschuf. Diese schoss geradewegs auf den goldenen Käfig über dem Altar zu, prallte jedoch wirkungslos daran ab, ohne Schaden anzurichten, wie schon bei den Glasfäden – sie blieben zu standhaft. Kein Zweifel, der Alptraum legte all seine Energie darin, sie aufrecht zu erhalten. Demnach blieb Viorel nur eins übrigen: Den Alptraum zu schwächen, wofür er so viel von dieser Welt zerstören musste wie möglich, bis diesem die Energie ausging, sie wiederherzustellen. Reinmahre verfügten aber für gewöhnlich über eine Menge davon und ohne eine Pistole mit reiner Energie war dieser Plan kaum möglich ... es sei denn, Viorel besaß besondere Fähigkeiten. Traumbrecher schien er ja nicht zu sein. Nach dessen letzten Angriff waren die rot glühenden Kugeln dazu übergegangen zurückzuschlagen. Geschwind sausten sie auf ihn zu und wurden flink von seinen flügelförmigen Klingen abgewehrt. Zum ersten Mal kämpfte Viorel garantiert nicht, so geschickt wie er sich dabei bewegte. Unterdessen konnte Vane nur tatenlos dastehen und mit sich ringen. Als Partner müsste er sich eigentlich an diesem Kampf beteiligen, egal wie gut Viorel sich auch alleine schlagen mochte, aber das war nicht das, was er wollte. Er war nicht hierher gekommen, um zu kämpfen. Neue Bewegungen rissen ihn aus den Gedanken, als sie sein Blickfeld streiften. Zwei der goldenen Käfige waren soeben von der hohen Decke gestürzt und spalteten sich beim Aufprall am Boden in zwei Teile. Blütenblätter regneten herab und die meisten von ihnen zerfielen restlos zu Asche, ehe sie ebenfalls den Grund erreichen konnten. Kaum einen Augenblick später huschten die Käfigteile lebendig auf den Gitterstäben wie Spinnen auf Viorel zu, um ihn auch anzugreifen. Der hatte weiterhin keine Mühe damit, sämtliche Angriffe abzuwehren oder auszuweichen und richtete mit seinen Sicheln nach und nach mehr Zerstörung an, wenn er dazu kam. Irgendetwas musste Vane tun, aber ihm fiel nur eine Sache ein. Letztes Mal waren die Abwehrmechanismen auf ihn losgegangen, jetzt waren sie mit Viorel beschäftigt, das hieß, es könnte jetzt besser funktionieren. Es war immer noch seine einzige, letzte Chance. Entschlossen erwachte er aus seiner Starre und lief am äußeren Rand rechts um die Sitzbänke herum, um den Kämpfenden aus dem Weg zu gehen – auch ohne Köpfe deuteten die Arme der Puppen noch stur auf die Schlange. Bald versanken seine Füße in der schwarzen Flüssigkeit, je näher er dem Altar und dem Käfig kam. Eine zähe Masse, die sich an seinen Beinen festzuklammern versuchte, doch er kämpfte sich vorwärts, so wie Viorel. Vane musste schneller sein. Er wollte einfach nicht, dass dieser Alptraum vernichtet wurde! Vor dem Altar angekommen, fiel sein Blick auf den Kelch. Sollte es doch ein Herzstück geben, war es bestimmt dieser Gegenstand. Solange er davor stand, konnte Viorel nicht darauf zielen, sollte ihm diese Einsicht kommen, doch er bevorzugte offensichtlich die zerstörerische Methode. Vane!, hallte es in seinem Kopf auf. Was machst du denn da?! Trotz des Kampfes konnte Viorel noch so aufmerksam sein? Rasch warf Vane einen Blick nach hinten, wo gerade weitere Käfige von der Decke stürzten und sich zu jeweils zwei spinnenartigen Wesen aufteilten. Konzentriert behielt Viorel die Kontrolle und vollführte schnelle Bewegungen mit seinen Klingen, wobei er hin und wieder einen prüfenden Blick zu Vane warf. Dieser griff nach seiner Uhr und aktivierte die Zeit. Ich folge meinem Gefühl. Schon als das Ticken erklang, brach Vane damit die Gesetze dieser Welt, womit er sie erst recht in Aufruhr versetzte. Sogleich zitterten die Wände vor Zorn und sorgten für erste Sprünge in den Fenstern, doch das musste er ignorieren. „Hör mich bitte an“, sprach Vane die Schlange nun direkt mit seiner Prägung an. Seine Stimme breitete sich aus, versuchte jeden einsamsten, dunkelsten Winkel an diesem Ort zu erreichen und zu erfüllen. „Ich möchte dir helfen.“ Mit diesen Worten schloss Vane die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Ignorierte jede Warnung von Viorel in seinem Geist und befreite sich vollkommen von jedem Druck, weil er seine Stimme so rein wie möglich nutzen wollte. Sicher, nicht unsicher. Nach Viorels Angriffen dürfte es ohnehin noch schwieriger werden, den Alptraum davon zu überzeugen, dass er ihm nichts tun wollte, darum benötigte er ein befreites Herz. Schließlich fing er an zu singen. So laut und gleichzeitig sanft wie es ihm möglich war. Das Ticken unterstützte seinen Gesang mit einem gleichmäßigen Takt und nach wenigen Zeilen bildete sich eine Art hellblauer Nebel um den Alptraum herum, der ihn behutsam in sich einschloss. Farblich ging er schon fast in Lavendel über. Es war Vanes Stimme, dieser Nebel, die dank Traumzeit sichtbar wurde und noch effektiver. In seinem Gesang versunken bekam er nicht mehr mit, was um ihn herum geschah, selbst als das erste Buntglasfenster förmlich explodierte und sich Splitter zwischen die Aschereste der verdorrten Blumen mischten. Selbst als feine Äderchen aus der schwarzen Flüssigkeit unter ihm langsam seine Beine empor krochen, wie dünne, zerbrechliche Finger, die sich an ihm festkrallten. Alles wird gut, hab keine Angst. Obwohl Vane das Geschehen um sich herum nicht mehr wahrnahm, konnte er eines doch ganz genau hören: Nämlich, wie die ersten Glasfäden zersprangen und sich mit einem unschuldigen, klaren Klang von der Schlange lösten – ähnliche wie die Saite bei einem Instrument, das gespielt wurde. Er hatte Erfolg, der Alptraum hörte ihn tatsächlich! Seine Stimme nahm Einfluss aus ihn. Das beflügelte Vane nur dazu, immer weiter zu singen ... bis er spürte, wie sein Körper stark absackte. Seine Stimme geriet kurz ins Schwanken und er öffnete die Augen wieder. Nun war auch die Flüssigkeit, das schwarze Blut, lebendig geworden und zog ihn tiefer, in den Boden hinein. Eisige Kälte strömte in seine Beine und erfasste seinen gesamten Körper. Trotzdem wollte er das Singen nicht einstellen, er konnte es schaffen. Also sang er weiter und versank dabei tiefer. Schnell steckte er bis zur Brust im Boden fest, aber es waren noch einige Glasfäden übrig. Sobald sie alle gebrochen waren, hatte er es geschafft, ganz sicher. Dann konnte der Alptraum von dieser Welt loslassen und sie müsste sich von selbst auflösen, wenn er dann alles richtig interpretiert hatte. Mehr Zeit, das bräuchte er. Kaum schlich sich das Gefühl der Verzweiflung zurück in sein Herz, spürte er einen stechenden Schmerz in der Brust und das Ticken seiner Uhr wurde ungleichmäßig, klang nahezu kränklich. Etwas stimmte nicht. Nur noch leise hörte er Viorel in seinem Kopf sagen, dass er den Gesang stoppen sollte. Nein, das ging nicht. Tat er das, war es vorbei. Danach käme dann der Innendienst als Arzt auf ihn zu und er hing wieder genauso fest wie damals. Ihm gefiel dieser Job durchaus ganz gut, nur wollte er nicht nochmal die ganze Zeit mit dieser seltsamen Unruhe in sich leben. Mit dem Wissen, dass es da noch etwas zu tun gab. Nicht schon wieder. Nur einmal ... ich will nur einmal auch etwas für mich tun. Dieser Gedanke ... war das wirklich sein eigener? Etwas daran kam ihm fremd vor, so dachte er doch sonst nicht. Völlig selbstständig gewann dieses Gefühl an Größe und vor allem Gewicht, das ihn nach unten zog. Oder drehte jemand in ihm an einer Kurbel? Etwas für mich tun. Richtig, es war das erste Mal. Das erste Mal in seinem Leben, in dem er an etwas festhielt, was er für sich erreichen wollte. Sonst hatte er das stets unterdrückt. Für sich. Lag es daran? Dauerte es darum so lange, den Alptraum zu erreichen? Fühlte der sich betrogen, noch bevor sie richtig miteinander in Kontakt geraten waren? War das wirklich das, was er wollte? Auf Kosten anderer seinen Willen durchsetzen? All diese Gedanken verunsicherten ihn. Vanes Stimme erstickte, als der Schmerz in seiner Brust übermächtig wurde und er bis zu den Schultern eingesunken war. Schwarze Äderchen schlangen sich um seinen Hals und drückten zu, während sie ihn weiter nach unten zogen. Gerade, als er tatsächlich darüber nachdachte doch aufzugeben, packte Viorel ihn von hinten, um ihn wieder nach oben zu ziehen – gleichzeitig fing die Taschenuhr um seinen Hals regelrecht an vor Hitze zu glühen und eine rötliche Aura drang aus seinem Inneren nach außen, versuchte, sich von ihm zu lösen. Es fühlte sich schmerzhaft an. Etwas, das fest mit ihm verbunden war, trennte sich gerade von ihm, gestärkt von dem verzweifelten Gefühl. Mühevoll kämpfte Vane dagegen an, nicht das Bewusstsein zu verlieren und wusste nicht mehr, was los war. Vor seinen Augen drehte sich die Welt und ihm war kalt. Erst als er einige furchtbar lange Sekunden später eine Stimme hörte, die an seiner Stelle das Singen fortsetzte, klärte sich seine Sicht, berührt von dem angenehm ruhigen Klang. Diese Stimme ... das war seine Stimme und gleichzeitig eine völlig andere. Da er selbst gar nicht mehr sang, konnte es nur jemand anderes sein. Und tatsächlich: In ihrer Nähe stand eine dritte Person, die exakt wie Vane aussah und aus der roten Aura heraus entstanden war. Sie sang mit einer Ruhe, wie er es nie zuvor gehört hatte. Was war das für eine Sprache? Vane verstand sie nicht. Viorel versuchte unterdessen, ihn aus der dunklen Flüssigkeit herauszuziehen, was sich als schwierig gestaltete, weil sie um den Altar herum überall auf dem Boden zu finden war und er selbst zu versinken drohte. Lange hielt dieser Kampf jedoch nicht mehr an, denn diesem anderen Vane gelang es mit seinem Lied geschwind auch die restlichen Glasfäden zu brechen, was dazu führte, dass sich dieses Traumgebilde einer eigenen Welt, in das sie so viel Chaos gebracht hatten, endlich auflöste. Innerhalb von Sekunden zerfiel die Halle der Kirche mit allem, was darin zu finden war, zu schneeweißem Traumsand, der spurlos vom Nachtwind davongetragen wurde. In der Tat, sie waren zurück in der Realität, auch wenn Vane noch zu durcheinander war, um das wirklich zu begreifen. Sein Blick fixierte sich fest auf diese fremde Person, die ihm so vertraut vorkam und das nicht wegen dem Aussehen. Im Augenwinkel nahm er schwache Bewegungen wahr, wagte sich aber nicht, den Blick abzuwenden. Das gleiche Gesicht. Die gleichen Haare. Der gleiche Körper. Bis auf die Augen und die fehlende Brille sahen sie komplett gleich aus, wie Zwillinge. Das rechte Auge dieser Person war rot. Sie stellte den Gesang ein, nachdem sich die Welt aufgelöst hatte und ließ den Wind die letzten Zeilen davontragen. Anschließend blickte sie ihn nun an, mit einem ernsten Gesichtsausdruck, wie man ihn bei Vane niemals sehen würde. Diesem fehlten die Worte, etwas zu sagen, auch weil er noch etwas neben sich stand. Zum Schluss hatte er nichts mehr von dem mitbekommen, was sich um ihn herum abgespielt hatte. „Ich heiße Hiwa“, sagte der andere von selbst, nun mit einem kalten Hauch in der Stimme. „Ich bin ein Alptraum, deine Geißel.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)