Konoha Gangs II: Game On von ximi (Das Spiel hat gerade erst begonnen) ================================================================================ Kapitel 48: Getrennte Wege -------------------------- Sasuke   Nachdem Ami ihn dazu bewogen hatte, etwas an die frische Luft zu gehen und einen Kaffee zu trinken, hatte Sasuke erst gemerkt, wie gut etwas Abstand zu der ganzen Situation tat. Das änderte nichts an der Tatsache, dass er andauernd den Drang unterdrücken musste, zurück auf die Intensivstation zu laufen. Aber er erkannte durchaus die Qualität, die Ablenkung mit sich brachte. Er hing nach wie vor an einer Infusion mit Schmerzmitteln, die es ihm wohl überhaupt erst ermöglichten, sich so lange bei Sakura aufhalten zu können. Sein eigener Körper war ihm im Moment eigentlich ziemlich gleichgültig, da half alles ärztliche und freundschaftliche Ermahnen nichts. Ami war in der Cafeteria zurückgeblieben, um mit Haru noch einige Dinge abzusprechen. Sie hatte beschlossen, die nächsten Tage hier in Konoha zu bleiben und Haru würde zu den Kindern nach Oto zurückkehren. Von ihm hatte er sich bereits verabschiedet. Er konnte gar nicht wirklich fassen, dass Ami und Haru Sakuras und seinetwegen so vieles stehen und liegen liessen. Er war ihr unendlich dankbar dafür, fühlte sich aber gleichzeitig auch schuldig. Er hatte Schicksalsschläge in seinem Leben bisher grösstenteils alleine durchgestanden und war es nicht gewohnt, so viel Unterstützung und Aufopferung von jemandem zu erfahren. Gerade von jemandem, der nicht zu seiner Gang-Familie zählte. Als er zur Koje zurückkehrte und auf der Schwelle stand, fiel ihm auf, dass Sakura nicht mehr alleine war. Da stand eine Frau an ihrem Bett, das hellbraune Haar streng zu einem Knoten zusammengebunden. Ihre Haltung war kerzengerade, die Schultern straff. Das war niemand, der sie bisher besucht hatte. Rasch ging er in seinem Kopf die Leute ausserhalb der Gangs durch, die Sakura vielleicht einen Besuch abstatten würden und dabei kam er nur auf einen logischen Schluss: Das musste Sakuras Mutter sein. Er war schon im Begriff, sofort Kehrt zu machen. Er wusste in diesem Moment wirklich nicht, wie er mit dieser Frau sprechen sollte und ob es überhaupt etwas zu sprechen gab. Soweit er wusste, war Sakuras Mutter kein grosser Fan von ihm. Das machte ihm eigentlich nichts aus, denn sie war gewiss nicht die richtige Person, um Kritik an anderen zu üben.  Doch da hatte sie ihn bereits bemerkt. Zum ersten Mal konnte er nun einen Blick in das Gesicht dieser Frau werfen, nachdem er bereits vieles über sie gehört hatte. Sie hatte Sakuras Augen, jedoch ein eher kantiges Gesicht mit einem harten Ausdruck. Sie widerspiegelte auf jeden Fall das Bild, das Sakura ihm immer wieder aufgemalt hatte. Ihr Blick war erst verwirrt, als wisse sie nicht, wo sie ihn einordnen musste. Und als sie realisierte, wen sie da vor sich hatte, wurde ihr sichtlich unwohl. Sie wandte den Blick wieder ab und starrte auf ihre schlafende Tochter. «Guten Tag», sagte sie, ohne ihn anzusehen. Sie klang aber nicht herablassend. Nur kurzangebunden. «Tag», antwortete Sasuke und fragte sich sogleich, ob das ihr erster und letzter Austausch bleiben würde. Er wusste nicht wirklich, wo er jetzt hinsollte, also entschied er sich, zu bleiben. Er würde Sakura bestimmt nicht alleine lassen, nur weil es unangenehm wurde, so wie es ihre Mutter seit Jahren tat. «Kommen Sie nur», sagte sie auf einmal. «Sakura würde Ihre Anwesenheit bestimmt sehr begrüssen.» Mebuki Harunos Stimme hörte sich an, als koste es sie ungeheure Mühe, die Kontrolle darüber zu halten. Sasuke trat nun richtig in den Raum ein und stellte sich etwa zwei Meter entfernt von Sakuras Mutter hin. Sie schwiegen, zumal sie sich wohl wirklich nichts zu sagen hatten. Sasuke meinte schon, dass sie hier wohl so stehen würden, bis irgendjemand sie dabei unterbrach, als sich Mebuki Haruno dann doch zu Wort meldete. «Waren Sie dabei?», fragte sie ohne ihn anzusehen. «Als es passiert ist, meine ich?» Er schüttelte den Kopf und spürte sogleich, wie sich die kalte Hand seines schlechten Gewissens wieder um sein Herz schloss. Er war eben nicht dabei gewesen, und das war der Grund für die zigtausend Selbstvorwürfe, die ihn andauernd quälten. «Sie waren zumindest in der Nähe», fuhr sie fort. «Ich war meilenweit entfernt in einem anderen Land.» Er wusste gerade nicht, was er darauf antworten sollte. Vermutlich gab es auch keine Antwort darauf, denn die letzten Worte schien sie eher an sich selber gerichtet zu haben. «Ich wusste nicht einmal, dass sie in diese Kämpfe auch involviert ist», murmelte sie. «Davon hat mir nicht mal Tsunade etwas erzählt.» «Das war sie eigentlich nicht direkt», sagte Sasuke jetzt. «Sie hat die Sanitätseinheiten unterstützt. Und ist dabei ins Kreuzfeuer geraten.» Das war noch untertrieben ausgedrückt. Die Riots waren von Anfang an hinter Sakura her gewesen und er war einfach zu blind dafür gewesen. Wieder Schweigen. «Ich möchte Ihnen jedenfalls danken», nahm sie das Wort wieder auf und suchte nun seinen Blick. «Wofür?», rutschte es ihm vor Überraschung raus. «Dafür, dass Sie hier bei ihr sind. Wie ich hörte», ihr Blick wanderte über seine Verbände, «und sehe, sind Sie selbst noch nicht gesund.» Sie seufzte. «Ich bin ihre Mutter und war nicht da. Es ist für mich beschämend. Aber es ist doch in gewissem Masse tröstlich, zu wissen, dass es Menschen gibt, die ihr in dieser Situation beigestanden sind und noch beistehen.» «Sie sollten sich auch schämen», sagte er direkt und unverblümt. Er würde dieser Frau bestimmt nicht einfach Honig ums Maul schmieren, nachdem sie ihre Tochter mehr oder weniger ihrer Tante und sich selber überlassen hatte. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie traurig es Sakura immer gemacht hatte, dass ihre Mutter nur dann Interesse an ihr gezeigt hatte, wenn es um ihre prophezeite Karriere ging. Mebukis Atem stockte für einen Moment und er rechnete schon damit, dass jetzt ein Donnerwetter über ihn hereinbrechen würde. Stattdessen schwieg sie. «Da haben Sie eine wunderbare Tochter und trotzdem nichts Besseres zu tun, als mit irgendeinem Typen in die Karibik oder sonst wohin zu verschwinden? Und dann immer vorwurfsvolle Anrufe zu machen, weil Sakura nicht so lebt, wie sie es gerne möchten? Nachdem Sie nicht das Geringste dazu beigetragen haben, sie zu unterstützen.» Mebuki hatte den Blick auf ihre schlafende Tochter gerichtet. «Sakura hat eine Familie gefunden, die Sie ihr nicht gegeben haben. Dabei hätten Sie es gekonnt», fügte er noch an. «Ich weiss», war ihre leise Antwort. Es war deutlich zu hören, wie sehr sie Sasukes Worte trafen – weil er Recht hatte. «Andere Menschen haben keine Familie mehr», sagte er. «Also stellen Sie sich nicht so an.» Er erinnerte sich, dass er Sakura vor einer gefühlten Ewigkeit Ähnliches geraten hatte. In etwas anderem Tonfall, verstand sich. Sasuke war es nicht unbedingt wohl dabei, diese ohnehin schon reumütige Frau so zu behandeln, aber verdammt, irgendjemand musste es doch mal sagen. Mebuki nickte und setzte sich auf den Stuhl. Gedankenverloren streichelte sie Sakuras Hand. «Nach der ganzen Scheidungssache…», begann sie nach geraumer Zeit, «da wollte ich einfach alles hinter mir lassen. Ich verstehe erst jetzt, wie sehr das auch auf Sakura zutraf. Sie erinnerte mich immer so sehr an diese scheussliche Zeit mit Kizashi…» Sie schluckte schwer. «Ich liebte meine Tochter trotz allem und habe mich um sie gekümmert. Aber irgendwie haben wir den Draht zueinander verloren. Sie wollte andere Dinge, als ich sie ihr geraten hätte… wir stritten oft und manchmal frage ich mich, ob ich vielleicht einfach eine so ungeniessbare Person bin, dass man sich einfach mit mir streiten muss. Oder dass man mich… schlagen muss.» Sasuke erschrak bei ihren letzten Worten. Mebuki Haruno war ein Opfer häuslicher Gewalt – das fiel ihm erst jetzt wieder ein. «Ich stürzte mich in meine Arbeit und versuchte, meine Energie in meine wiederaufgenommene Karriere zu investieren. Und da lernte ich Leute kennen, die meine Fähigkeiten sehr wohl zu schätzen wussten. Ich liess mich vollkommen von dieser neuen Welt absorbieren.» Sie richtete sich auf. «Es war ein furchtbarer Fehler, sie dabei einfach zurückzulassen. Und es braucht anscheinend eine Situation wie diese, damit ich das überhaupt verstehe. Es gibt keine Entschuldigung für sowas.» Es war schon verrückt, dass Mebuki Haruno eine solch emotionale Botschaft auf dermassen gefasste Art ausdrücken konnte. In alldem war es ihr immer noch möglich, Haltung zu wahren. Und darin unterschieden sie und Sakura sich wie Tag und Nacht. Er war wirklich nicht in der Verfassung, Sakuras Mutter aufzubauen. Erstens war er in sowas wirklich nicht gut, zweitens fühlte er sich selber miserabler als je zuvor und drittens vermeinte er zu erkennen, dass sie das auch gar nicht wollte. Aber das alles einfach so im Raum stehen zu lassen, war wirklich hart. Vielleicht konnte er ihr aus seinem bescheidenen Repertoire doch etwas mitgeben. Dinge, die ihm auch Ami gesagt hatte. «Es ist gut dafür geradezustehen, was passiert ist. Fehler einsehen meine ich, Sie verstehen. Aber an der Vergangenheit können Sie jetzt nicht mehr das Geringste ändern. Und deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sakura wieder aufwachen sollte, dann haben Sie die Chance, alles besser zu machen.» Sie bedachte ihn mit einem verwunderten und gleichzeitig neugierigen Blick. «Ich weiss, nicht, ob Sakura das überhaupt noch möchte.» «Das werden Sie erst wissen, wenn sie aufwacht. Also hoffen wir doch einfach das Allerbeste.» Mebuki Haruno nickte langsam und setzte sich dann neben ihre Tochter. Sasuke beschloss, sie doch noch ein wenig alleine zu lassen. Heute Abend konnte er ja wieder bei Sakura sein. Bevor er über die Schwelle in den Flur trat, hörte er noch ein leises «Ich danke Ihnen».   Sakura   Sakura konnte kaum noch den Weg vor ihr sehen, weil der Regen ihr unerbittlich ins Gesicht peitschte. Ihre nackten Füsse schmerzten als sie, gejagt von diesem Sturm, durch den Wald lief und nach etwas suchte, das sie selbst nicht kannte. Ihr innerer Frieden war diesem scheusslichen Gefühl von Bedrohung gewichen. Yohei war nirgendwo zu sehen und Sakura hatte die ungute Vermutung, dass er nicht mehr hier war. Hatte sie zu lange gewartet? Ihn zu lange festgehalten, nachdem er immer wieder gesagt hatte, dass sein Weg bereits bestimmt war? Vielleicht war das hier ihre Strafe dafür. Anstatt einen Weg zurück in ihr Leben zu finden, hatte sie sich hier verschanzt wie ein Feigling, hatte sich versteckt von dem was die Menschen durchmachten, die auf sie warteten. Yohei hatte sie aus lauter Egoismus hierbehalten, ihn nicht gehen lassen. Doch jetzt wollte sie nicht mehr hierbleiben. Denn es fühlte sich auf einmal alles daran falsch an. Und ein dumpfes Gefühl sagte ihr, dass sie auch nicht hierbleiben konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Sie atmete schwer und ihr Körper ermahnte sie dazu, langsamer zu gehen, doch sie konnte nicht aufhören, sie musste laufen. Ansonsten war vielleicht alles zu spät. Auf einmal stolperte sie über eine Wurzel, die aus dem Boden ragte, und landete der Länge nach auf dem matschigen Waldboden. Ihre Hände gruben sich in den Boden, um zumindest den Aufprall etwas abzufangen. Es fehlte ihr aber die Kraft dazu, ja, sie realisierte, wie aussichtslos die Sache war. Was zur Hölle musste sie tun? Sie war ganz alleine in diesem Wald, über dem ein fürchterlicher Sturm tobte, der ihren schlimmsten Albträumen entsprungen sein musste. «Yohei!», rief sie, kaum laut genug, dass es irgendjemand hören konnte. «Yohei!», rief sie noch einmal und dieses Mal vermischte sich ihr Rufen mit einem verzweifelten Schluchzen. Er tauchte nicht auf. Wahrscheinlich war er weg. Unwiderruflich. Aber nach wem sollte sie sonst rufen? Sie erinnerte sich an niemanden ausser Yohei. Sie schloss die Augen, versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Regen prasselte auf sie herab und ihr einst weisses Kleid saugte sich mit dem braunen Waldmatsch voll. Angestrengt versuchte sie, sich an irgendjemanden zu erinnern. Irgendein Anhaltspunkt, der sie dazu brachte diese vergessenen Gesichter wieder vor sich zu sehen. Doch je mehr sie sich anstrengte, desto schlimmer wurde es. «Helft mir», flüsterte sie und schloss die Augen. «Bitte.»   Sasuke   Inzwischen waren zwei weitere Tage vergangen, in den sich nichts geändert hatte. Während diverse Gangmitglieder aus dem Krankenhaus entlassen worden waren und sich auf den Weg in ihre HQs, endlich zurück nach Hause, gemacht hatten, gab es immer noch keine Anzeichen dafür, dass Sakura aufwachen würde. Ami wohnte derzeit bei Tsunade, wenn sie nicht gerade im Krankenhaus war. Sakuras Mutter war auch jeden Tag vorbeigekommen, meist in Begleitung von Tsunade. Er selber verbrachte die Nacht normalerweise widerwillig in seinem Zimmer, da auf der Intensiv keine Übernachtungsgäste erwünscht waren. Man hatte ihm jedoch erlaubt, den ganzen Tag dort verbringen zu dürfen. Die Krankenschwestern von seiner Abteilung waren so nett gewesen, sich mit den Intensivpflegenden abzusprechen, damit er seine Medikamente tagsüber gleich hier erhielt. Kimimaro hatte zwar gemeint, dass seine Genesung noch auf sich warten lassen würde, wenn er sich weiterhin so verausgabte, aber es war ihm egal. Bis vor einer Viertelstunde hatte er mit Ami noch bitteren Kaffee aus dem Automaten im Aufenthaltsraum getrunken. Sie hatten oft miteinander geredet in den letzten Tagen und er hatte ihr viel erzählt – vielleicht mehr über sich, als er Sakura bisher preisgegeben hatte. Er war unendlich dankbar, dass sie und Haru gekommen waren, auch wenn er es nicht richtig in Worte fassen konnte. Er war einfach nicht mehr er selbst. Zeitweise schämte er sich für seine Gefühlsausbrüche, die er aber bei bestem Willen nicht mehr kontrollieren konnte. Er war das einfach nicht gewohnt, auch wenn er zugeben musste, dass es etwas Erleichterndes hatte. Es war ihm auch egal, wenn ihn die Kuramas oder seine eigenen Leute so sahen – es spielte alles keine Rolle mehr. Ami hatte das Krankenhaus nun verlassen und das bedeutete, dass Sasuke wieder alleine war. Wie schon die letzten Tage sass er auf seinem Stuhl und betrachtete die schlafende Sakura im Licht der Nachttischlampe. Es gab keinen anderen Ort an den er gehen wollte. Gehen konnte. Manchmal legte er den Kopf einfach auf den Bettrand und nickte dann selber ein. Vertraut war ihm inzwischen das regelmässige Piepen der Apparate, die ihren Puls imitierten. Das Geräusch spendete ihm Trost, weil es der Beweis dafür war, dass Sakura lebte. Solange dieses Geräusch da war, war auch noch nichts verloren. Er klammerte sich an diesen kleinen Strang der Hoffnung, wusste aber zu gut, wie schnell er reissen konnte. Doch er konnte nicht anders, als hoffen. Der Gedanke, dass sich die Situation in die gegenteilige Richtung entwickeln könnte, liess jedes Mal wieder zerbrechen, was Ami so mühsam mit ihm zusammengekittet hatte. Auch jetzt hatte er seinen Kopf auf den Bettrand gelegt, die Augen geschlossen. Es war schon fast ein friedlicher Moment. Sasuke versuchte, ruhig zu atmen. Sein ganzer Körper war erschöpft und fühlte sich an, als würde nur noch von seiner Haut zusammengehalten werden. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Ja, wer war er überhaupt? Tränen waren ihm bis vor Kurzem fremd gewesen. Doch in den letzten Tagen hatte er wohl mehr geweint, als er es in den vergangenen zehn Lebensjahren getan hatte. Meistens kamen sie einfach so, die stummen Tränen, ohne dass er es vorhersehen konnte. So auch jetzt. Dabei waren Tränen eigentlich immer Sakuras Fachgebiet gewesen. Ein ungewohntes Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Das Piepen war schneller geworden. Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, was das bedeutete: Sakuras Puls war schneller geworden. Der Monitor zeigte eine Pulsfrequenz von fast 90 Schlägen pro Minute an, nachdem er seit geraumer Zeit immer zwischen sechzig und siebzig geschwankt hatte. Und er wurde zusehends schneller. Kaum hatte er das realisiert, stand auch schon die Krankenschwester der Spätschicht in der Koje und begutachtete die Situation. Die Frequenz stieg auf 94 Herzschläge an, blieb von da an aber relativ stetig. «Der Blutdruck ist normal, die Sauerstoffsättigung auch», sagte die Krankenschwester. Sie griff nach dem Ohrthermometer, welches neben dem Bett in einem dafür vorgesehenen Körbchen lag und mass Sakuras Temperatur. «Alles normal», war ihr Fazit. Ein Blick auf Sasuke und ihre Züge wurden weicher. «Noch kein Grund zur Beunruhigung, Mr. Uchiha. Sie ist nach wie vor in stabilem Zustand, ich werde das jedoch trotzdem dem diensthabenden Arzt melden.» Er nickte langsam, auch wenn sein eigener Puls immer noch wild hämmerte. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. «Wir lassen Miss Haruno nicht aus den Augen, das verspreche ich Ihnen.» Sasuke wusste das. Die Kojen waren mit Kameras ausgestattet und die Überwachungsgeräte sendeten Sakuras Daten direkt ins Stationszimmer. Das wusste er alles, doch beruhigte ihn das im Moment nicht. Jede Veränderung konnte etwas Gutes, aber auch etwas Schlechtes bedeuten. Und als die Schwester wieder gegangen war, griff er nach Sakuras Hand. Sie war kalt. «Was ist los?», fragte er leise und führte ihre Hand an seine Lippen, um sie zu küssen. «Es wird alles gut», flüsterte er und sagte dabei Dinge, an die er selber nicht wirklich glaubte. Die Pulsfrequenz war jetzt wieder bei 90 Schlägen. Ob sie wohl träumte? Anders konnte er sich das nicht erklären. Er legte seine Wange an ihre Hand, versuchte, sie irgendwie zu beruhigen, auch wenn es keine Wirkung haben würde. Doch da war dieses ganz subtile Gefühl, dass sie jetzt Beistand brauchte. «Ich warte hier auf dich, solange du brauchst. Aber bitte, komm zurück.» Er drückte sein Gesicht noch fester an ihre Hand und ein leises Schluchzen bahnte sich seinen Weg an die Oberfläche. Schon wieder weinte er und er hatte keine Ahnung, wie er damit aufhören sollte. Also liess er es einfach geschehen. «Weisst du noch, im Sommer vor einem Jahr?», fragte er leise. Vielleicht konnte er sie ja beruhigen, wenn er ihr etwas erzählte? Ein Versuch war es wert, auch wenn sie ihn nicht hören konnte. «Da haben wir ganz schön viel wildes Zeug erlebt.»   Sie öffnete ihre Augen wieder. Wie lange lag sie schon auf diesem Waldboden? Der Regen hatte noch immer nicht aufgehört und auch der Donnerschlag war immer noch direkt über ihr zu hören. Die Baumkronen bogen sich im Wind und die Geräusche um sie herum waren alles andere als beruhigend. Hier auf dem Boden fühlte sie sich beinahe am sichersten, dabei war ihr klar, dass sie nicht hierbleiben konnte. Irgendetwas musste sie tun, ansonsten war es zu spät. Aber was? Langsam stemmte sie sich selber aus dem Schlamm hoch und in diesem Moment spürte sie es. Da war wieder diese Wärme in ihrer rechten Hand. Doch dieses Mal war es nicht nur Wärme, sondern Hitze. Keine schlechte Hitze, sondern eine wohlige, tröstliche. Kontakt, dachte sie. Yohei hatte beim letzten Mal gesagt, dass vielleicht jemand Kontakt zu ihr aufnehmen wollte. Sakura packte indes ihre Hand und drückte sie. Jetzt würde sie das nicht mehr einfach so ignorieren, auch wenn sie nicht wusste, was das Halten ihrer eigenen Hand bringen sollte. «Wer bist du?», fragte sie mit zittriger Stimme über das Heulen des Windes hinweg. «Zeig dich doch!» Natürlich erhielt sie keine Antwort, denn sie war vollkommen allein in diesem scheusslichen Wald. Mühsam erhob sie sich nun vollständig und versuchte, auf ihren wackeligen Beinen wieder Halt zu finden. Sie wischte sich mit dem Arm den Dreck aus dem Gesicht und erschrak im ersten Moment, als sie bemerkte, wie einige Meter von ihr entfernt etwas im Wind wehte. Da baumelte etwas an einem Ast. Zuerst fürchtete sie sich, doch dann überwand sie sich dazu, einige Schritte auf das seltsame Etwas zuzumachen. Beim Näherkommen vermeinte sie, dass es sich einfach um eine Art Schlingpflanze handelte, die von dem Ast hinunterhing, bei genauerer Betrachtung erwies sich diese Annahme als falsch. Sie wusste nicht, wie dieser Gegenstand hierhingekommen war – ein Lederbändchen mit einer Feder daran. Eigentlich hätte sie jetzt Angst haben müssen. Sich fragen müssen, ob sie in diesem Wald gar nicht alleine war. Und wenn ja, wer ihr da Gesellschaft leistete. Aber dem war nicht so. Das Bändchen kam ihr vertraut vor, auch wenn sie nicht wusste, wo sie es einordnen musste. Sie streckte ihre Hand aus und strich behutsam über das abgewetzte Leder und über die feine Feder. Dann nahm sie es vorsichtig vom Ast. Das Bändchen wurde sofort ganz warm in ihrer Hand. «Ich kenne dich», flüsterte sie. Sie presste das Bändchen gegen ihre Brust und musste jetzt gegen Tränen der Erleichterung kämpfen, dankbar, dass sie es in der Hand hatte. Das war eine Erinnerung. Eine erste Erinnerung an jemanden aus ihrem Leben. Sie streifte sich dieses besondere Schmuckstück über den Kopf. So würde sie es nicht verlieren. Getrieben von einem neuen, vorsichtigen Mut, setzte sie ihre Suche durch den Wald fort. Sie durfte diese Spur jetzt nicht verlieren – das hier war vielleicht ihre letzte Chance. «Gib mir noch irgendwas», rief sie in den Sturm hinaus. «Bitte!» Sie bog aus dem Dickicht wieder auf den Weg hinaus und stand auf einmal vor einem grossen Messingtor, das sperrangelweit offenstand. Es passte sogar nicht in diesen Wald hinein, ja, an so ein Tor hätte sie sich bestimmt erinnert. Langsam passierte sie die beiden Torflügel und stellte staunend fest, dass sich dahinter ein riesiger, wunderschöner Park eröffnete. Ein weisser Kiesweg führte über die schöne, seltsam gepflegt aussehende Wiese, zwischen Blumenbeeten und sauber gestutztem Rasen hindurch. Und inmitten dieses Paradieses stand ein schneeweisser Springbrunnen, versehen mit wunderbaren Ornamenten. Besonders auffällig war auch eine grosse Trauerweide, die etwas abseits vom Brunnen stand. Seltsam war nur, dass sich kein einziger Mensch hier befand, sie war vollkommen alleine. Erst jetzt wurde Sakura bewusst, dass der Regen aufgehört und der Wind sich gelegt hatte. Ein Blick zurück zeigte, dass der Sturm ausserhalb des Tores weiterwütete. Sakura verzichtete aufgrund ihrer angeschlagenen Füsse auf den Kiesweg und spazierte über den weichen Rasen nach unten. Auch diesen Ort hatte sie schon einmal gesehen, da war sie sich ganz sicher. Er löste ihn ihr ein wohliges Gefühl aus, genau wie das warme Lederbändchen um ihren Hals. Am Brunnen tauchte sie ihre Hand in das Wasser, welches nun seltsam warm war, im Gegensatz zu dem Regen da draussen.  Was hatte sie an diesem Ort erlebt?   «Es würde mich nicht wundern, wenn die im Gold Park einem nicht auch irgendwann mal die Luft zum Atmen in Rechnung stellen würden. Ich habe selten einen Ort wie die Sunside gesehen, der so gepflegt und edel ist. Und du bist dorthin gelaufen, nachdem ich mich mit Naruto geprügelt habe.» Er musste schmunzeln. «Irgendwie peinlich, wenn ich so daran zurückdenke, da hattest du schon recht. Jedenfalls hast du mir erzählt, was dir diese Idioten in der Schule angetan haben. Wie sie dir die Haare abgeschnitten haben. Ich glaube, das war der Moment, in dem wir uns entschieden haben, uns trotzdem weiterhin zu sehen. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, dass ich für jemanden eine solche, echte Zuneigung empfinden konnte.»   Das alles war so vertraut und doch konnte sie dem Ganzen keine konkrete Erinnerung zuordnen. Vielleicht musste sie einfach weitersuchen? Sie raffte sich auf und entdeckte hinter dem Brunnen ein Tor, das sie wieder in den Sturm hinausführte. Es kostete sie einiges an Überwindung, diese Oase wieder zu verlassen. Aber ihr war eines bewusst geworden: Wenn sie zu lange wartete und in der komfortabelsten Position verharrte, würde sie es nicht schaffen. Dieser Wald hatte sich auch innerhalb Kürze von einem Paradies in einen Albtraum verwandelt. Und wenn sie sich weiterbewegte, würden vielleicht noch mehr Erinnerungsfetzen zurückkehren. Kaum hatte sie den Park verlassen, peitschte ihr auch schon wieder der Regen entgegen. Dieses Mal übermannte sie dir Furcht vor dem Unwetter nicht, denn sie wusste jetzt, dass sie auf der richtigen Spur war. Inzwischen kam ihr der Wald überhaupt nicht mehr bekannt vor, doch von Weitem erkannte sie bereits, wie etwas an einem der Bäume lehnte – es war ein Motorrad. Bei näherer Betrachtung eine schwarze Yamaha-Maschine, die schon ziemlich mitgenommen aussah. Motorradfahren. Daran konnte sie sich erinnern. An den Fahrtwind, die vorbeziehende Landschaft. Sie war nie selber gefahren, aber… ja, sie war oft Beifahrerin gewesen. Sie wurde richtig nervös, als ihr klar wurde, dass sie sich nur an den Besitzer dieser Maschine erinnern musste. Eigentlich war es so verflucht simpel. Sie griff nach der Feder um ihren Hals und drückte sie. Eines wusste sie jetzt mit Sicherheit: Die Person, mit der sie das Lederbändchen, den Park und diese Maschine verband, war ihr unglaublich wichtig. «Keine Sorge», murmelte sie. «Ich werde mich an dich erinnern.» Sie strich mit der Hand über den nassen Lenker der Maschine.   «Ich würde wahnsinnig gerne wieder mit dir zur Möbelfabrik gehen. War seit einer Ewigkeit nicht mehr dort. Vielleicht hat sich dort auch schon jemand anderes eingenistet, wer weiss. Jedenfalls haben wir viele gute Momente dort verbracht. Es ist zwar eine schwierige Zeit gewesen, aber rückblickend doch irgendwie so einfach. Wir haben unsere Gangs aussen vorgelassen und uns oft dort getroffen. Es ist ein Ort, an dem man die ganze Welt um sich herum irgendwie hat vergessen können. Wir gehen da irgendwann wieder hin, okay?»   Möbelfabrik. Das Wort wiederholte sich immer und immer wieder in ihrem Kopf, als sie vor dem alten Gebäude mitten im Wald stand. Der verbleichte Schriftzug an der Mauer liess den Namen des einstigen Inhabers verlauten. Sakura ging instinktiv nach rechts am verrammelten Haupteingang vorbei und entdeckt dort sogleich die unscheinbare Seitentür, vor der einige Tonnen standen, die sie mit angemessenem Kraftaufwand zur Seite schob. Die Tür liess sich ohne Probleme öffnen. Der Innerraum war ihr vertraut, der Müll am Boden, altes Holz und Utensilien, die früher einmal zur Produktion von Inneneinrichtung benutzt worden waren. Zu hören waren nur der Wind, der um die Ecken pfiff und der prasselnde Regen auf dem Dach. Um die Ecke fand sie auch gleich die Treppe, um in den ersten Stock zu gelangen. Bevor sie überhaupt einen Fuss auf die erste Stufe setzte, rechnete sie bereits mit dem bekannten Knarren, doch sie wusste, dass die Treppe halten würde. Oben angekommen betrat sie den einzigen, nicht verschlossenen Raum. Da war der Fensterrahmen ohne Glas, der alte Stoffsessel, die kleine Lampe, die Matratze. Und das Klavier. Besonders das Klavier schien ihr förmlich etwas entgegenzuschreien, sie darum zu bitten, sich endlich zu erinnern. Sie drückte einige Tasten, jedoch fehlte ihr das Gespür, um eine klangvolle Melodie entstehen zu lassen. Dieser Raum war ein sicherer Hafen, das wusste sie. «Ich möchte mich wirklich erinnern», sagte sie leise. «Aber es klappt gerade nicht.» Es war zum Verrücktwerden. Sie wusste, da waren Erinnerungen, da waren Zusammenhänge, aber je mehr sie diese wiederherzustellen versuchte, desto wirrer wurden ihre Gedanken. Sie machte einen Schritt in Richtung Fenster, das den Blick auf den wütenden Sturm freigab. Regen klatschte ihr ins Gesicht, als sie sich ein wenig hinauslehnte und nach irgendeinem weiteren Anhaltspunkt Ausschau hielt. Da draussen war alles so beunruhigend, doch dieses Gebäude vermittelte ihr Sicherheit, auch wenn es verlassen und zerfallen war. Die Baumkronen bogen sich gespenstisch im Wind und Sakura wünschte sich, sie könnte hierbleiben. Aber ihr war klar, dass sie wieder nach draussen gehen musste. Sie machte auf dem Absatz kehrt und verliess das Gebäude. Gerade wollte sie die Treppe hinuntersteigen, als ihr auffiel, dass sich etwas verändert hatte. Eine der Türen war nun nicht mehr verschlossen und nur angelehnt. Sakura hätte eigentlich Angst verspüren müssen. Sie befand sich in einem verlassenen, düsteren Gebäude und sie ging in diesem Moment auf eine Tür zu, die vor wenigen Minuten noch verschlossen gewesen war. Aber von Angst war nichts zu spüren, denn sie war sich absolut sicher: In diesem Gebäude würde ihr nichts passieren. Also stiess sie die Tür vorsichtig auf. Es war ein relativ kleiner Raum. Rechts stand eine Kommode, an den Wänden je ein Bett und ganz hinten befand sich ein Fenster, dessen Glas noch intakt war. Auf dem Boden lagen zerstreut einige Kleider und Zigarettenpäckchen herum. Es war wohl schon länger nicht mehr aufgeräumt worden. Sakura betrat den Raum und begutachtete die ungemachten Betten. Sie strich mit der Hand sanft über die Laken und ihr kam eine Idee. Sie setzte sich auf den Bettrand des rechten Bettes und legte sich hin. Vielleicht würde ihr das Gefühl dabei helfen, sich zu erinnern. Doch im Endeffekt war es nicht ein Gefühl, das ihren Puls beschleunigte, sondern ein ganz bestimmter Geruch. Die Laken rochen. Sie konnte nicht genau beschreiben, wonach, doch da war dieser ganz besondere, unverkennbare Geruch nach einem Menschen, der ihr unendlich wichtig war. Sakura vergrub ihren Kopf noch tiefer in Laken und Kissen, versuchte mit aller Mühe, diesem Geruch ein Gesicht zu geben. Sie sehnte sich so sehr nach dieser Person und wusste nicht einmal, wie sie aussah. Aber wenn sie sich nicht erinnerte, war alles vorbei. Warum um Himmels Willen klappte es nicht? Sakura spürte erneut Tränen aufsteigen, sie liess ihnen freien Lauf. Pure Verzweiflung übermannte sie jetzt, nachdem sie diesen Hoffnungsschimmer verfolgt hatte. Wenn nicht einmal der Geruch half, was würde dann helfen? Gab es überhaupt noch eine Chance für sie? Sie sog den Duft tief in ihre Lungen ein und versuchte, darin Trost zu finden. Ihr Hand hielt das Lederbändchen um ihren Hals fest umklammert.   Sasuke unterdrückte ein Gähnen. Er war schon lange auf und sein Medikamentencocktail halfen nicht wirklich dabei, wacher zu werden. «Jedenfalls musst du irgendwann wieder ins Taka-HQ kommen. Das Schlafen fällt mir so viel leichter, wenn du dabei bist. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, alleine in dem Zimmer zu pennen. Es ist so viel besser gegangen, wenn du bei mir warst.» Er lehnte sich nach vorne, während er weiter ihre Hand streichelte. Es war, als befände er sich mit Sakura in einer ganz eigenen Welt. All diese Erinnerungen Revue passieren zu lassen, liess ihn einmal mehr merken, was für eine verrückte Reise sie hinter sich hatten. Etwas mehr als ein Jahr und es hatte sich einfach alles verändert. Sein Blick wanderte einmal mehr zu ihrem Gesicht und auch hier traf er eine Veränderung an. Er dachte zuerst, er sähe nicht recht, doch da war eine Träne, die langsam aus ihrem Augenwinkel über ihre Wange kullerte. Sofort war er wieder hellwach. Das war die erste körperliche Reaktion, die seit ihrer Einlieferung aufgetreten war. Sie kämpfte mit irgendetwas, jetzt war er sich dessen ganz sicher. «Du schaffst das», flüsterte er und drückte erneut ihre Hand. «Gib nicht auf.»   Das Gefühl der Einsamkeit und Verzweiflung wich einem erneuten Aufbäumen von Energie. Es war ein kleiner, schwacher Schub, doch es reichte, damit sich Sakura aufraffen konnte. Sich hier zu verkriechen war einzig und allein Verlust von wertvoller Zeit. Sie stieg die Treppe hinunter und verliess das Haus wieder, auch wenn es sich anfühlte, als verliesse sie den sichersten Ort in diesem Wald. Der Wind riss an ihrem einst weissen, jetzt matschig-braun verschmutzten Kleid und ihren Haaren. Wo war sie noch nicht gewesen? «Ich gehe nach Hause!», schrie sie wütend in den Sturm hinaus. «Ich werde nicht hierbleiben, ob du es nun willst oder nicht!» Diese Worte waren wohl eher an sich selbst gerichtet gewesen, denn es war ja auch niemand hier. Da war ein Teil in ihr, der noch nicht aufwachen wollte und wahrscheinlich konnte sie sich deshalb noch nicht erinnern. War es derselbe Teil, der auch Yohei hierbehalten wollte? «Yohei!», brüllte sie. «Yohei! Ich weiss jetzt, was ich will!» Sie lief weiter, denn Yohei tauchte nicht auf. Dabei wurde ihr nun immer klarer, welches Puzzleteil in dem Ganzen noch fehlte. Es musste Yohei sein. Er war es, der ihr hier Gesellschaft geleistet hatte. Sie war so stur gewesen und hatte ihn nicht ziehen lassen – sie hatte sich nicht eingestehen können, was längst nicht mehr rückgängig zu machen war. Yohei hierbehalten zu wollen war nichts als Egoismus, vermischt mit Trauer und der Unfähigkeit loszulassen, gewesen. Sie wischte sich mit dem Arm Wasser und Tränen aus dem Gesicht. Es gab kein Aufhalten mehr. Er war verschwunden. Und jetzt war dieser Teil von ihr, der ihn nicht gehen lassen wollte, in diesem Albtraum gefangen. Und sie war in Begriff, Yohei dorthin zu folgen, wohin er unterwegs war. «Yohei», sagte sie nun leise, mehr zu sich selber. «Ich werde dir nicht folgen. Meine Entscheidung ist getroffen. Bitte hilf mir. Ein allerletztes Mal.» Es brauchte nur ein Blinzeln. Sakura erschrak zutiefst, als sich vor ihr auf einmal nicht nur der endlose Waldweg in die Düsternis befand, sondern eine Brücke. Nicht nur ein kleines Brücklein, sondern eine riesige Strassenbrücke, die über einen reissenden Fluss führte. Die Brücke kam ihr bekannt vor, aber so richtig einordnen konnte sie sie nicht. Zudem war ihr Ende nicht zu sehen, das Wetter war zu schlecht und die Brücke wohl zu lang. Und als ihr Blick zur Brüstung wanderte, setzte ihr Herz einen Takt aus. Da war er. «Yohei!», rief sie und lief los. Yoheis Haar war genauso nass wie ihres, aber seine Kleider nach wie vor schneeweiss. «Wo warst du?!», rief sie über den Wind weg und kam vor ihm zum Stehen. Sein Ausdruck war immer noch ruhig und er sah zufrieden aus. «Ich habe hier auf dich gewartet.» «Yohei…», begann sie. «Es tut mir leid, dass ich so schrecklich egoistisch war. Weisst du, ich glaube, ich habe mich entschieden.» Er nickte. «Ich weiss.» «Es fällt mir so schwer…», ihre Stimme versagte, weil der Kloss in ihrem Hals einfach zu gross war. «Ich wollte das nicht, Yohei. Ich wollte nicht, dass dir das passiert.» «Ich weiss», sagte er erneut. «Aber du weisst auch, dass es okay ist. Ich bin bereit. Aber du noch nicht.» Sakura schniefte. «Ich wünschte, ich könnte dich retten und dich davon überzeugen, wie viel du dem Leben noch abgewinnen könntest.» «Das brauchst du nicht. Jeder Mensch hat eine begrenzte Zeit. Meine ist abgelaufen. Ich bin froh, dass es vorbei ist. Das Leben hält nicht für jeden Glück und Freude bereit. Ich konnte mein Leben mit einem Sinn beenden und das ist mehr, als ich mir jemals erträumt hätte. Wirklich, Sakura.» «Ich bin froh, das zu hören… es tröstet ein bisschen», sie unterdrückte ein Schluchzen, «wenn ich weiss, dass du es nicht bereust.» «Ganz im Gegenteil», antwortete er. «Ich kann dir nur danken, dass du mir nach alldem noch eine Chance gegeben hast – und noch eine geben würdest.» Sakura lächelte unter Tränen. «Sofort.» Sie betrachteten die Brücke. Der Regen prasselte mit voller Wucht auf den nassen Asphalt, sodass er das Wasser knöchelhoch aufspritzen liess. «Und wohin gehst du jetzt?», fragte Sakura. Er liess sich einen Moment Zeit mit der Antwort. «Wenn ich mir die Brücke so ansehe», sagte er schliesslich, «dann werde ich wahrscheinlich jemanden wiedersehen.» Sakura verstand nicht sofort, doch dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Die Brücke, kam ihr aus einem bestimmten Grund bekannt vor – es war die Northgate Bridge aus Konoha, mitten im Wald. Hier hatte sich Yoheis Mutter Hitomi das Leben genommen. «Du wirst hier jetzt aber nicht runterspringen, oder?», fragte sie etwas schockiert. Er lachte leise. «Nein. Ich werde sie überqueren. Um herauszufinden, was auf der anderen Seite liegt.» «Auf jeden Fall nicht Konoha», sagte Sakura und musste auch ein wenig lachen. Er lächelte. «Nein, ganz bestimmt nicht. Aber ich weiss, dass jemand dort warten wird. Jemand, der schon herausgefunden hat, wie es auf der anderen Seite aussieht.» Sakura konnte gar nicht mehr sagen, was auf ihrem Gesicht Wasser und was Tränen waren. Ein Donnergrollen erschütterte den Boden und die Luft. «Es ist Zeit», sagte Yohei. «Du wirst deinen Weg zurück finden, wenn ich gegangen bin, Sakura.» «Danke für alles, Yohei», presste sie hervor. «Vielleicht… und das hoffe ich wirklich… sehen wir uns irgendwann wieder.» Er nickte und wirkte, als fiele auch ihm der Abschied schwer. «Es wäre mir die grösste Freude, Sakura.» Sakura umarmte Yohei erst ganz langsam, bedacht und sachte, aber dann immer fester. Es fühlte sich an, als umarme sie einen lieben Freund, den sie schon ewig kannte. Und es tat weh, ihn loszulassen. In diesem Fall für immer. Doch war es das einzig richtige zu tun. Als er sich zum Gehen wandte, fiel ihm noch etwas ein. «Ach ja. Mit den wenigen Dingen, die du noch von mir hast… mach etwas Sinnvolles damit, ja?» «Versprochen.» Sakura würde sich bald wieder erinnern, von welchen Dingen er sprach. «Ich werde dich nie vergessen, das verspreche ich dir auch.» «Ich danke dir.» Er wandte sich noch einmal zu ihr um. «Mach das Beste aus deinem Leben, Sakura. Geniesse jede Sekunde davon. Dann wirst du mir viel zu erzählen haben.» Zu keine Antwort mehr im Stande, nickte sie nur noch. «Auf Wiedersehen, Sakura.» Sie unterdrückte erneut ein Schluchzen. «Auf Wiedersehen, Yohei.» Yohei trat seinen Weg ins Ungewisse an. Er setzte zielsicher aber bedacht einen Fuss vor den anderen über die Brücke, aus dem Wald hinaus ins Unbekannte. Der Wind riss an ihm genauso wie an ihr, doch brachte er ihn nicht von seinem Weg ab. Einen Schritt nach dem anderen, bis er in dem Nebel aus Regen und Wind verschwunden war und Sakura nicht einmal mehr seine Schemen sehen konnte. Es war nur wenige Sekunden nach seinem Verschwinden, als der Regen aufhörte, der Wind sich schlagartig legte und die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken drückten. Auf einmal war wieder Vogelgezwitscher zu hören. Die unheimliche Stimmung war Entspannung gewichen. Sakura drehte sich um, um zu sehen, ob sich etwas verändert hatte. Und das hatte es in der Tat. Vor ihr lag nun ein langer Waldweg. Und ganz am Ende, da lichteten sich die Bäume – es war ein Ausgang. Und da war noch etwas – vor ihren Füssen lag ein Blatt unversehrtes Papier am Boden. Rasch hob sie es auf. Es war ein Brief an sie, einer, den sie längst kannte. Und mit jedem Wort, das sie las, kehrten Bilder, Gerüche, Empfindungen in ihre Erinnerung zurück. Pechschwarzes Haar, dunkle Augen. Eine markante Narbe durch die Augenbraue. Ein hübsches Lächeln. Der Geruch nach Freiheit und Abenteuer, den sie nun endlich wieder einer Person zuordnen konnte. Den Brief hatte sie bestimmt schon tausendmal gelesen und doch war jedes Mal wieder wie das erste Mal. Das überwältigende Gefühl, geliebt zu werden, verursachte bei ihr immer wieder Herzklopfen. Jetzt weinte sie vor Freude und Erleichterung, endlich wissend, wohin sie gehörte und wohin sie gehen musste. Noch ein letztes Mal wandte sich Sakura um, doch da war die Brücke bereits verschwunden. Übrig blieb der andere Teil des Waldwegs, der wieder in den Wald hineinführte. Sie presste den Brief an ihre Brust und lief los, dem Licht entgegen.   Im ersten Moment fühlten sich Sakuras Lider noch schwer an und ihre Sicht war verschwommen. Der Raum war nur schwach beleuchtet, wofür sie sehr dankbar war. Schon diese Helligkeit war für sie gewöhnungsbedürftig. Langsam nahm sie das regelmässige Piepen im Hintergrund wahr. Ansonsten war es sehr still. Auch die Konturen des Raumes nahmen jetzt Form an und schnell war ihr klar, dass sie nicht alleine war. Sasuke war da. Und er hielt ihre Hand. Ihr Körper fühlte sich noch sehr schwer an, weshalb sie es erst einmal dabei beliess, ihn zu betrachten. Er war blass und hatte dunkle Ringe unter den geröteten Augen. Ein Verband am Kopf und unzählige Kratzer. Aber er lebte. Er hatte längst bemerkt, dass sie ihre Augen geöffnet hatte, doch er bewegte sich nicht. Er schaute sie einfach nur an, mit einem Blick, den sie kaum in Worte fassen konnte. Irgendwie ungläubig, aber hoffnungsvoll. «Sasuke», flüsterte sie lächelnd und sprach endlich den Namen aus, nachdem sie in diesem Wald so verzweifelt gesucht hatte. Jetzt erhob er sich langsam von seinem Stuhl, nach wie vor mit diesem Blick, als traue er seinen Augen nicht.  «Sakura…», presste er hervor und seine Hand schloss sich richtig fest um ihre. Sie hatte Sasuke noch nie weinen gesehen, aber jetzt kullerten die Tränen nur so über seine Wangen. Sakura versuchte, sich vom Bett hochzustemmen, doch ihre Arme und Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Er war rasch bei ihr und stützte sie, damit sie in eine aufrechte Position gelangen konnte. Sie klammerte sich an ihm fest, er setze sich auf die Bettkante, damit sie besseren Halt finden konnte. Und dann legte sie einfach ihre Stirn an seine, liess sich von ihm halten und nahm diesen Moment tief in sich auf. Bald würden die Erinnerungen an alles andere kommen und das hatte nichts mehr mit Freude zu tun. Aber jetzt wollte sie einfach nur bei ihm sein und nichts anderes mehr spüren. Beinahe hätte sie einen anderen Weg gewählt und wäre von ihm weggegangen, für immer. «Ich habe mich an dich erinnert», flüsterte sie. «Du brauchst nicht zu weinen.» Er verstand wahrscheinlich nicht, was sie damit meinte. Doch seine Antwort berührte sie tief. «Ich habe auf dich gewartet.» Sie legte den Kopf auf seine Schulter und liess sich noch fester drücken. Er roch wunderbar.  Ganz leise Schluchzer brachten seinen Körper zum Beben und sie streichelte zur Beruhigung seinen Rücken. Nur noch ein paar Sekunden verharren. Sasuke konnte es kaum glauben. Sakura war zu ihm zurückgekehrt, nachdem er gedacht hatte, sie für immer aufgeben zu müssen. Es fühlte sich an wie ein Wunder und er würde es wohl erst später richtig fassen können. Er hatte seinen Kopf an Sakuras gelegt, genoss ihren Duft, das Gefühl, sie endlich wiederzuhaben. Dieses Gefühl würde er niemals wieder vergessen, da war er sich sicher. Es war, als falle jegliche Last auf einmal von ihm ab, als schwebe er über allem. Sie war endlich wieder da. Bei ihm. Und als die Pflegenden und der zuständige Arzt eintrafen, behielt er ihre Hand in seiner. Er würde sie nicht mehr loslassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)