Sonne, Mond und Sterne von Flordelis (Löwenherz Chroniken III-0) ================================================================================ Prolog: Geburt -------------- Seine erste Erinnerung war ein weiß gekachelter Raum. Kalt, steril und durchdrungen von einem Gefühl der Einsamkeit, deren Bedeutung er damals noch nicht kannte. Die eiserne Liege, die seine Geburtsstätte war, bildete einen angenehm kühlen Kontrast zu seinem viel zu heißen Körper, der trotz der niedrigen Temperaturen zu verglühen drohte. Sein Kopf war einerseits leer und andererseits voller Bilder, die er nicht zuordnen konnte und die ihn unnötig verwirrten. Sie zeigten ihm Ereignisse, an denen er nie teilgenommen hatte, von denen er nicht wusste, was sie überhaupt darstellen sollten und er verstand sie nicht einmal wirklich, denn all die vielen verwendeten, ihm unbekannten, Wörter trugen nur weiter zu seiner Verwirrung bei. Die viel zu schnellen Abfolgen erlaubten ihm nicht, länger als Bruchteile von Sekunden bei dem Geschehen zu bleiben, was seine Versuche nur weiter erschwerte. Doch inmitten dieses Chaos, das er durchzublicken versuchte, bemerkte er plötzlich die Anwesenheit einer weiteren Person. Es war kein angenehmes Gefühl, nichts worüber man sich in der Einsamkeit freute, denn dieser andere schien die Quelle dessen zu sein, was dieses unangenehme Empfinden ausmachte, dementsprechend unerfreulich und schlimmer wurde es, solange er sich direkt neben einem befand. Aber ihm war das in diesem Moment vollkommen egal, denn auch wenn er dieses Gefühl verabscheute, wusste er noch nichts davon, wie es anders sein konnte. Er verspürte Sehnsucht nach einer Besserung, ohne zu wissen, ob es eine solche überhaupt gab. „Wie ich sehe bist du wach“, sagte die andere Person plötzlich mit kalter Stimme, auch wenn ein wenig falscher Freude darin mitzuschwingen schien. „Das ist eine sehr gute Entwicklung, immerhin will ich dir noch sooo viel beibringen und da ist es besser, wenn wir sofort damit anfangen.“ Was diese Worte bedeuteten, war ihm in diesem Moment noch nicht so wirklich klar, aber er spürte ganz deutlich, dass ihm ein Wandel bevorstand – einer, der in diesem Stadium seines Lebens noch bedeutungslos war, aber ihm ein unvergessliches Abenteuer bereiten würde. Kapitel 1: Beim Direktor ------------------------ Auch wenn er Einsamkeit bereits seit seiner Geburt kannte – ein Augenblick, von dem er glaubte, er sei erst vor wenigen Jahren geschehen, obwohl er bereits 15 Jahre alt war – mochte er dieses Gefühl nach wie vor nicht und versuchte bei jeder Gelegenheit, ihr zu entkommen. Aber das war nicht einfach an diesem Ort an dem Freundschaften nicht gern gesehen waren und man sie sogar zu unterbinden versuchte. Sie sagten, es wäre ein Waisenhaus – aber das glaubte er nicht. Nicht zuletzt, weil er den Großteil seiner Zeit in einem Zimmer verbrachte, das mehr an das eines Krankenhauses erinnerte. Doch er war nicht dort, um sich selbst untersuchen zu lassen oder sich auszuruhen, sondern weil er denjenigen besuchen wollte, der wirklich in dem viel zu weißen und sterilen Krankenhausbett lag. „... und dann gab es Abendessen, das übliche unappetitliche Zeug“, sagte er zu der Person im Bett, ohne dass eine Antwort zurückkam. Er sprach immer mit einem Jungen, der beständig schlief, aber mit dem er sich verbunden fühlte, nicht nur weil er ihm als sein Bruder vorgestellt worden war, sondern auch, weil er das Spiegelbild seiner selbst zu sein schien. Rosa Haare waren nun wirklich nicht häufig, jedenfalls nicht in diesem Waisenhaus und da es bislang alles war, was er kannte, nahm er an, dass es auch für den Rest der Welt gelten musste, falls es da draußen überhaupt wirklich noch mehr gab. Ihm wurde im Unterricht zwar beigebracht, dass es noch mehr gab, aber solange er es nicht gesehen hatte, konnte er es noch nicht glauben Auch wenn der andere ihm nicht antworten konnte – so lange er ihn kannte, lag dieser aus ihm unbekannten Gründen bereits im Koma – so musste er doch seine Stimme hören und damit wissen, dass er nicht allein war und dieser Gedanke beruhigte ihn und gab ihm selbst das Gefühl, nicht mehr einsam zu sein. Deswegen war er immer hier, solange seine Freizeit es zuließ, genoss die Verbindung zwischen ihnen und die Gesellschaft, die keine wirkliche war und dachte in diesen Momenten nicht einmal mehr wirklich daran, dass sie sich hier alle in einem Gefängnis befanden, das aufgrund seiner Lage auf jegliche Gitter und Schlösser verzichten konnte. Niemand rannte davon, wenn es in jeder Himmelsrichtung viele Meilen weit nur Steppe gab, eine Savanne, in der nur dorniges Gestrüpp wuchs. Niemand verspürte Sehnsucht nach der Außenwelt, wenn sie hier lernten, dass diese grausam und bösartig war, noch mehr noch als das Leben in dieser Einrichtung. „Hier bist du also...“, erklang plötzlich eine abfällige Stimme. Er zuckte zusammen und fuhr herum. Ihm war nicht aufgefallen, dass die Tür geöffnet worden war, aber nun stand dennoch eine verkniffen aussehende ältere Frau im Rahmen. Ihre eisblauen Augen blickten ihn wie immer tadelnd über den Rand der dreieckigen Brille hinweg an, sie kannte keine Wärme und war daher auch nicht in der Lage, sie an die Kinder weiterzugeben – warum sie als Assistentin in einem Waisenhaus anfing, würde wohl auf ewig ihr Geheimnis bleiben, schon allein weil niemand dumm genug war, sie danach zu fragen. „Was gibt es, Ms. Cutter?“, fragte er höflich, um sie nicht aus Versehen wütend zu machen. Nicht selten kam es von ihrer Seite aus zu Strafen an Schülern, die manchmal regelrecht als grausam angesehen wurden. Für ihn selbst gab es nicht viel, was man ihm antun könnte, aber ihm zu verbieten, seinen Bruder zu besuchen, traute er ihr durchaus zu – und das wollte er nicht einmal riskieren. „Der Direktor möchte dich sprechen. Unverzüglich.“ Sie betonte das letzte Wort auf eine Weise, die ihm verriet, dass jeder Widerspruch nur vergeudete Zeit war und im schlimmsten Fall auch noch Ärger mit sich bringen würde, den er doch lieber vermeiden wollte. Also widersprach er erst gar nicht und hakte auch nicht nach, sondern nickte einfach. „Verstanden.“ Gedanklich verabschiedete er sich von seinem Bruder und verließ dann das Krankenzimmer. Als er an Ms. Cutter vorbeiging, roch er ein überaus aufdringliches Parfüm, das ihm den Magen umdrehte, weswegen er fast schon froh war, als sich der feuchte Geruch des Gebäudes wieder in seiner Nase festsetzte. Sie waren mitten in der Savanne, aber dennoch schaffte dieses Haus es, sich einen gewissen Grad an Feuchtigkeit zu erhalten, so als ob die Einsamkeit und auch Bösartigkeit sich als Flüssigkeit in den Wänden festgesetzt hätte und nun in unregelmäßigen Abständen wieder abgegeben wurde, um die Schüler daran zu erinnern, in welcher Situation sie sich eigentlich befanden. Durch die fehlenden Fenster, da es auf beiden Seiten Türen und Zimmer gab, war der Gang stets dunkel und wurde lediglich von sacht glühenden Gaslaternen an den Wänden beleuchtet. Nach so langer Zeit, die er bereits in diesem Gebäude verbrachte – jedenfalls kam es für ihn so vor – war er allerdings daran gewöhnt und so wurde seine Sicht nicht im Mindesten eingeschränkt. Die hölzernen Dielen knarrten bei jedem Schritt, den man auf ihnen tat, ein vertrautes Geräusch, mit dem er allerdings nichts Gutes verband, denn es war immer der Vorbote von Leid und Schmerz gewesen. Wann immer man nachts im Bett lag, schlaflos im Dunkeln an die Decke blickte und dann dieses Geräusch hörte, war es nur eine Frage der Zeit, bis man den gequälten Schrei eines anderen Bewohners vernahm oder man selbst leiden musste. Alles Dinge an die er sich lieber nicht erinnerte – und doch kam es ihm stets ins Gedächtnis, wann immer er dieses Knarren hörte. Andere Menschen, so sollte er noch erfahren, verbanden mit einem Waisenhaus viele Kinder und vor allem Lärm. Aber in diesem suchte man die Geräusche spielender Kinder vergeblich, es gab kein Lachen und nicht einmal Gespräche. Jeder war für sich, beschäftigt nur mit dem, was gerade im Unterricht aktuell war und auch außerhalb dieser Zeiten noch einmal verinnerlicht wurde. Wenn er sich zu entsinnen versuchte, müsste er zugeben, dass er von keinem seiner Mitschüler den Namen kannte – und dass er sie auch gar nicht kennen wollte. Er war nur überzeugt, dass es in jeder Woche weniger wurden, aber er war sich nicht sicher, ob es mit bestimmten Gerüchten zu tun hatte, die man sich so im Haus erzählte, deswegen redete er sich einfach ein, dass er lediglich ein schlechtes Gedächtnis besaß und niemand verschwand. Nicht einmal die Namen der Lehrer konnte er sich merken oder deren Gesichter, dabei gab es ohnehin nur sehr wenige von ihnen an diesem Ort, zwei oder drei, wenn er sich nicht täuschte. Erst als er ins Erdgeschoss kam, wo sich auch das Büro des Direktors befand, gab es mehr Licht. Die Gaslaternen leuchteten an diesem Ort wesentlich heller, damit eventuelle Besucher keinen falschen Eindruck bekamen, jedenfalls ging er davon aus, auch wenn er sich an keinen einzigen Gast erinnern konnte. Seit er hier war, hatte es niemals irgendeinen Besucher hierher verschlagen, nie war eines der Kinder adoptiert worden. Unter anderen Umständen wäre ihm das seltsam vorgekommen, aber da er es gar nicht anders kannte, kümmerte es ihn gar nicht weiter. Das Büro des Direktors, das er nach einem kurzen Klopfen betrat, war das vollkommene Gegenteil des restlichen Gebäudes. In allen Räumen war die nackte, unverkleidete Wand zu sehen, die ein Gefühl von Kälte verbreitete, selbst in den Schlafsälen, doch im Büro zierte eine helle, freundliche Tapete die Wände, so dass es dem Licht der gelben Lampe leichtfiel, das Zimmer zu erhellen. Die Stühle waren mit bequemen, weinroten Polstern bezogen, damit man selbst beim längeren Sitzen keine Schmerzen bekam, wie es bei den sonstigen Sitzgelegenheiten üblich war. Der große Schreibtisch, auf dem wie jedes Mal allerlei Akten aufgestapelt waren, war das mit Abstand neueste und modernste im gesamten Waisenhaus. Manchmal fragte er sich, was wohl in diesen Akten stehen mochte, warum man so viel über Kinder aufschrieb, die nie etwas anstellten, aber natürlich las er diese niemals und er fragte nicht einmal, was wohl ihn seiner vermerkt worden war. Normalerweise erwartete der Direktor ihn bereits mit einer Kanne dampfenden Tees und einem Teller frischgebackener Kekse, um ungezwungen mit ihm über die letzte Zeit zu sprechen. Man könnte es als schöne Gelegenheiten beschreiben, aber so freundlich dieser Mann auch war, von ihm ging Einsamkeit und Kälte aus – er war das Zentrum des Bösen, das in diesem Haus herrschte, davon war er überzeugt, egal wie nett der Direktor sich ihm gegenüber gab. Dennoch konnte er nicht gehen. Da war sein Bruder, der ihn brauchte, außerdem befanden sie sich mitten in der Savanne, ohne jede Menschenseele weit und breit – und noch dazu kannte er die Welt dort draußen nicht und das Unbekannte machte ihm mehr Angst, als alles, was sich in diesen vertrauten Wänden befand. An diesem Tag gab es keinen Tee und auch keine Kekse, dafür war er nicht allein mit dem Direktor. Auf zwei der drei Stühle, die vor dem Schreibtisch standen, saßen zwei Jungen, die älter waren als er, weswegen er sie nicht einmal vom Sehen aus dem Klassenzimmer kannte. Da jeder immer für sich blieb und es auch mehrere Schlafräume und unterschiedliche Essenszeiten gab, wusste er auch nicht, ob sie vielleicht in einem der anderen Jahrgänge waren, aber das musste so sein, denn niemand verirrte sich einfach so in diese Gegend. Der ältere der beiden Jungen hatte weißes Haar, das größtenteils von einer schwarzen Mütze verdeckt wurde, die goldenen Augen blickten abweisend und desinteressiert. Der jüngere sah mit seinem braunen Haar und den grünen, scheu niedergeschlagenen Augen wesentlich normaler aus, wären da nicht die Verbände an seinen Unterarmen gewesen, die auf zahlreiche Verletzungen hinwiesen. Im ersten Moment konnte er diesen Jungen deswegen nur ansehen und sich fragen, was ihm wohl zugestoßen sein mochte, ob es sich dabei um vom Personal verursachte Verletzungen handelte – oder ob das Gerücht wirklich der Wahrheit entsprach und das Waisenhaus seine Kinder aussandte, um zu kämpfen. „Bitte, setz dich doch.“ Die Stimme des Direktors lenkte seine Aufmerksamkeit auf diesen. Er saß hinter dem Schreibtisch und betrachtete alle Personen vor sich interessiert und gleichzeitig amüsiert. In gewisser Weise hatte er durchaus Ähnlichkeit mit dem älteren Jungen, jedenfalls waren die goldenen Augen gleich – aber das silber-graue Haar des Direktors war zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er folgte dem Geheiß, sich zu setzen, um zu erfahren, was vor sich ging. „Mein Lieber“, fuhr der Direktor fort, „darf ich dir die beiden Besucher vorstellen?“ Er deutete auf den Weißhaarigen. „Das hier ist Lunaris.“ Der Erwähnte wandte mit einem Schnauben den Blick ab. Der Direktor deutete auf den anderen Jungen. „Und das ist Solaris.“ Dieser zeigte sich wesentlich sozialer, indem er dem Neuankömmling kurz zunickte, was dieser erwiderte. „Du fragst dich sicherlich, warum ich dich den beiden vorstelle. Der Grund ist ganz einfach: Die beiden sind mein bestes Team, aber ich denke, ein Trio wäre besser.“ Fragend hob er die Augenbrauen, wagte aber nicht, seine Gedanken laut auszusprechen, aber das musste er auch nicht, denn der Direktor reagierte von selbst: „Ich brauche ein Team für verschiedene Aufträge, die ich zu vergeben habe. Mein letztes Team leistete gute Arbeit ... aber leider sind sie nicht mehr abkömmlich.“ Der Direktor sprach nicht aus, was mit dem Team geschehen war, aber er konnte es sich auch so denken. Menschen sterben, das war seit dem Anbeginn der Zeit ein natürlicher Prozess und würde auch immer so bleiben, so viel hatte er bereits durch den Unterricht gelernt und deswegen gab es für ihn keine Fragen mehr bezüglich des Teams. Er wunderte sich vielmehr über die Aufträge, von denen er das erste Mal in wirklich bestätigter Form von einer Autoritätsperson hörte. Lunaris schnaubte noch einmal. „Ich glaube nicht daran, dass der Kerl uns helfen kann. Der hat doch in seinem ganzen Leben noch keine Waffe in der Hand gehabt.“ „Ist das wahr?“, fragte Solaris sanft und wandte sich direkt an denjenigen, über den gesprochen wurde. Dieser blickte unsicher zwischen den beiden hin und her, da er immer noch nicht so recht verstand, worum es überhaupt ging. „Na ja ... ich hab schon mit Messern hantiert ... beim Essen und so ...“ Derartige Werkzeuge konnten immerhin ebenfalls als Waffen verwendet werden – aber an Lunaris' abfälligem Schnauben und Solaris' amüsierten Lachen bemerkte er, dass das nicht unbedingt einer der gefragten Gegenstände war. Keiner der beiden bot eine Erklärung an, aber der Direktor fuhr bereits, ungeachtet dessen, fort: „Natürlich wird er zuvor ausführlich getestet werden – aber ich wollte, dass ihr ihn vorher schon einmal seht und er euch kennenlernt.“ „Getestet?“, fragte er. Seine anhaltende Verwirrung und diese Plötzlichkeit, mit der die Ereignisse ihn zu überrollen drohten, verhinderten, dass er das alles überhaupt verarbeiten konnte. All die Jahre war nie wirklich etwas geschehen und nun alles auf einmal ... Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte und obwohl es gleich war, was der Direktor ihm antworten würde, gab es für ihn ohnehin keine andere Wahl als dem zuzustimmen. Er war überzeugt, dass er, falls er ablehnen würde, ohnehin nicht mehr lange leben würde und das wollte er nicht einmal riskieren. „Jeder, der für meine Aufträge entsendet wird, begibt sich in große Gefahr.“ Das klang vernünftig, wie er fand, immerhin hatte er im Unterricht ein Sprichwort gelernt: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. „Um sicherzugehen, dass meine Leute dem gewachsen sind, müssen sie zuvor einen ganz besonderen Test bestehen.“ Auch das klang äußerst durchdacht und wie ein gutes System. Aber er wusste nicht, ob er wirklich bereit für so etwas war, immerhin war er noch nie zuvor einer Bedrohung ausgesetzt gewesen – jedenfalls nicht soweit er sich erinnerte. Das Leben in diesem Waisenhaus war nicht sonderlich schön, aber es war sicher, sofern man keine Probleme machte. Andererseits war es möglicherweise seine einzige Möglichkeit, hier herauszukommen und seinem Bruder einmal von der Außenwelt zu erzählen, es gab also kaum etwas zu verlieren und dafür so viel zu gewinnen. Und wer wusste schon, wie lange er hier noch sicher sein würde, wenn er nicht etwas zur Zufriedenheit des Direktors erledigte. „In Ordnung, ich mache es.“ Sogar Lunaris wandte ihm wieder den Blick zu, als er den entschlossenen Ton in seiner Stimme bemerkte, allerdings wirkte er immer noch desinteressiert – es würde wohl mehr brauchen, um diesen Jungen davon zu überzeugen, dass er ein vollwertiges Teammitglied sein könnte. Solaris schien schon eher angetan, der erste Eindruck, dass er der sanftere der beiden war, bestätigte sich darin wohl. Der Direktor lächelte sichtlich zufrieden, auch wenn seine Augen immer noch ein kaltes Glitzern beherbergten. „Willst du denn nicht erst wissen, was für einen Test du durchstehen musst?“ Es war für ihn nur zweitrangig, in erster Linie stand immer noch sein Bruder, aber das wollte er nicht alles erläutern, deswegen nickte er lediglich. „Oh, sehr schön.“ Der Direktor lehnte sich zufrieden zurück. „Dein Test wird genau wie der aller anderen in einer extra dafür eingerichteten Einrichtung stattfinden – und zwar direkt heute Nacht.“ Kapitel 2: Die Prüfung ---------------------- Da er an einem Ort aufgewachsen war, den man mit Fug und Recht als unheimlich bezeichnen konnte, war er bislang davon ausgegangen, dass es nichts gab, das ihm noch mehr Furcht einjagen könnte. Doch nun stand er hier, mitten in der Nacht, vor einem Gebäude, das geradezu das stofflich gewordene Sinnbild von Grusel zu sein schien. Drohend ragte das schwarz gestrichene Haus in den Nachthimmel, das Mondlicht, das einen riesigen Schatten erzeugte, sorgte nicht für Beruhigung, sondern verstärkte die unheimliche Atmosphäre. Es beleuchtete das windschiefe Dach, in dem einzelne Ziegel fehlten, die schräg in den Angeln hängenden Fensterläden quietschten leise im aufgekommenen Wind. Ein unangenehm kalter Schauer lief ihm den Rücken hinab. „Und was soll ich da drinnen tun?“ Der Direktor lächelte überaus freundlich. „Du wirst hineingehen und einen bestimmten kleinen Behälter finden, den du mir herausbringen wirst. Er ist aus Edelstahl und darauf steht NI 23-1. Wo genau er sich befindet, kann ich dir nicht sagen, aber ich vertraue darauf, dass du ihn schon finden wirst.“ Er wollte fragen, warum er mit so etwas beauftragt wurde, was es beweisen sollte und warum sonst niemand hineingegangen war, um den Behälter zu holen – aber möglicherweise gab es einen bestimmten Grund, weswegen das alles auf diese Art ablief und er verstand ihn lediglich nicht. „Uhm, gut, werde ich machen.“ Auf den ersten Blick schien es immerhin leicht genug, also gab es keinen Grund, das abzulehnen. „Dann los, los“, sagte der Direktor lächelnd. „Beeil dich lieber, mein Bester, du hast nur bis Sonnenaufgang Zeit.“ Er atmete tief durch und betrat das Haus, auch wenn sein Magen noch so sehr dagegen zu rebellieren und an etwas zu erinnern versuchte. Aber die Erinnerung sprach nicht zu ihm, deswegen schob er das Gefühl erst einmal fort. Als die Tür mit einem lauten Geräusch hinter ihm zufiel und dieses verklang, schien es ihm als würde die Stille schwer auf seinen Ohren lasten. Es dauerte einen kurzen Moment, ehe er das Blut in seinen Ohren rauschen hören konnte, ein unangenehmes Geräusch, das ihn daran erinnerte, wie nervös er war und dass er vollkommen allein war – zum allerersten Mal in seinem Leben. Auch wenn man im Waisenhaus einsam war, gab es immer noch andere Bewohner, die einfach nur in anderen Zimmern saßen, aber immer noch da waren. Um seinem Herzen Zeit zu geben, sich zu beruhigen, ließ er den Blick umherhuschen, um so viel wie möglich von dem aufzunehmen, was das einfallende Mondlicht ihm enthüllte. Er stand neben einem Empfangsschalter, der unbesetzt war, das aufgeschlagene Buch verriet, dass der letzte Besuch schon zwei Jahre her war, aber dennoch gab es keinerlei Staub auf den Seiten oder dem Tresen selbst. Auch die hölzernen Bodendielen wirkten frisch gewischt und selbst in den Ecken waren keinerlei Spinnweben zu entdecken, jemand kümmerte sich offenbar darum, alles an diesem Ort sauber zu halten. Nur die äußere Fassade interessierte wohl niemanden. Eine Sitzgruppe lud zum Ausruhen ein, eine Tür im hinteren Teil des Raumes war geschlossen und er wusste instinktiv, dass er dort auch gar nicht reingehen sollte. Fast schien es ihm, als wäre er schon einmal hier gewesen und würde sich nur nicht mehr daran erinnern können. Sein Blick ging weiter an der Wand entlang, bis er zu einer hölzernen Treppe kam, an deren oberen Ende eine Galerie zu sehen war, die wiederum zu einer weiteren Tür führte – und diese empfand er als sein erstes Ziel. Es war lediglich ein Gefühl, aber er war sich ziemlich sicher, dass er dort das finden würde, wonach er suchen sollte. Woher diese Ahnung kam, wusste er zwar selbst nicht so genau, aber sie war da und nur das zählte für ihn. Dieser Eingebung folgend, ging er hinauf und durch die dortige Tür. Dahinter tat sich ein Gang auf, der nur notdürftig vom Mondlicht erhellt wurde, aber es genügte, dass er mehrere Türen auf beiden Seiten erkennen konnte, von denen manche auch geöffnet waren. Viel wichtiger als das, was er sehen konnte, war allerdings das, was er spüren konnte. Er war bei weitem nicht das einzige Lebewesen an diesem Ort, stattdessen spürte er die Präsenz von anderen Menschen. Zumindest glaubte er, dass es sich um solche handelte, aber sie strahlten eine Aura ab, die er noch nie zuvor gespürt hatte. Sie war leer, ein unbefülltes Gefäß, ohne jegliche Emotionen, stumpf und primitiv. Auch wenn er so etwas noch nie zuvor gespürt hatte, wusste er sofort, dass er vorsichtig sein musste, als er weiterlief. Er warf Blicke in die offenen Zimmer hinein, die allesamt verwüstet waren. Obwohl er keine spezielle Einrichtung erwartet hatte, verwunderte es ihn doch ein wenig, Büros vorzufinden, deren Tische und Stühle umgeworfen worden waren, sämtliche Dokumente, die einmal gut sortiert gewesen sein mussten, waren wild verstreut worden. Nichts davon wirkte so als wäre es von jemandem auf der Suche nach etwas in großer Eile durcheinandergeworfen worden, vielmehr machte es auf ihn den Eindruck, dass es ... einfach so geschehen wäre, aus Wut, Frustration oder vielleicht sogar aus Spaß. Seine Ahnung riet ihm aber, weiterzugehen und mit jedem Schritt, näherte er sich einem seltsamen, schmatzenden Geräusch, das er im Moment nicht einordnen konnte. Aber er glaubte zu wissen, dass er damit nichts Gutes, sondern etwas Furchterregendes verbinden musste. Schließlich, an der letzten Tür angekommen, hielt er wieder inne. Dort war das Geräusch am lautesten, aber auf den ersten Blick war dort nichts anderes zu sehen als in den vorigen Zimmern. Nur einer der Tische lag anders als zuvor und er war sich ziemlich sicher, dass der Ursprung des Geräuschs dahinter lag. Plötzlich war er sich aber gar nicht mehr so sicher, ob er wirklich wissen wollte, was dahintersteckte. Es war eines jener Lebewesen, das keinerlei Emotionen beherbergte, das konnte er eindeutig wahrnehmen, aber er spürte auch einen seltsamen Schauer, der über seinen Rücken lief und das ihn davon abhalten wollte, näherzugehen. Diesem Gefühl folgend, wollte er sich gerade wieder umdrehen, als sein Blick auf den Aktenschrank an der hinteren Wand fiel und er spürte, wie er blass wurde. Auf dem Schrank, fast so als wäre er dort extra platziert worden, stand der gerade einmal fingergroße Behälter, den er suchen sollte, also musste er dort nach hinten, auch wenn er eigentlich nicht wollte. Selbst auf diese Entfernung konnte er die angebrachten Buchstaben und Zahlen erkennen, als wären sie mit Leuchtbuchstaben geschrieben worden. Ihm schien sogar, der Behälter würde ihn verspotten, was ihn mit Ärger erfüllte, allerdings mehr auf die Person, die diesen wohl einstmals dort aufgestellt haben mochte. Obwohl er wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb, stand er eine Weile unschlüssig da und überlegte, ob er nicht vielleicht doch lieber wieder gehen sollte. Aber die Strafe für seinen Ungehorsam wollte er sich gar nicht erst vorstellen, also hatte er wirklich keine Wahl, als endlich weiterzumachen und zu hoffen, dass sein Zögern keine schlechte Wertung nach sich ziehen würde. Mit vorsichtigen, langsamen Schritten, ging er hinein. Das andere Wesen schien ihn nicht zu bemerken, auch nicht, als die Bodendielen unter ihm leise knarrten, deswegen wurde er ein wenig mutiger und lief schneller, zwang sich dabei jedoch, die Augen stur auf den Behälter gerichtet zu lassen. Er war zwar neugierig, was das für ein Wesen sein mochte, aber die Furcht vor dem, was er sehen könnte, war größer, denn aus irgendeinem Grund glaubte er zu wissen, was es war und was es mit diesem Geräusch auf sich hatte. Am Schrank angekommen, steckte er das Gefäß mit zitternden Händen ein. Nichts kam aus einer dunklen Ecke hervor, um ihn anzugreifen oder gar ein Stück von ihm abzubeißen, so wie die Bilder vor seinem inneren Auge es prophezeiten, aber es erforderte dennoch seinen ganzen Mut, sich wieder umzudrehen, damit er den Raum verlassen konnte. Noch immer bemerkte das andere Wesen ihn nicht. Doch schließlich siegte seine Neugier und gegen seinen Willen, wandte er den Kopf in die Richtung dieses Geräuschs – nur um vor Schreck in eine Starre zu fallen. Auf dem Boden lag eine fast nicht mehr zu erkennende Gestalt, die kaum noch aus Fleisch bestand, aber dennoch einmal ein Mensch gewesen sein musste. Über ihr kniete ein richtiger Mensch, der zwar wie einer aussah, aber gleichzeitig auch nicht, er war nackt, besaß aber keinerlei Geschlechtsmerkmale. Es war das leere Gefäß, das er zuvor wahrgenommen hatte, die Haut war dermaßen blass, dass man glauben könnte, dieses Wesen wäre seit Tagen tot und würde nur noch aus Unwissenheit darüber herumlaufen – und es fraß das Fleisch des vor ihm liegenden Menschen. Ein scharfer Schmerz zuckte durch seinen gesamten Körper, als er das beobachtete und er stieß ein leises, gepeinigtes Stöhnen aus, das laut genug war, um das Wesen auf ihn aufmerksam zu machen. Als es den Kopf hob, blickte er in überraschend helle, aber dennoch glasige blaue Augen, in denen er nichts außer Gier lesen konnte. Alles an diesem Wesen erinnerte ihn an das, was sein Lehrer einmal Zombie genannt hatte, es war ein Untoter und er hatte Hunger auf frisches Fleisch – und er war im Moment die einzige Quelle dafür. Noch ehe er reagieren konnte, stürzte das Wesen sich auf ihn. Durch den Wucht des Aufpralls stürzte er rückwärts und prallte hart mit dem Rücken auf den Boden, der unter dem Gewicht der beiden nachgab. Ein lautes, ohrenbetäubendes Geräusch ertönte, während sie in das untere Stockwerk fielen, der aufgewirbelte Staub ließ ihn heftig husten, wobei seine Brust und sein Rücken heftig schmerzten, hatte aber keinerlei Einfluss auf seinen Angreifer, der geifernd versuchte, an das weiche Fleisch seines Halses zu kommen. Er hielt den anderen so gut er konnte auf Abstand, versuchte, zu überlegen, was er nun tun sollte. Irgendwo tief in seiner Erinnerung glaubte er, eine solche Situation schon einmal erlebt zu haben. Verschwommen, undeutlich, sah er dieses Wesen, in einer wesentlich besseren Verfassung als im Moment, über sich, genau wie in diesem Moment, die Augen, die ungeheuer tief in den Höhlen lagen, waren jedenfalls genau dieselben. Er spürte einen heftigen Schmerz in seinem Hals und glaubte für einen kurzen, furchteinflößenden Moment, er wäre gebissen worden und müsste nun alle Hoffnung aufgeben und zu einem der ihren werden. Aber als das Gefühl verblasste, wurde ihm bewusst, dass dies nur eine Erinnerung gewesen war, er hielt den Zombie immer noch auf Abstand, indem er dessen Kopf mit der Hand unter dem Kinn wegdrückte. In dem Augenblick, in dem die Erinnerung sich gänzlich zurückgezogen hatte und er sich der Situation wieder bewusst war, schien die Realität an mehr Schärfe als gewöhnlich zu gewinnen. Ihm war als würde sich sein Blickfeld erweitern und entdeckte so, nicht weit entfernt von sich, eine spitz zulaufende Eisenstange – und er wusste sofort, was damit zu tun war. Er streckte den Arm aus, ergriff die Stange und rammte sie ohne zu zögern durch den Kopf des Zombies. Mit einem kraftlosen, letzten Stöhnen fiel dieser zur Seite, die weit aufgerissenen Augen ins Nirgendwo gerichtet. Plötzlich war es geradezu unheimlich still, weswegen er umso lauter atmen musste, um das zu kompensieren. Er blieb direkt neben dem Wesen liegen, starrte nach oben, durch das Loch in der Decke und wartete darauf, dass sein aufgeregter Herzschlag sich wieder beruhigte. Ich habe gewonnen ... ich lebe ... ich lebe ... Ein tiefes, erleichtertes Seufzen kam aus seiner Kehle und wieder erwachte eine Erinnerung in ihm, die ihm zeigte, dass er das schon einmal geschafft hatte, obwohl er ganz sicher das allererste Mal an diesem Ort war – und auch bestimmt noch niemals einem Zombie begegnet war. Aber seine Gedanken wurden unterbrochen, als er plötzlich ein weiteres, leeres Stöhnen hörte und er noch mehr dieser unbefüllten Gefäße spüren konnte. Er musste hier raus, bevor einer von ihnen ihn aufspüren und doch noch fressen konnte, so wie unzählige Erinnerungssplitter ihm in diesem Moment glauben machen wollten. Während er aufstand, stellte er sicher, dass er den Behälter noch bei sich trug, dann huschte er zur Tür, die er inmitten der Trümmer der ehemaligen Decke und all den Kisten ausfindig machen konnte. Auf dem Gang konnte er keines dieser Wesen spüren, er vermutete, dass sie sich in anderen Zimmern befanden und dort ... Was sie dort tun könnten, wusste er nicht, aber er konnte sich denken, dass sie sich nicht langweilten, falls sie dieses Gefühl überhaupt noch kannten. Er öffnete die Tür und spähte in den dunklen Gang, wo wirklich nichts und niemand zu sehen war. Leises Stöhnen erklang aus den anderen Räumen, rastlose und dennoch gleichgültige Bewegungen wie von einem erwachenden Organismus, der in seinem langen Schlaf gestört worden war, wurden hörbar. Sein Verlangen, diese anderen Wesen kennenzulernen, hielt sich allerdings in Grenzen und so orientierte er sich lediglich in Richtung der Tür, die ihn zurück in den Eingangsbereich bringen würde, ehe er hastig loslief. Gleichzeitig mit seinen Fußschritten, wurden unzählige andere Geräusche wach. Die Wesen hörten ihn und seine Anwesenheit ließ sie ihre Trägheit und Müdigkeit vergessen. Sie erreichten ihre Türen in dem Moment, in dem er die zum Eingangsbereich hinter sich zuschlug. Ohne zu zögern hastete er weiter auf den Ausgang zu. Ein Erinnerungssplitter, der sich ihm in den Fuß bohrte, ließ ihn beinahe stolpern, dabei bemerkte er einen dunklen Fleck auf dem Boden, der ihm zuvor nicht aufgefallen war und noch mehr Schmerzen durch seinen Körper jagte. Er verdrängte den aufkeimenden Gedanken und die dazugehörige Erinnerung und riss die Tür nach draußen auf. Kalte Nachtluft strömte herein und machte ihm erstmals bewusst wie sehr er geschwitzt haben musste. Kaum war er über die Schwelle des Hauses geschritten, kam er doch noch ins Stolpern und so landete er vor dem gelangweilt aussehenden Direktor auf den Knien. Tief durchatmend versuchte er erneut, seinen Herzschlag zu beruhigen, ohne sich dabei umzusehen, denn irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm, dass diese Wesen ihm ohnehin nicht nach draußen folgen würden. Die Furcht vor der Außenwelt hielt sie im Gebäude, zumindest jetzt noch. Eines Tages jedoch ... Er beendete den Gedanken nicht, sondern stand auf und griff in seine Tasche, um dem Direktor den Behälter zu überreichen, damit der Eindruck und die endgültige Bewertung nicht noch schlimmer ausfallen würde, als es bislang der Fall sein dürfte. „Oh, ich bin wirklich sehr zufrieden mit dir“, sagte der Mann allerdings lächelnd, während er den gesuchten Gegenstand in seiner Hand hin und her drehte. „Was ... ist es denn?“, fragte er zögernd. Nachdem er nun sein Leben riskiert hatte, um den Behälter aus diesem Gebäude zu holen – und das vermutlich nicht zum ersten Mal, wenn er den Erinnerungssplittern glauben durfte – war er doch interessiert daran, was sich eigentlich darin befand und warum es so wichtig war. Noch immer lächelnd blickte der Direktor nun ihn an. „Neugier ist der Katze Tod, mein Lieber.“ Also würde er keine Antwort bekommen, wie er mit einem inneren Seufzen feststellte. „Aber du hast wirklich wunderbare Arbeit geleistet – also wirst du ab morgen ein Teil des Teams von Lunaris und Solaris werden.“ Ob er sich darüber freuen sollte, wusste er nicht so recht, aber immerhin war es das gewesen, was er gewollt hatte, denn es bedeutete, dass er das Waisenhaus verlassen und die Welt erkunden könnte – und das war doch immerhin eine gute Sache. Andererseits gab es da draußen aber auch Gefahren, die nicht zu unterschätzen waren und eigentlich wollte er nicht noch einmal in solche Situationen wie in dieser Nacht geraten. Den Kopf in den Nacken gelegt, entfuhr dem Direktor schließlich ein zufriedenes Seufzen. „Ich denke, ich habe jetzt auch einen Namen für dich, mein Bester.“ Während der Mann sprach, fuhr er selbst herum, damit er zum Eingang des Gebäudes zurücksehen konnte. Er glaubte, das frustrierte Stöhnen Verhungernder zu hören, die erkannt hatten, dass ihre schon sicher geglaubte Beute wieder entwischt war. Er empfand ein wenig Mitleid mit ihnen, aber nicht genug, um sich als kostenloses Festmahl anzubieten. Also blieb ihm nur die Hoffnung, dass irgendjemand sich darum kümmern würde, dass es ihnen bald besser ging oder sie zumindest befreit waren. „Der perfekte Name für dich lautet-“ Kapitel 3: Ein neuer Name ------------------------- „Das hier ist also euer neuer Partner, Stellaris.“ Der Direktor klopfte ihm mit einem Lächeln auf die Schulter, während er den anderen beiden gegenüberstand, die ihn kaum unterschiedlicher hätten aufnehmen können. Während Lunaris mit gelangweilt vor der Brust verschränkten Armen, den Kopf ein wenig gesenkt hielt, lächelte Solaris ihm freundlich entgegen. Stellaris ... der Name war perfekt für dieses Trio und dennoch war der Klang für ihn ungewohnt, denn er hatte kaum etwas mit seinem alten Namen gemein. Doch der Direktor hatte ihm bereits eindrücklich klargemacht, dass er von nun an nicht mehr auf diesen, sondern nur noch auf Stellaris hören sollte und da er schon sein ganzes Leben lang tat, was dieser Mann ihm sagte, gab es für ihn diesbezüglich keine Fragen mehr. Glücklicherweise besaß er ja auch keine Freunde, die sich daran stören könnten und sein Bruder schlief immer noch. „Ich hoffe, ihr werdet freundlich zu ihm sein“, sagte der Direktor noch, ehe er sich lächelnd verabschiedete und sie alleinließ. Unangenehmes Schweigen breitete sich im Raum aus, kaum dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Stellaris wusste nichts zu sagen, Lunaris wollte offensichtlich nicht und Solaris wartete darauf, dass die anderen ihre Stimmen erhoben. Da dies allerdings nicht geschah, übernahm er schließlich doch das Wort: „Schön, dich bei uns begrüßen zu dürfen, Stellaris.“ Er wollte gerade etwas darauf erwidern, als Lunaris wütend schnaubend den Kopf zurückwarf. „Das ist so sinnlos. Er wird ohnehin nicht lange bei uns bleiben.“ Bei diesen Worten glaubte er, sich erneut an etwas zu erinnern, ein weiterer Erinnerungssplitter, der ihm zeigte, wie Lunaris ihn mit einem leichten Lächeln willkommen hieß. Es war ein erstaunlicher Gegensatz zu seinem jetzigen Verhalten. Er wunderte sich über diese Splitter, aber er wagte nicht, einen Lehrer oder den Direktor danach zu fragen, aus Furcht vor der etwaigen Reaktion. Auch bei diesen beiden wollte er das nicht direkt ansprechen, damit sie ihn nicht von Anfang an als seltsam einstufen würden, es sei denn, er würde mit dem gefassten Solaris in Ruhe reden können. „Es wäre mir übrigens lieber, wenn du mich nicht Lunaris nennen würdest“, brummte dieser, statt zu lächeln. „Ich hasse diesen Namen. Nenn mich gefälligst Lloyd.“ „Klar, wie du willst.“ Es brachte wohl vermutlich ohnehin nichts, zu widersprechen, es war besser, dem einfach zuzustimmen und zu hoffen, dass er dann besser gelaunt sein würde, wenn er ihn mit dem Namen ansprach, der ihm gefiel. Außerdem war Lloyd wirklich eine einschüchternde Persönlichkeit, der er sich gar nicht widersetzen wollte, obwohl er glaubte, sich einmal gut mit ihm verstanden zu haben. Er blickte zu Solaris hinüber. „Und bei dir?“ Besser er stellte gleich sicher, dass er nicht irgendwann in die Situation geraten würde, in der er direkt in ein Fettnäpfchen trat – und wenn das Thema schon einmal auf dem Tisch lag ... „Solaris ist in Ordnung für mich“, antwortete er. „Ich habe ohnehin keinen anderen Namen auf den ich hören könnte.“ Er wirkte nicht im Mindesten bedrückt über diese Tatsache, aber wenn man daran gewöhnt war, konnte Stellaris sich gut vorstellen, dass es nicht störte. Lloyd dagegen schien älter, also hatte er wohl länger unter seinem Namen gelebt. „Hast du sonst noch Fragen?“, wollte Solaris wissen. Lloyd schnaubte leise, sagte etwas, das sich nach „Ich habe keine Zeit für diesen Schwachsinn“ anhörte und verließ das Zimmer eilig. In seinen Erinnerungssplittern wirkte der andere nicht so mürrisch, weswegen er nicht nachvollziehen konnte, weswegen Lloyd sich ihm gegenüber so verhielt. Aber vielleicht konnte er das in einem Gespräch mit dem eher umgänglichen Solaris herausfinden. „Wie lange seid ihr denn schon Partner?“, fragte Stellaris. „Oh.“ Der Gefragte neigte den Kopf und blickte nachdenklich zur Decke. „Schon mindestens drei Jahre. Ich weiß nicht genau. Wenn man zwischen diesem Ort und der Außenwelt umherreist, kommt es einem vor, als vergisst man, wie viel Zeit vergeht.“ Er lächelte entschuldigend, so dass Stellaris an diesem Punkt nicht weiter nachhakte. „Und was macht ihr so, wenn ihr nicht hier seid?“ „Verschiedene Dinge. Je nachdem, was der Auftrag verlangt.“ Mehr als diese ausweichende Antwort wollte Solaris offenbar nicht geben, sein Blick huschte nervös zur Seite. Aber das genügte, um ihm zu sagen, dass es manchmal nicht sonderlich angenehme Dinge waren, die da verlangt wurden. Er würde sich wohl überraschen lassen müssen und hoffen, dass seine Ausbildung gut genug für all das war. Vielleicht würden die Erinnerungen ihm auch weiterhelfen oder er war ein Naturtalent, was natürlich eine sehr schöne Alternative wäre. „Sag mal ...“, begann er schließlich die letzte Frage, die ihm einfiel und die er ohnehin hatte stellen wollen, wenn er mit Solaris allein war, „kann es sein, dass wir uns schon einmal getroffen haben? Ich habe da diese Erinnerungsfetzen ...“ Und er verstand keinen davon, auch wenn sie ihm bei seiner Prüfung eine äußerst praktische Hilfe gewesen waren. Aber was genau waren sie? Solaris schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Nicht, dass ich wüsste.“ Dabei wirkte er selbst ein wenig verwirrt und ratlos, vielleicht ging es ihm mit diesem Fetzen ebenso und er wollte es, zumindest im Moment, einfach nicht zugeben. „Nun, ich denke, das war meine letzte Frage. Oder gibt es noch etwas, das ich wissen müsste?“ „Vor morgen werden wir keine neue Aufgabe bekommen. Du solltest dich solange ausruhen – oh und mach dir nichts aus Lloyds abweisendem Verhalten. Es ist absolut nichts Persönliches.“ Damit hatte Stellaris auch nicht wirklich gerechnet, immerhin hatten sie bislang kaum miteinander gesprochen und auch wenn es in diesem Waisenhaus an der Tagesordnung zu sein schien, hätte es ihn doch sehr gewundert, wenn es Unsympathie auf den ersten Blick gewesen wäre. Stellaris nickte, damit sein Gegenüber wusste, dass er ihn verstanden hatte, was dieser sogleich mit einem Lächeln quittierte. „Fein, dann sehen wir uns morgen früh im Büro des Direktors. Ruh dich bis dahin gut aus.“ Er verließ ebenfalls den Raum und ließ den ratlosen Stellaris allein zurück. Was könnte es da für eine Aufgabe geben? So früh sogar ... Während Stellaris über solche Dinge nachdachte, traf Solaris in Lloyds Zimmer ein. Auch wenn dieser Begriff geschmeichelt war, denn es war nur eine Kammer unter dem Dach des Waisenhauses, es war staubig, man konnte sich nicht aufrecht stehend darin aufhalten und das einzige, was entfernt an ein Zimmer erinnerte, war der auf dem Boden liegende Schlafsack. Aber sein eigener Raum, direkt gegenüber, sah auch nicht sonderlich besser aus, daher war er das bereits gewohnt und machte sich schon lange nichts mehr daraus. Einst waren sie als Strafe an diesen Ort verbannt worden, aber es hatte nichts Lloyd saß auf dem Schlafsack, die Beine angezogen, um die Arme locker auf den Knien aufliegen zu lassen und starrte an die leere Wand. Solaris setzte sich ungebeten neben ihn, aber wie üblich störte er sich nicht daran, auch nicht, als er sich dann an ihn lehnte. „Was möchtest du?“, fragte Lloyd brummend. Auch sein abweisendes Verhalten störte Solaris nicht, denn er kannte ihn schon lange genug, um zu wissen, dass er es eigentlich nicht so meinte. „Ich dachte mir, ich sehe mal nach dir.“ „Du weißt, dass Master durchdrehen wird, wenn er das sieht.“ Der Direktor bevorzugte es normalerweise, wenn man ihn Master oder Headmaster nannte, aber kaum jemand hielt sich daran, selbst Lloyd nutzte es nur, wenn er nicht sonderlich ernst über diesen Mann sprechen wollte. Als sie noch Kinder gewesen waren, hatten sie große Furcht allein beim Gedanken an ihn gespürt. Er war ein bedrohlicher, düsterer Herrscher in einem Haus voller Leid und Schmerzen gewesen, der keinerlei Freude, und mochte sie auch noch so klein sein, gestattete. Deswegen lebten sie nun unter dem Dach, in diesen kleinen Kammern, damit sie nie vergaßen, dass es eine furchtbare Idee war, Freundschaft zu schließen oder in diesem Haus glücklich sein zu wollen. Aber das einzige, was er damit erreicht hatte war, dass die beiden noch enger zusammengefunden und gelernt hatten, es nicht mehr öffentlich zu zeigen. „Von mir aus soll er ruhig durchdrehen“, erwiderte Solaris sanft. „Ich habe keine Angst mehr vor ihm. Du bist mir wichtiger.“ Diese Erkenntnis war erst gewachsen, als sie älter geworden und die Furcht kleiner geworden war. Es gab wichtigere Dinge als Angst, das wusste er inzwischen. Außerdem war ihm durch all die Besuche in der Außenwelt klar geworden, dass sie beide allem trotzen könnten, selbst dem Direktor – und dass das Leben zu kurz war, um sich vor Furcht in eine Ecke zu kauern. Lloyd lächelte ein wenig und legte einen Arm um die Schultern des anderen. „Danke.“ Lächelnd schloss Solaris die Augen, um den kurzen Moment zu genießen, in der Hoffnung, dass der Direktor ausnahmsweise nicht auf sie aufmerksam werden würde. Stellaris hatte sich unterdessen wieder einigermaßen gefangen und den Raum aufgesucht, in dem sein Bruder lag. Wie erwartet war er immer noch nicht bei Bewusstsein, er lag blass und leblos da, genau so wie er ihn verlassen hatte, aber das störte ihn nicht weiter. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. „He~“, begann er sanft. „Ich bin wieder da. So lange war ich noch nie weg, was?“ Er lachte leise. „Ich habe jetzt einen neuen Namen bekommen, weil ich den Test des Direktors überstanden habe. Es war eigentlich nicht so schwer ... eher seltsam.“ Wieder erinnerte er sich an die Erinnerungssplitter, die ihm erst den Weg gewiesen und ihm dann das Leben gerettet hatten. Er sah den Zombie und den Toten auf dem Boden vor sich, spürte den Schmerz in seinem Rücken, die Furcht, als er zu fliehen versucht hatte ... und dazwischen fragte er sich wieder, was das für ein Behälter gewesen war, warum er ihn hatte holen müssen. Inzwischen wünschte er sich schon fast, das Haus weiter erkundet zu haben, vielleicht wäre er dann ein wenig schlauer. Oder vielleicht sogar schon tot, zischte sein Verstand ihm zu, der Direktor mochte keine allzu neugierigen Schüler, wie jeder von ihnen wusste – immerhin waren schon oft genug andere Kinder verschwunden und nie wieder gesehen worden und er glaubte nicht, dass sie alle bei irgendwelchen Missionen getötet worden waren. Zwar wurde ihnen erzählt, dass sie einfach nur adoptiert worden waren, aber keiner glaubte das, nicht zuletzt deswegen, weil nie Leute kamen, um sich die Kinder anzusehen. Und wer würde schon vollkommen blind ein Kind aus diesem Haus adoptieren? „Na ja, wie auch immer ...“ Er verwarf die düsteren Gedanken und konzentrierte sich lieber wieder auf das vor ihm liegende. „Ab morgen bin ich vielleicht für längere Zeit weg. Weil ich jetzt mit Lunaris und Solaris zusammenarbeite, werde ich wegen verschiedenen Aufträgen nach draußen geschickt.“ Erstmals spürte er ein aufgeregtes Prickeln in seinem Innerem, das er nicht identifizieren konnte. Es war keine Angst, eher ... Vorfreude auf das Unbekannte. Inzwischen war er überzeugt, dass nichts, was dort draußen war, schlimmer sein konnte als das, was man in diesem Gebäude empfand, nicht einmal diese Untoten, denn die konnte man immerhin töten – die Bosheit, die dem Haus innewohnte dagegen, war unzerstörbar. Davon war er inzwischen, vor allem durch die letzte Nacht, überzeugt und immerhin wäre er nicht allein. Lloyd und Solaris, die schon oft dort draußen gewesen waren, würden bei ihm sein und mindestens einer der beiden wäre sicher bereit, auf ihn aufzupassen. Er fürchtete nicht, zu sterben, hatte keine Angst mehr, wenn er an das Unbekannte dachte. „Und wenn ich wiederkomme, werde ich dir viele Geschichten von draußen, von richtigen Menschen, erzählen können.“ Sicher, die Bewohner des Waisenhauses waren auch richtige Menschen, aber gleichzeitig – davon war Stellaris überzeugt – waren sie auch anders. Man musste einfach anders sein, wenn man an solch einem Ort aufwuchs. Die Möglichkeit, dass überall Bosheit, Hass und Furcht herrschten, zog er nicht einmal in Betracht, irgendwo anders musste es einfach besser sein, es konnte nicht überall so sein wie an diesem Ort. Und inzwischen konnte er es kaum erwarten, wirklich nach draußen zu kommen und so viel mehr zu sehen. „Die Geschichten werden dir bestimmt gefallen, da bin ich mir sicher.“ Auch wenn er nie ein Zeichen von sich gab, Stellaris wusste, dass er ihm zuhörte, wo auch immer er sich gerade befinden mochte. Vielleicht würden diese Geschichten auch helfen, ihn wieder zurückzuholen, eines Tages. Wenn er wusste, was diese Welt alles zu bieten hatte, würde er vielleicht irgendwann die Augen aufschlagen, um alles selbst erleben zu können. „Am besten, ich erzähle dir aber erst mal, wie der Auftrag gelaufen ist. Also ...“ Kapitel 4: Schlafende Drachen soll man nicht wecken --------------------------------------------------- Stellaris konnte sich gar nicht entscheiden, wohin er zuerst sehen sollte. Ihm war nie bewusst gewesen, dass sich so nah am Waisenhaus ein Bahnhof befand. Ein kleiner zwar, der nur einen elektronischen Fahrkartenschalter und keinerlei Personal besaß, aber immerhin ein Bahnhof, eine Verbindung zur Außenwelt über die man überallhin gelangen könnte, wie er glaubte. Fasziniert betrachtete Stellaris die ausgehängten Fahrpläne, die im Sonnenlicht längst ausgebleicht waren, genau wie jene Dinge, die am schwarzen Brett angebracht waren. Nichts davon war noch lesbar, dennoch stand er eine Weile davor und versuchte sich vorzustellen, was auf all diesen Blättern einst gestanden haben mochte. Was könnte man in dieser Einöde wohl verkünden wollen? Auf wessen Reaktion hoffte man in einer Dornensavanne, in der selbst die einheimischen Tiere bevorzugten, zu schlafen? Der Direktor hatte ihnen einen Auftrag gegeben, der sie zu einer weiter entfernten Stadt führte. Woraus genau die Mission bestand, wusste er aber nicht so recht, denn eigentlich war Lloyd alles anvertraut worden und er sollte es seinen Teamkameraden während der Fahrt vermitteln. Laut den Worten des Direktors diente das der Zeitersparnis, aber Stellaris zweifelte daran. Natürlich widersprach er aber auch nicht, wenn er schon so kurz vor seinem Ziel war. Lloyd und Solaris saßen ruhig auf der hölzernen, unbequem aussehenden Bank und warteten auf den Zug, während Stellaris immer wieder hin und her lief, weil er überall etwas Neues zu entdecken fand. Der Automat, an dem man Fahrkarten kaufen konnte, funktionierte tatsächlich, davon war er Zeuge geworden, als Lloyd das zuvor getan hatte. Da war er aber sicherheitshalber einige Schritte weiter entfernt gestanden, um den anderen nicht zu stören, hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und versucht, etwas über Lloyds Schulter zu erkennen. Im Sonnenlicht war ihm das aber kaum möglich gewesen, deswegen holte er es nun nach. Er stand direkt vor dem Automaten und betrachtete die seltsam beschrifteten Knöpfe und das Display mit geneigtem Kopf und fragte sich, wofür man all diese Informationen benötigte, nur um zu einem anderen Ort zu fahren. Er kannte natürlich die Weltkarte, sowohl die veraltete aus der Zeit vor dem letzten Weltkrieg und die aktuelle, aber er konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass es so viele andere Städte gab, zu denen man von hier aus fahren könnte. Ein sich näherndes Geräusch, riss ihn aus seinen Gedanken. Eilig begab er sich wieder zur Bahnsteigkante, um nach dem Zug Ausschau zu halten, beugte sich sogar über die Kante hinaus, wurde aber von dem aufgestandenen Solaris wieder zurückgezogen. „Du solltest vorsichtig sein“, ermahnte er Stellaris. „Züge können einen schnell umbringen.“ Er ließ sich zu Lloyd zurückführen, der ebenfalls aufgestanden war, ihn aber nicht einmal beachtete. Der Zug fuhr mit einem lauten Getöse und überraschend viel Wind in den Bahnhof ein und hielt zu Stellaris' Erstaunen, der das absolut nicht verstehen konnte, an der genau richtigen Stelle, ehe sich die Türen öffneten. Da er Züge bislang nur aus Büchern kannte, starrte er diesen eine ganze Weile nur fassungslos an. Er war geradezu riesig, wie er feststellte, ein Ungetüm aus rotem Stahl, das einem mittels Fenster erlaubte, hineinzusehen. Es war derart imposant, dass er den Zug nur begeistert anstarren konnte. Doch schließlich zog Solaris ihn mit sich, um in das Gefährt einzusteigen, so wie Lloyd es bereits getan hatte. „Wenn du weiter so kindisch bleibst, werden wir erst in drei Jahren zurücksein“, murrte er, als sie endlich zu ihm aufgeschlossen hatten. Stellaris senkte schuldbewusst den Kopf und bemerkte dabei den schwarzen Teppich, mit dem der Boden des Zugs ausgelegt war und mit dem er nicht gerechnet hatte. Danach folgte er den anderen beiden durch die Waggons hindurch, während sie anscheinend nach etwas suchten. Um einen freien Sitzplatz konnte es sich dabei nicht handeln, denn davon gab es mehr als genug. Außer ihnen befanden sich nur wenige Fahrgäste im Zug, keiner von diesen beachtete sie, während sie an ihnen vorbeiliefen. Einer der Fahrgäste fiel ihm dabei besonders auf. Es war eine scheinbar junge Frau, so schätzte er, das rot-braune Fell, das ihren ganzen Körper bedeckte, machte es schwer, ihr Alter einzuschätzen. Ihre hochstehenden Ohren zuckten ein wenig nervös. Dank seiner Bücher wusste er, dass es sich bei ihr um einen Katzenmensch handelte, ein Wesen, das durch irgendeine, für ihn unverständliche, Methode nach dem letzten Weltkrieg und den damit einhergegangenen Veränderungen entstanden war. Aber es war das erste Mal, dass er ein solches Wesen wirklich sah, weswegen er am Liebsten die Hand ausgestreckt und es gestreichelt hätte. Ein zischendes Pfeifen riss ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Als er den Kopf wandte, erkannte er, dass Lloyd ihn wieder einmal reichlich schlecht gelaunt betrachtete und ihn dann anwies, mitzukommen, statt träumend herumzustehen. Stellaris beeilte sich, ihm zu folgen und kam so schließlich in ein Abteil mit vier Sitzen, das durch eine Glastür vom Gang abgetrennt war. Solaris saß bereits darin und sah lächelnd aus dem Fenster. Offenbar freute es ihn, wieder einmal aus dem Waisenhaus herauszukommen und Stellaris konnte es ihm nicht verübeln, wenn alles so aufregend war. Lloyd schloss die Tür hinter ihnen und setzte sich neben Solaris, weswegen Stellaris ihnen gegenüber platznahm. Die beiden kannten sich schon länger und standen sich deswegen näher, daher wunderte es ihn nicht, dass sie nebeneinander sitzen wollten. Mit einem sanften Ruck setzte der Zug sich in Bewegung und nahm rasch an Fahrt auf, die Umgebung flog geradezu an ihnen vorbei und wurde zu einem undeutlichen, verschwommenen Fleck, den Stellaris nicht mehr deuten konnte. „Sehr geehrte Fahrgäste“, erklang eine gelangweilte Männerstimme aus den Lautsprechern, „wir begrüßen Sie an Bord des Zuges ...“ – er nuschelte etwas Undeutliches – „... mit Endstation Norsgrove Bahnhof. Die jetzige Zeit ist neun Uhr vierzig und unsere Ankunftszeit wird elf Uhr betragen. Wir wünschen Ihnen eine gute Fahrt.“ Schließlich verstumme die Stimme wieder und ließ sie allein. Erst als sie mit voller Geschwindigkeit fuhren – jedenfalls hoffte Stellaris, dass sie nicht noch schneller werden würden –, griff Lloyd in den mitgeführten Rucksack und holte etwas daraus hervor. Es war ein unbeschrifteter brauner Aktenordner, der über wenig Inhalt zu verfügen schien. Als er diesen aufschlug, konnte Stellaris nur einige Blätter erkennen. „Unser Auftrag-“ „Ist es okay, dass hier im Zug zu besprechen?“, fragte Stellaris und unterbrach Lloyd damit. Dieser hob genervt den Blick, worauf sein Gegenüber zusammenzuschrumpfen schien. Das genügte Lloyd, um sich wieder dem Thema zu widmen. „Unser Auftrag besteht darin, einen bestimmten Edelstein zu stehlen.“ „Aber ist Diebstahl nicht ... böse?“, hakte Stellaris nach und erntete dafür erneut einen genervten Blick seines Gegenübers. Solaris dagegen lächelte ein wenig. „Ich finde, es ist schön zu sehen, dass du ein moralisches Gewissen besitzt. Das ist bei vielen Heimbewohnern nicht mehr so verbreitet.“ Er war sich zwar nicht sicher, woher der Gedanke überhaupt gekommen war, aber auf einmal war ihm eingefallen, dass es nicht in Ordnung sein konnte, anderen Leuten etwas zu stehlen – deswegen war er froh, dass zumindest einer der beiden nicht genervt reagierte. Doch Solaris fuhr bereits fort: „Leider wird dir das bei unseren Aufträgen nicht viel nutzen, denn einige von diesen sind reichlich ... unmoralisch.“ „Warum müssen wir es dann tun?“, fragte er ratlos. Lloyd rollte mit den Augen und warf Solaris einen auffordernden Blick zu, damit dieser erneut fortfuhr: „Ich dachte mir bereits, dass der Direktor dich nicht aufgeklärt hat. Das hat er bei uns auch nicht wirklich, deswegen kann ich dir keine ausführliche Antwort geben. Aber so viel kann ich dir sagen: Wir sind nicht die Guten.“ Das erschreckte Stellaris nun doch. Zwar war es grundlos gewesen, aber er hatte dennoch angenommen, dass sie im Sinne einer größeren Gerechtigkeit handeln würden, so wie die Helden es in Büchern oder Märchen oftmals taten, selbst wenn sie damit eigentlich auf der falschen Seite waren. Dabei hätte er es, bei genauerem Nachdenken, auch ahnen können, immerhin war das Böse im Waisenhaus geradezu omni-präsent. Vielleicht war er wirklich nur furchtbar naiv. „Das gefällt mir nicht“, murmelte Stellaris, worauf Lloyd wieder ein genervtes Stöhnen ausstieß. „Es ist immer dasselbe.“ Er schüttelte mit dem Kopf und setzte zu keiner Erklärung für den, von dieser Aussage, verwirrten Stellaris, an, stattdessen fuhr er direkt mit dem Auftrag fort: „Dieser Edelstein wird derzeit in einem Museum in Norsgrove aufbewahrt, dorthin sind wir gerade unterwegs.“ Er zog eines der Blätter in der Akte hervor, das sich als Foto entpuppte. Auf dem Bild war ein glitzerndes Juwel zu sehen, dessen Farbe Stellaris nicht wirklich ausmachen konnte, es schienen ... alle möglichen Farben zu sein, wie bei einem Regenbogen. „Wow, er sieht so hübsch aus – aber warum müssen wir ihn eigentlich stehlen?“ Sicher, es war für ihn nur natürlich, dass jeder so etwas Schönes besitzen wollte, aber es musste dennoch einen anderen Grund geben, der sich ihm nur noch nicht erschloss, ihn aber interessierte. Lloyds Mundwinkel schienen noch tiefer zu sinken. „Keine Ahnung, so etwas steht in einer Aufgabenbeschreibung nicht und es geht uns auch nicht im Mindesten etwas an.“ „Ihr macht das schon lange, oder?“ Dieser abrupte Themenwechsel ließ beide Partner den Kopf neigen. Doch während Solaris weiterhin ein wenig irritiert wirkte, fing sich Lloyd rasch wieder. „Schon ein paar Jahre, ja. Ich muss dreizehn gewesen sein, als wir auf unsere erste Mission geschickt worden sind.“ Einerseits empfand Stellaris in diesem Moment Respekt und Bewunderung für die beiden – und andererseits spürte er auch ein wenig Mitgefühl. Sie kamen aus dem Waisenhaus raus und erlebten viele Dinge und dabei mussten sie vermutlich schreckliche Dinge tun, die weitaus schlimmer waren als der Diebstahl eines Juwels. Es war nicht weiter verwunderlich, dass Lloyd stets so missmutig war – jedenfalls seit er ihn kannte. Nachdem er dieses Thema für abgehakt empfand, vertiefte Lloyd sich wieder in die Unterlagen, die er anscheinend ebenfalls zum ersten Mal sah. „Die Angaben über die Sicherheitsvorkehrungen sind veraltet“, stellte er fest. „Wir werden uns vor Ort alles ansehen müssen. Das sollte aber kein Problem darstellen, dann können wir gleich Kultur tanken ... dafür dürftest du bislang wenig Gelegenheit bekommen haben.“ Bei diesen Worten warf er Stellaris einen kurzen Blick zu, was diesen leicht zusammenzucken ließ. „Allgemein solltest du diese Gelegenheiten nutzen, um dich ein wenig vom Waisenhaus abzulenken“, fuhr Lloyd mit neutraler Stimme fort. „Sonst drehst du dort irgendwann noch durch. Ich habe ohnehin keine Ahnung, wie die das alle durchhalten.“ Auch wenn seine Tonlage es nicht verriet, so wollte Stellaris doch glauben, dass aus ihm tatsächlich Besorgnis sprach und er sich Gedanken um andere machte und es nur nicht zeigen konnte. „Okay, werde ich machen.“ Lloyds Mundwinkel hoben sich ein wenig, nicht genug, um es als ein richtiges Lächeln durchgehen zu lassen, aber doch ausreichend, damit Stellaris es als solches erkannte. Vielleicht könnten sie sich ja doch noch anfreunden ... irgendwie. Ein plötzliches, lautes Geräusch, ließ sie alle innehalten und den Zug verlangsamen. Es klang wie ein furchterregendes Brüllen, das Stellaris einen Schauer über den Rücken jagte. „Was war das?“ Noch ehe einer der anderen beiden antworten konnte, erklang erneut die Stimme aus den Lautsprechern und noch immer schien der Sprecher reichlich gelangweilt: „Verehrte Fahrgäste, wir müssen unsere Fahrt leider für kurze Zeit unterbrechen, da es eine Behinderung auf der Strecke gibt. Zu unserem Bedauern können wir leider nur abwarten. Wir bitten um Ihr Verständnis.“ Leise grummelnd stand Lloyd auf. „Wir haben keine Zeit für sowas. Kommt, wir kümmern uns darum.“ Stellaris war sich nicht sicher, ob sie sich wirklich um diese Unterbrechung kümmern könnten, aber er war der älteste und der Anführer der Gruppe, also taten sie, was er verlangte und das ohne zu murren. Doch als sie aus dem Zug stiegen – sie mussten ein gutes Stück springen, weil es doch einen ziemlichen Abstand zum Boden gab – und dann entdeckten, was den Zug angehalten hatte, sog Stellaris scharf die Luft ein und er wusste nicht so recht, ob es aus Furcht oder Erstaunen war, auch wenn das in diesem Moment ohnehin eher unwichtig war. „Oh ... wow ...“ „Das kann nicht sein“, bemerkte Solaris, während er das Wesen anstarrte. „Es kommt selten vor“, widersprach Lloyd, „aber das macht es nicht unmöglich. Manchmal greifen Drachen auch einfache Züge an.“ Für Stellaris sah es nicht so aus als würde das Wesen den Zug angreifen. Bei genauerer Betrachtung wirkte es eher so als ob es auf den Schienen zu schlafen versuchte. Da Lloyd aber ohnehin nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen war, vermied er es lieber, die beiden darauf hinzuweisen und hoffte, dass der Drache kein allzu großes Theater machen würde, wenn sie ihn von den Schienen zu bewegen versuchten. Die roten Schuppen glitzerten im Sonnenlicht und bei genauerer Betrachtung gab es ein orange-farbenes Glühen unter diesen, das einen angenehmen warmen Schimmer versprühte. Während sie auf ihn zugingen, schien er immer größer und die Flügelspannbreite immer gewaltiger zu werden. Es war fast schon surreal, dass er friedlich dalag und schlief als wäre es ein zu groß geratenes Schoßtier. Aber Stellaris fühlte keinerlei Furcht, stattdessen wünschte er sich sogar, sich einfach dazulegen und ebenfalls schlafen zu können. Als sie an der motorisierten Lok vorbeiliefen, hob Stellaris den Kopf und entdeckte das blasse Gesicht eines Mannes hinter dem Fenster. Er musste derjenige sein, der dieses Vehikel fuhr, zumindest wenn er das richtig einschätzte. Im Moment wirkte er allerdings deutlich überfordert mit der ganzen Situation. Als er wiederum die drei entdeckte, schien er sogar erleichtert, zu sehen, dass sich jemand anderes darum kümmerte. Vor dem Drachen blieben sie wieder stehen, Lloyd musterte ihn mit einem Blick, der verriet, dass er schon öfter solche Wesen gesehen hatte, während es für Stellaris das allererste Mal war. Das lange Maul war mit spitzen Zähnen besetzt, die einen allein beim Anblick zu schneiden schienen, die schwarzen Hörner auf dem Kopf des Wesens wirkten massiv genug, selbst einen Zug problemlos zu durchstoßen. Dennoch wollte er neben diesem Drachen schlafen, er fürchtete sich bislang noch nicht. „Sollen wir ihm etwas auf einer Flöte vorspielen?“, fragte Solaris mit einem leichten Schmunzeln. „Schlangenbeschwörer können damit Schlangen tanzen lassen.“ Während Stellaris über diesen Vorschlag lächeln musste, runzelte Lloyd missbilligend die Stirn. „Wir haben keine Zeit für Witze oder Spielchen, wir müssen diesen Drachen loswerden, damit wir weiterkommen.“ Mit geneigtem Kopf dachte Stellaris darüber nach, wie man ein solch riesiges Wesen wohl wecken könnte, da es wohl kaum auf die üblichen Methoden reagieren würde und sie auch keinen elektronischen Wecker mit sich führten. Falls das überhaupt irgendeinen Nutzen erfüllen würde. Lloyd gab sich allerdings nicht mit solchen Fragen ab, stattdessen trat er auf den Drachen zu und verpasste ihm einen heftigen Tritt gegen die Schnauze. Von diesem Mut erstaunt, hob Stellaris die Augenbrauen und starrte dann das Ungetüm an, das grummelnd aufzuwachen schien. Es öffnete die Augen, deren Farbe an Smaragde erinnerte, die längliche Pupille dagegen war tiefschwarz. Träge hob es den Kopf und wandte ihn in Richtung des Störenfrieds. Lloyd sprang sofort wieder zurück, damit wieder ein kaum merkbarer Abstand zwischen ihn und den Drachen kam. „Endlich ist er wach.“ „Und was jetzt?“, fragte Stellaris flüsternd. „Jetzt hoffen wir, dass er von alleine weiterzieht“, antwortete Solaris ihm, den Blick nach wie vor stur auf den Drachen gerichtet. Stellaris runzelte die Stirn und sah zu ihm hinüber, um herauszufinden, ob er das wirklich ernst meinte. Er jedenfalls konnte sich an keine Erzählung erinnern, die beinhalten würde, dass ein aus dem Schlaf geweckter Drache freiwillig beschlossen hätte, das Weite zu suchen. Da müsste das Wesen schon reichlich verwirrt gewesen sein. „Ich weiß nicht ...“, begann Stellaris, wurde dann allerdings von dem Drachen selbst unterbrochen, als dieser einen lauten, geradezu monströsen Schrei ausstieß. Lloyd verzog unwillig die Lippen, tat aber erst einmal nichts, sondern wartete weiter, den Blick des Wesens erwidernd als würde er mit einem solchen Duell versuchen, es zu klären, ehe er zu Gewalt greifen müsste. Solaris schien dasselbe zu tun, wie Stellaris vermutete. Aber er konnte das nicht, weswegen er einen Schritt zurückwich – was dem Drachen Grund genug schien, noch einmal zu brüllen, die Flügel auszubreiten und dann schlagartig das aufgerissene Maul vorzustoßen, um sie anzugreifen. Solaris und Lloyd wichen zur Seite aus, doch Stellaris stolperte rückwärts und fiel zu Boden, worauf sich ein schmerzhaftes Ziehen durch seine Hüften zog. Zu seinem Glück konzentrierte sich der Drache aber vorerst nicht auf ihn, sondern auf die anderen beiden, die noch immer dabei waren, auszuweichen und dabei ihre Waffen zogen. Das Ungetüm stieß mit der Schnauze nach Lloyd, während es mit dem Schwanz Solaris zu treffen versuchte. Mit angehaltenem Atem beobachtete Stellaris, wie die beiden geschickt jedem Angriff entgingen und dann versuchten, einen Treffer mit ihren jeweiligen Fernkampfwaffen zu erzielen. Doch sowohl Lloyds Pistolenkugeln, als auch Solaris' Armbrustbolzen prallten, ohne einen Schaden zu verursachen, an den Schuppen ab. Undeutlich erinnerte Stellaris sich wieder an den Unterricht zurück, in dem er gelernt hatte, wie man gegen ein solches Wesen vorzugehen hatte – und seine Erinnerung sagte ihm, dass lediglich besondere Waffen in der Lage waren durch den undurchdringlichen Schuppenpanzer zu dringen. War eine solche nicht zur Hand, half einem ... so gut wie gar nichts mehr. Er versuchte, sich das Hirn zu zermartern, aber ihm fiel absolut nicht mehr ein, was einem helfen könnte, falls man eine solche Waffe nicht mit sich führte. Da war etwas gewesen, aber er hatte es immer für unwichtig befunden. Wenn ich jetzt nur wüsste, warum ich so gedacht habe ... Doch all diese Überlegungen halfen ihm nicht, denn sie ließen ihn nach wie vor mit der Frage zurück, was sie nun tun sollten. Lloyd riss ihn wieder aus den Gedanken, indem er es schließlich schaffte, erst auf die Schnauze des Drachen zu springen und dann mit überraschend schnellen und geschickten Schritten auf den Kopf zu gelangen und sich dann von dort aus über den Hals zum Rücken vorzuarbeiten. Während er rannte, steckte er die Pistole ein und zog ein Schwert hervor – und plötzlich wusste Stellaris, wohin er wollte und was er dort zu tun gedachte. Hastig richtete er sich auf und noch bevor er wusste, was er da eigentlich tat, stieß er bereits einen gellenden Schrei aus. „Nein! Nicht!“ Plötzlich traf ihn der Gedanke, dass der Drache Schmerzen erleiden oder sogar sterben könnte, wie einen heftigen Stich ins eigene Herz, etwas, das er nicht zulassen durfte! Lloyd erschrak über diesen plötzlichen Ausruf, verlor die Konzentration und stürzte nun tatsächlich vom Drachen herab, schaffte es aber – glücklicherweise – gerade noch rechtzeitig, sich abzurollen. Statt sich weiter um einen der beiden zu kümmern, wandte das riesige Wesen sich nun ihm zu, um ihm in die Augen zu starren. Stellaris erwiderte den Blick anfangs mit wild schlagendem Herzen, doch schnell beruhigte sich sein Puls, es war ein angenehmes, geradezu vertrautes Gefühl, er glaubte gar, sein Innerstes würde mit diesem Drachen kommunizieren und ihn verstehen. Mehr noch, er war davon überzeugt, dass dieses Wesen ihm davon abriet, die Reise fortzusetzen, dass es ihm sagte, dass die Gefahr viel zu groß war. Sein Innerstes erwiderte etwas darauf, aber er verstand nicht, worum es sich dabei handelte, es war als würde etwas anderes, ein Bewusstsein, das er nicht kannte, mit ihm sprechen und ihn nicht wirklich an der Konversation teilnehmen lassen. Er wusste, es sollte ein furchteinflößendes Gefühl sein, aber die Vertrautheit und der beruhigende Einfluss in seinem Inneren verhinderten, dass er sich ängstigen konnte. Doch schließlich war das Gespräch offenbar beendet, der Drachen breitete die Flügel aus und hatte sich mit nur wenigen Schlägen eben dieser in die Luft erhoben und nach nur wenigen Sekunden war er bereits aus der Sicht der Gruppe verschwunden. Solaris half Lloyd dabei aufzustehen – und dann wurde Stellaris erneut von diesem angebrummt: „Hättest du das nicht früher machen können? Was auch immer das gerade gewesen ist.“ „Ich weiß nicht ...“ Stellaris spürte inzwischen ein etwas unangenehmes, dumpfes Gefühl in seinem Inneren, als wäre das andere Bewusstsein wieder so plötzlich verschwunden, wie es aufgetaucht war. Was auch immer es gewesen war, er vermisste es seit es wieder fort war. Er hoffte aber, dass es nur in seinem Inneren schlief und ihm vielleicht irgendwann verriet, was es eigentlich war. „Sei nicht so gemein“, wies Solaris ihn zurecht, während er Lloyd sanft in Richtung des Zugs zurückschob. „Immerhin hat er es ja getan, bevor einem von uns etwas passiert ist.“ Obwohl es deutlich war, dass Lloyd noch etwas sagen wollte, verzichtete er doch darauf und ging gemeinsam mit Solaris weiter, statt sich nur schieben zu lassen. Stellaris sah ihnen hinterher, noch unfähig, ihnen zu folgen. Er konnte das Geschehene noch nicht so ganz verstehen und wie es aussah ging es den anderen beiden genauso. Niemand hatte ihn je hierauf vorbereitet, darauf, dass er möglicherweise sein Bewusstsein verlieren könnte, weil es durch etwas anderes ersetzt wurde. Es machte ihm nichts aus, seinen Körper mit einem anderen Ich zu teilen – solange er nicht vollkommen verdrängt wurde. Oder vielleicht überdramatisiere ich alles nur. Es war bislang nur einmal vorgekommen und vielleicht entsprang es auch nur seiner plötzlichen Angst, also warum machte er sich solche Sorgen? Ein gellender Pfiff, den er bereits einmal gehört hatte, unterbrach ihn in seinen Gedanken. Irritiert zwang er sich wieder in die Wirklichkeit zurück und entdeckte Lloyd, der in einer offenen Tür des Zugs stand und ihm zu verstehen gab, dass er sich beeilen sollte. Diesmal reagierte er sofort und lief los, um zu den anderen beiden zu kommen, damit sie die Mission fortsetzen könnten und er sie nicht weiter behinderte. Aber die Frage, was soeben geschehen war, beschäftigte ihn weiterhin und wollte ihn nicht mehr loslassen, auch nicht als er im Zug war und sich dieser wieder in Bewegung setzte. Ihm blieb nur zu hoffen, dass dieses Etwas nicht wirklich in seinem Inneren schlief und darauf wartete, wieder hervorkommen zu können und ihn zu übernehmen. Vorerst konzentrierte er sich lieber wieder auf die vor ihnen liegende Mission und die Rückkehr nach Hause, danach könnte er sich immer noch lange genug den Kopf zerbrechen. Kapitel 5: Nachts im Museum --------------------------- Die ganze Fahrt über dachte Stellaris weiter über das Geschehene nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, bis schließlich ihr Ziel in Sicht kam. Kaum erblickte er die Stadt, sprang er von seinem Sitz auf und presste sein Gesicht und die Hände gegen die Scheibe. „Wow, was ist das denn!?“ Die aus vielen Hochhäusern bestehende Stadt war taghell erleuchtet, obwohl es bereits dunkel zu werden begann. Unzählige Lichter waren an den Gebäuden angebracht und ließen sie wirken als wären sie aus einer gänzlich anderen Welt, einer, in der es keine Probleme gab, nur ein angenehmes Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Es war ein Ort, von dem er seinen Bruder erzählen wollte – und den er auch liebend gern hergebracht hätte. „Es ist eine Stadt“, antwortete Lloyd und rollte mit den Augen. „Aber warum gibt es so viele Lichter? Ist das etwa normal?“ Es wäre gut möglich gewesen, musste er sagen, immerhin kannte er sich nicht wirklich mit Städten aus. Vielleicht fürchteten deren Bewohner sich vor Dunkelheit und wollte es deswegen so hell wie nur irgendwie möglich haben. In gewisser Weise konnte er das auch verstehen, immerhin wusste man nie, was sich alles in der Finsternis verbarg. „Es ist kurz vor Weihnachten“, erklärte Solaris. „Viele nehmen das als Anlass, um ihr Haus zu schmücken oder eben gleich die ganze Stadt. Es sieht hübsch aus, nicht wahr?“ Seinen sanften Worten brachte Lloyd nichts entgegen, aber er achtete auch nicht weiter auf die Stadt. Seine Konzentration beschränkte sich darauf, die Unterlagen ihres Auftrags, die er noch einmal durchgegangen war, wieder zu verstauen, damit er sie nicht verlieren könnte. „Wir werden direkt ins Museum gehen, wenn-“ „Wart ihr schon einmal hier?“, unterbrach Stellaris ihn. Im Moment interessierte ihn dieser Auftrag nicht im Mindesten, die Stadt war viel spannender – und glücklicherweise war zumindest einer der beiden bereit, ihm Rede und Antwort zu stehen. Solaris nickte zustimmend, ehe Lloyd sich beschweren konnte. „Unsere Aufträge führen uns meistens in diese Gegend, weil es so ziemlich die einzige Stadt in der näheren Umgebung ist. Viele andere Städte kennen wir also nicht, aber diese hier ist groß genug, damit es immer Abwechslung gibt, wenn wir hierher kommen.“ Das konnte er sich gut vorstellen, allerdings war es auch seine allererste Stadt, die er sah, also wäre es auch möglich gewesen, dass es eigentlich nur eine der kleinen Art war. Ihm wurde geradezu schwindelig, als er sich vorstellte, wie riesig andere Städte sein könnten. Vielleicht waren die Häuser in anderen Orten sogar noch höher oder noch heller! Lloyd sagte nichts mehr für die restliche Zugfahrt, offenbar hatte er erkannt, dass es nichts brachte, einem begeisterten Stellaris etwas beibringen zu wollen. Vor allem während dieser sich vorstellte, dass es irgendwo Hochhäuser gab, die bis in den Himmel ragten, so dass man die Wolken berühren könnte. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, schienen die Augen des Jungen geradezu überzugehen. Im Gegensatz zu dem geradezu ausgestorbenen Gefährt, war der Bahnsteig voller Leben, allerlei Menschen und Halbmenschen befanden sich dort, unterhielten sich, lasen Zeitung oder liefen durcheinander, wenn sie nicht gerade einen perfekten Ort gefunden hatten, um sich dort hinzustellen und auf ihren eigenen Zug zu warten. Während Stellaris zwischen ihnen umherlief und dabei staunend von einem zum anderen blickte – besonders ein junges Mädchen, das aussah wie eine menschliche Katze, interessierte ihn –, verlor er fast die anderen beiden aus den Augen. Ein kurzes Zeichen von Lloyd genügte, dass Solaris die Hand des Neuen ergriff, damit sie ihn nicht verloren. Stellaris drehte ihm den Kopf zu, um ihm besser folgen zu können. All der Lärm, der durch diese vielen Menschen entstand, wäre so manchem nervig erschienen, aber ihm gefiel das, immerhin war es ein erstaunlicher Gegensatz zu dem, was er bislang erlebt hatte, was er als sehr angenehm empfand. In der Bahnhofshalle wurden alle Geräusche ein wenig dumpfer, so dass Stellaris auch wieder mehr von dem hören konnte, was Lloyd und Solaris miteinander besprachen. „Gehen wir wirklich direkt zum Museum?“ „Das wäre am besten“, bestätigte der Anführer der kleinen Gruppe mit gerunzelter Stirn. „Es wird bereits dunkel und ich würde das gerne heute Nacht über die Bühne bringen, bevor etwas dazwischenkommt.“ Sein Tonfall verriet, dass er gerade an etwas ganz Bestimmtes dachte, es aber nicht aussprechen wollte oder glaubte, es nicht zu müssen. Stellaris, der wieder neugierig geworden war, lief ein wenig schneller, damit er gleichauf mit ihnen gehen konnte. „Was sollte denn dazwischenkommen?“ Lloyd verzog sein Gesicht und neigte den Kopf, selbst Solaris schien plötzlich erstaunlich ernst und schweigsam zu sein. Erst auf Stellaris' Nachhaken antwortete er, wenn auch nur zögerlich: „Na ja, wir sind nicht ganz konkurrenzlos, muss ich zugeben. Jemand anderes versucht uns immer, einen Strich durch die Rechnung zu machen.“ „Ist das einer der Guten?“ Er war selten dazu gekommen, Bücher zu lesen, da man im Waisenhaus nicht viel Zeit dafür besaß, aber wann immer die Gelegenheit dagewesen war, hatte sich schnell gezeigt, dass es immer die Guten und die Bösen gab. Und wenn sie die Bösen waren, musste diese andere Partei zu den Guten gehören. Glaubte er jedenfalls. „Pff, von wegen“, schnaubte Lloyd. „Die ist noch mieser als wir.“ Ein wenig hilflos ließ Stellaris den Kopf hängen. „Dann gibt es neben den Guten und den Bösen noch die noch Böseren?“ Das verwirrte ihn gehörig, weil er eine solche Situation aus keinerlei Buch kannte. „In etwa“, bestätigte Solaris sanft. Sie schwiegen den Rest des Weges, nicht zuletzt weil Stellaris sich doch lieber auf die Umgebung als auf Gedanken über Bösewichte, konzentrierte. Die hell erleuchteten Gebäude waren teilweise geöffnet, so dass Menschen hinein- oder herausströmen und dabei freudig lächeln konnten. Fröhliche Musik erklang von irgendwo und schallte mehrere Meter weit, ehe sie von irgendeiner anderen, nicht minder gut gelaunten, Tonfolge ersetzt wurde. Obwohl viele Menschen durch die Straßen liefen, war die Atmosphäre friedlich und gelöst, sie alle lächelten sich gegenseitig an, grüßten sich sogar, wenn sie zu lange Augenkontakt hielten. Er kannte das nicht, im Waisenhaus war jeder der Feind von jedem gewesen und gegrüßt hatte man sich schon erst recht aus Prinzip nicht. Die Außenwelt war in allem absolut besser, so schien es ihm zumindest bislang, und er bedauerte bereits, dass sein Bruder nichts hiervon sehen konnte. Irgendwann musste er ihn wirklich hierher bringen, das nahm er sich fest vor. Das Museum schließlich war ein riesiges Gebäude, das auf Stellaris einen erhabenen Eindruck machte. Alles an diesem Bau schien zu sagen, dass man ihn ansehen und bewundern sollte. Auf den Stufen, die zum Eingang hinaufführten, saßen Menschen und gingen den verschiedensten Tätigkeiten nach, sie unterhielten sich lachend, aßen einfach oder tippten auf tragbaren Computern, offensichtlich war dies ein äußerst beliebter Treffpunkt bei vielen. An den Säulen vor dem Eingang waren Plakate angebracht, die von dem Juwel verkündeten, das gerade ausgestellt wurde. Auf diesen Leinwänden sah es noch wesentlich schöner aus. Ohne den Schalter am Eingang zu beachten, gingen sie hinein und wurden von einer, für Stellaris, vollkommen neuen Form der Stille empfangen. Sämtliche Stimmen waren zu einem leisen Flüstern gedämpft, während die Besucher durch die großzügig angelegten Räume schritten und sich die einzelnen Ausstellungsstücke ansahen. Eines lag, zentral platziert, in einem Schaukasten, von zahlreichen Scheinwerfern beleuchtet und von den meisten Besuchern bewundert. Blitzlichter von Kameras flammten immer wieder auf, was sie direkt dorthin zu ziehen schien. Lloyd, Solaris und Stellaris blieben daher ebenfalls dort stehen. Es war der Edelstein über den sie sich im Zug unterhalten hatten und in der Realität schien er noch wesentlich mehr zu glitzern als auf dem Foto, weswegen Stellaris ihn begeistert betrachtete. Auch all die Besucher, die nun darum herumstanden und eigene Fotos schossen, würden es niemals schaffen, diese Schönheit einzufangen, davon war er überzeugt. Lloyd ließ derweil den Blick schweifen, nachdem er den Schaukasten ausgiebig betrachtet hatte. Er sah nach oben, machte die einzelnen Kameras ausfindig – und noch weitere Winkel an denen versteckte Beobachtungsmechanismen angebracht sein mochten – dann fiel sein Blick auf den Wachposten am Eingang der Halle. „Er ist aus Lanchest ...“ Solaris sah ebenfalls hinüber. „Dann sollte er ja kein Problem darstellen.“ Stellaris schloss sich den beiden ebenfalls an, war aber ratlos darüber, was sie damit meinen könnten. „Was ist?“ Der Mann, der am Eingang der Halle mit verschränkten Armen an die Wand lehnte, schien sich nicht im Mindesten für irgendetwas in diesem Museum zu interessieren, aber mehr unterschied ihn, in Stellaris' Augen, nicht von den anderen Besuchern. „Der Wächter ist ein Absolvent der Lanchest-Militärakademie“, erklärte Solaris. „Sie sind wie wir, sie erfüllen Aufträge für ihren Vorgesetzten und vermutlich wurde er hierfür abgestellt.“ So ganz verstand er das nicht, vor allem deswegen, weil er nicht wusste, ob diese Lanchest-Leute nun gut, böse oder auch noch böser waren, aber im Moment wollte er das auch nicht weiter herausfinden, damit Lloyd nicht schon wieder genervt sein könnte. „Woran erkennt ihr das denn?“, fragte er stattdessen. „Es ist die Jacke“, antwortete Lloyd. Bislang hatte Stellaris diese nicht einmal beachtet, so aber musterte er die grüne Jacke, die ihm aus irgendeinem Grund reichlich bekannt vorkam, so als hätte er sie schon einmal gesehen, obwohl das nicht sein konnte. „Nur Lanchest-Söldner tragen diese seltsamen Jacken, egal wohin sie gehen“, fuhr Lloyd mit seiner Erklärung fort. „Im Falle von verwirrenden Auseinandersetzungen soll man anhand diesen erkennen, dass sie die eigenen Verbündeten sind.“ Schlagartig kam Stellaris wieder ein Erinnerungsbruchstück in den Sinn. Er spürte einen heftigen, brennenden Schmerz in seiner Brust und noch während er zu Boden stürzte, konnte er sehen, wie sein Angreifer sich von ihm abwandte, eine grüne Jacke hinter einer Mülltonne hervorzog und diese anzog. Der allerletzte Gedanke dieser Erinnerung war, wie ärgerlich es doch war, dass der andere ihn mit so einer einfachen Tat wie dem Ausziehen und Verstecken einer Jacke hatte hereinlegen können. Als die Erinnerung schlagartig wieder endete, stellte er überrascht fest, dass noch ein zweiter Lanchest-Söldner hinzugekommen war und sich nun mit dem ersten unterhielt. „Wie viele von denen sind wohl da?“, fragte Solaris. Lloyd ließ sich einen kurzen Moment Zeit zum Überlegen. „Dieses Juwel ist sehr wertvoll, sowohl als Statussymbol als auch für die Wissenschaft.“ Solaris reagierte sofort auf Stellaris' Seitenblick: „Man sagt, es handelt sich bei ihm um den Stein der Weisen – aber ob es stimmt, kann dir wohl nur ein richtiger Wissenschaftler sagen, ich kenne mich damit nicht aus.“ Er erinnerte sich undeutlich daran, dass er den sagenumwobenen Stein der Weisen bereits im Unterricht durchgenommen hatte und dass man ihm nachsagte, er berge das Geheimnis für das ewige Leben oder wie man Blei in Gold verwandeln könnte. Ob es stimmte, konnte er ebenfalls nicht sagen, genausowenig, ob dieser Stein wirklich der sagenumwobene war. Aber falls er es war, wäre es durchaus verständlich, dass so viel Aufwand betrieben wurde, um ihn zu schützen. „Ich gehe daher davon aus, dass es mindestens fünf Söldner gibt“, schloss Lloyd seine Überlegungen ab. „Zwei wären zu wenig, aber mehr als fünf wieder zu viel.“ Er schien nicht im Mindesten besorgt über diese Überlegung, was wiederum Stellaris ein wenig beruhigte. Immerhin hieß es wohl, dass sie wirklich keine Probleme kriegen würden. Plötzlich blickten beide Söldner direkt zu ihnen herüber und sprachen dabei mit ernsten Gesichtern weiter. Stellaris spürte unwillkürlich das Verlangen, sich hinter einem seiner beiden Begleiter zu verstecken, verzichtete aber darauf, um nicht noch mehr Misstrauen zu wecken. „Sie haben uns bemerkt“, sagte Solaris. „Fein.“ Lloyd schmunzelte. „Dann wird die Sache heute noch interessanter als gedacht. Nicht nur Cordia, auch diese Typen ... ich bin gespannt.“ Stellaris runzelte die Stirn, als er den Namen Cordia hörte. Dieser war ihm vollkommen unbekannt, aber er nahm einfach an, dass es sich dabei um die noch bösere Partei handelte, von der sie vorhin gesprochen hatten. „Ich hoffe nur, dein Hochmut wird nicht unser Untergang sein.“ Auch wenn es tadelnd klingen sollte, so hatte Stellaris den Eindruck, dass Solaris ebenfalls von der Vorstellung amüsiert war, gegen zwei Parteien antreten zu dürfen. Er dagegen fühlte sich ein wenig unwohl dabei, aber nun gab es keinen Weg mehr zurück. „Dann werden wir es heute Nacht wirklich durchziehen?“, fragte er. „Wir haben keine Wahl mehr“, antwortete Lloyd. „Da sie uns jetzt erwarten, sollten wir sie besser nicht enttäuschen.“ Als er das sagte, nickte er den beiden Söldnern schmunzelnd zu, die sofort die Stirn runzelten, als sie das bemerkten und sich wieder in ein angeregtes Gespräch miteinander begaben. Stellaris seufzte innerlich. Das kann ja was werden ... Stellaris war sich absolut nicht sicher, dass er eine vernünftige Hilfe für die anderen beiden darstellen könnte. Er verstand sich, auch mit den Erinnerungssplittern, noch immer nicht auf das Kämpfen und hatte nicht im Mindesten Ahnung, was er überhaupt tun sollte, warum er eigentlich hier war. Dennoch schienen sowohl Lloyd, als auch Solaris darauf zu vertrauen, dass er schon wüsste, was zu tun sei, als sie ihn, im Inneren des Museums – er war sich nicht einmal im Klaren darüber, wie sie überhaupt hereingekommen waren – ausschickten, um in einem anderen Flügel darüber zu wachen, dass sie nicht von Feinden umzingelt wurden. Bei Tag war das Museum ein aufregender Ort gewesen, gefüllt mit Menschen und Lichtern. In der Nacht war es einfach nur ... einsam. Es war so dunkel, dass er nicht einmal die einzelnen Exponate genauer ansehen konnte. Das einzige durch die Fenster fallende Licht kam von den Gebäuden, die um das Museum herum standen, aber es war gerade einmal genug, um die Schatten stärker hervortreten zu lassen. Nur ein einziger Schaukasten stand direkt im Licht, so dass Stellaris das Ausstellungsstück in ihm genauer betrachten konnte. Es war ein reich verzierter Dolch, dessen Juwelen im Licht glitzerten und ihn geheimnisvoller erscheinen ließen, als er vermutlich eigentlich war. Ein kleines Schild verkündete vermutlich – weiß auf schwarz – die Geschichte des Artefakts, aber in diesem Licht konnte er es nicht lesen, egal wie sehr er die Augen zusammenkniff. „Ein schöner Dolch, nicht wahr?“ Stellaris wirbelte herum, als er diese fremde Stimme hörte – und starrte der Frau entgegen, die einfach vor ihm erschienen war. Sie war noch jung, aber durch die gefühllosen dunklen Augen in ihrem schmalen Gesicht, erschien sie wesentlich älter, das lange weiße Haar, in dem es noch schwarze Strähnen gab, tat sein Übriges dazu. Sie trug eine dunkle Uniform, ein großes Schwert an ihrer Hüfte, beides sprach von einer Ernsthaftigkeit, die auch in ihrem ausdruckslosen Gesicht zu lesen war. Dass ihr Blick auf ihn fixiert war, half ihm auch nicht dabei, weniger nervös zu sein. „W-wie bist du hier hereingekommen?“ Sie hob eine Augenbraue, das war die einzige Änderung ihrer Mimik. „Müsstest du nicht fragen, wer ich bin? Oder erinnerst du dich an mich?“ Falls es einen Erinnerungssplitter in seinem Inneren gab, der diese Frau kannte, so blieb er still und inaktiv. Also musste er mit dem Kopf schütteln. „Ich bin Cordia.“ Mit bedächtigen Schritten kam sie auf ihn zu. „Und ich fürchte, du bist mir wieder einmal im Weg. Ich kann das nicht mehr tolerieren.“ Stellaris wich zurück, bis er am Fenster stand, sein Blick blieb dabei unablässig auf sie gerichtet, genau wie umgekehrt. Das machte es ihm nicht gerade einfacher, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Dafür waren ihre Augen viel zu hypnotisierend, wie ein dunkler Abgrund, der einen in die Tiefe reißen und dort auseinandernehmen wollte. Als sie ihn derart in die Ecke gedrängt hatte, griff sie nach ihrem Schwert – aber ein Schuss, der die Stille zerriss, ließ sie wieder innehalten. „Was war das?“, murmelte Stellaris. Cordia schenkte ihm nur noch einen raschen Blick, dann fuhr sie herum und rannte schnell und gleichzeitig lautlos davon. Schon einen Moment später war sie in der Dunkelheit verschwunden, Stellaris konnte ihr nur noch hilflos hinterhersehen. Ein weiterer Schuss fiel und erinnerte ihn daran, dass er sich ebenfalls in Bewegung setzen sollte, immerhin war er nicht allein im Gebäude. Er machte sich keine Sorgen um Lloyd und Solaris, er wusste, dass sie es auch ohne ihn schaffen könnten, aber er wollte dennoch nach ihnen sehen. Im Dunkeln fiel es ihm schwer, sich zurechtzufinden, um wieder zu der Halle mit dem Juwel zu kommen. Immer wieder lief er gegen einen Schaukasten, der nicht selten deswegen klirrend zu Boden fiel, oder stolperte über Dinge, die auf dem Boden herumlagen, und die er glücklicherweise nicht sehen konnte. Er wusste es nicht, aber im Normalfall hätte schon längst ein Alarm ertönen müssen, spätestens nachdem der erste Schaukasten zersplittert war. So nutzte er die Stille weiterhin, um aus seiner Erinnerung heraus die Quelle des Schusses zu finden. Er stolperte in einen langen Gang, bahnte sich seinen Weg an der Wand entlang, hoffte, dass er ihn zur Haupthalle führte, aber in der Dunkelheit war es schwer zu sagen. Die Stille lastete plötzlich auf seinen Ohren, schien lauter zu sein, als sie dürfte, was an sich schon paradox war. Schließlich knickte die Wand nach links ab, er trat in einen Raum, in dem die Ruhe scheinbar ihr Zentrum gefunden hatte – und gleichzeitig war es die Quelle des Schusses gewesen. „Solaris?“, wisperte er furchtsam in die Dunkelheit. „Lloyd?“ Es ertönte keine Antwort, aber seine Stimme schien wesentlich lauter zu sein, als er beabsichtigt hatte. Ein leises Rascheln war in einer Ecke zu hören, als krieche jemand über den Boden – dann flammte plötzlich ein grelles Licht auf. Stellaris blinzelte mehrmals, schirmte sich die Augen mit der Hand ab und versuchte, etwas zu erkennen. Vor ihm zeigte sich der Hauptraum, der Schaukasten mit dem Juwel stand immer noch in der Mitte des Raumes. Auf dem Boden lagen fünf Männer in grünen Jacken, offenbar die Lanchest-Söldner, unter ihnen hatten sich Blutlachen ausgebreitet. Sein Blick huschte furchtsam über die regungslosen Männer, während er nach Lloyd und Solaris suchte und sie einfach nicht entdecken konnte. „Du bist zu langsam“, hörte er Cordias Stimme – und plötzlich stand sie direkt neben dem Schaukasten mit dem Juwel. Ihr Blick war immer noch genau so ausdruckslos und gleichzeitig eindringlich wie zuvor. Er wich zurück, um diesen Augen zu entgehen, wagte aber nicht, sich gänzlich in die Dunkelheit zurückzuziehen. Plötzlich erschien ihm diese bedrohlich, so dass er eingesperrt war zwischen Cordia vor ihm und dem, was in der Finsternis hinter ihm lauerte. Ein weiterer Schuss ertönte, diesmal weiter entfernt. Der Kampf musste sich an einen anderen Ort verlagert haben, ohne dass ihm das bewusst geworden war. Cordias Lippen kräuselten sich zu einem freudlosen Lächeln, das ihr blasses Gesicht in eine unheimliche Maske verwandelte. „Die Ablenkung war erfolgreich. Was hast du nun vor, Stern?“ Endlich reagierte ein Erinnerungssplitter, er zeigte, wie Cordia ihm ihr Schwert in die Brust rammte, dabei trug sie dasselbe befremdliche Lächeln wie im Moment. Das half ihm, seine Furcht vor den Gefahren der Dunkelheit zu vergessen und weiter zurückzuweichen, bis er von der Schwärze eingehüllt wurde. Sicher konnte sie ihn immer noch sehen, aber sie kümmerte sich nicht mehr um ihn, sondern widmete sich dem Schaukasten. Mit der bloßen Hand zerschmetterte sie das Glas, ohne sich dabei zu verletzen, und griff sich das Juwel, das in ihrem Griff noch mehr zu leuchten schien. Aber das musste ein Trick des Lichts sein, das von überall zu kommen schien, es konnte einfach nicht sein. „Leb wohl, Stern – solange du noch lebst.“ Mit diesen Worten verschwand sie so plötzlich, wie sie vorhin aufgetaucht war. Stellaris wartete einen Moment, um zu sehen, ob sie nicht vielleicht doch wieder zurückkam. Dabei wurden die Sekunden zu Minuten, während die Stille versuchte, ihm Dämonen und Geister in der Dunkelheit vorzugaukeln. Es erforderte seine gesamte im Waisenhaus erlangte Willenskraft, um ihn davon abzuhalten, einfach davonzustürmen. Erst als er sicher war, dass Cordia bestimmt nicht zurückkehrte, durchquerte er den Hauptraum, um zum Ausgang zu kommen, wobei er darauf achtete, nicht in das Blut zu treten oder über die Körper zu stolpern. Gleichzeitig versuchte er aber auch, nichts von beidem genauer zu betrachten, was gar nicht so einfach war. Den großen Eingang konnte er nicht benutzen, das war ihm auch klar, aber sein Ziel war ohnehin eine Notausgangstür, die er zuvor gesehen hatte. Er öffnete diese einfache Metalltür und trat in eine kleine, schmutzige Seitengasse, die nur spärlich beleuchtet wurde. Dennoch fühlte er sich erleichtert, als die Tür hinter ihm zufiel. Was immer dort drin in der Dunkelheit lauerte, konnte ihm nicht hierher folgen. Da beide Richtungen für ihn gleich aussahen, ging er nach links, in der Hoffnung, dort endlich ein Lebenszeichen von Lloyd und Solaris zu entdecken. An einer Abzweigung angekommen, ignorierte er, dass ein Weg hinter das Museum führte und ging weiter geradeaus – als er plötzlich eine Hand auf seine Schulter spürte. Er unterdrückte einen Schrei und fuhr herum. Als sein Herzschlag sich beruhigt hatte, erkannte er endlich, dass Solaris und Lloyd dastanden, worauf er von Erleichterung durchflutet wurde. Sie musterten ihn beide, während er das gleichzeitig bei ihnen tat. Solaris wirkte gesund und unverletzt, wenn man von seinen wie immer verbundenen Unterarmen absah, doch die Verbände hatten sich inzwischen auf seine Hände ausgeweitet; Lloyd dagegen war voller Staub, Dreck und auch Blut, das nicht seines zu sein schien, Glassplitter hingen in seinen Haaren und warfen das Straßenlicht glitzernd zurück; es sah überraschend schön aus. Stellaris fragte sich, was für einen Eindruck er wohl gerade machte. „Alles in Ordnung?“, fragte Solaris. „Ja, ich war nur … also ...“ Er konnte unmöglich sagen, dass er Angst vor der Dunkelheit bekommen hatte, das senkte sein Ansehen nur weiter. „Ich bin dieser Cordia begegnet.“ Lloyds Gesicht verfinsterte sich augenblicklich. „Dann hast du ja Glück, dass du überlebt hast. Ich nehme an, sie hat auch das Juwel?“ Stellaris nickte. Glücklicherweise machte keiner von ihnen ihm Vorwürfe. Stattdessen runzelte Lloyd die Stirn und sagte nichts mehr. Solaris ergriff daher die Initiative: „Lasst uns ins Hotel zurückgehen. Es bringt nichts, wenn wir uns hier jetzt die Köpfe zermartern.“ Beide liefen sofort los, um dem nachzukommen. Stellaris warf noch einen letzten Blick zum Museum mit seinen dunklen Fenstern – und er glaubte tatsächlich, hinter einer der Scheiben eine Gestalt zu sehen, die aussah wie jene während seiner Prüfung. Ein Schauer überfuhr ihn, stärker als je zuvor. Hastig fuhr er herum und folgte den anderen beiden, entschlossen, nie wieder ein Museum zu besuchen. Kapitel 6: Begegnungen ---------------------- Es war wohl sehr schlimm, dass es ihnen nicht gelungen war, das gesuchte Juwel zu stehlen. Jedenfalls wenn er Lloyds Reaktion darauf betrachtete. Seit sie in der Nacht zuvor wieder ins Hotelzimmer zurückgekehrt waren, saß er schmollend auf seinem Bett und starrte an die Wand. Nicht einmal Schlaf schien er zu benötigen: Als Stellaris von seinem eigenen Schlaf wieder aufgewacht war, hatte Lloyd unverändert auf dem Bett gesessen. Wann immer Stellaris ihn noch dazu ansprach, ignorierte er ihn, lediglich auf Solaris' Worte fand er selbst seine eigene Stimme wieder, aber nur für eine knappe Antwort, aus der Stellaris nicht schlau wurde. Solaris aber offenbar schon, denn schon kurz nach dem Frühstück schob dieser Stellaris mit sanfter Gewalt nach draußen. „Du solltest dir ein wenig die Stadt ansehen, das schadet bestimmt nicht. Außerdem kommst du ja so selten raus, nicht?“ Die Vorstellung war verlockend, aber da gab es noch Dinge, die er glaubte, bedenken zu müssen: „Sollten wir nicht lieber alle zusammen bleiben?“ Was wäre, wenn er in eine Falle von diesen Lanchest-Söldnern geriet? Oder wenn einer von ihnen von dieser Cordia aufgespürt wurde – falls sie überhaupt noch hinter ihnen her war. Er kannte sie immerhin kaum, vielleicht interessierte sie sich jetzt gar nicht mehr für sie. „Nein. Lloyd regt sich schneller wieder ab, wenn er allein ist.“ Solaris vollführte eine kurze Handbewegung umher. „Und hier gibt es kaum einen Ort für ihn, um sich zurückzuziehen.“ Gut, das Zimmer war wirklich klein. Neben den drei Betten gab es nur noch ein winziges Badezimmer, in dem man auf lange Sicht wohl eher Klaustrophobie bekäme als sich zu beruhigen. „Warum geht er dann nicht raus?“ Solaris tippte sich an die Nasenspitze, als antworte er etwas besonders Schlaues: „Na da draußen ist er auch nicht allein.“ Gut, es gab viele Menschen, die da unterwegs waren, aber könnte er diese nicht einfach ignorieren? Nein, teilte Solaris ihm mit, das sei für Lloyd nicht möglich (na gut, er schaffte es nicht einmal bei ihnen), deswegen gäbe es nur eine Alternative. „Warum gehst du dann nicht auch?“, fragte Stellaris weiter. „Ich muss noch über etwas mit ihm sprechen.“ „Worüber?“ „Das geht dich nichts an.“ An der Tür angekommen, wurde Solaris' Ton ein wenig schärfer, seine Augen blitzten regelrecht, als er die Klinke hinunterdrückte. „Du solltest dich lieber um andere Dinge kümmern.“ Stellaris hatte nicht das Gefühl, dass dieses Verhalten zu Solaris passten, deswegen zog er es vor, ihn nicht noch weiter zu reizen. Vielleicht war er ein sogenanntes stilles Wasser, das unberechenbar wurde, sobald man zu weit ging – auch wenn er gerade nicht einmal wusste, woher er diese Redewendung eigentlich kannte. Also zog er es vor, durch die Tür zu huschen. „Okay, ich bin schon unterwegs.“ „Aber komm wieder, wenn es dunkel wird.“ Dann müsste er sich auch noch merken, wo genau sich das Hotel befand. Hoffentlich fand er es am Ende des Tages auch wirklich wieder. Aber was, wenn nicht? Und was sollte er unterwegs eigentlich essen? Ehe er diese Fragen stellen konnte, schloss Solaris die Tür bereits wieder vor ihm und schnitt ihn damit effektiv von sich ab. Er konnte nur noch auf die geschlossene Tür starren und dabei erstmals die kleinen Schnitzereien bewundern, mit denen das Holz verziert war. Aber es half nicht lange, um ihn abzulenken. Er seufzte leise. „Gut, wenn ihr mich nicht bei euch haben wollt ...“ Der Gedanke erfüllte ihn mit Einsamkeit, besonders wenn er sich dabei wieder an Szenen erinnerte, in denen er gemeinsam mit den beiden gute Zeiten erlebte. Wohin waren sie nur verschwunden? (Auch wenn die passendere Frage, so ging es ihm durch den Kopf, wohl eher lautete: Wann hatten sie jemals stattgefunden?) Sein Blick wanderte den Gang hinunter, versuchte, das goldene Muster des Teppichs zu erfassen, was gar nicht so einfach war in dem sanften gelblichen Licht, das von den Lampen an der Wand ausging. Aber zumindest war er allein. Nach einem kurzen letzten Blick auf die geschlossene Tür, ging er den Gang hinunter, um das Hotel wirklich zu verlassen, wie es ihm aufgetragen worden war. Solaris wartete derweil auf der anderen Seite der Tür, bis er hören konnte, dass Stellaris davonging, wenn auch nur sehr ungern, wie den zögernden Schritten, die durch den Teppich fast bis zur Unhörbarkeit gedämpft wurden, zu entnehmen war. Erst dann wandte er sich von der Tür ab und ging zu Lloyd zurück, der noch immer bewegungslos im Schneidersitz auf dem Bett verharrte. Ungefragt setzte Solaris sich neben ihn. Er sagte nichts, musterte Lloyd aber so lange, bis dieser es nicht mehr aushielt und wieder ihn ansah. „Was willst du denn von mir?“ „Wissen, was du gerade denkst, was dir durch den Kopf geht. Die Begegnung mit Cordia muss sehr unangenehm für dich gewesen sein.“ Er hob die Schultern ein wenig. „Nicht so wirklich. Ich hatte damit gerechnet, dass wir uns treffen werden, wenn wir versuchen, dieses Juwel zu stehlen. Es ärgert mich, dass es ihr wirklich vor uns gelungen ist. Wie kann das denn sein? Was haben wir falsch gemacht?“ Solaris wollte ihm erwidern, dass es an Stellaris' fehlender Erfahrung gelegen hatte. Wären sie mit einem anderen Stellaris unterwegs gewesen, hätte Cordia es bestimmt nicht geschafft. Aber der letzte war gestorben, genau wie jene zuvor, und damit war ihnen nur dieser unerfahrene geblieben. Deswegen war ihnen das alles auch nicht gelungen. Aber er sagte es nicht, weil er wusste, dass Lloyd es ohnehin bereits dachte und er ihn nicht zusätzlich aufregen wollte. Mit Sicherheit hätte das nur zu einem Streit geführt. „Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Lloyd. „Wir können nicht ohne das Juwel zurückkehren.“ Bei ihrem ersten Fehlschlag hatte Stellaris vorgeschlagen, gar nicht zurückzukehren. Das hatte er mit seinem Leben gezahlt, nachdem Master sie innerhalb weniger Tage wieder aufgespürt hatte. Deswegen musste Solaris sich eine andere Vorgehensweise einfallen lassen: „Wir holen es zurück.“ Lloyd runzelte seine Stirn. „Bist du wahnsinnig? Wir wissen nicht einmal, wo sie überhaupt ist. Und selbst wenn, dann hätte sie immer noch den Heimvorteil.“ „Sie wird selbstsicher genug sein, um nicht damit zu rechnen, dass wir sie angreifen. Und wir können sie ganz einfach finden. Ich muss nur nach ihr suchen.“ „Und du glaubst wirklich, du findest sie?“ Solaris zuckte mit den Schultern. „Wenn ich es nicht versuche, werde ich es nie erfahren.“ Er stand wieder von seinem Platz auf. „Deswegen bin ich jetzt auch unterwegs. Aber mach dir keine Sorgen wegen mir. Sobald ich weiß, wo sie ist, komme ich euch erst mal holen. Okay?“ Lloyd bestätigte das nicht, aber er widersprach auch nicht, was damit eigentlich schon ein Einverständnis darstellte. Also schritt Solaris zur Tür hinüber, hielt, die Hand auf der Klinke, aber noch einmal inne. „Ruh dich am besten einmal aus, ja? Dann reden wir wieder.“ Ohne abzuwarten, was Lloyd darauf sagen könnte, verließ Solaris das Zimmer, um sich seiner ganz eigenen Mission zu widmen. Die Eingangshalle war leer, als er sie durchquerte, lediglich an der Rezeption stand ein Hotelmitarbeiter, der gerade eifrig mit dem PC beschäftigt war. Schweigend ging Solaris an ihm vorbei und trat schließlich auf die Straße, die gleich doppelt so laut war wie noch in der Lobby zuvor. Viel zu viele Menschen strömten an diesem Gebäude vorbei, weswegen er sich einen Moment lang nicht traute, sich dem Strom anzuschließen, aus Angst, fortgerissen zu werden. Gerade als er endlich den Mut gesammelt hatte, einen Fuß hinauszusetzen, bemerkte er etwas. Es war nur für den Bruchteil einer Sekunde sichtbar, aber es war eindeutig grünes Haar gewesen – und er kannte nur eine einzige Person mit einer solchen Haarfarbe. Ohne weiter zu zögern stürzte er sich in den Strom der Menschen, um ihr zu folgen. Er musste sie erreichen, da gab es Dinge, die er noch nicht ausgesprochen hatte, Fragen, die gestellt werden mussten. Deswegen drängte er sich an den anderen vorbei, ignorierte die empörten Rufe jener, die er dabei streifte oder stieß, bis er den wippenden grünen Pferdeschwanz schließlich vor sich sehen konnte. Die Frau, die ihn trug, lief selbstsicher die Straße entlang, ohne sich um die anderen Menschen zu kümmern, als wäre es ihr vollkommenes Recht, sich allen anderen überlegen zu fühlen. Endlich kam er nah genug an sie heran, er streckte die Hand aus, um sie an der Schulter zu fassen – und sie blieb tatsächlich stehen. Stellaris genoss es, sich von dem Strom treiben zu lassen. Immerzu war er von Menschen umgeben, die er zwar allesamt nicht kannte, ihm aber das Gefühl gaben, nicht mehr allein zu sein. Es war ein derart angenehmes Gefühl, dass er beschloss, seinem Bruder zu Hause unbedingt davon zu erzählen. Vielleicht könnten sie es eines Tages auch gemeinsam erfahren, wenn sie irgendwann einmal zusammen hierher zurückkehrten. Bislang war er auch noch keinem Söldner aus Lanchest begegnet – außer sie trugen andere Jacken, wenn sie privat unterwegs waren, das konnte er natürlich nicht wissen. Vielleicht waren sie aber auch gerade alle im Museum, um herauszufinden, was eigentlich in der letzten Nacht geschehen war. Auf einem großen Platz, der wohl so etwas wie der Marktplatz zu sein schien, angekommen, hielt er schließlich wieder inne. Dort war ein riesiger Tannenbaum errichtet worden, jemand hatte ihn mit prachtvollen Glaskugeln behangen, die angebrachte Lichterkette verbreitete selbst im durch die Wolken blassen Sonnenschein eine angenehme Atmosphäre. Vor diesem Baum teilte sich die Menge, um in die unterschiedlichen Richtungen weiterzulaufen. Jeder war derart beschäftigt, dass er keine Augen für diesen Anblick hatte, der Stellaris tief in seinem Innersten berührte. Er atmete tief ein, wobei er auch einen Duft in die Nase bekam, der ihm vollkommen unbekannt war. Irgendetwas, das süß und gleichzeitig würzig war. Es passte wunderbar zur Atmosphäre dieses Platzes, weswegen er noch weniger verstand, dass außer ihm niemand innezuhalten schien. Jedenfalls bis er plötzlich eine Stimme neben sich hörte: „Wunderschön, oder?“ Er blickte zur Seite und entdeckte ein junges Mädchen neben sich. Sie mochte etwa elf Jahre alt sein, aber aufgrund ihrer zierlichen Statur empfand er es als schwer einschätzbar. Manchmal sah er Jungen im Waisenhaus, die er ebenfalls derart jung einschätzte, und sich doch als wesentlich älter entpuppten. Bei ihr ging er aber einfach davon aus. Ihr violettes kurzes Haar faszinierte ihn so sehr, dass er sie schweigend bestaunte. Da er nichts sagte, deutete sie lächelnd auf die Tanne. „Ich meine den Weihnachtsbaum. Er ist wunderschön. Finde ich jedenfalls.“ „Ich auch“, sagte er enthusiastisch. „Das ist der erste Weihnachtsbaum, den ich sehe.“ Manch anderer könnte das falsch verstehen oder es fragwürdig finden, aber sie behielt ihr Lächeln bei. „Dann hast du dir genau den richtigen dafür ausgesucht. Und auch noch genau im richtigen Jahr. Der letzte sah nicht derart schön aus.“ Also gab es wirklich jedes Jahr einen solchen. Bislang hatte er nur davon gelesen, in ihrem Waisenhaus hatte es immerhin keine gegeben – was immer dafür gesorgt hatte, dass er sich wunderte, dass sie Bücher bereitstellten, die ihre Kinder darauf aufmerksam machten, dass es so etwas wie Weihnachtsbäume überhaupt gab. „Da bin ich aber froh.“ Für einen kurzen Moment betrachteten sie die Tanne gemeinsam, dann wandten sie sich wortlos wieder einander zu. Sie hielt ihm ihre Hand hin. „Ich bin Kata.“ Das war ein ungewöhnlicher Name, aber umso besser könnte er sich ihn merken. Deswegen erwiderte er ihren Händedruck. „Ich bin Stellaris.“ Ihre braunen Augen schienen aufzuleuchten. „Das ist ja ein toller Name~. Darauf bist du bestimmt sehr stolz.“ „Ach~.“ Er winkte ab. „Ich finde ihn okay.“ Für einen kurzen Moment erwog er, ihr zu sagen, dass er den Namen von seinem Direktor bekommen hatte und eigentlich vollkommen anders hieß, aber ihm war immerhin eingebläut worden, dass er von nun an nur noch Stellaris hieße, also ließ er es bleiben. „Wohnst du in dieser Stadt?“, fragte er stattdessen. Sie nickte. „Seit letztem Jahr aber erst. Davor habe ich in einer viel, viel kleineren Stadt gelebt. Und du?“ „Ich bin nur als Tourist hier. Wahrscheinlich fahren wir auch bald wieder.“ „Bist du mit deiner Familie hier?“ Sie schien wirklich neugierig zu sein, aber ihn störte das nicht. „Nein, mit ein paar Freunden.“ Eigentlich waren sie ja nicht einmal das, aber zu sehr wollte er ihre Neugier auch nicht füttern. „Es muss schön sein, mit Freunden reisen zu können.“ Sie legte die Fingerspitzen aneinander und formte so eine Art Pyramide, in die sie direkt hineinblickte. „Ich wünschte, ich könnte das auch tun.“ „Geht das denn nicht?“ Bedauernd schüttelte sie den Kopf. „Nein. Ich bin krank, deswegen mussten wir hierherziehen. Das verhindert auch, dass wir einfach woanders hingehen können. Oder dass ich verreisen kann. Ich benötige jeden Tag Medikamente.“ Vermutlich mehr als nur ein paar Tabletten, da war es mit Sicherheit besser, wenn sie in der Nähe ihres Arztes und ihres Krankenhauses blieb. „Das tut mir leid. Es hört sich auch ziemlich fies an.“ Vor allem erinnerte es ihn wieder an seinen Bruder, der stetig nur in seinem Krankenzimmer lag, sich nicht bewegte und scheinbar ewig schlief. Wenn er doch wieder wach wurde, benötigte er dann ebenfalls noch weiterhin jeden Tag Medikamente? Und Ärzte? „Ich bin daran gewöhnt“, sagte sie lächelnd. „Außerdem ist diese Stadt wirklich schön. Meinst du nicht auch?“ „Nach allem, was ich bislang gesehen habe, finde ich das auch, ja.“ Sie lächelten sich beide zu, dann betrachteten sie schweigend wieder den Weihnachtsbaum. Mehr brauchte es für sie beide auch nicht, um in diesem Moment auf einer Ebene zu sein und den Frieden zu spüren, der die Stadt zu dieser Jahreszeit erfüllen schien. Bald danach hatte Kata sich wieder von ihm verabschieden müssen. Aber nicht ohne den Wunsch auszusprechen, ihn bald wiedersehen zu dürfen. Er hoffte, dass es dazu käme, auch noch als er den Weg zum Hotel zurückging. Glücklicherweise fiel es ihm doch leichter als gedacht, das Gebäude – und auch das Zimmer – wiederzufinden. Er hätte nur ungern den beschäftigt aussehenden Mann hinter der Rezeption fragen wollen. Vor dem Zimmer hielt er noch einen kurzen Moment inne. Vielleicht war er auch viel zu früh wieder zurück. Dabei war es inzwischen derart spät geworden, dass der Wind, aufgrund der untergehenden Sonne, schon schneidend kalt wurde und es unangenehm war, sich draußen aufzuhalten. Also konnte es nicht zu früh sein. Er öffnete die Zimmertür und bemerkte sofort, dass Lloyd nicht mehr einfach nur auf dem Bett saß. Stattdessen lief er ein wenig unruhig hin und her. Als er hörte, dass die Tür geöffnet worden war, hielt er inne und wandte sich Stellaris zu – nur um enttäuscht zu seufzen. „Ich dachte, Solaris wäre wieder da.“ „Tut mir leid.“ Lloyd zuckte nur mit den Schultern und lief dann weiter auf und ab. Stellaris ging vorsichtig an ihm vorbei und ließ sich auf seinem eigenen Bett nieder, um sich von dem Tag zu erholen. Er fragte nicht, weswegen Solaris ebenfalls weggegangen war, immerhin hatte er ja gesagt, dass Lloyd allein sein müsste. Aber nun machte ihn genau das wohl reichlich nervös – und diese angespannte Atmosphäre behagte wiederum ihm nicht. Während er noch darüber nachdachte, ob und was er sagen sollte, um Lloyd ein wenig abzulenken, wurde die Tür erneut geöffnet. Ein atemloser Solaris stand darin, das Gesicht gerötet, das Haar vollkommen durcheinander, aber er lächelte triumphierend. „Ich habe sie gefunden!“ Lloyd hatte wieder innegehalten, um ihn anzustarren. „Wirklich?“ „Wen hast du gefunden?“, fragte Stellaris. Solaris sah beide nacheinander an, dann atmete er erst einmal tief durch, ehe er noch einmal seinen Triumph auskostete und verkündete: „Ich habe das Versteck von Cordia gefunden! Wir holen uns das Juwel heute Nacht zurück!“ Kapitel 7: Kein Individuum -------------------------- Solaris führte sie ohne Umschweife direkt zu dem Versteck von Cordia, kaum dass Lloyd sich wieder gefangen hatte. Stellaris wäre lieber im Zimmer zurück geblieben, besonders wenn er bedachte, wie überflüssig er im Museum gewesen war. Aber Solaris hatte überraschend durchsetzungsstark darauf bestanden, dass sie als Team gehen müssten und Lloyd war ebenfalls dieser Meinung gewesen. Also standen sie nun in einer verlassenen Seitengasse vor einer Treppe, die zu einem Gitter hinabführte. Vermutlich verbarg sich dahinter die Kanalisation, jedenfalls dem Geruch nach. Aber Lloyd ließ sich davon nicht abhalten. Er ging die Treppe hinab, wobei er mehrere Stufen auf einmal nahm, und rüttelte erfolglos an dem Gitter. „Verschlossen“, stellte er fest. „Dann gehen wir wieder zurück“, sagte Stellaris hoffnungsvoll. So sehr er die Stadt an sich mochte, so sehr widerstrebte ihm dieser verlassene Teil, der seine Einsamkeit nur wesentlich stärker und unangenehmer hervorzuheben schien, als es dort in der Wüste der Fall gewesen war. Dass er gar nicht allein war, hatte keinen Einfluss darauf. Lloyd bedachte ihn dafür nicht einmal mit einem Blick. Stattdessen versetzte er dem Gitter einen heftigen Tritt. Es wackelte nicht, aber das daraus entstehende Geräusch hallte wie spöttisches Gelächter durch den jenseitigen Gang. Es trug jedenfalls nicht zur guten Laune Lloyds bei. Solaris trat neben ihn und schob ihn sanft beiseite. Dann zog er ein Messer hervor – und im nächsten Moment schnitt er damit bereits über seinen Unterarm. Stellaris gab ein erschrockenes Keuchen von sich, das schon einen Augenblick später in ein fassungsloses Einatmen überging, als das Blut austrat. Bislang mochte er noch nicht viele offene Wunden gesehen haben, aber er wusste, dass selbst diese kostbare Flüssigkeit den Gesetzen der Schwerkraft folgte und den Arm, wenngleich auch träge, hinunterfloss, ehe es auf den Boden tropfte – aber bei Solaris war das nicht der Fall. Das Blut kräuselte sich wie Rauch aus der Wunde in die Luft. Er musste diesen Anblick gewohnt sein, denn er behielt stets sein Lächeln bei, obwohl sogar Lloyd bereits besorgt die Stirn runzelte. Stellaris dagegen war viel zu fasziniert von diesem Anblick, um sich Sorgen zu machen. „Wie machst du das?“ „Ich kann es einfach.“ Das war Stellaris' einziger Kommentar dazu, seine einzige Anerkennung dieser ungewöhnlichen Fähigkeit. Das Blut wickelte sich wie ein Faden um einige der Gitterstäbe – und fraß sie dann regelrecht auf, wie Rost, der sich im Zeitraffer durch jede Schicht arbeitete, immer mehr davon abtrug, bis nichts mehr von dem einstigen Metall übrig war. Stellaris war derart fasziniert davon, dass er fast verpasste, wie Lloyd inzwischen Solaris' Unterarm verband. Wie üblich waren seine Bewegungen ruppig, aber an seinen zusammengezogenen Brauen – und der Geste an sich schon – war es für Stellaris deutlich, dass Lloyd sich wirklich Sorgen machte, obwohl Solaris immer noch vollkommen ruhig war. Fast als wäre er das bereits gewohnt. „Wir können jetzt rein“, sagte er sanft. „Das ist doch das Wichtigste, oder?“ „Ich kann das trotzdem nicht leiden. Denk in Zukunft lieber dreimal darüber nach.“ Erst als Lloyd mit dem Verband zufrieden war, ließ er wieder von Solaris ab und wandte sich dem nun entstandenen freien Durchgang zu. „Dann gehen wir rein und sehen nach, was uns erwartet. Bereitet euch lieber gut darauf vor.“ Stellaris wollte einwenden, dass er sich noch nie gut vorbereitet gefühlt hatte, besonders in diesem Fall, in dem er gar nicht wusste, worauf er sich eigentlich genau einließ. Er war Cordia nur kurz gegenübergestanden, aber das hatte ihm genügt, um ihm zu versichern, dass er es niemals mit ihr aufnehmen könnte. Warum erwarteten sie dann genau das nun von ihm? Aber statt das alles zu sagen, folgte er Lloyd, als dieser in den dunklen Gang und dessen Gestank eintauchte. Schon nach wenigen Schritten wusste Stellaris gar nicht mehr, wie frische Luft roch, er war sogar überzeugt, diese niemals wieder ungehindert genießen zu können, weil der Gestank sich in seiner Nase festgesetzt hatte. Sämtliche Geräusche in diesem Gang schienen sich vielfach zu verstärken, während sie von den endlos erscheinenden Wänden zurückgeworfen wurden, so dass ihre Schritte wie die einer ganzen Armee klangen. Und auch wenn er genau wusste, dass es nichts zu befürchten gab, kümmerte sich die Gänsehaut auf seinen Armen nicht im Mindesten um seine Rationalität. Nach einer ganzen Weile – das Licht des Ausgangs war schon lange verblasst –, in der nichts geschehen war, öffnete sich der Gang wirklich zu dem einer Kanalisation. Ein dreckiger brauner Wasserstrom floss neben einem erhöhten Weg, der zumindest frei von jedem Schmutz schien. Jedenfalls frei von jeden Fäkalien, die Stellaris hier unten vermutet hätte. Er dachte lieber gar nicht darüber nach, was sich alles im Wasser befand. Angewidert wich Lloyd einen Schritt zurück. „Gibt es wirklich keinen anderen Weg?“ Solaris entschuldigte sich lächelnd. „Ich war schon überrascht genug, dass es überhaupt einen Weg zu ihrem Versteck gegeben hat. Du weißt doch, wie paranoid sie ist.“ Das zu hören überraschte Stellaris dann aber auch. Würde sie wirklich einen derartigen Fehler machen? Oder fühlte sie sich ihrer Sache ausnahmsweise einmal zu sicher? Gut, in seinen Augen konnte sie sich das auch durchaus leisten. Lloyd blickte in Richtung des Ausgangs zurück. Für einen kurzen, wundervollen Moment, gab Stellaris sich der Hoffnung hin, dass sie wieder nach draußen gingen – aber schließlich wandte Lloyd sich mit einem Seufzen wieder in die Richtung, in die sie zuvor gegangen waren. „Sehen wir zu, dass wir hier schnell durchkommen. Ich will nicht für immer den Geruch von Scheiße in der Nase haben.“ Also warteten sie wirklich nicht länger und setzten ihren Weg mit raschen Schritten fort. Das einzige Licht wurde dabei von den Taschenlampen erzeugt, die sie mit sich trugen – selbst Stellaris hatte eine solche in seiner Tasche gefunden –, die einzigen Geräusche waren ihre Schritte und das nicht abreißende Flüstern des Stroms, den er geradezu krampfhaft nicht anzusehen versuchte. Er versuchte nicht einmal den Mund zu öffnen, aus einer irrationalen Furcht heraus, dass dieser unangenehme Geruch auch noch in andere seiner Körperöffnungen hineinkriechen könnte. Es erstaunte ihn, bei genauerem Nachdenken, dass es nicht Solaris war, der die Führung übernommen hatte, wenn er doch auch derjenige war, der das Versteck erst entdeckt hatte. Verstanden sich die beiden derart gut, dass sie sich Informationen teilten, ohne sie sich mitteilen zu müssen? Es wäre jedenfalls beneidenswert. An einer Kreuzung hielt Lloyd wieder inne und sah sich um. Stellaris hätte nicht gewusst, wohin sie sich nun wenden sollten, denn egal, wohin er mit seiner Taschenlampe strahlte, jeder einzelne Gang sah vollkommen gleich aus. Lediglich die Zeichen an den Wänden unterschieden sich voneinander, aber sie schienen nur Bezeichnungen zu sein, die es den Arbeitern erleichtern sollte, sich zurechtzufinden. Für ihn hatten sie keinerlei Aussagekraft. Solaris betrachtete sie allerdings interessiert, ehe er in eine bestimmte Richtung wies. „Wir müssen dort entlang.“ „Bist du dir sicher?“, fragte Lloyd skeptisch. So viel zur Theorie, dass sie sich innerlich Informationen teilten. Solaris sah ihn lächelnd an, aber etwas an seinen Augen irritierte Stellaris. Etwas war definitiv anders. Aber es fiel ihm in dieser Umgebung schwer, es wirklich zu begründen. Lloyd schien sich jedenfalls nicht darum zu kümmern, während er diesen Blick erwiderte. „Ich bin mir absolut sicher. Denk daran, dass ich vorhin bereits hier war.“ War das möglich? Hatte Solaris vorhin wie diese Kanalisation gerochen? Hätte ihnen das entgehen können, falls es so gewesen war? Doch ehe er das vorbringen konnte – was er sich vermutlich ohnehin nicht getraut hätte –, nickte Lloyd bereits und setzte seinen Weg in die von Solaris gewiesene Richtung fort. Seinen beiden Begleitern blieb nicht viel anderes übrig als ihm zu folgen. Schließlich gelangten sie an eine Leiter, deren oberes Ende sich in der Dunkelheit verlor. Solaris deutete hinauf. „Es ist dann nicht mehr weit.“ Ohne zu zögern erklomm Lloyd zuerst die Leiter. Stellaris wollte eigentlich als letzter gehen, aber Solaris' fordernder Blick verriet ihm, dass er das vergessen konnte. Statt eines Widerspruchs kletterte er also als zweiter. Er traute sich nicht, hinunterzusehen, aber er konnte hören, dass Solaris ihm wirklich folgte. Eine Erkenntnis, die ihn aber nur mit weiterer Unruhe erfüllte. Es gab keinen Erinnerungssplitter, keine kurzzeitig aufflackernde Vision vor seinem inneren Auge, es war einfach nur ein Ziehen in seinem Magen, das ihm sagte, dass etwas nicht stimmte. Aber er wusste auch, dass es zu spät war, zu fliehen. Am oberen Absatz fand Stellaris sich gemeinsam mit seinen Begleitern vor einem Rolltor wieder. Lloyd hatte bereits den roten Knopf ausfindig gemacht, um es zu öffnen. Aber es setzte sich nur langsam, ächzend in Bewegung als wäre es schon lange nicht mehr benutzt worden. „Bist du sicher, dass du schon einmal hier warst?“, fragte Stellaris. Er sah zu Solaris hinüber, dessen Blick auf das Rolltor gerichtet war. Keine Antwort. Sollte er nachhaken? Auf eine Antwort bestehen? Trotz der unheimlichen Atmosphäre? Lloyd nahm ihm die Entscheidung – glücklicherweise – bereits ab: „Langsam kommt mir das auch seltsam vor, Sol. Du kommst mir seltsam vor!“ Und dennoch hatte er den Knopf betätigt. Stellaris war sich nicht sicher, wer von ihnen seltsamer war. Vielleicht handelte es sich dabei auch um ihn selbst. Doch ehe er das weiter erörtern oder Solaris antworten konnte, erklang ein anderes Geräusch neben dem ächzenden Rolltor: Ein seelenloses Stöhnen, das Schlurfen nackter Füße über einen Betonboden. Und es waren unzählige. Im selben Moment, in dem ihn diese Erkenntnis kam, wurde er von einem furchteinflößenden Gefühl überflutet. Er spürte ihre Anwesenheit, wusste, dass es Dutzende waren, die nach Fleisch gierten, weil sie hier unten keines bekamen. Fleisch. Licht. Fleisch. Luft. Fleisch! Sonne. Fleisch! Jemand griff nach seiner Schulter, rief ihm etwas zu, aber die Worte waren nur noch Schall, Lärm, unbedeutend. Stöhnen. Fleisch. Tod. Fleisch! Lärm. FLEISCH! Er taumelte. Die geballte Verzweiflung schlug auf ihn ein, wollte ihn niederwerfen, zerreißen, zerfetzen, auflösen, fressen. Oh, wie hungrig er war, wir waren! War er noch ein Individuum? War er einer von ihnen? Es war ihm unmöglich, das zu unterscheiden. Aber war das wichtig? Er müsste einfach nur fressen. Für immer. FressenFRESSENfressenFressenFRESSENfressenFressenFRESSENfressenFressenFRESSEN- Ein brennender Schmerz breitete sich plötzlich in seinem Gesicht aus. Die Verzweiflung schwand so schlagartig wie sie über ihn gekommen war und ließ nur noch einen unangenehmen Schatten zurück, wie ein unangenehmer Geschmack einem im Mund verblieb. Verwirrt sah er Lloyd an, der direkt vor ihm stand, die Stirn wütend gerunzelt. „Bist du jetzt wieder bei dir? Wir müssen hier weg!“ Seine Wange brannte noch immer. Aber viel wichtiger war: „Wo ist Solaris?“ Außer ihm und Lloyd war niemand mehr zu sehen. Letzterer deutete mit dem Daumen hinter sich, direkt zum Rolltor. Das Ächzen des Tors war verstummt. Es war nicht vollständig offen, sondern etwa einen Meter vom Boden entfernt hängen geblieben. „Wir sollten ihm folgen“, sagte Lloyd. „Komm!“ Damit duckte er sich bereits unter dem Tor hindurch und verschwand dahinter. Alles in Stellaris sträubte sich dagegen, ihm zu folgen, aber es gab neben dem leisen Stöhnen kein weiteres Anzeichen der Zombies. Er konnte sie zwar spüren, aber nicht mehr derart intensiv wie noch gerade eben. Da ihm die Alternative, allein durch die Kanalisation zurückzukehren, nicht behagte, folgte er Lloyd schließlich doch noch. Jenseits des Tors fand er tatsächlich keine Armee von hungrigen Zombie-Wesen, sondern nur einen langen schmucklosen Gang. Ein Lautsprecher war an der Decke befestigt und gab das leise Stöhnen wieder. So hatte man sie austricksen können. Aber weswegen? Lloyd war bereits bis zu einer Ecke vorgelaufen und gab Stellaris zu verstehen, dass er ihm schnell folgen sollte, dann rannte er weiter und verschwand wieder aus seinem Blickfeld. Das mulmige Gefühl in seinem Inneren ignorierend, lief er Lloyd hinterher und fand sich bald mit ihm vor einer metallischen Tür wieder. Auch hier konnte er das Stöhnen der Wesen jenseits davon hören, doch als er das an Lloyd weitergab, winkte dieser nur verärgert ab. „Das ist bestimmt auch nur ein Lautsprecher“, erwiderte er. „Ich falle da nicht drauf herein!“ Er riss die Tür auf und trat hindurch, Stellaris folgte ihm – und starrte ungläubig nach unten. Sie beide standen auf einer metallischen Konstruktion, die mit Drahtseilen an der Decke befestigt war, unter ihnen war ein großer Raum, der womöglich einmal eine Lagerhalle gewesen war. Aber er war nicht leer. Unzählige dieser Zombie-Wesen standen hier, sie hielten die Blicke gesenkt, gaben ein leises Stöhnen von sich, schienen ihre lebenden Besucher aber nicht zu bemerken. Zumindest gab es aber keine Flut an Gedanken mehr, die auf ihn einzuströmen und ihn zu übernehmen versuchte. „Wo kommen die alle her?“ Lloyd antwortete nicht. Sein eigener Blick ging stetig umher, auf der Suche nach etwas – und auf der anderen Seite der Halle, ebenfalls auf einer metallischen Konstruktion, entdeckte er ihn auch: „Solaris!“ Der Gerufene reagierte nicht, sondern lief unbeirrt auf eine weitere Tür zu. Die Wesen unter ihnen hoben dafür aber die Köpfe und sahen in Lloyds Richtung. Das Stöhnen wurde noch eindringlicher, fast hoffnungsvoll, falls sie so etwas wie Gefühle noch irgendwo besaßen. Mit gehobenen Armen versuchten sie alle auf die Seite der Halle zu kommen, wo Lloyd sich befand, ohne jede Rücksicht auf die anderen ihrer Spezies. Stellaris beobachtete mindestens zwei, die über ihre eigenen Füße stolperten und dann von den anderen niedergetrampelt wurden. Er wich bis zur Tür zurück, stellte aber fest, dass er sie von dieser Seite nicht mehr öffnen konnte. Lloyd kümmerte sich nicht darum, sondern rannte direkt los. Eine nicht sonderliche stabile Brücke führte ihn über die Zombie-Halle, sie wackelte bei jedem Schritt, den Lloyd auf ihr tat. Die Wesen darunter folgten seinen Bewegungen mit einem klagenden Stöhnen und wandten sich langsam der anderen Seite zu. Auf der nun verlassenen Seite blieben drei der Wesen, die zerquetscht worden waren, unbeachtet liegen. Stellaris haderte noch mit sich, ob er Lloyd bei dieser instabilen Lage folgen könnte, da ertönte ein lautes Knirschen, gefolgt von einem Knall. Im nächsten Moment stürzte die Verbindungsbrücke nach unten. Ein dumpfer Laut verkündete, dass sie mehrere dieser Wesen unter sich begraben haben musste. Lloyd hielt nicht einmal inne, er verschwand durch die gleiche Tür wie Solaris vor ihm. Auf sich allein gestellt, ließ Stellaris den Blick schweifen. Die Wesen hatten ihn noch nicht bemerkt, sie standen auf der anderen Seite der Halle, die Arme nach oben gestreckt, aber sie kamen damit nicht einmal ansatzweise an den Metallsteg heran. „Ich bin wirklich allein hier“, flüsterte Stellaris. „Ich muss hier raus ...“ Seine Augen wanderten weiter umher, auf der Suche nach einem Ausweg, der nicht erforderte auf die andere Seite klettern zu müssen. Schließlich blieb sein Blick an einer unscheinbaren grauen Tür hängen, die fast mit der Wand verschmolz. Lediglich die schwarze Klinke war in der Dunkelheit noch irgendwie auszumachen. Er gab einen Laut der Erleichterung von sich, dann lief er so leise wie möglich los. Falls diese Tür auch nicht zu öffnen war, wollte er sich nicht gegen eine Horde dieser Wesen verteidigen müssen. Genausowenig wollte er noch einmal übernommen werden. Schon der Versuch ihm seine Individualität zu nehmen war unangenehm gewesen, er wollte nicht wissen, wie es war, wenn es wirklich gelang. Wer auch immer davon profitieren könnte. Allerdings hat hier irgendjemand eine Armee von Zombies abgestellt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass jemand davon profitieren kann. An der Tür angekommen, schickte er ein kurzes Stoßgebet an Gottheiten, die er nicht einmal kannte, dann drückte er die Klinke herunter – und atmete auf, als die Tür sich wirklich öffnen ließ. Ohne jeden weiteren Blick zu den zombieartigen Wesen, ging er hindurch. Hoffend, dass er damit in Sicherheit käme und bald wieder mit den anderen beiden vereint wäre. Kapitel 8: Heimat ohne Sterne ----------------------------- Nach kurzer Zeit war Stellaris aus der unmittelbaren Nähe der Wesen entkommen. Er konnte sie nicht mehr spüren, nicht mehr riechen, sein Kopf gehörte wieder ganz allein ihm. Leider half ihm das aber nicht, während er durch den schlecht beleuchteten Gang lief. Es gab Ecken, um die er gehen musste, aber keine Abzweigungen und auch keine Türen. Außer ihm gab es nur diese viel zu grellen Halogen-Leuchtstoffröhren, die bereits in seinen Augen schmerzten. Am liebsten hätte er sich hingesetzt und ein wenig geschlafen, aber in diesem verlassenen Gang traute er sich das nicht. Er hoffte, Solaris und Lloyd waren wieder zusammen und suchten bereits nach einem Weg zu ihm. Ansonsten wüsste er nicht, wie sie jemals wieder zueinander finden sollten. Sein Mund fühlte sich trocken an, seine Kehle schmerzte bereits. Wie gern hätte er nun einfach ein Glas Wasser oder etwas anderes Flüssiges bei sich gehabt. Ich sollte das Positive sehen: Wenigstens habe ich keinen Hunger. Aber der Gedanke rang ihm selbst nur ein müdes Lächeln ab. Erst als er schon gar nicht mehr glaubte, jemals einen Ausgang zu finden, kam er schließlich an eine einfache Metalltür. Er ignorierte die Warnung, dass es sich hierbei um eine Feuerschutztür handelte (wie sollte eine Tür auch vor Feuer schützen?), öffnete sie und ging hindurch. Statt in einem Gang, befand er sich nun – endlich – in einem offenen Bereich. Im ersten Moment glaubte er sogar, wieder im Freien zu sein, aber als er den Kopf in den Nacken legte, sah er keinen Himmel. Es war dunkel, was an der Asphaltdecke über ihnen liegen mochte. Zahlreiche ausrangierte Waggons und Wohnwägen standen hier zwischen Zelten, Stoff-Pavillons und notdürftig aufgehängten Decken, um sich von anderen abzugrenzen. Licht existierte nur aufgrund einiger blauer Lampen, teilweise wegen mit Generatoren betriebene Scheinwerfern und auch wegen einer Tonne, in der ein helles Feuer loderte. Dort hatten sich einige Personen versammelt, die er nur als Silhouette wahrnehmen konnte. Aber sie unterhielten sich so sorglos und friedlich, dass er jegliche Vorsicht vergaß und sich ihnen näherte. Vielleicht, nur vielleicht, könnten sie ihm auch etwas zu trinken geben. Diese Hoffnung war genug, um ihn jegliche Angst vergessen zu lassen. Sich nähernd, konnte er entdecken, dass die Personen um das Feuer zerlumpte und verschmutzte Kleidung trugen. Ihre Haare waren fettig, sofern sie nicht Mützen trugen, um sie zu verstecken, aber die Wunden in ihren Gesichtern, die roten Äderchen auf den Nasen oder im Weiß ihrer Augen und die aufgerauten Hände konnten sie nicht verstecken. Doch trotz des im ersten Moment furchterregenden Anblicks, fühlte er eine Woge von Freundlichkeit von ihnen ausgehen. Als er aus der Dunkelheit in den Feuerschein trat, verstummte das Gespräch, alle Blicke richteten sich auf ihn. Er wusste nichts zu sagen, deswegen lächelte er so harmlos wie möglich, während er die wertenden Augen auf sich ertrug. Aus der Nähe konnte er sagen, dass sie alle freundlich aussahen, es war lediglich gesundes Misstrauen, das an ihren Blicken hafteten. Schließlich trat eine ältere Frau aus der Gruppe heraus. „Wie siehst du nur aus, mein Junge? Wo kommst du her?“ Ihre Stimme klang wirklich besorgt, so dass er ihr bedenkenlos antwortete: „Von da hinten, aus der Tür. Ich war in diesem langen Gang und da-“ „Ich verstehe schon, Junge“, unterbrach sie ihn. „Du hast bestimmt Durst. Ja, das wusste ich doch, das sehe ich dir an.“ Sie trat zurück ans Feuer und bückte sich nach etwas, dann kam sie mit einer hellen Lampe wieder zum Vorschein. „Komm mit mir, Junge, ich gebe dir etwas zu trinken.“ Stellaris bedankte sich direkt, nickte den anderen zu und folgte schließlich der Frau, die sich von den anderen löste und mit bestimmten Schritten davonging. Im Licht ihrer Lampe konnte er einen noch besseren Blick auf diese kleine Siedlung werfen. Verängstigte Menschen huschten zwischen den Zelten und anderen Einrichtungen umher, blieben aber immer lange genug stehen, um ihn interessiert zu mustern. Er erwiderte jeden einzelnen neugierigen Blick mit einem Lächeln, worauf sie wieder beruhigt schienen und weiter ihrem Alltag nachgingen. Jeder von ihnen war in alte Kleidung oder Lumpen gehüllt, die Gesichter und Hände schmutzig. „Wo sind wir hier eigentlich?“, fragte Stellaris. Die Frau lachte, aber es klang ein wenig spöttisch und ungläubig. „Weißt du das wirklich nicht, Junge? Das hier ist der einzige Ort, an dem man Leute wie uns noch duldet. Hier muss man uns ja nicht sehen.“ Also waren sie wohl wirklich immer noch im Untergrund. Aber es roch hier wesentlich besser als in der Kanalisation, deswegen konnte er sich nicht wirklich mit sich selbst einigen. Weitere Fragen dazu empfand er aber auch als sinnlos, deswegen ging er zu einer anderen über: „Was bedeutet, Leute wie ihr? Was seid ihr denn für Leute?“ Sie lachte wieder. Offenbar waren seine Fragen wirklich ungewöhnlich. Vielleicht hätte man ihm doch noch ein paar Dinge mehr beibringen sollen, ehe er das Waisenhaus verlassen hatte. „Entweder bist du der dümmste Junge, der mir je untergekommen ist, oder der naivste. Wir sind Obdachlose. Nun schau nicht so fragend. Leute, die alles verloren haben, sogar ihr Dach über dem Kopf und jetzt zusehen müssen, wie sie überleben.“ Das stellte er sich anstrengend vor. Aber gleichzeitig: „Warum geht ihr nicht einfach dorthin zurück, wo ihr aufgewachsen seid?“ Er glaubte, er könnte jederzeit nach Peligro zurückkehren. Er würde es nicht wollen, aber er war überzeugt, dass Master ihn auch nicht ablehnte, wenn er eines Tages wieder vor der Tür stand. Menschen wuchsen normalerweise in Familien auf – also müssten sie doch einfach wieder zu diesen zurückgehen können, oder? „Das ist nicht ganz so einfach. Manche von uns haben keine Familien mehr, deswegen sind sie hier. Und andere sind zu stolz, um zu ihnen zurückzukehren.“ Stolz konnte also hinderlich sein. So hatte er das noch nie gesehen. Traf das vielleicht auch auf Lloyd zu? Er müsste ihn genauer beobachten, wenn sie wieder zusammen waren. Hoffentlich trafen sie sich auch wirklich irgendwie wieder. „Ist es nicht traurig, hier unten leben zu müssen?“ Bei einem Wohnwagen blieb sie wieder stehen. „Warum sollte es traurig sein? Wir sind hier doch alle zusammen, keiner ist allein. Wir könnten uns kaum mehr wünschen.“ Er musste wieder an das Waisenhaus denken, daran wie einsam jeder dort war, obwohl sie alle im selben Haus, teilweise sogar im selben Schlafsaal lebten. Aber keiner vertraute dem anderen, sie waren alle auf sich allein gestellt und dadurch unglücklich, ohne es wirklich zu wissen. Die Frau verschwand im Inneren des Wohnwagens und kam nach wenigen Sekunden schon wieder heraus. Sie hielt ihm eine Flasche Wasser entgegen, die er ihr unter großem Dank abnahm. Noch nie in seinem Leben hatte sich das kühle Nass derart gut und erfrischend angefühlt. Seine Kehle dankte ihm inbrünstig, er trank so schnell, dass er sich fast daran verschluckte. Schließlich war die Flasche leer – und er zufrieden. „Ah, das habe ich wirklich gebraucht.“ Wie lang mochte er in diesem Gang gewesen sein? Wussten die Menschen hier von diesen Zombies in ihrer Nähe? Hatten sie keine Angst? Er fragte nicht nach den Wesen, aber doch nach der Furcht. Die Frau hatte sich inzwischen auf die Stufen ihres Wohnwagens gesetzt und beäugte ihn nach dieser Frage wieder mit einem eher mitleidigen Blick. „Du bist mir vielleicht ein kleiner Simplici.“ Er hakte nicht nach, was das war, denn sie klang eher amüsiert denn bösartig, als sie das sagte. „Jeder Mensch hat Angst vor irgendetwas, sogar vor dem Leben selbst manchmal. Und natürlich haben wir Angst, aus irgendeinem Grund zu sterben. Aber wir haben auch Hoffnung und die ist es, die uns immer weitermachen lässt.“ „Hoffnung?“ Das einzige Mal, dass er sie wirklich empfunden hatte, war bei seinem Bruder gewesen, der friedlich in seinem Krankenbett schlief. Er hoffte, dass er aufwachte, dass er Teil des Lebens wurde. Teil seines Lebens. Seine Hoffnung war komplett egoistisch. „Egoismus ist eine gute Sache“, erwiderte sie ihm, nachdem er ihr das mitgeteilt hatte. „Wie kann es eine gute Sache sein? Es bedeutet doch, nur an sich zu denken.“ „Es ist gut, die anderen im Kopf zu behalten und ihnen auch Gefallen zu tun. Aber wenn du in manchen Situationen lieber an dich denkst statt dauernd nur an andere, dann lebst du im Idealfall länger. Und die Leute, die dir etwas bedeuten, werden ebenfalls länger leben, weil dein Egoismus auch ihnen dient.“ War das wirklich der Fall? Er war sich da nicht so sicher, aber vielleicht fehlte ihm die Erfahrung. Sein Leben hatte bislang nicht viele Gelegenheiten geboten, um diese zu sammeln. Er gab ihr die Flasche zurück. „Ich hoffe, mein Egoismus kann da wirklich helfen. Bislang bin ich mir da nicht so sicher.“ „Leben bedeutet auch, hin und wieder Fehlschläge einzustecken. So sind wir im Endeffekt hier gelandet. Und nun machen wir das Beste daraus und sind den Umständen entsprechend glücklich.“ Waren sie das wirklich oder redeten sie sich das nur ein, um nicht unter den jetzigen Umständen zu leiden? Oder war es wichtig, auch dann glücklich sein zu können, wenn das Leben nicht so verlief, wie man es wollte? Er wagte nicht, danach zu fragen. Wichtiger war im Moment doch etwas anderes: „Wie komme ich von hier wieder in die Stadt zurück?“ Im Untergrund nach Solaris und Lloyd zu suchen, kam ihm wie vergeudete Lebenszeit vor. Deswegen hielt er es für intelligenter, zurück in ihr Zimmer zu gehen. Dorthin würden sie schließlich auch irgendwann kommen, wenn sie wieder klar wurden. Selbst wenn er sich nicht in der Stadt auskannte, gab es dort die Möglichkeit, Leute nach dem Weg ins Hotel zu fragen. Die Frau stand wieder auf und ersetzte die leere Flasche in ihrer Hand durch die Lampe. „Ich bringe dich zur Treppe. Wir gehen nur selten raus, sonst würde ich dich bis nach Hause begleiten.“ Während er ihr folgte, fragte er sich, weswegen sie es bevorzugten, hier unten zu leben und nicht einmal täglich hinauszugehen. War es Furcht? Oder bevorzugten sie es einfach, unter sich zu bleiben? Auch das fragte er nicht, weil er nicht glaubte, dass sie ihm eine gute Antwort darauf liefern könnte. Je weiter sie liefen, desto leiser wurden die Stimmen, desto unscheinbarer die Lichter, bis alles von der Dunkelheit verschluckt wurde. Die Lampe war im Moment das einzige, was ihn noch sehen ließ, wohin sie gingen, und ihre von den Wänden widerhallenden Schritte waren das einzige, was er hörte. Es ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Umso glücklicher war er, als er irgendwann das Geräusch von tropfendem Wasser vernahm. Bald darauf sah er auch einen schwachen Lichtschein in der Entfernung, dem sie sich rasch näherten. Dort angekommen bemerkte er, dass das weißliche Licht durch einen vergitterten Schacht in der Decke fiel. Durch diesen tropfte auch Wasser herab, das von einer großen Wanne aufgefangen wurde. Deren Boden war vollkommen mit schmutzigem Wasser bedeckt. „Damit waschen wir unsere Wäsche. Es ist nicht das beste Mittel dafür, aber besser als sie nie zu waschen.“ Dem musste er zustimmen. Aber mit den Vorzügen der modernen Wasserleitungen, konnte er noch weniger verstehen, warum jemand lieber hier war als oben. „Vielleicht ist es auch eine Art von Flucht“, gab sie schließlich zu. „Hier unten sind die Anforderungen geringer als oben. Aber ich denke nicht, dass man jemandem einen Vorwurf daraus machen kann. Jeder wird auf seine eigene Weise glücklich.“ Die Worte berührten etwas in seinem Inneren, dessen Anwesenheit ihm bislang nicht einmal bewusst gewesen war. Sobald er wieder in seinem Zimmer war, nahm er sich vor, würde er eingehender darüber nachdenken. Sie öffnete ihm die Stahltür, dahinter kam eine Treppe zum Vorschein. Das hereinfallende helle Licht blendete ihn, so dass er mehrmals blinzeln musste. In dieser Zeit schob sie ihn sanft zur Tür hinaus. „Sei vorsichtig auf deinem Heimweg, mein kleiner Simplici. Du willst ja nicht, dass dich die Monster der Realität fressen, oder?“ Ehe er darauf reagieren konnte, fiel die Tür hinter ihm zu. Er starrte auf den weißen Lack, unsicher, ob die Frau wirklich existiert hatte oder ob zumindest manches an ihr nur seiner Einbildung entsprungen war. In diesem Moment kam es ihm jedenfalls vor, als wäre er der letzte Mensch auf der Welt. Selbst der Blick in den Himmel machte ihm nun ein wenig Sorge. Vielleicht verstand er ja doch ganz gut, weswegen sie lieber dort unten blieben. Aber er gehörte eben hierher. Er lief die Treppe hinauf. Sie führte ihn in den Hof einer Firma, in der offenbar gerade nicht gearbeitet wurde. Kein Rauch kam aus den Kaminen, kaum ein Auto befand sich auf dem Hof. Allerdings bedeutete das auch, dass das Tor geschlossen war. Oberhalb davon waren scharf aussehende Spitzen angebracht, er bezweifelte also, dass er einfach darüber hinweg klettern könnte. Er lief am Gebäude entlang, um einen anderen Weg zu suchen, warf einen Blick durch die Fensterscheiben, konnte aber nur Büroräume entdecken. In manchen standen Familienfotos auf den Tischen, in anderen hingen Motivationsposter an den Wänden. Aber diese Normalität wirkte auf ihn plötzlich viel gestellter, nachdem er dort unten gewesen war. Er hoffte nur noch, dass die beiden anderen schon im Hotel waren. An der Ecke führte ein Weg nach rechts, der, wie er hoffte, ihn zurück auf die Straße bringen könnte. Er bog um diese Ecke – und sah sich einer Person gegenüber, mit der er hier nicht gerechnet hätte: „Kata? Was machst du denn hier?“ Sie antwortete ihm nicht, sondern sah ihn nur an. Ihre Anwesenheit, fern von allen Menschen, wirkte so deplatziert, dass er glaubte, sich das nur einzubilden. Deswegen wollte er auf sie zugehen, nach ihrer Hand greifen, aber ihr plötzliches unheimliches Lächeln ließ ihn innehalten. „Hinter dir~“, flötete sie mit süßlicher Stimme. Er blinzelte irritiert, drehte sich um – und spürte einen heftigen Schmerz, als würde sein Kopf geradewegs bersten. Er fühlte noch, wie er zu Boden stürzte, hörte Kata leise lachen, dann wurde er von vollkommener Dunkelheit eingehüllt, in der es nicht einmal mehr Sterne gab. Kapitel 9: Im Labor ------------------- Er war nie zuvor in einem Labor gewesen. Deswegen war er von den vielen Computern, auf denen unentwegt etwas berechnet zu werden schien, absolut fasziniert. Genau wie von den Käfigen, in denen sich die unterschiedlichsten Tiere befanden, oder auch die mannshohen Kapseln, in denen manchmal gar nichts war, hin und wieder aber auch blubbernde Flüssigkeiten, in denen etwas schwebte, das er nicht erkennen konnte, ihn allerdings an Organe erinnerte. Aus Neugierde blieb er immer wieder stehen, um es genauer mustern zu können. Vermutlich war dies auch schuld daran, dass er plötzlich einen stechenden Schmerz in seinem Kopf spürte, ehe alles schwarz wurde. Deswegen achtete er beim zweiten Versuch darauf, nicht zu viel Zeit mit seiner Faszination zu verbringen. Er ignorierte die Kapseln, die Käfige und die Computer und begab sich möglichst direkt zu seinem Ziel. Leider war ihm dabei nicht bewusst gewesen, dass seine Gegnerin ihn erwartet haben dürfte und ihn deswegen in eine Falle laufen ließ. Es war eine altmodische, in der Speere aus der Wand schossen und ihn einfach aufspießten. Der nächste achtete deswegen auf auffällige Markierungen an den kahlen Wänden, um diesen auszuweichen. Unglücklicherweise wurde er dabei in einem Raum eingesperrt, dessen Wände sich aufeinanderzubewegten und ihn kurzerhand auslöschten. Daraus lernend mied der nächste jenen Raum. Außerdem achtete er auch bei allen anderen, die er betrat, darauf, dass er keinerlei Kratzspuren auf dem Boden sehen konnte. Das hinderte einen wild umherstreifenden Zombie aber nicht daran, ihn von hinten anzufallen und ihm die Halsschlagader durchzubeißen. Der darauf folgende tötete seinen zum Untoten gewordenen Bruder. Es gelang ihm sogar, Explosionsfallen auszuweichen, indem er die damit verbundenen Rätsel in der vorgegebenen Zeit löste. Er fühlte sich vollkommen sicher – bis er durch eine scheinbar harmlose Tür ging. Er hörte noch ein verräterisches Klacken, dann folgte bereits ein lauter Knall. Und dann nichts mehr. Sein Nachfolger umging diese Schrotflinten-Falle, indem er das Schloss einer anderen Tür im selben Gang knackte. Der Lüftungsschacht ließ ihn dieses Problem ganz leicht umgehen. Außerdem war er umsichtig genug, weitere Fallen, die durch Draht ausgelöst wurden, gar nicht erst zur Gefahr werden zu lassen. Mit Säure-Angriffen hatte er allerdings nicht gerechnet. Dem nächsten wurde erst wirklich bewusst, wie viele Fallen es waren. So viele, dass er sich zu fragen begann, wie es einer einzelnen Frau gelingen konnte, sich das alles einfallen zu lassen. Etwa zehn Versuche und Körper später, gelangte er tatsächlich zu ihr. Sie war hübsch, das musste er ihr zugestehen. Nichts an ihr ließ darauf schließen, dass sie etliche seine Brüder bereits in den Tod getrieben hatte. Ihr weißer Laborkittel war makellos rein und umspielte ihre schlanke Figur, ihr grünes Haar war zu einem akkuraten Pferdeschwanz gebunden, ihre Brille saß perfekt auf der spitzen Nase in ihrem schmalen Gesicht. Ihre High Heels klickten auf dem Boden, als sie sich ihm näherte. Ihr Blick war dabei auf ein Klemmbrett in ihrer linken Hand gerichtet, ihre rechte steckte in ihrer Kitteltasche. „Du bist bereits Subjekt Nummer 324 des Sternensplitter-Projekts.“ Ihre Stimme war eiskalt, frei von jedem Gefühl, als wären ihr solche vollkommen unbekannt. „Ich hatte eigentlich erwartet, dass bereits ein Vertreter einiger Generationen zuvor zu mir durchkommt. Waren meine Fallen so gut oder waren deine Brüder einfach nur dumm?“ Vor ihm blieb sie stehen, musterte ihn über den Rand des Klemmbretts. Seine Arme waren von Pfeilen durchbohrt, er hatte keinerlei Gefühl mehr darin, deswegen konnte er sie nicht heben. Seine Knie fühlten sich viel zu weich an. Aber er spürte keine Schmerzen. Zumindest etwas Gutes in dieser unschönen Situation. Sie erwartete eine Antwort. „Wahrscheinlich beides. Nehme ich an.“ Ihr Blick wurde weicher, fast mütterlich. „Das ist gut zu wissen.“ Sie ließ das Klemmbrett sinken und raufte ihr Haar. „Aber gleichzeitig ist es auch ein großes Problem, dass du es bis zu mir geschafft hast. Schließlich bist du nicht ohne Grund hier.“ „Master hat mich geschickt.“ Damals, beim allerersten, der geschickt worden war, hieß es noch, die Sache sei einfach. Infiltriere das Labor. Zerstöre die Ergebnisse. Über eine Rückkehr war nie gesprochen worden. Aber der Weg hinein war schon derart schwer, da kam es ihm nicht unmöglich vor, wenn der hinaus nie geplant gewesen war. Außerdem … Sein Blick wanderte über die Reihen von Computern, deren leises Brummen verriet, dass sie fleißig am Arbeiten waren. Er wusste nichts über diese Technik. Hätte er einfach alle Computer zerstören sollen? Wäre das ausreichend gewesen? Oder ging es um das Fleisch, das auf Tafeln fixiert, auf den Tischen wartete, endlich aufgeschnitten und erforscht zu werden? Er wusste es nicht. Hätte er einfach alles vernichten sollen? Sie fragte nicht weiter. Sicher kannte sie seine Pläne. „Ich kann nicht zulassen, dass du dein Ziel erreichst, auch wenn es mich mit Stolz erfüllen würde.“ Sie wandte sich ab und ging zu einem nahen Tisch, auf dem sie das Klemmbrett ablegte. „Und weitere Besuche deinesgleichen lenken mich nur von meiner Arbeit ab. Deswegen werde ich wohl oder übel ein Exempel statuieren müssen.“ „Was …?“ Sie nahm etwas in die Hände und hob es hoch. Da erkannte er es als kurzstieliges Beil. Die Schneide glitzerte im einfallenden Licht der Kunststoffröhren. „Das hier wird mir mit Sicherheit mehr wehtun als dir.“ Ihr Ton war derart schwerwiegend, dass er ihr das sogar glaubte. Selbst als sie herumfuhr, ausholte und das Beil auf seinen Hals niederfahren ließ. Sein letzter Gedanke, bevor alles schwarz wurde, war, dass es ihr wirklich Schmerzen bereiten musste, wenn sie sogar zu weinen begann. Der nach ihm Folgende war sich allerdings nicht mehr so sicher, ob es sich um Tränen oder doch nur Blutspritzer gehandelt hatte. Er umging jede Falle, deaktivierte die Balliste am Ende, um den Pfeilen zu entgehen und gelangte so in voller Stärke ins Labor, wo er von dessen zornigen Herrin bereits erwartet wurde. „Ich dachte, ich hätte dir und deinem Meister verständlich genug gemacht, dass ich keine weiteren Einmischungen mehr dulden werde.“ Er wusste nicht genau, woraus ihr Exempel bestanden hatte, aber es war offenbar wirkungslos geblieben, da er nun hier war. „Ich bin nur hier, um meinen Auftrag zu erfüllen. Ich weiß, dass es sich nicht mit dem trifft, was du dir als Ausgang wünschst, aber bitte tu mir den Gefallen, dich nicht mehr zu wehren. Lass uns die Daten gemeinsam zerstören, dann steht einer Rückkehr für dich bestimmt nichts mehr im Weg.“ „Einer Rückkehr?!“, grollte sie. „Das ist das Letzte, was ich mir wünsche! Ich habe Master nicht verlassen, weil mir gerade danach war! Und schon gar nicht aus einem Grund, der es mir auch nur ermöglichen würde, wieder zurückzukehren, selbst wenn ich es wollte.“ Der Zorn in ihrer Stimme brannte wie eiskalte Nadeln. Sie musste mit Freude alle Brücken niedergerissen haben, als sie ihn verlassen hatte. „Dann tut es mir leid.“ Er zog einen Dolch aus seinem Gürtel. „Ich habe keine andere Wahl.“ Sie seufzte. „Hätte ich euch nur mit weniger Ehrgeiz ausgestattet.“ Mit einem dröhnenden Röhren setzte sich eine Apparatur, die er nicht sehen konnte, in Bewegung. Sein Blick huschte nervös umher, er versuchte, den Ursprung des Geräuschs auszumachen, aber es gelang ihm einfach nicht. „Falls er noch einmal jemanden schickt“, hörte er ihre Stimme über das Dröhnen hinweg, „hoffe ich, dass der ein wenig mehr zu bieten hat, als nur einen Dolch.“ Ehe er ihr zeigen konnte, dass er selbst etwas zu bieten hatte, öffnete sich der Boden unter ihm. Die Schwerkraft setzte augenblicklich ein und ließ ihn nach unten stürzen. Weg von ihr, weg von dem in den Augen schmerzenden Licht, weg von allem. Ich glaube, das ist der falsche Ansatz. Das war sein letzter Gedanke. Dann spürte er einen scharfen Schmerz in seinem Rücken, alles wurde dunkel. Als er diesmal erwachte, befand er sich nicht in einem weiß gekachelten Raum. Die fehlende Vertrautheit war derart irritierend, dass er mit dem Gedanken spielte, die Augen wieder zu schließen. Wenn er noch ein wenig schlief, war er vielleicht dort, wo er sein müsste. Stattdessen betastete er aber mit einer Hand seinen Rücken, soweit es ihm möglich war. Er spürte keinen Schmerz. Er konnte sich bewegen. Nur langsam, tröpfchenweise, kehrte die Erinnerung daran zurück, dass er von jemandem entführt worden war. Aber um wen es sich dabei handelte wollte ihm nicht mehr einfallen. „Ist ja aber auch egal“, murmelte er sich selbst zu. „Ich muss herausfinden, wo ich bin.“ Er setzte sich aufrecht hin und sah sich um. Es gab keine weiße Kacheln, aber die Tapete hatte diese Farbe. Sie war sauber, zeigte keinerlei Risse, das verringerte schon mal die Möglichkeit, dass es sich hierbei um eine Falle handelte. Auch der Boden erschien ihm nicht suspekt. Warum er allerdings in diesem leeren Raum, in dem nur ein Bett stand, abgelegt worden war, erschloss sich ihm nicht. Sein schmerzender Kopf lenkte ihn davon ab. Leise stöhnend griff er sich an die Stirn. Es war nicht nur Schmerz, es fühlte sich an als ob sein Schädel jeden Moment bersten müsste. Waren die Erinnerungen schuld daran? Es waren so viele, in so kurzer Zeit gewesen. Noch immer fiel es ihm schwer, das alles einzuordnen, aber zumindest war ihm nun etwas ein wenig klarer. Das war alles ich. Und jedes Mal bin ich gestorben. Aber wie kann das sein? Wenn er diese Forscherin fand, könnte er mit Sicherheit sie fragen. Vielleicht antwortete sie ihm ja, auch wenn er noch weniger drauf hatte als sein vermeintlicher Vorgänger. Er besaß nicht einmal einen Dolch. „Das darf mich nicht aufhalten.“ Er wusste ja nicht einmal, was genau sie eigentlich von ihm erwartete, vielleicht war also gerade die fehlende Waffe das, was sie sich wünschte. Um das herauszufinden, musste er aber endlich aufstehen und losgehen, sonst geschah gar nichts. Deswegen atmete er noch einmal tief durch, dann erhob er sich von dem Bett. Die Welt drehte sich um ihn, er glaubte, wieder auf dem Rücken zu liegen. Erst als er einen Schritt tat, fühlte er sich versichert, dass er noch aufrecht stand. „Hoffentlich renne ich so nicht in irgendeine Falle.“ Sonst müsste er sich auch auf seinen Nachfolger verlassen, aber darauf verzichtete er lieber. Noch einmal atmete er tief durch, dann trat er auf die Tür zu. Es wurde Zeit, dass dieser Stellaris herausfand, was hier eigentlich vor sich ging. Es war dumm, im Labor zu rennen. Das war Lloyd bewusst, aber er konnte nicht anders. Er hatte Solaris schnell aus den Augen verloren, deswegen verlangte seine Ungeduld, dass er durch alle Gänge rannte und nach dem anderen suchte. Aber seine Vernunft riet ihm, ruhig zu bleiben, einen kühlen Kopf zu bewahren, um nicht in eine der Fallen zu geraten. Er war noch nie hier gewesen, aber er wusste von dem, was diese Frau alles tat, um sich und ihre Forschungen zu schützen. Falls er hier sterben sollte, gäbe es niemanden, der Solaris helfen könnte, also musste er vorsichtig sein. Während er durch die Gänge lief, dröhnte die Stille in seinen Ohren. Nur wenn er an Türen vorbeikam, hörte er ein Schnaufen, das von mindestens einem der Tiere kommen musste, die hier als Versuchsobjekte lebten. Zumindest die lebten noch. Aber abgesehen von diesen kurzen Unterbrechungen beherrschte Stille das Labor. Seine eigenen Schritte klangen wie Schüsse, obwohl er bereits so vorsichtig wie möglich auftrat. Bei jeder Abzweigung musste er in seiner Erinnerung kramen, um die richtige zu wählen. Er konnte sich durch die Fallen nicht einmal eine Verzögerung erlauben. Er musste Solaris retten, so schnell wie möglich. Er folgte einem Gang, der ihm sicher erschien – als er plötzlich etwas hinter sich spürte. Er fuhr herum, zog sein Schwert und hob es hoch. Metall klirrte, Funken sprühten, dann erst sah er Cordia. Sie sah ihn gewohnt emotionslos an, scheinbar vollkommen problemlos übte sie Druck auf sein Schwert mit ihrem aus. „Du bist unvorsichtig“, sagte sie. „Ich habe keine Zeit, mich um dich zu kümmern.“ Sie sprang zurück, hielt das Schwert aber vor sich. Selbst auf diese Entfernung kam es ihm vor als versuche ihr Blick allein ihn zu einem Eisblock erstarren zu lassen. „Was tust du hier?“, hakte sie nach. „Ist das dein Ernst?! Ich bin hier, um Solaris zu retten!“ Dass es einst um das Juwel gegangen war, hatte er bereits wieder vergessen. „Alles andere interessiert mich nicht!“ Ihre emotionslose Maske verschwand, für nur einen kurzen Atemzug sah sie fast traurig aus. Aber es gelang ihr, sofort wieder desinteressiert auszusehen. „Für ihn begibst du dich also in die Höhle des Löwen? Hat Master dir das befohlen?“ Lloyd schnaubte. Das schien ihr Antwort genug: „Für ihn widersetzt du dich also Masters Anweisungen? Du hast also deine kleinen Favoriten?“ „Du weißt genausogut wie ich, dass ich nichts hätte tun können“, fauchte Lloyd. Dabei gestikulierte er in Richtung ihres rechten Beins. Im Moment war es aufgrund ihrer dunklen Hose nicht zu sehen. Aber diese saß derart eng, dass die Konturen eines künstlichen Körperteils deutlich hervorstanden. „Du konntest nur fliehen, weil du dein Bein geopfert hast!“ „Was sich gut mit dem Plan von Master traf, mich loszuwerden.“ Sie überbrückte die Distanz zwischen ihnen, ließ das Schwert niederfahren. Er wich zur Seite aus. In einer fließenden Bewegung zog er seine Pistole, zielte und schoss. Die Kugel streifte an ihrer Klinge entlang und traf ihre Hand. Achtlos ließ sie das Schwert fallen, zog mit ihrer unverletzten Hand aber direkt ein anderes Schwert. Lloyd parierte ihre Angriffe, wich ihnen aus, feuerte auf sie oder versuchte einen eigenen Klingenstreich zu vollführen. Doch Cordia war noch genauso beweglich wie damals, als sie Partner gewesen waren. Selbst als seine Pistole nur noch klickte, weil das Magazin leer war, zeigte sie keinerlei Zeichen von Müdigkeit, genausowenig wie er. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber in diesem Moment kümmerte ihn das auch überhaupt nicht. Es ging nur um diesen Kampf. Um nichts anderes. Doch dieser Augenblick endete abrupt, als ein Pfeifton erklang. Er hallte durch die Gänge, wie ein böses Omen, und ließ sie beide innehalten. Lloyd sah sich automatisch nach Fallen oder sonstigem um, das sie angreifen könnte, aber da war nichts. Cordia stellte sich aufrecht hin. „Es sieht aus, als müsste ich gehen. Aber wir werden uns bestimmt bald wiedersehen.“ Ehe er reagieren konnte, war sie bereits wieder verschwunden. Misstrauisch blieb er dennoch einige Sekunden in Angriffsstellung stehen. Als nichts mehr geschah, tauschte er das Magazin seiner Pistole aus. Weiterhin geschah nichts, es war wieder Stille eingekehrt. Offenbar war es sicher. Er steckte das Schwert in die Scheide zurück, behielt die Pistole aber in seiner Hand. So setzte er seinen Weg fort. Doch schon nach wenigen Metern und lediglich einer Ecke, hielt er wieder inne. Hinter der nächsten Tür konnte er Schritte hören, dann bewegte sich die Klinke. Lloyds Körper spannte sich an. Langsam schwang die Tür auf – und Lloyd preschte mit erhobener Pistole voran. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)