Konoha Gangs II: Game On von ximi (Das Spiel hat gerade erst begonnen) ================================================================================ Kapitel 39: Fassaden -------------------- 20:42 Kellergewölbe Halle 3   Tomcat. Sakura kämpfte zum zweiten Mal in dieser Nacht mit ihrem Fluchtreflex. Wie zur Hölle hatte sie vergessen können, dass er hier rumlief? Sie war ihm direkt in die Falle gegangen und das sogar noch ziemlich freiwillig. Tomcat musterte sie mit diesem Blick, der ihr nur allzu bekannt vorkam. Er grinste aber nicht, wie sonst immer. Allgemein war sein Anblick in einer schwarzen, verwaschenen Kapuzenjacke ziemlich ungewohnt, wenn man sich daran erinnerte, dass er ansonsten eher gut gekleidet unterwegs war und doch einen gewissen Wert auf sein Erscheinungsbild legte. Selbst seine Haare waren zerzaust. So sah er viel mehr wie ein Riot aus. Und irgendwie nahbarer. «Was willst du von mir?», presste sie hervor und versuchte, ihre Muskeln zu entspannen. Sie musste ruhig bleiben. Er legte den Kopf schief. «Ich bin hier nur die ausführende Person. Wenn es dir vielleicht aufgefallen ist, dann waren die Riots auf der Suche nach dir. Die Frage sollte also eher sein, was Crow mit dir vorhat.» Die Art, wie er von den Riots sprach, irritierte sie beinahe ein wenig. Als ob er sich nicht mehr dazuzählen würde. «Und warum hast du mich dann vor ihnen in Sicherheit gebracht? Wenn sie ja angeblich denselben Befehlen wie du folgen?», schoss sie zurück. «Was soll ich sagen, ich mag es, die Kontrolle zu haben.» Da war es, dieses beunruhigende, spöttische Grinsen, aber ehe sie es sich versah, war es wieder verschwunden. «Dann solltest du mich vielleicht zu Crow bringen», sagte sie, auch wenn sie der Gedanke daran beinahe wahnsinnig machte. Aber sie wollte wissen, was er vorhatte. «Nein, Cherry Blossom», sagte er zuckersüss. «Ich bringe dich doch nicht einfach so in die Höhle der Löwen.» «Was will Crow von mir?» Vielleicht kam sie auf diese Weise weiter. «Von dir? Von dir will er nichts. Er will etwas vom Rest der Gangs. Weisst du, du bist kein schlechtes Druckmittel. Vielleicht sogar das Beste, was er kriegen konnte.» Jetzt kam er langsam in Fahrt, fast als ob ihm erst jetzt in den Sinn gekommen wäre, wie er sich ihr gegenüber normalerweise verhielt. Er machte einen Schritt auf sie zu und sie konnte nicht anders, als zusammenzuzucken. «Na, na, warum denn gleich so ängstlich? Ich habe dich doch eben gerade gerettet?» Sein Ton war eindringlich und liess die Härchen auf ihren Armen zu Berge stehen. «Weisst du, wie man dich unter den Riots nennt?» «Interessiert mich nicht.» Er grinste erneut. «Ich sage es dir trotzdem: Für sie bist du das Flittchen. Ein wenig überall dabei. Illoyal, wenn man so will. Zugehörig zu den Kuramas, aber das Bett teilst du mit dem Taka-Leader.» Er wirkte, als würde er nachdenken. «Aber keine Sorge, ich nenne dich nicht so.» Sakura schwieg. Was sollte sie darauf auch erwidern? Denn eigentlich spielte es ihr keine Rolle, was die Riots von ihr hielten, besonders jetzt nicht. Sie hatte andere Probleme. «Du bist ein ganz besonderes Phänomen. Eine Anomalie unter den Gangmitgliedern», fuhr er fort. «Wie konnte ein so braves Mädchen wie du bei einer Gang landen? Und noch besser: sich einen feindlichen Gang-Leader angeln?» Sakura hatte Angst, das konnte sie nicht leugnen, aber bei einem provozierenden Gegenüber wie Tomcat erwachte trotzdem ihr Kampfgeist. «Ich wüsste nicht, was dich das angeht», sagte sie und reckte das Kinn in die Höhe. Ein leises, fast schon natürliches Lachen kam über seine Lippen. «Na, wahrscheinlich nichts, aber interessieren tut’s mich auf jeden Fall.» Er seufzte. «Ich versuche doch nur, zu ergründen, was ein so anständiges Mädchen wie dich in die verruchten Arme von Gangs getrieben hat. Es macht für mich keinen Sinn.» «Du bist ja auch in einer Gang», gab sie zurück. «Ausserdem hatten wir so ein Gespräch doch schon mal.» Er lehnte sich vor und Sakura machte instinktiv einen Schritt rückwärts, doch da war die Wand. Er fasste mit seiner Hand unter ihr Kinn und hob es leicht an. «Kleiner Unterschied zwischen dir und mir: Ich bin nicht anständig», sagte er mit rauer Stimme. Er war ihr so nah, dass sie ihn riechen konnte, ein Mix aus Aftershave und einer Prise Rauch. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut, sein Gesicht war viel zu nahe. Trotzdem beschloss sie, seinen Blick direkt zu erwidern. Keine Schwäche, zeigen, das war jetzt die Devise. Damit hatte sie bei ihm keine schlechten Erfahrungen gemacht. Er liess er von ihr ab und lachte erneut dieses undefinierbare Lachen. «Du hast durchaus einen eigenen Kopf, was? Gibt man dir nicht. Anfänglich dachte ich, du seist ein dummes Mädchen mit einem Helferkomplex. Eine hoffnungslose Idealistin. Nun, zum Teil denke ich das immer noch. Aber dann sehe ich, dass du sogar die Bullen dazu gebracht hast, mit euch zu kooperieren.» Er schüttelte den Kopf. «Wärst du nicht gewesen, wären die Riots… wären wir wohl kaum dermassen in die Ecke getrieben worden. Du scheinst schon irgendetwas zu haben. Das brave, ehrliche Mädchen, dass die Gangs kennt wie keine Zweite. Eine, die die Öffentlichkeit mitten ins Herz treffen kann.» Seine Worte klangen spöttisch. «Einerseits kann ich dich nicht leiden. Aber andererseits ist es doch ganz faszinierend. Gibt es auch etwas, was du nicht kannst? Oder bist du so perfekt, wie du tust?» «Ich bin nicht perfekt», rutschte es Sakura raus, obwohl sie sich eigentlich nicht auf ein Gespräch mit ihm hatte einlassen wollen. Aber vielleicht war das ihre Möglichkeit, Zeit zu schinden. «Weit davon entfernt.» «Inwiefern? Du hast einen College-Abschluss und vermutlich irgendein Studium geplant, du hast einen Ort zum Wohnen, Eltern, Freunde. Hast vermutlich noch nie etwas richtig Schlimmes abgezogen. Und dann willst du ganz nebenbei für Gerechtigkeit kämpfen. Klingt für mich doch sehr perfekt. Unschuldig perfekt.» Sakura wusste nicht, warum er sich so für sie interessierte. Aber irgendetwas schien ihn an dem Gedanken zu faszinieren, ein Leben zu haben, das «rein» war und nicht auf der Strasse stattfand. Oder war es die Vorstellung einer intakten Familie? Dachte er etwa, sie lebte in einer Musterfamilie? «Woher kommt dieses Interesse an mir?», fragte sie ihn direkt. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet, aber es schien ihn sichtlich zu amüsieren. «Man sagt doch so schön, dass Gegenteile sich anziehen. Man sucht Dinge in anderen Menschen, die man selber nicht hat. Ist das nicht etwas Positives?» Sie verstand durchaus, was er damit implizierte – dass sie mit ihrer Vermutung mit der Faszination an einem «perfekten Leben» richtig lag. Denn seines war alles andere als perfekt, auch wenn es von aussen so aussah. Und vielleicht war es genau das, was er suchte: Eine Art von Perfektion, die nicht nur Schauspiel und Fassade war, so wie er es in seiner Familie erlebte. «Wenn man diese Person dann kidnappt finde ich es nicht besonders positiv.» «Aber, aber. Du bist ziemlich freiwillig mitgekommen, wenn ich mich recht erinnere.» «Ich hatte nicht gerade eine Wahl. Und du hast eine Waffe.» «Da muss ich dir Recht geben.» Schweigen. «Aber wenn du Perfektion suchst, dann bis du bei mir falsch», beendete sie die unangenehme Stille. Jetzt machte er doch grosse Augen. Vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sie so auf ihn einsteigen würde. «Interessant», antwortete er. «Und warum, wenn ich fragen darf?» «Da gibt es verschiedenste Gründe.» «Dir ist aber schon bewusst, dass Perfektion ganz im Auge des Betrachters liegt?» Darauf wusste sie nun nichts zu sagen. Es implizierte, dass er in ihr irgendetwas sah, was er sich wünschte und nicht haben konnte. Von draussen waren schnelle Schritte zu hören, die an der Tür vorbeigingen und ihn aus seinen Gedankengängen rissen. Fast, als würde er aus einem guten Film aufschrecken. «Nun, Cherry Blossom, es war mir eine Freude. Aber nun muss ich doch Bericht erstatten.» Er kam noch einmal näher. Sakura hielt die Luft an, als seine Hand an ihren Hals glitt. Seine Finger waren warm und weich, aber die Berührung war alles andere als angenehm. Im ersten Moment wusste sie nicht, was er genau vorhatte. Seine Hand verschwand im Kragen ihres Overalls und ehe sie es sich versah, hatte er ihre Kurama-Kette in der Hand und riss sie mit einem raschen Ruck von ihrem Hals. «Besten Dank. Gerne darfst du in meinen bescheidenen Räumlichkeiten bleiben, solange ich weg bin.» Er ging zur Tür und bevor er hinausging, musterte er sie noch einmal, aber nachdenklicher als vorhin. Dann liess er die Tür ins Schloss fallen und sie hörte nur noch, wie von aussen ein Riegel geschoben wurde. Sakura blieb im schummrigen Neonlicht zurück. Ihr Herz raste und die Anspannung in ihrem Körper liess für einen kurzen Augenblick nach. Gegenüber Tomcat so zu tun, als könne er sie nicht aus der Ruhe bringen, war nicht gerade ein Zuckerschlecken. Zumal es ihr nicht wirklich gelungen war. Erst jetzt hatte sie wirklich die Gelegenheit, sich über ihre missliche Lage Gedanken zu machen. Sie huschte zur Tür, die natürlich abgeriegelt war, aber versuchen hatte sie es trotzdem wollen. Wäre ja zu dumm, wenn er aus Versehen den Riegel nicht richtig geschoben hätte und sie hier unwissend auf Tomcats Rückkehr warten würde. Ein Gefühl der Verzweiflung breitete sich in ihr aus und die fehlende Kette an ihrem Hals hinterliess ein Gefühl von Nacktheit. Zum einen hatte sie grosse Angst davor, was Tomcat und Crow mit ihr tun würden, um von den Kuramas und Takas zu bekommen, was sie wollten. Das schlimmste war jedoch nicht das, was die Riots ihr vielleicht antun würden, sondern die Tatsache, dass ihre Naivität sie direkt in die Arme von Tomcat geführt hatte und dass sie damit ein Druckmittel für ihre Leute darstellte. Wenn ihre Mission in dieser Nacht scheiterte, dann lag das einzig und allein an ihr. Ein dicker Kloss machte sich in ihrem Hals breit. Wieder einmal war sie ein Klotz am Bein ihrer Leute. Warum hatte sie sich nicht gegen Tomcat gewehrt? Warum war sie einfach mit diesem unbekannten Riot mitgegangen? Vielleicht hätte sie eine Chance gehabt, wenn sie sich gewehrt hätte. Aber fürs Hadern war es jetzt zu spät. Sie war, genau wie Tomcat es gesagt hatte, fast schon freiwillig zu den Riots gekommen, immerhin hatte er sie nicht mit der Waffe bedroht. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Sie stampfte vor Wut auf sich selbst auf dem Boden auf. Von all den beschissenen Dingen, die hatten passieren können, hatte sie ausgerechnet hier landen müssen. Der Raum um sie herum kam ihr auf einmal noch kleiner und beengender vor, als er ohnehin schon war. Sie schaute sich nach irgendetwas um, mit dem sie die Tür vielleicht öffnen konnte, aber da war nichts. Und rohe Gewalt würde viel zu viel Lärm machen, zumal sie nicht wirklich über die nötige Körperkraft verfügte. Sie trat in ihrer Verzweiflung gegen das klapperige Liegengestell, was dazu führte, dass etwas an seinem unteren Ende umkippte. Sakura hatte den unscheinbaren schwarzen Rucksack bis anhin nicht bemerkt, doch ihr Interesse war geweckt, denn da war etwas rausgerutscht. Sie ging in die Hocke und griff nach einer kleinen Schatulle, etwa halb so gross wie ein Buch. Sie war in schwarzen Samt verpackt. War das eine Schmuckschachtel? Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie. Das Rumschnüffeln in fremden Sachen war nichts Anständiges. Und gleich darauf hätte sie sich ohrfeigen können. Was hatte Tomcat vorhin gesagt? Sie sei anständig? Wenn das keine Ironie war. Und recht hatte er, denn wer dachte denn bitte über Anstand nach, wenn es darum ging, die persönlichen Sachen des eigenen Kidnappers zu durchsuchen? Nur jemand, der wirklich nicht in diese Gang-Welt passte. Kurzentschlossen griff sie nach der Schatulle und machte sie auf. Ihr Blick fiel auf zwei wunderschöne, in nachtblaues Samtpolster gebettete Diamantohrringe. Sie mussten von hohem Wert sein, rein nach ihrem Aussehen zu urteilen. Sachte strich sie über die ebenso blauen Diamanten und fühlte das Gewicht der Schmuckstücke in ihren Händen. Aber warum hatte Tomcat diese Ohrringe bei sich? Geklaut hatte er sie wohl kaum, denn er war ja bekanntlich reich. Es musste irgendeinen guten Grund dafür geben, warum er solch wertvolle Damenohrringe mit sich herumtrug. Und nach kurzer Zeit dämmerte es ihr. Durch den Stress und die Emotionen der letzten Stunden hatte sie vollkommen vergessen, was vor einigen Tagen passiert war – Tomcats Mutter hatte sich das Leben genommen. Konnte es sein, dass sie hier ihre Ohrringe in den Händen hielt? Ehrfürchtig legte sie die Ringe zurück in dem Samt und schloss die Schatulle. Ihre Neugier war jetzt geweckt, auch wenn sie sich immer noch nicht besonders wohl dabei fühlte, im Eigentum anderer herumzuwühlen. Sie griff tiefer in den Rucksack und stiess auf etwas Weiches. Es handelte sich dabei um einen Stapel mit Zeitungsausschnitten, die er mit einer Büroklammer zusammengeheftet hatte. Bei genauerer Betrachtung thematisierten all diese Ausschnitte den Suizid seiner Mutter. Teilweise waren provokante Schlagzeilen dabei, die üble Theorien um den Tod von Hitomi Murakami aufstellten. Wie musste es sich anfühlen, solche Dinge über die eigene, verstorbene Mutter lesen zu müssen? Sakura spürte etwas Schweres in ihrer Brust, als sie einen dicken Umschlag aus dem Rucksack in das schummrige Licht der Neonröhren beförderte. Er war nicht verschlossen und voller Fotos. Bereits auf dem ersten Bild war eine junge, verhalten lächelnde Frau mit goldblondem Haar zu sehen, die einen ebenso blonden Jungen auf dem Arm trug und einen braunhaarigen Jungen, vermutlich Tomcats Bruder Ryuji, an der Hand hielt. Sie sah so anders aus, als auf dem aktuelleren Foto in der Zeitung. Er trägt Fotos seiner Mutter bei sich. Schnell schob sie die Bilder zurück in den Umschlag und verstaute sie an den Platz, wo sie hergekommen waren. Auf keinen Fall würde sie sich einfach die Frechheit nehmen und in den Erinnerungen an seine Mutter herumstöbern. Rasch versorgte sie die Dinge der Reihe nach im Rucksack, stellte ihn wieder hin und setzte sich an die gegenüberliegende Wand. Was sie gerade eben gesehen hatte, liess sie nicht kalt. Tomcat musste in tiefer Trauer sein, auch wenn man es ihm nicht anmerkte. Andererseits… vorhin war er anders gewesen, als damals am Krankenhaus oder im Toad’s. Sie erinnerte sich an diese unnahbare Art und an seine Unberechenbarkeit. Blicke, die sie nicht hatte deuten können und eine Aura, die zum Fürchten gewesen war. Vorhin hatte er versucht, diese kalte, unnahbare Fassade aufrecht zu erhalten und mit der Bedrohung zu spielen, die er für sie darstellte. Aber es war ihm nur unvollständig gelungen. Ihm hatten die Arroganz und die Gewissheit, über allem zu stehen gefehlt. Zeitweise hatte er gelacht, ohne höhnisch oder spöttisch zu klingen. Nein, er hatte sein Schauspiel ihr gegenüber nicht aufrechterhalten können. Und das bedeutete, dass sie ihn vielleicht erreichen konnte. Zum ersten Mal seit sie ihn kannte, glaubte sie and die Möglichkeit, an Yohei Murakami herankommen zu können. Er hatte sie hier runtergebracht, damit es nicht die anderen für ihn tun würden – vielleicht hatte er sie schützen wollen. Und vielleicht suchte er auf seine eigene, merkwürdige Art nach Gesellschaft. Und die letzte Option war, dass er sie einfach in seiner kranken Fantasie für sich haben wollte. Sie schloss diese Möglichkeit nicht ganz aus. Und auf einmal hegte sie Hoffnung. Sie war keine begnadete Kämpferin und auch kein strategisches Genie. Aber vielleicht konnte sie an Tomcat herankommen, auf ihre eigene Weise.   «Und seit wann genau hast du sie in deiner Gewalt?», fragte Ayato mit hochgezogener Augenbraue. Seine Stimme hallte an den hohen Wänden des Raumes wider. «Viertelstunde. Etwa.» Tomcat zuckte mit den Schultern. «Und aus welchem Grund kommst du erst jetzt?» Tomcat zuckte erneut mit den Schultern. «Weil es mir gerade so passt.» «Wenn ich dich daran erinnern darf, befinden wir uns mitten in einer Schlacht, Yo. Und wir stehen nicht gerade kurz vor dem Sieg, ganz im Gegenteil. Es ist also keine Frage, wie es dir nun am besten passt. Der Befehl lautete, Sakura Haruno zu jagen und wenn ihr sie nicht findet, dann jemand anderes an ihrer Stelle zu schnappen. Ihr solltet mich umgehend informieren, sobald ihr sie habt. Deine Solo-Aktionen gehen mir langsam auf die Nerven.» «Wie du schon richtig sagst, wir sind mitten in einer Schlacht. Du hast deine Geisel, also mach kein Theater.» Tomcat warf ihm die silberne Kurama-Kette zu, die mit Leichtigkeit fing. Crow mustere die Kette und drehte sie in seinen Händen. Tomcat war der Einzige, von dem sich Crow solche Aussagen und Attitüden bieten liess, denn er brauchte ihn. Wegen der Kohle und den Ressourcen, versteht sich. So wie sich alles in Tomcats Leben immer nur um Kohle und Einfluss drehte. «Gut gemacht», meinte Crow nun. «Wenn es um Cherry Blossom geht, bist du wohl besser als jeder Jagdhund. Wo ist sie jetzt?» «In meinem Raum. Brauchst du sie hier vorne?» «Nein. Wir werden sie nicht auf dem Präsentierteller vorführen. Jedenfalls noch nicht. Lass sie dort.» Tomcat nickte und wollte sich abwenden, doch Crow war bereits neben ihm. «Ich will mich selber davon vergewissern, dass sie wirklich dort ist, wo du sagst.» Und etwas leiser fügte er an: «Ich weiss nämlich, dass du sie mir gerne vorenthalten würdest.» Tomcat tat nichts dergleichen und liess sich unter einigen missbilligenden Blicken der anderen von Crow die Treppe hinauf zum Gang begleiten. «Glaubst du wirklich, sie werden Kopf und Kragen für Foxy riskieren?», fragte Tomcat den Leader, als sie ausser Hörweite der anderen waren. «Ja, das glaube ich in der Tat. Immerhin haben wir es mit dem Auge des Gesetzes zu tun und die werden eine Geiselnahme nicht einfach so abtun. Auch wenn für sie die Möglichkeit besteht, dass wir bluffen. Und für den anderen Fall haben wir mit Cherry Blossom ein weiteres Druckmittel. Ich konnte jedoch schlecht bereits in dem Brief schreiben, dass wir sie geschnappt haben, zu diesem Zeitpunkt hatten wir sie nicht und wussten auch nicht, ob es uns gelingen würde.» Crow sah zufrieden aus. «Zudem wird die Sache vielleicht noch für Differenzen unter den Gangs sorgen, was uns auch gelegen kommt. Die treten für meinen Geschmack viel zu geschlossen auf.» Tomcat nickte wortlos. Er war sich bewusst, dass ihre Chancen gering waren. Aber Crow hatte ihnen von Anfang an gesagt, dass das hier mit grosser Wahrscheinlichkeit die letzte Schlacht der Jaguar Riots mit ihm als Leader werden würde. Das hatte aber kaum jemanden davon abgehalten, dabei mitzuwirken. Es gab in dieser Stadt genug Menschen mit einer ausgeprägten Aversion gegen die Regierung, die Polizei und die Stadt allgemein. Crow hatte das alles hier als eine Revolution aufgezogen, eine Rebellion gegen das System. Und dabei hatte er viele Anhänger gefunden. «Wir machen das nicht nur für uns», hatte er gestern Abend zu ihm gesagt. «Wir machen das, um Menschen wie deinem Vater zu zeigen, dass sie zwar mächtig sind, aber nie mächtig genug, damit sie die unter Kontrolle haben können, die sie unterdrücken. Vergiss das nicht, Yo. Wir haben ihnen in all der Zeit geschadet, mehr als ihnen lieb ist.» Sie erreichten den Raum und Tomcat schob den Riegel auf. Sakura Haruno sass an die Wand gelehnt am Boden, doch erhob sich rasch, als er gemeinsam mit Ayato in dieses schummrige Loch eintrat. Als sie ihn entdeckte, verfinsterte sich ihr Blick. «Guten Abend, meine wunderbare Cherry Blossom», begrüsste er sie gut gelaunt. Sakura schwieg eisern und Tomcat musste sich ein Schmunzeln verkneifen, denn sie sah aus, als würde sie Ayato an die Gurgel springen, sobald er noch einmal den Mund aufmachte. «Es freut mich, dich hier in unserer bescheidenen Behausung begrüssen zu dürfen. Wir haben heute Nacht noch einiges vor und du bist ein wichtiger Bestandteil davon.» Auch hier gab sie keine Antwort. Er musterte sie belustigt. «Gute Arbeit, Yo. Du hast sie zum Schweigen gebracht, ohne sie zu knebeln.» Er zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. «Sie ist auf jeden Fall da. Reicht mir.» «Kannst du eigentlich nachts noch schlafen?», fragte Sakura plötzlich und Ayato hielt inne. «Ah, Cherry Blossoms Gerechtigkeitssinn, von dem man sich so viel erzählt.» Er drehte sich zu ihr um. «Ich weiss, ich bin der Böse in der ganzen Sache. Streite ich ja auch nicht ab. Aber ist dir einmal aufgefallen, wie viel sich in Konoha verändert hat, seit die Riots unterwegs sind? Und ich rede nicht von der Zerstörung, ich spreche von der Aufmerksamkeit, die den Menschen auf der Strasse zu teil wurde. Wie sagt man so schön? Es muss immer zuerst etwas Schlimmes passieren, bevor die Menschen etwas tun. Und wenn ich derjenige sein muss, der für dieses Schlimme verantwortlich ist, dann bin ich gerne der Böse.» Sakura wollte etwas erwidern, doch er kam ihr zuvor. «Nein, ich stelle mich hier nicht als Märtyrer dar. Bin ich nicht. Ich hege viel Groll gegen diese Stadt und auch gegen euch Gangs. Ich habe offene Rechnungen und die will ich begleichen, was ein Märtyrer nicht machen würde. Die Angelegenheit ist also nicht unpersönlich, aber sie soll Veränderungen bewirken. Und dazu braucht es immer einen Bösen.»   Sakura wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Es war für sie schockierend, wie bewusst sich Crow seiner Rolle in dem ganzen war. Er war kein gescheiterter Möchtegernheld oder ein Mensch, der davon träumte, andere zu strafen. Ihm schien die Situation glasklar zu sein und in Vielem konnte sie ihm nicht einmal widersprechen. Denn es stimmte, die Zustände der Menschen auf der Strasse waren noch nie so sehr Thema bei der Bevölkerung von Konoha gewesen, wie jetzt. Noch nie, hatten sie der Öffentlichkeit so viel Einsicht in die sozialen Problematiken bieten können wie in der letzten Zeit. Dafür waren die Riots verantwortlich. Nicht auf eine positive Art, aber sie waren der Auslöser all der positiven Entwicklungen zwischen den Kuramas, Takas und den Bewohnern von Konoha gewesen, die in letzter Zeit passiert waren. Sie hätte es am liebsten nicht zugegeben, aber er hatte etwas erreicht. Das machte all die Zerstörung und das Leid nicht okay, aber das erwartete Crow auch nicht. Er wusste um die Konsequenzen seines Handelns. Er war nicht einfach irgendein Verrückter. Sakura schüttelte nur noch den Kopf, wandte ihren Blick aber nicht von ihm ab. «Du wirst einen Preis dafür bezahlen.» Er sah sie direkt an und in seinen Augen lag eine unerwartete, fehl am Platz wirkende Aufrichtigkeit. «Ich weiss.» Nun wandte er sich definitiv zum Gehen. «Pass schön auf sie auf», sagte er noch zu Tomcat, bevor er den Raum verliess und die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.   21:01 Uhr, Schulung und Verwaltung   «Die einzige Erklärung dafür ist, dass es auf diesem Gelände ein Versteck gibt, von dem wir nichts wissen. Es muss unterirdisch sein, denn es gibt keine anderen Gebäude auf dem Platz. Es muss Tunnel geben oder eventuell sogar ein weiteres Untergeschoss, die nicht auf den offiziellen Gebäudeplänen eingezeichnet wurden, aus welchen Gründen auch immer», antwortete Hatake auf Mitarashis Frage nach dem Verbleib der Riots. Sie war mit Pixie, Suigetsu und noch einigen anderen Polizisten von Halle 2 zu ihnen gekommen, um das Vorgehen zu besprechen. «Dann muss es Eingänge geben. Versteckte Eingänge», fügte Sarutobi an. «Irgendetwas muss diese Firma zu verbergen gehabt haben und das kommt den Riots natürlich gelegen.» «Bis 21.30 Uhr haben wir Zeit, steht in dem Brief. Das reicht nicht mehr, um überall nach Eingängen zu suchen», murmelte Mitarashi. «Lass es uns versuchen.» Hatake schnappte sich das Funkgerät und verschwand im Hinterzimmer, um Ruhe zu haben. Sarutobi schickte einige Polizisten in den Keller, um nach möglichen versteckten Eingängen zu suchen. «Was ist, wenn die trotzdem Tunnel nach draussen haben und wir in Kürze einmal mehr für nichts und wieder nichts den Hampelmann machen?», fragte einer der grimmigeren Polizisten von Sasukes Gruppe, Kobayashi hiess er, wenn er sich recht erinnerte. «Nein, sie haben keine Tunnel», winkte Sarutobi ab, zog eine Karte aus seiner Hosentasche und breitete sie vor ihnen aus. «Wir haben uns bei der Planung nicht nur die Grundrisspläne der Firma angesehen, sondern auch jene der umliegenden Gebäude. Da gibt es keine Ein- oder Ausgänge von Tunneln. Die umstehenden Häuser sind zu Betriebszeiten der Firma noch bewohnt gewesen, da konnte man nicht einfach einen Tunnel in deren Keller graben. Die Firma hier hatte offensichtlich etwas zu verbergen. Ich nehme an, sie haben hier irgendwo Schmuggelware auf dem Gelände versteckt und dafür brauchten sie geheime Lager. Also vergesst die Tunnel. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass es doch Tunnel gibt, decken unsere ausserhalb stationierten Einheiten einen breiten Umkreis ab. Damit Riots keine Hilfe von aussen kriegen können, versteht sich. Wir würden sie bemerken, bevor sie entkommen können.» Hatake kam zurück und wenn Sasuke nicht alles täuschte, war sein Blick finsterer als zuvor. «Sie versuchen, was sie können. Im Endeffekt müssen wir jetzt aber eine Entscheidung treffen. Und gerade habe ich von der Zentrale Informationen bekommen, die einen grossen Einfluss darauf haben werden.» Alle Aufmerksamkeit lag nun auf Hatake. «Ich habe die Zentrale nach gemeldeten Vermissten gefragt. Für die kämpfenden Einheiten ist es schwierig, festzustellen, ob jemand fehlt, aber nicht für die Sanis. Einheit 1 hat gemeldet, dass Sakura Haruno nach einem Handgranatenangriff als vermisst gilt.» Ein Raunen ging durch den Raum. Für Sasuke fühlte es sich an, als würden Blitze durch seinen Körper zucken. «Die Einheit wurde attackiert und Haruno war die letzte ausserhalb des Wagens, bevor die Attacke erfolgte. Der Wagen musste aus der attackierten Zone raus und Haruno war nicht mehr vorzufinden, als sie so rasch wie möglich zurückgekehrt sind. Sie haben sofort Polizeieinheiten verständigt, die haben aber an Halle 3, wo sich der Zwischenfall ereignet hatte, nichts gefunden. Es fehlt jede Spur. Und bleibt nur anzunehmen, dass Sakura Haruno Geisel Nummer 2 ist – Crows Versicherung.» Im Raum war es still geworden. Sie alle hatten Neuigkeiten in dieser Art befürchtet, doch jetzt aus Hatakes Mund zu hören, dass die Riots tatsächlich noch eine weitere Geisel hatte, erschütterte sie. Sasukes Fäuste ballten sich und in seinem Kopf begannen die Gedanken zu rasen, obwohl er wusste, dass er gerade jetzt nicht den Kopf verlieren durfte. Doch das Kopfkino liess sich nicht stoppen. Sakura war in den Händen der Riots und das bedeutete, auch in den Händen von Tomcat. «Es lässt sich vermuten, dass Sakura Haruno von Anfang das primäre Ziel für eine Geiselnahme gewesen ist, bedenkt man ihr Verhältnis zu den Gangs. Insbesondere zu Ihnen, Mr. Uchiha. Und Crow wusste, dass Miss Hyuuga als Geisel nicht besonders glaubhaft ist – ob es nun stimmt oder nicht. «Hey, aber noch wissen wir nicht hundertprozentig, ob Cherry wirklich in ihren Händen ist, Boss!», warf Deidara ein. «Vielleicht versteckt sie sich ja irgendwo?» Naruto schüttelte den Kopf. Auch ihm war anzusehen, dass er kurz vorm Platzen war. «Egal, was ist, für mich steht fest, dass die Polizei sich jetzt sofort zurückzieht, denn uns läuft die Zeit davon. Sichert das Gelände ab, bleibt in Bereitschaft. Unser Ziel muss es sein, die Geiseln zu sichern und dann sofort mit einem massiven Gegenschlag zu beginnen. Mit der Polizei, versteht sich. Aber ich will nichts riskieren.» «Sehe ich auch so», sagte Sasuke und brauchte alle Kraft, um sich zu beherrschen. «Wir wissen von beiden Mädchen nicht, ob sie wirklich Geiseln sind. Aber mindestens von Hinata Hyuuga wissen wir, dass sie als Druckmittel gegen uns verwendet werden kann, egal, ob es ein Trick ist oder nicht. Und Sakura Haruno war nicht auffindbar. Ich gehe schwer davon aus, dass sie sich nicht einfach versteckt. Das würde sie nur solange tun, bis sie bekannte Gesichter sieht und davon sind eine Menge auf dem Gelände.» Hatake schien seinen Entschluss gefasst zu haben. «Es hilft alles nichts. Es ist jetzt 21.12 Uhr und uns läuft die Zeit davon. Die Polizei wird sich zurückziehen, auch wenn es mir in jeder möglichen Weise widerstrebt. Jemand anderer Meinung?» Der Unmut im Raum war deutlich spürbar und trotzdem kamen keine Gegenargumente zurück. Sakuras Verschwinden hatte auch die letzten Zweifler überzeugt. Sie mussten Crow in einem ersten Schritt Folge leisten. Die Polizisten begannen, sich aufzuraffen. «Aber denkt daran, dass wir gleich vor den Toren warten werden. Macht auf keinen Fall etwas Unüberlegtes.» Bei diesem Satz nahm er Naruto und Sasuke ins Visier. «Emotionen sind ein starker Gegner, aber ihr dürft euch auf keinen Fall davon aus der Ruhe bringen lassen. Denn das bezweckt Crow. Ihr seid seine grössten Feinde und nun hat er einen eurer schwächsten Punkte getroffen.» Er legte ihnen beiden eine Hand auf die Schulter. «Ihr haltet mich über alles, was geschieht auf dem Laufenden. Ich will wissen, was Crow von euch will. Ich werde euch nötigenfalls helfen, eine Strategie zu finden. Und wenn alle Stricke reissen werden wir eingreifen.» «Nein!», riefen Sasuke und Naruto wie aus einem Mund, was einen kurzen, etwas befremdeten Blickwechsel zwischen den beiden zur Folge hatte. Hatake schüttelte den Kopf. «Falls es soweit kommt, dass ihr keine Chance mehr habt, dann müssen wir rational handeln und euch helfen. Ihr wisst also, was ihr zu tun habt: Schaut zu, dass es nicht soweit kommt. Alles klar?» Die beiden nickten nur, denn Hatake hatte wohl oder übel recht. Doch sie waren entschlossen, das durchziehen. «Die Wagen werden an der linken Mauer als Stützpunkt gruppiert, damit ihr eine Festung habt, von der aus ihr agieren könnt. Theoretisch könnten wir euch so von der anderen Mauerseite her unterstützen, zumindest mit Mitteln versorgen. Aber ich weiss nicht, ob Crow das okay findet. Und ich will seine Willkür nicht herausfordern. Wir müssen unser weiteres Vorgehen entscheiden, wenn wir mehr über Crows Vorhaben wissen. Für den Moment müssen wir an die potenziellen Geiseln denken.»   21:23 Uhr, Schulung und Verwaltung   In Sasukes Kopf rasten die Gedanken, als er in dem dunklen Laderaum des Panzerwagens sass. Der Wagen unter ihm kam ruckelnd in die Gänge und würde sie direkt zur Mauer bringen, wo sie eine provisorische Festung errichten würden. Sakura war verschwunden. Das hiess bestenfalls, sie versteckte sich irgendwo. Und den allerschlimmsten Fall wollte er in seinem Kopf nicht zulassen. Eine Geiselnahme war im Gegensatz zum Wort-Case-Szenario immer noch annehmbar. Innerlich ging er all seine Entscheidungen durch, die ihn an diesen Ort und in diesen bestimmten Moment geführt hatten. Es gab so vieles, was er jetzt anders machen würde. An allererster Stelle würde er Sakura verbieten, an der Mission hier teilzunehmen, egal wie wütend sie auf ihn gewesen wäre. Von ihm aus konnte sie ihn hassen und in die Hölle verwünschen, solange sie lebte. Solange es ihr gut ging. Wer wusste schon, ob sie nicht schon in Tomcats schmutzigen Händen gelandet war, der mit ihr machen konnte, was er wollte. Dieser Gedanke brachte das Blut in seinen Adern zum Kochen. Wenn dieser verdammte Bankierssohn es wagte, seine dreckigen Hände an Sakura zu legen, dann würde er ihn das auf ewig bereuen lassen. «Sie haben sie gejagt, Sasuke», sagte auf einmal Big Fox, der ihm gegenübersass und genau so düster aus der Wäsche blickte, wie er selbst. «Es war nicht fahrlässig, Cherry aus Feld zu lassen. Sie war bereit.» «Wir wussten, dass Tomcat ein Auge auf sie geworfen hat. Wir hätten vorausdenken müssen. Aber in all der Planung ist dieser Faktor total untergegangen», gab er zurück. «Wir hätten es ahnen müssen!» «Es ist unmöglich, jeden Faktor miteinzuberechnen», sagte Hatake. Der Wagen kam zum Stehen und die Hintertür wurde aufgemacht. Sasuke griff nach seiner Waffe. «Sie wollte dabei sein, Demon!», sagte Big Fox laut und bestimmt, auch wenn ihm die Schuldgefühle in grossen roten Lettern auf die Stirn geschrieben standen. «Das einzige, was wir jetzt tun können ist, sie uns wiederholen! Also reiss dich verdammt nochmal zusammen! Du bist der Leader!» Sasuke liess sich solche Sachen normalerweise nicht von ihm gefallen. Aber er wusste, dass Big Fox recht hatte. Der Kurama-Leader musste schon viel länger mit solchen Gedanken herumlaufen, seitdem Hinata sich als Maulwurf entpuppt hatte. Doch heute schien er fest entschlossen zu sein. Und dem musste Sasuke folgen, denn er war der Leader. Wenn der Leader zweifelte, zweifelten alle anderen auch. Das hatte Itachi immer gesagt und Recht hatte er gehabt. Itachi hatte nie jemanden spüren lassen, dass er unsicher war. Vermutlich war er gar nie unsicher gewesen. Big Fox sprang aus dem Wagen in die Dunkelheit. Die Polizei war schnell gewesen und hatte bereits für Scheinwerfer gesorgt, sie vom externen Lazarett hierher verfrachtet hatten. Dann würde sie ihre Gegner wenigsten sehen können. Noch waren sie ausgeschaltet, aber sie würde bestimmt noch nützlich werden. «Cherry ist stark. Nicht im Kämpfen, aber in anderen Dingen. So schnell kriegen die sie nicht klein, das versichere ich dir.» Sasuke stand auf. Er musste jetzt einfach an Sakura glauben und daran, dass sie andere Menschen lesen konnte. Darauf, dass man sie nicht einfach so unterkriegen konnte. Sie hat es schon mehr als einmal bewiesen. Er sah sich um. Der Wind hatte aufgefrischt und riss die braun verfärbten Blätter von den Bäumen. Hier waren so viele vertraue Gesichter. Sie alle waren informiert über den Brief und das geplante Vorgehen, dafür hatte Hatake gesorgt. Sie alle gaben sich die grösste Mühe, ihre Beunruhigung zu überspielen, doch er sah es an ihren Blicken – die jüngsten Ereignisse dieser Nacht liessen niemanden kalt. Sie waren überlegen in diesen Kampf gestartet und mussten nun einsehen, dass Crow sich wieder einmal eine mächtige Position verschafft hatte. Doch was hätten sie tun sollen? Wenn sie in bekämpfen wollten, mussten sie auch Leute in die Schlacht schicken. Und jeder dieser Leute konnte zur Geisel werden. Was genau hätten sie also anders machen sollen? Er fluchte innerlich. So sehr er Crow auch hasste, mit einem hatte er absolut recht: Die Takas und Kuramas hatten beide dasselbe Problem. Nämlich ihren Zusammenhalt und ihre fast schon familiären Bande. Sie würden immer erpressbar sein, egal, welch geniale Schlachtpläne sie ausheckten. Er erinnerte sich an früher, als er sich an nichts ausser an seinen Bruder gebunden gefühlt hatte. Anfänglich hatte er auch nichts mit den anderen Takas zu tun haben wollen, doch all die gemeinsam Strassenkämpfe und einige krumme Geschäfte hatten ihn unvermeidlich an diese Gang geschweisst. Sie waren nie wahnsinnig nett zueinander gewesen, aber das hatte schon immer zum Umgangston der Takas gehört. Beleidigungen waren die normalen Begrüssungsfloskeln gewesen, sich mit «Schau an, der Bastard ist wieder da» anzusprechen hatte etwa so viel bedeutet wie «Hey, mein Freund». Und trotzdem waren sie füreinander durchs Feuer gegangen. In Sasukes Anfangszeit war Juugo, damals knapp dreizehn Jahre alt, einmal einer aufmüpfigen Gang in die Hände gefallen. Razors hatten sie geheissen, sofern er sich recht erinnerte. Sie hatten ihn in einer spektakulären Mission befreit, nachdem die Razors ihn bereits grün und blau geschlagen und ihm mit einem Messer ein R in den Oberarm geritzt hatten. Besagte Gang war von da an wie vom Erdboden verschwunden gewesen, plattgemacht von den Takas. Die älteren Takas hatten Juugo damals ihre eigenen Narben gezeigt, was ihn richtig aufgebaut hatte. Das Erlebnis und der Zuspruch seiner Gang hatten ihn stärker gemacht – Juugo trug die Narbe noch heute wie eine Trophäe. Denn Narben waren Auszeichnungen, Beweise für Stärke. Das hatte ihm auch Itachi immer gesagt. Heute war Sasukes eigene Körper von Narben geziert. Aber es störte ihn nicht. «Demon?» Konans Stimme holte ihn wieder in die Realität zurück. Sie sah zwar gefasst aus, aber die Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben. Hinter ihr Stand Yahiko, der sein Gameface aufgesetzt hatte. «Ja?» «Hatake will dich und Big Fox noch rasch sprechen. Beeil dich, es ist bald Halb.» Er nickte und ging an ihr vorbei. Zuversicht. Er benötigte Zuversicht. Aber in seinem Kopf tauchten immer wieder Bilder auf, die er nicht sehen wollte. Bilder einer Zukunft, an die zu denken er sich weigern wollte. Er würde es sich nie verzeihen, wenn Sakura aus dieser Nacht Narben davontragen würde. Oder noch Schlimmeres. Zum ersten Mal seit langer Zeit, verspürte Sasuke Uchiha so etwas wie Angst.   21:13 Uhr, Kellergewölbe Halle 3   Crows ungewöhnlich starke Präsenz blieb auf unangenehme Art im Raum hängen, auch nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war. Tomcat hielt noch einen Moment inne und musterte sie auf seltsame Weise, als ob er abwägte. Irgendetwas an ihm war einfach anders als bei ihren letzten Zusammentreffen, aber sie konnte den Finger nicht draufhalten. Dann, als hätte er einen Entscheid getroffen, schnappte er sich seinen Rucksack und machte Anstalten, den Raum zu verlassen. Jetzt oder nie. «Tut mit übrigens wirklich leid», sagte sie sachte. «Das mit deiner Mutter.» Tomcat hatte die Hand bereits an der Türfalle und erstarrte mitten in der Bewegung. Sein Gesicht war von einem Moment auf den anderen aschfahl geworden. Er behielt seinen Blick starr auf seinen ausgestreckten Arm gerichtet. Vielleicht war das jetzt ein Fehler gewesen, ja, vielleicht hatte sie gerade schlafenden Hunde geweckt. Nur weil Tomcat heute ruhiger gewesen war, hiess das nicht, dass man ihn urplötzlich als berechenbar einstufen konnte. Ihr Herz begann zu klopfen. Sie musste das jetzt durchziehen, denn er war ihre einzige und leider sehr kleine, fast schon nicht existente Chance hier rauszukommen. Aber vielleicht hatte sie sich diese Chance auch nur eingebildet. Es würde sich gleich zeigen. Drei Möglichkeiten rechnete sie sich aus: Entweder stürzte er sich vor Wut auf sie, weil er dachte, sie mache sich über ihn lustig, oder er verliess den Raum. Die dritte und erhoffte Option war, dass er mit ihr zu reden beginnen würde. Sie erkannte schon nur anhand von seine Seitenprofil, dass sein Blick sich verfinstert hatte. Er wirkte, als denke er nach. «Entschuldige», murmelte sie. «Ich wollte dich nicht verärgern. Ich habe es nur in der Zeitung gelesen und dachte…» «Was dachtest du?!» Sakura zuckte bei der Lautstärke seiner Worte zusammen. Sie hatte ihn noch nie unkontrolliert erlebt. Das hier war ein Wutausbruch, der nicht zu der Figur «Tomcat» passte – zu jener Version von sich selbst, die er die Aussenwelt sehen liess. Ihm selber schien das auch aufzufallen und mit Mühe schaffte er es, wieder diesen durchdringenden, unangenehm ruhigen Tonfall hinzukriegen. «Du spielst mit dem Feuer, kleine Cherry Blossom. Du solltest dir besser um dein eigenes Leben Sorgen machen. Deine Situation sieht nicht gerade gut aus, so viel kann ich dir sagen.» Sie durfte sich jetzt auf keinen Fall verunsichern lassen, auch wenn sie sich am liebsten in die Ecke des Raumes verdrückt hätte. Seine Fassade bröckelte und er versuchte, von sich abzulenken. Irgendwie tat er ihr leid. Sie dachte an die Bilder in seinem Rucksack, an die Erinnerungen an seine Mutter, die er mit sich herumtrug. Wollte sie hier wirklich nur raus oder war es eine ehrliche Anteilnahme, die sie in ihrem Herzen spürte? «Ich wollte dich nicht ärgern, wirklich. Es hat mich nur… beschäftigt.» «Und warum zur Hölle beschäftigt dich das?», knurrte er. «Einfach so.» Er lachte trocken. «Ach ja? Weisst du, du bist schon ein naives kleines Mädchen, das nicht weiss, wann es die Klappe halten sollte. Aber ich bin nicht dumm. Du versuchst hier zu sympathisieren, Cherry Blossom.» «Ich wüsste nicht, was daran so schlimm ist», sagte sie und nach einer kurzen Pause fuhr sie weiter. "Meine Mutter lebt noch. Aber ich sehe sie kaum. Ich tanze nicht nach ihrer Pfeife und deshalb weiss sie mit mir nichts anzufangen. Sie ist alles andere als liebevoll.» Tomcat sah sie irritiert an, auch wenn er es zu überspielen versuchte. Fast als wäre ihm das Konzept von Anteilnahme nicht bekannt. «Ich weiss, es ist nicht das gleiche.» Sie erwartete einen weiteren Wutausbruch, doch dem war nicht so. Tomcat hielt seinen Blick starr auf sie gerichtet, keine Regung im Gesicht. Doch seine Augen sprachen Bände – er saugte ihre Worte förmlich auf. Die Idee, Tomcat dazu zu benutzen, hier so schnell wie möglich herauszukommen, rückte in den Hintergrund. Sie hatte hier einen traurigen, einsamen jungen Menschen vor sich. Tomcat hatte niemanden ausser sich selbst. Ein bescheuerter Vater, ein arroganter Bruder. Eine Gang, zu der er sich nicht wirklich dazugehören wollte. Crow, der ihm vermutlich Rache an seinem Vater und der finanzstarken Elite der Stadt versprach, aber ihm kein Freund war. Niemand, der sich einfach nur für ihn interessierte. «Was für ein Spiel treibst du da?», stiess er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er wehrte sich mit aller Kraft gegen etwas und sie beobachtete, wie sein Blick subtil zwischen ihr und der Tür hin- und herzuwandern begann. «Kein Spiel. Es tut mir nur sehr leid.» «Und warum?» Seine Stimme klang immer noch ablehnend und es schwang eine Prise Misstrauen mit. «Eigentlich müsstest du dich über alles freuen, was deinen Gegner schwächt. Ganz nach Crows Motto.» «Ich bin aber nicht Crow. Ich werde mich nicht über den Tod eines Menschen freuen. Und schon gar nicht über den eines Menschen, der nichts verbrochen hat.» Er war hin- und hergerissen und es fiel ihm immer schwerer, seine Fassade aufrechtzuerhalten, das konnte sie sehen. Sie bemerkte auch ein leichtes Zittern in seinen Händen. «Findest du all das Blutvergiessen da oben notwendig? Teilst du Crows Meinung?», fragte sie nun, um ein wenig von seiner Mutter abzulenken, denn sie spürte, dass sie sich da an einer sehr gefährlichen Grenze entlangbewegte. «Es ist kein Geheimnis, dass ich nicht Crows Lakai bin. Ich will, dass mein Vater ins Schwitzen kommt. Ich mache genau das Gegenteil von dem, was er immer von mir gewollt hat. Und die Aktivitäten der Riots sind nicht gut für sein Geschäft. Konoha macht viele Negativschlagzeilen und da er seinen Hauptsitz hier hat, tut ihm das natürlich nicht gerade gut.» Sie sah eine Spur von Schadenfreude und Genugtuung in seinen Augen. Er hatte den Ansatz eines Grinsens auf den Lippen, das aber sogleich wieder verschwand. «Ich bin kein Revolutionsführer wie Crow. Ich bin aus meinen eigenen Interessen hier und das weiss er auch.» Sakura fragte sich, ob Tomcat nicht tief drin nach etwas ganz anderem suchte als nach Möglichkeiten, seinem Vater eins auszuwischen. «Ich kenne deinen Vater nicht», sagte sie leise. «Nur aus der Zeitung.» Tomcat lachte verächtlich. «Aus der Zeitung, ja? Dort wo er glorifiziert wird, wo man ihn in den Himmel hinauflobt. Die Medien sind doch auch alle unter Kontrolle der Reichen. Niemand spricht darüber, wie er wirklich ist. Seine Angestellten wagen es nicht, die Verwandten wollen es nicht und alle anderen wissen es folglich auch nicht. Mein Alter ist ein verdammter Psychopath, Cherry Blossom.» Seine Worte hatte einen solch harten und zornigen Unterton, dass sich auf Sakuras Armen die Härchen aufstellten. Er bemerkte Sakuras grosse Augen und genoss es anscheinend, dass seine Worte eine solche Reaktion bei ihr auslösten. «Vor der Kamera und den Reportern macht er immer einen auf Saubermann, was? Aber soll ich dir was sagen?» In seinem Blick lag etwas Unberechenbares und seine Stimme bebte ein wenig bei diesen Worten. «Er hat sie eingesperrt. Sie durfte unser verdammtes Anwesen nur in seiner Begleitung verlassen. All seine aufgestaute Energie und Frustration hat sie in Form von Gewalt zu spüren gekriegt und er sagte ihr andauernd, dass sie hässlich sei und dass sie sich das Gesicht machen lassen müsse. Nur damit er auf seinen Reisen dann doch mit jungen Frauen in der Kiste gelandet ist.» Sakura hörte nur noch gebannt zu. Tomcats tiefere Emotionen drangen an die Oberfläche. «Ryu und mich hat er von Privatlehrern unterrichten lassen, die uns vom Morgenfrüh bis in den Abend gedrillt haben. Seit wir acht waren. Unsere Mom wollte das nicht, aber sie konnte nichts tun. Und wenn wir uns geweigert haben, dann gabs Schläge. Für sie und für uns.» «Waren deine Eltern unfreiwillig verheiratet?», flüsterte sie. Er nickte. Jetzt bebte sein ganzer Körper. «Das ist bei den Reichen und Schönen oft so. Man wird zwar nicht direkt gezwungen, aber so aufgezogen und eingespurt, als wäre es normal, solche Zweckehen zu formen. Meine Mom war die Tochter eines Bankers aus Kumo und dem kam ein Zusammenschluss mit Murakami Credits gleich recht. Und familiäre Bande bedeuten Verbindlichkeit – auch wenn man sich nicht leiden kann.» Nun nahm sie eine Spur von Bedauern und Traurigkeit unter seiner Wut wahr, auch wenn er es mit seinem verächtlichen Grinsen zu überspielen versuchte. Ihr Bild von Tomcat begann sich schlagartig zu verändern. Bisher hatte er ihr Angst gemacht und war in der Lage gewesen, sie mit seiner kalten, kontrollierten und listigen Art einzuschüchtern. Sie hatte immer noch Respekt vor seiner Unberechenbarkeit, aber auf eine andere Weise. Sie fühlte sich, als könne sie langsam hinter seine Spielfigur «Tomcat» sehen. Nicht nur ein undurchschaubarer, psychisch angeknackster junger Mann, dem alles zuzutrauen war. Nein, ein junger Mann, dem in seinem Leben viel zu viel angetan wurde, als dass er noch das sein konnte, was man unter normal verstand. Und deshalb war er, wie er war. Zu viele Parallelen konnte sie mit anderen Gangmitgliedern feststellen. Und wenn sie geglaubt hatte, Tomcat gehöre aufgrund seiner Herkunft nicht in eine Gang, dann war das ein für allemal vorbei. Er passte bestens zu ihnen. Tomcat versprühte keinen Machthunger, keine Habgier, keine kranke Obsession mit Materiellem. Er wollte nur Rache an diesem schrecklichen Mann, der ihn und seinen Bruder so hat leiden lassen. Der das Leben seiner Mutter zerstört und sie in den Tod getrieben hatte. Es schien fast, als wäre das sein einziger Antrieb. «Deine Mutter war dir sehr nahe», sagte sie und war sorgsam darauf bedacht, dies nicht wie ein Fakt, sondern wie eine Wahrnehmung ihrerseits klingen zu lassen. Irgendetwas in ihm schien sich dagegen zu wehren, Sakura gegenüber so viel von sich preis zu geben. Sein Körper war bis in die feinste Faser angespannt. Sein Blick fixierte Sakura, doch ruhte nicht, sondern flitze nervös hin und her, konzentriert darauf, direkten Augenkontakt zu vermeiden. «Seit unserer Geburt hat sie uns beschützt. Wir hatten bis zu unserem 8. Lebensjahr eine schöne Kindheit im Ungewissen, gerade weil der Alte nie da war. Wir haben nie etwas von Moms Traurigkeit gemerkt. Erst, als unser Alter wohl gedacht hat, wir seien selber alt genug, um verprügelt zu werden. Ryuji hat gespurt, ich habe rebelliert, weshalb er mich noch weniger mochte. Und Mom wurde von da an immer mehr zu einem Schatten ihrer selbst. Sie hat in den letzten Jahren nur noch wenig gesprochen.» Tomcat liess sich langsam an der Wand hinuntergleiten und verblieb in einer hockenden Position. Er liess sie aber keine Sekunde aus den Augen. Trotzdem war das für sei ein Zeichen, dass er bereit war weiterzusprechen. Und ganz ehrlich? Sie wollte unbedingt mit ihm weiterreden, aber nicht aus dem ursprünglichen Grund. Sakura war zutiefst betroffen. Was für ein Leben hatte er nur gelebt? Eingesperrt in einem goldenen Käfig mit einem scheusslichen Vater. Inzwischen wunderte sie an Tomcats Art nichts mehr, denn alles war sie gehört hatte, war Erklärung genug. Es tat ihr richtig im Herzen weh, wenn sie an das Bild der beiden kleinen Jungen und ihrer Mutter dachte. Wie sie verhalten gelächelt und überspielt hatte, wie sie sich wirklich fühlte. Genauso wie Yohei Murakami als Tomcat alles zu überspielen versuchte, was er der Aussenwelt nie hatte zeigen wollen. Alles machte einen Sinn. In ihrem Kopf ratterten Inhalte aus den Sozialwissenschaften vom College wild durcheinander. Trauma, Bindungsstörungen, die Suche nach Verlässlichkeit und Geborgenheit. Kinder, die ohne verlässliche Bezugsperson in ihrem Leben später keine tragfähigen Beziehungen mit anderen aufbauen konnten. Das alles passte zu ihm. Vielleicht hatte er in ihr etwas gesehen, das er mochte. Eben etwas, was er sich wünschte und nicht haben konnte. Eine Eigenschaft, die ihm Sicherheit gab, etwas, wonach er sich sehnte. Er hatte sie immer voller Spott naiv und unerfahren genannt, ein Gutmensch, jemand, der keine Ahnung hatte, wie die Welt wirklich lief und die Welt blauäugig retten wollte. Und in anderen Worten: Eine sichere Zone. Jemand, der in seinen Augen kein Dreck am Stecken hatte. Jemand mit einem guten Herz und einer liebevollen Art. Das war alles reine Theorie, aber vielleicht war er deshalb so fixiert auf sie, weil er genau das in ihr sah, ob es nun so war, sei dahingestellt. Und da er keine sicheren Beziehungen in seinem Leben hatte, wusste er auch nicht wirklich, wie man Freundschaften aufbaute. Das alles würde jedenfalls vieles erklären. Sie verfluchte Shoto Murakami innerlich. Ein einzelner Mensch konnte so viel Schaden anrichten und er hatte es ohne mit der Wimper zu zucken getan. «Und dein Bruder?» «Ryu? Der ist inzwischen eine Kopie meines Vaters. War auch nur noch ein Arsch zu Mom. Und zu mir, aber das ist schon lange so.» «Es tut mir leid, Yohei», brachte sie heraus. Sein Blick weitere sich ein klitzekleines Bisschen, als sie ihn mit seinem Vornamen ansprach. «Niemand verdient das.» «Und vor allem nicht sie», sagte er mit erstickter Stimme. Er griff in seinen Rucksack und zog ein kleines Buch heraus. Es sah aus wie ein stinknormales, aber doch dickes Notizbuch, aber wenn er es in seinem Rucksack herumtrug, dann hatte es einen Wert. «Sie hat Tagebuch geschrieben. Das hier war ihr letztes. Und beinhaltet all die Dinge, die sie nie hat aussprechen dürfen.» Er warf ihr das Buch zu und ihre Reflexe waren gerade mal schnell genug, um dieses wertvolle Schriftstück aufzufangen, kurz bevor es auf dem staubigen Boden landete. «Darf ich es wirklich lesen?», fragte sie vorsichtig. «Würde ich es dir sonst geben?» Bei dieser sarkastischen Bemerkung hatte sie seine Tomcat-Allüren wieder deutlich durchdrücken hören. Er schien das Bedürfnis zu haben, seinen Schmerz und vor allem den seiner Mutter mit jemandem zu teilen. Und Sakura war nur zu gerne bereit, das zu tun. Es war, als befinde sie sich in einer Seifenblase. Raum und Zeit hatten irgendwie angehalten und die Schlacht über ihnen schien auf einmal Lichtjahre entfernt zu sein.   21:29 Uhr, zwischen Halle 2 und 4   Inzwischen war es gespenstisch ruhig auf ihrer Seite des Geländes. Die Riots hatten sich nach und nach zurückgezogen und eingebunkert. Am liebsten hätte Sasuke einfach die Gebäude gestürmt, aber überstürzte Handlungen brachten sie in diesem Moment nicht weiter. Die Polizei war abgerückt und zurückgeblieben waren die Takas und die Kuramas. Für Sasuke beinahe schon ein ungewohntes Gefühl, nachdem sie in ihren letzten Schlachten immer Polizisten dabei gewesen waren. Er hatte ein tiefes Vertrauen in seine Leute und auch in die Kuramas, doch ihm war bewusst, dass sie mit diesem Entscheid ihren grössten Vorteil aufgegeben hatten. Sie hatten in dieser kurzen Zeit ein Fort aus den Panzerwagen errichtet, die Lücken gefüllt mit Kisten und Schrott. Sie hatten Schützen überall um das Fort herum versteckt, auch bei Halle 2 und 4, hinter Kisten und Mulden. Das Zentrum bestand aber aus ihrer Festung; wollten die Riots die einnehmen, mussten sie sich warm anziehen, denn die Kuramas und Takas waren bis auf die Zähne bewaffnet. Aber er glaubte ohnehin nicht, dass das Crows Plan war. Nicht, wenn er Geiseln hatte und sie somit wie die Marionetten tanzen lassen konnte. Aber sobald sie wussten, was er vorhatte, würden sie eine Strategie finden. Sie mussten einfach. Er musterte seine Leute. Hidan und Deidara hatten sogar den Nerv, noch miteinander zu feixen. Aber er war froh, dass sie noch eine gute Kampfmoral zu haben schienen. Die meisten anderen sahen entweder konzentriert aus oder wirkten, als wären sie mehr als bereit, all ihre Energie und ihre Wut in diesem Kampf zu entladen. Niemand wirkte niedergeschlagen – sie waren bereit. «Es ist so weit», sagte Big Fox neben ihm, zuoberst auf dem Fort mit einem guten Überblick über das Gelände. Sasuke schielte auf die Zeitanzeige an seinem Funkgerät. 21.30 Uhr. «Bereit?», fragte Hatakes Stimme wie aufs Stichwort aus dem Gerät. «Bereit», sagte er. Bereit, Crow auf den Mond zu schiessen.   21:30 Uhr, unterirdisch   Ihr Herz schlug rasend schnell, als sie neben Crow her ging. Die Fesseln an ihren Händen scheuerten ihre Haut auf und der Knebel in ihrem Mund war viel zu stark festgebunden. Im Gang roch es nach altem, kaltem Beton und Staub, ihre Schritte hallten an den Wänden wider. Sie war wie das Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank. Das war jetzt der Moment. Das Ende. Alles, was sie in den letzten Monaten getan hatte, hatte sie hierhergeführt – an einen Ort, an dem sie nicht sein wollte. Rückblickend hätte sie vieles anders gemacht. Alles anders gemacht. Es hätte einen Weg geben müssen, auch wenn sie heute noch keinen sah. Irgendeinen, der an der Realität, wie sie heute war, vorbeiführte. All die schweren Gefühle, die sie seit so langer Zeit mit sich herumtrug und in ihrem tiefsten Innersten begraben hatte, kamen wieder hervor, kämpften sich ans Tageslicht. Sie spürte Angst und Verzweiflung. Wie eine Maschine hatte sie alles verdrängt, alles zu vergessen versucht. Nicht nur die Gefühle, sondern auch die Fragen. Warum war das alles passiert? Warum hatte sie nicht besser aufpassen können? Sie war verwirrt. So lange hatte sie ihre Gedanken und Gefühle zu kontrollieren versucht und jetzt schäumten sie in einem reissenden Strudel wieder durch ihren Kopf, durch ihren ganzen Körper. Ihre Persönlichkeit, ihr Wesen hatte sich verändert. Ihr Verstand spielte ihr schon seit Langem Streiche. Manchmal sah sie Dinge, die da nicht waren. Meistens war es jemand. Und immer, wenn er auftauchte, weinte sie leise vor sich hin. Nicht selten konnte sie ihn sogar riechen und spüren. Und das alles war nur ein Produkt ihrer Vorstellungskraft. Manchmal hörte sie Stimmen von Menschen, die sie schon so lange nicht mehr gehört hatte und nach denen sie sich sehnte. Immer, wenn sie alleine war, verzog sie sich in ihre eigene Welt, jene in ihrem Kopf, die ihr wie ein Paradies erschien. Es war der einzige Ort, an dem sie noch sein wollte. Denn sie wusste, dass es diesen Ort in der realen Welt nicht mehr gab. Nicht für sie. Sie hatte sich längst von dem Gedanken verabschiedet, jemals wieder in ihr altes Leben zurückkehren zu können. Denn es war ein anderes Leben gewesen. Eine andere Hinata. Die Hinata, die sie jetzt war, verabscheute sie. Sie hasste das, was aus ihr geworden war.   Crow spielte seine Spiele mit ihr. Und sie hatte versucht, ihres mit ihm zu spielen. Nicht weil sie es gewollt hatte. Aber weil sie keinen anderen Weg mehr gesehen hatte. Ihre einzige Möglichkeit, den Schaden einzudämmen. Denn in diesem Spiel konnte sie nur verlieren. Egal, was sie machte, irgendjemanden würde sie mit sich ins Verderben reissen. Und trotzdem wollte sie alles daransetzen, es zu verhindern. Es war das einzige, was sie noch tun konnte – was auch immer es kosten würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)