Dies Irae von Yamato_ (Tag der Rache) ================================================================================ Prolog: De Fumo ad Flammam -------------------------- Der Glaube an eine übernatürliche Quelle des Bösen ist unnötig. Der Mensch allein ist zu jeder möglichen Art des Bösen fähig.” -Joseph Conrad- Prolog: De Fumo ad Flammam Vom Rauch ins Feuer Gebiet Rose, ehemaliges Hauptquartier des Kundschafterkorps, September 850, zwei Wochen nach dem Angriff auf Trost Verdammt! Erwin wird mir den Kopf abreißen, wenn er das rausfindet. Mit verschränkten Armen lehnte Levi an der Wand seines Schlafzimmers und blickte durchs Fenster auf den schwarzen Wald hinaus, der die alte Burg umgab. Es war eine sternenklare Nacht und noch war nichts von der Kühle des Morgens zu spüren. Knorrig ragten die alten Bäume in den Himmel hinauf, ihre Blätterdächer noch stark, aber bereits vom Verfall des Herbstes bedroht. Ab und zu durchbrach das Rauschen der Blätter die nächtliche Stille, der hohe, kaum hörbare Ton einer Fledermaus oder der Schrei eines Käuzchens auf der Jagd. Levi stand reglos wie eine Statue, die trügerische Ruhe in seinem Gesicht und in seiner Körperhaltung verriet nichts von dem Aufruhr, der in seinem Inneren herrschte. Jemandem, der ihn sehr gut kannte, wäre vielleicht der nachdenkliche Ausdruck in seinen Augen aufgefallen, die sich jetzt vom Fenster abwandten, um ihre Aufmerksamkeit stattdessen auf die Mitte des Zimmers zu richten. Zusammengerollt wie ein junger Welpe lag Eren in Levi’s Bett, das Gesicht halb unter der Bettdecke, halb unter seinem zerwühlten Haarschopf vergraben. Außer einem Arm, der die Decke umklammert hielt und einem Stück Fuß, das darunter hervorlugte, war nichts weiter von ihm zu erkennen. Nur sein gleichmäßiger Atem verriet, dass er bereits eingeschlafen sein musste. Für einen kurzen Moment wurde Levi’s Blick weich. Eren sah im Schlaf sehr kindlich aus und einen Augenblick lang plagten ihn Gewissensbisse, als er den Jungen betrachtete. Doch schnell wurde ihm bewusst, dass Reue hier fehl am Platz war, ja dass sie geradezu heuchlerisch anmutete. Eren hatte so gut wie keine Entscheidungsfreiheit, was sein eigenes Leben betraf. Er hatte es sich nicht ausgesucht, zu einer Schachfigur im Spiel der Mächtigen zu werden. Er hatte es sich nicht ausgesucht, sich in einen Fünfzehn-Meter-Titan verwandeln zu können. Mitglied des Kundschafterkorps zu werden, war zwar sein eigener Wunsch gewesen, doch letztendlich hatte er auch diese Entwicklung weniger seiner eigenen Entscheidung zu verdanken, als Erwin’s kluger Strategie. Aber dass er jetzt hier bei Levi war, das hatte Eren sich ausgesucht. Er hatte es ebenso sehr gewollt wie Levi selbst und wenn er schon nichts anderes entscheiden konnte, dann zumindest doch, mit wem er die Nacht verbrachte. Mit Selbstvorwürfen würde Levi nicht nur seine eigene, sondern auch Eren’s Entscheidungsfähigkeit anzweifeln. Und damit tat er dem Jungen Unrecht. Eren mochte jung sein, doch er war alt genug, um aufs Schlachtfeld hinaus zu reiten, also auch alt genug, zu entscheiden, mit wem er das Lager teilte. Am liebsten hätte Levi alle weiteren Überlegungen auf morgen früh verschoben und den kleinen Bengel einfach schlafen lassen, aber die Vorschriften, die Zackley ihnen auferlegt hatte, waren unmissverständlich gewesen. Der Titanenwandler hatte im Keller zu schlafen, wo er im Ernstfall keine Probleme machen konnte. Eine vollkommen lächerliche Bedingung, jetzt nachdem ihnen bewusst war, dass Eren die Verwandlung selbst in Gang setzen musste. Rein zufällig im Schlaf konnte dies nicht geschehen. Aber es half nichts, einem direkten Befehl durfte er nicht zuwiderhandeln, wenn er Erwin’s Pläne nicht gefährden wollte. „Hey, Kleiner!“ Mit drei Schritten war Levi am Bett angelangt, ließ sich auf der Bettkante nieder und rüttelte den Jungen sanft an der Schulter. „Eren! Aufwachen!“ „Hm?“ Verschlafene Augen richteten sich auf ihn. Eren gähnte herzhaft, doch im nächsten Moment fuhr er erschrocken hoch und salutierte. „Captain Levi?“ Der Anflug eines Lächelns umspielte Levi’s Lippen. Salutieren im Bett war etwas, das er Eren unbedingt abgewöhnen musste. ~*~ Gebiet Rose, Trost, nächster Morgen Armeelazarett Diederich mochte den Mann nicht. Es war nicht sein Auftreten, das ihm missfiel, diese selbstverständliche Aura der Arroganz, die den Besucher umgab, stand einem hochrangigen Offizier gut zu Gesicht. Es waren auch nicht das edelsteinbesetzte Amulett um den Hals oder die teure Taschenuhr, die an einem Goldkettchen aus seiner Brusttasche hervorlugte. Nein, es war etwas in seinen Augen, das den jungen Kadetten unangenehm berührte. Genauer gesagt, etwas in seinem Blick. Etwas, das ihm Angst machte. „Du bist Kadett Diederich Hessling, Teamführer von Team Sechzehn aus der hundertvierten Abschlussklasse?“ „Jawohl, Herr Oberst.“ Diederich setzte sich im Bett auf, um ordnungsgemäß salutieren zu können. Mit dem rechten Arm zumindest, den linken aus der Schlinge zu nehmen, wagte er nicht. Erst gestern hatten die Ärzte sorgenvolle Gesichter gezogen, als sie die Wunde betrachtet hatten, hoffentlich gab es keine weiteren Komplikationen. Die Entzündung am Bein war schlimm genug gewesen, er konnte von Glück sagen, dass es nicht steif bleiben würde. „Du hast vor einigen Wochen ein Gesuch an die Militärpolizei gerichtet. Ein Gesuch mit der Bitte um Aufnahme.“ Der Offizier verzog seine schmalen Lippen zu einem süffisanten Lächeln. „Wie kommt’s, Kadett? Ist dir etwa nicht bewusst, dass diese Ehre nur den zehn Besten eines Jahrgangs zuteil wird?“ „Es ist mir bewusst, Sir.“ Reumütig senkte Diederich den Blick, um den verachtungsvollen Ausdruck in den Augen des anderen nicht ertragen zu müssen. Was für eine jämmerliche Erscheinung musste er für diesen hohen Herrn darstellen. Wie ein Wrack musste er aussehen mit seinen Verbänden und Verletzungen und der hässlichen Narbe, die sich quer über seinen Oberkörper zog. Er hatte ja nicht einmal damit gerechnet, überhaupt eine Antwort auf sein Gesuch zu erhalten und nun musste diese Antwort ausgerechnet aus einem Besuch im Lazarett bestehen. „Du bist... wievielter auf der Rangliste? Platz fünfundzwanzig, wenn ich mich nicht irre?“ Unerbittlich starrte der Oberst auf ihn nieder. „Sprich so, dass man dich auch verstehen kann, Kadett Hessling!“ „Siebenundzwanzig“, murmelte Diederich. „Platz siebenundzwanzig“, wiederholte er ein wenig lauter, wagte es jedoch nicht, den Blick zu erwidern. „Ich hatte gehofft, Sir... ich hatte gehofft, dass ich vielleicht nachrücke. Falls einige von den Besseren sich gegen eine Karriere bei der Militärpolizei entscheiden.“ „Soso, du hattest also gehofft“, kommentierte der Offizier mit schneidender Stimme. „Und wie kommst du überhaupt auf den lächerlichen Gedanken, dass irgendjemand eine solch hohe Ehre ausschlagen würde?“ Diederich merkte, dass seine Stimme zitterte und er musste mehrere Male ansetzen, bis er den nächsten Satz herausbrachte. „Verzeiht, Oberst, aber einige aus der Hundertvierten haben den Wunsch geäußert, einem anderen Zweig des Militärs beizutreten. Darunter waren auch Kadetten mit einer höheren Punktzahl. Eren Jäger, zum Beispiel. Er war Fünfter, aber er ist zum Kundschafterkorps gegangen.“ Kaum waren die Worte ausgesprochen, bereute er sie auch schon wieder. Vorige Woche erst hatte er in der Zeitung gelesen, dass die Militärpolizei den Prozess um Eren Jäger vorerst verloren hatte. Es war mit Sicherheit keine gute Idee, diesen Mann ausgerechnet jetzt daran zu erinnern. „Diese verfluchten Narren mit ihren kranken Ideen...“ Diederich zuckte zusammen, als er das scharfe Zischen in der Stimme seines Besuchers hörte, doch im nächsten Moment wandte sich der Oberst ab und tat einen Schritt Richtung Fenster. Fast so, als wolle er die Zerstörung betrachten, die draußen in der Stadt noch immer herrschte. Seit dem Angriff vor zwei Wochen waren die Aufräumarbeiten zwar in vollem Gange, doch sie schritten nur langsam voran. Noch immer waren ganze Straßenzüge von Trost unbewohnbar. Als Diederich vorsichtig den Kopf hob, sah er, dass der Offizier schweigend nach draußen starrte, die Hand an seinen Kragen gelegt. Der Mann hatte überhaupt nicht mit ihm gesprochen, sondern mit sich selbst. Seine Finger umfassten das kostbare Amulett, welches er trug und einen Moment lang sah es so aus, als wolle er es öffnen und hineinblicken. Dann ließ er das Schmuckstück jedoch wieder los und wandte sich Diederich zu. „Ich habe eine Frage an dich, Kadett.“ „Jawohl, Herr Oberst?“ Diederich war froh, dass der Offizier sich wieder beruhigt zu haben schien und ihn nicht anschrie. “Drei Männer geraten in einen fürchterlichen Streit, ein Fürst, ein Priester und ein reicher Händler. In dem Raum, in welchem dieser Streit stattfindet, sitzt aber noch ein vierter Mann, ein einfacher Krieger mit einem Schwert. Daraufhin wendet sich der Fürst an den Mann: “Soldat, du bist mir zum Gehorsam verpflichtet, denn ich vertrete das Gesetz. Ziehe dein Schwert und töte die beiden anderen, sonst wirst du zum Verräter am eigenen Land. Daraufhin spricht der Priester zu dem Mann: “Mein Sohn, du bist mir zum Gehorsam verpflichtet, denn ich stehe für eine höhere Macht, die nicht von dieser Welt ist. Ziehe dein Schwert und töte die beiden anderen, sonst wirst du die ewige Verdammnis erleiden. Als Letzter ergreift der Händler das Wort: “Ich stehe für nichts und du bist mir zu nichts verpflichtet. Aber ziehe dein Schwert und töte die beiden anderen und ich zahle dir dreißig Silberstücke aus meinem Beutel.“ Der Oberst hielt inne: “So sage mir nun, Kadett Hessling, wer lebt und wer stirbt?“ „Ich… ich bin nicht gut in Rätseln…“ Diederich überlegte fieberhaft. Welche Antwort würde der Oberst von ihm hören wollen? Gab es nur eine richtige oder mehrere? „Vielleicht… ja, ich denke, der Mann würde auf den Fürsten hören. Ein Fürst ist doch so was wie der König und Soldaten sind zuallererst dem König verpflichtet. Von Glaubensdingen versteht ein einfacher Mann ja doch nichts und ein pflichtbewusster Soldat lässt sich auch nicht bestechen.“ Er schwieg und senkte den Kopf. War dies die richtige Antwort? Warum hatte er gezögert? Wäre es besser gewesen, etwas anderes zu sagen oder lieber zu schweigen? Warum stellte ihm dieser fremde Offizier überhaupt solche Fragen. „Möchtest du immer noch der Militärpolizei beitreten, Kadett Hessling?“ „Sehr gern, Sir, wenn es möglich ist, Sir.“ Neue Hoffnung flammte in Diederich auf. Vielleicht war es doch noch möglich, alles zum Guten zu wenden. Vielleicht würde Vater ihn bald schon nicht mehr als Enttäuschung bezeichnen. „Dir ist hoffentlich klar“, sagte der Oberst, „dass eine solche Ehre verdient werden muss.“ ~*~ Gebiet Sina, Mithras, selber Tag Kathedrale der Drei Die Mittagssonne brach sich in den Rosettenfenstern der Kathedrale und ließ die einzelnen bunten Glasstücke schillern wie kostbare Edelsteine. Herabfließende Lichtstrahlen umspielten die hohen Säulen des Kirchenschiffes, malten selbst auf den dunklen Steinboden farbenfrohe Muster und verzierten den reichlich geschmückten Hochaltar mit zusätzlicher Pracht. Huldvoll blickten die drei steinernen Göttinnen auf die kreisförmig um den Altar angeordneten Bänke hernieder, die sich zur nächsten Andacht wieder mit Gläubigen füllen würde. Maria, die gütige Mutter, Schutzherrin über Ehe und Familie, Rose, die holde Jungfrau, welche Unschuld und Verführung zugleich auf ihrem schönen Antlitz trug, und Sina, die gestrenge Richterin mit Schwert und Waage. „Ihr seht bekümmert aus, mein Sohn.“ Mitgefühl lag in Pater Lucius’ Stimme, als der alte Priester eine Hand auf die Schulter des Jüngeren legte. „Was bedrückt Euch, Bartholomäus?“ Pater Bartholomäus zögerte. Durfte er mit einem Älteren so einfach über eine Glaubenskrise sprechen? Oder konnte ihm das bereits als Ketzerei ausgelegt werden? Aber wenn er die Gedanken in sich vergrub, würde der Zweifel weiter in ihm schwären. Er verstand es nicht – wie konnten die Drei so etwas zulassen? Wie konnten sie es zulassen, dass unter den Menschenkindern ein Diener des Bösen lebte, ein Geschöpf der Hölle. Und anstatt es auszumerzen, hatte die Obrigkeit entschieden, es am Leben zu lassen. Mehr noch, sie glaubten, es ließe sich für das Wohl der Menschheit gebrauchen. Dies war eine Ungeheuerlichkeit, ein Frevel, und dennoch hatten die Drei nicht eingegriffen. War es ihnen gleichgültig? Oder würde ihre Strafe nur umso schlimmer ausfallen? „Verzeiht, ehrwürdiger Vater, doch ich möchte meine Antworten zunächst im Gebet suchen.“ Bartholomäus verneigte sich vor dem Älteren, welcher wohlwollend nickte. „Mögen die Drei Euch mit ihrer Weisheit erleuchten.“ Der junge Priester führte seine rechte Hand kurz zu Stirn, Mund und Herz, um anschließend vor dem Hochaltar niederzuknien. Seine Lippen bewegten sich im Gebet, murmelten die Worte, die ihm an so vielen Tagen Trost und Zuversicht geschenkt hatten. „Ave Maria Dea Gratiae. Ave Rosa Dea Virtutis. Ave Sina Dea Justitae...“ Heute allerdings klangen sie leer in seinen Ohren und er spürte wie der Zorn in ihm zu wachsen begann. Das Böse war auf die Erde gekommen und drohte, die reinen Herzen der Menschen zu vergiften. Der Satan wandelte unter ihnen in der Maske der Unschuld. Pater Bartholomäus erhob sich, ohne sein Gebet zu beenden. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, sein Blick hob sich in die Ferne und seine Lippen murmelten nur einen einzigen Satz: „Du sollst nicht dulden, dass ein Dämon lebt.“ Tsuzuku... to be continued Kapitel 1: Primus Ictus Campanae: Fragrantia Noctis --------------------------------------------------- "Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er für sich selbst spricht. Gib' ihm eine Maske und er wird dir die Wahrheit sagen." -Oscar Wilde- Primus Ictus Campanae: Fragrantia Noctis Erster Glockenschlag: Der Duft der Nacht Gebiet Rose, neues Hauptquartier des Kundschafterkorps, September 850, drei Tage vor der 57.Expedition Büro des Kommandanten Ein weiteres Mal schob Erwin die Figuren über den Plan und rechnete die Zeit aus, die ein Botenreiter benötigen würde, um eine Information von der Nachhut an die Spitze des Zuges zu bringen. Da der Zug sich unaufhörlich vorwärts bewegte, war genau dies der Schwachpunkt der Nachrichtenübermittlung. Sollten sie also von hinten angegriffen werden, blieben ihnen nur noch die Signalpistolen. Damit konnte man zwar ‚Titan’ oder ‚Abnormaler’ kommunizieren, aber nicht ‚Wandler’. Der Koloss war der Einfachere von beiden. Bei seiner Größe würde man ihn problemlos ausmachen können, ganz egal von welcher Seite er angriff. Er war ungeschützt und sehr leicht verwundbar, sobald es jemandem erst gelungen war, seinen Nacken zu erreichen. Nicht irgendjemandem, verbesserte sich Erwin in Gedanken. Levi. Nur Levi konnte so schnell und gleichzeitig präzise genug zuschlagen, um den Titanen zu fällen, ohne den Menschen in seinem Nacken zu töten. Den Menschen brauchten sie lebendig. Der Gepanzerte war das weitaus größere Problem. Sein Nacken war geschützt, sie würden ihn nicht so einfach besiegen können. Aber auch für ihn hatten sie einen Plan. Ein Plan, bei dem zu viele Dinge schief gehen konnten. Erwin seufzte und hob den Blick von seinen Skizzen. Dieses Mal musste er hoch pokern, vielleicht zu hoch, aber er sah keinen anderen Ausweg. Das Korps hatte nur diese eine Chance, sich zu beweisen. Besser, er hielt die Karten in der Hand als jemand, der die Spielregeln nicht kannte. Ein Klopfen an der Bürotür riss ihn aus seinen Gedanken. „Herein.“ „Kommandant.“ Nanaba salutierte in der Tür, verschwitzt und erschöpft vom langen Reiten. Vermutlich war sie gerade erst eingetroffen und auf schnellstem Wege zu ihm geeilt. An ihrer entschlossenen Miene erkannte Erwin bereits, dass ihre Mission erfolgreich gewesen sein musste. „Wir sind zurück und haben alles vorbereitet.“ „Sehr gut, danke Nanaba.“ Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln. Mehr gab es dazu nicht zu sagen, es war zu gefährlich, die Einzelheiten hier zu besprechen. Nanaba war eine der Siebzehn und somit eine der wenigen Veteranen, die in den eigentlichen Plan eingeweiht waren. Ihre Aufgabe war es gewesen, mit ihrem Team in den Hundertjährigen Wald zu reiten und dort die Falle für den Gepanzerten vorzubereiten. Alle Soldaten, die nach dem Jahre 845 ins Kundschafterkorps eingetreten waren, glaubten weiterhin, bei der Mission handle es sich um eine Übung für den Weg nach Shiganshina. Erwin hasste es, seine Leute belügen zu müssen, aber hier mussten sie Stillschweigen bewahren. Aus einem ganz einfachen Grund. Jeder, der nach dem Jahre 845 zum Korps gekommen war, konnte ein Titanenwandler sein. „Es gibt noch weitere Neuigkeiten“, fuhr Nanaba fort. „Wie es scheint, ist einer der neuen Rekruten beim Training mit der Gear abgestürzt und hat sich leicht verletzt. Ich habe es nur zufällig mitbekommen, als ich auf dem Weg in Euer Büro war. Aber ich bin sicher, Mike kann Euch dazu Genaueres sagen.“ Erwin nickte und seine Miene verdüsterte sich. Laut Trainingsplan war Mike heute dazu eingeteilt, mit den Neuen zu arbeiten. Dabei musste der Unfall passiert sein. Hoffentlich fiel der Rekrut nicht komplett aus. Ein Botenreiter weniger. „Aber die beste Nachricht hab’ ich mir für den Schluss aufgehoben.“ Ein kurzes Lächeln huschte über Nanaba’s Gesicht. „Levi und sein Team sind zurück.“ ~*~ Gebiet Rose, neues Hauptquartier des Kundschafterkorps, Stallungen, selbe Zeit „Kümmer’ dich um Résistance.“ „Ja, Captain.“ Levi’s Stimme klang wie immer, auch seine Bewegungen strahlten die übliche Ruhe aus. Doch mittlerweile kannte Eren ihn gut genug, um zu wissen, dass er angespannt war. In den vier Wochen, die sie gemeinsam auf der Burg verbracht hatten, hatte Levi sein Pferd immer persönlich versorgt. Dass er das jetzt ihm, Eren übertrug, musste bedeuten, dass er so schnell wie möglich zum Kommandanten wollte. Es war auch nicht weiter verwunderlich, schließlich hatten sie in der letzten Zeit nur wenig Kontakt zur Außenwelt gehabt und es gab sicherlich viel zu besprechen. Andererseits war es auch ein Vertrauensbeweis, dass der Captain ihm sein Pferd überließ, oder etwa nicht? Eren blickte Levi einen Moment lang hinterher, bevor er sich den Pferden zuwandte und beide am Sattelplatz anband. ‚Reiß dich zusammen’, ermahnte er sich selbst. ‚Du kannst ihn nicht anschmachten wie ein verliebtes Fräulein.’ Jetzt, wo sie im neuen Hauptquartier waren, würde er noch weitaus vorsichtiger sein müssen, denn schließlich befanden sie sich wieder unter Leuten. Vielleicht würden ihm schon bald Mikasa und Armin über den Weg laufen. Eren zweifelte nicht daran, dass sie ihren Schwur wahr gemacht und sich für das Kundschafterkorps entschieden hatten. Er konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Mit einem Schnauben tat Rebellion seinen Unwillen kund, als Eren zuerst Résistance absattelte. Er streichelte dem Hengst beruhigend über die Nüstern. „Hab’ dich nicht vergessen.“ Sättel und Zaumzeug wanderten an die Haken, zuerst waren die Tiere dran. Sie waren zügig geritten und beide Pferde waren ziemlich verschwitzt. Gab es überhaupt einen Grund vorsichtig zu sein? Levi hatte ihm nicht gesagt, wie es jetzt weitergehen würde und Eren hatte nicht gewagt, zu fragen. Vielleicht hatte der Captain gar nicht vor, diese Sache fortzuführen. Er konnte sie jederzeit beenden, so wie Eren selbst auch. Das hatte Levi ihm schon in der ersten Nacht gesagt, als er gewisse Regeln festgelegt hatte. Davor, nicht danach. Er hatte ihm sehr deutlich klar gemacht, dass es eine Welt vor und eine Welt hinter der Schlafzimmertür gab, und dass beide so unterschiedlich waren wie die Welt vor der Mauer und die Welt hinter der Mauer. Vor der Tür waren sie ein Rekrut und sein vorgesetzter Offizier. Hinter der Tür waren sie – ja was eigentlich? Dass es nichts mit einer Liebesbeziehung zu tun hatte, verstand Eren. Liebesbeziehungen waren etwas für normale Leute, die heirateten, Ehen führten, Kinder bekamen, ihr Leben zusammen verbrachten. Die Möglichkeit eines solchen Lebens hatte er längst aufgegeben. Er hatte sein Leben dem Kampf gegen die Titanen verschrieben. So wie Levi ebenfalls. Was also waren sie in der Welt hinter der Tür? Zwei Menschen, die versuchten, den Tod und die Zerstörung um sich herum zu vergessen und ohne Alpträume einzuschlafen? „Kümmer’ dich um Sturm.“ Mit einer lässigen Geste, die wohl nach Levi aussehen sollte, es aber nicht tat, kam Orlo über den Platz geschlendert und drückte Eren die Zügel seines Hengstes in die Hand. Eren war einen Moment lang versucht, mit einem spöttischen „Jawohl, Captain“ zu antworten, aber Petra kam ihm zuvor. „Was bist du, ein Idiot oder ein Faulpelz? Lass den Quatsch, Orlo und versorg’ dein Pferd selber. Eren ist nicht dein Dienstmädchen.“ Eren grinste in sich hinein. Die beiden konnten es nicht lassen mit ihren Kabbeleien. Selbst ein Blinder konnte sehen, dass Orlo bis über beide Ohren verliebt war. Hinter seiner ruppigen Art war er echt in Ordnung, aber in Petra’s Gegenwart benahm er sich immer wie ein Trottel. „Brauchst du Hilfe mit Résistance?“, fragte Petra, während sie Morgentau, ihre eigene Stute, absattelte, doch Eren schüttelte den Kopf. „Das ist kein Problem, danke. Macht Euch keine Umstände, Petra.“ „Eren.“ Petra rollte die Augen. „Wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen, dass du mich ruhig duzen kannst. Ich bin nicht deine Vorgesetzte, sondern deine Teamkameradin.“ „Entschuldigung.“ Eren spürte eine leichte Hitze auf seinen Wangen. In den vier Wochen, in denen sie soviel Zeit miteinander verbracht hatten, waren Petra, Orlo, Erd und Günther zu engen Vertrauten für ihn geworden. Da sie ihm jedoch soviel älter und erfahrener schienen, hielt er sich stets an das respektvolle ‚Ihr’ wenn er sie ansprach. Vielleicht würde sich das noch ändern, wenn sie länger als Team zusammenarbeiteten. Eren hoffte das sehr, doch wusste er auch, dass er nur auf Probe beim Kundschafterkorps war und dass sich alles noch ändern konnte. Deshalb wollte er sich lieber nicht allzu sehr in Hoffnungen verlieren. „Kein Problem.“ Petra lächelte ihn an und führte ihre Stute an ihm vorbei in den Stall. Ihr Lächeln hatte etwas Seltsames an sich, fast so, als mache sie sich Sorgen um ihn. Im nächsten Augenblick wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Was, wenn Petra über die Sache mit Levi Bescheid wusste? Sie hatte ein unheimlich feines Gespür für die Dinge, die um sie herum vorgingen. Und er selbst war nun wirklich kein Meister darin, seine Gefühle zu verbergen. Nein, mit Sicherheit bildete er sich das nur ein. Wahrscheinlich sah er überall Gespenster, weil er insgeheim Angst hatte, jemand könne es herausfinden. Laut den offiziellen Vorschriften des Militärs waren sexuelle Beziehungen zwischen einem Soldaten und seinem oder ihrem direkten vorgesetzten Offizier verboten. Genauso wie Bestechungsgelder, Glücksspiele und Alkohol im Dienst. Eren wischte die unruhigen Gedanken in seinem Geist beiseite und versuchte sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren. Beide Pferde mussten in ihre Boxen geführt, mit Stroh abgerieben und gefüttert werden. Zum Glück trugen die Boxen Namensschilder, so war es nicht allzu schwer, die richtigen zu finden. Rebellion hatte seinen Platz ganz hinten im Stall, neben einer neugierigen Stute namens Charlotte, die sofort versuchte, an Eren’s Haaren herum zu knabbern. Résistance stand weiter vorne zwischen Sturm und Morgentau, die gemächlich am Heu kauten. Orlo und Petra waren nicht mehr zu sehen, vermutlich waren sie bereits in die Sattelkammer gegangen, um Sättel und Zaumzeug zu pflegen. “Gleich gibt’s was”, versprach Eren, während er die Stute trockenrieb. “Wenn du brav bist und mich deine Hufe überprüfen lässt, hab’ ich vielleicht sogar eine Möhre für dich.” “Gut, dass du zurück bist, Levi”, erklang plötzlich eine Stimme aus dem Mittelgang zwischen den Boxen. “Ach... du bist es, Eren.” “Einheitenführer Zacharias.” Erschrocken ließ Eren das Stroh fallen und salutierte. “Falls Ihr Captain Levi sucht, er ist gerade beim Kommandanten.” “Mike reicht. Bis jemand „Einheitenführer Zacharias“ übers Schlachtfeld gebrüllt hat, haben die Titanen schon mindestens fünf Leute gefressen”, gab Mike mit einem Grinsen zurück und kippte den Eimer Wasser, den er gerade trug, in eine der Pferdetränken. “Wie war die Rückreise? Haben sie euch wieder ‘Ketzer’ hinterhergerufen?” “Nein, mir ist nichts aufgefallen.” Eren überlegte kurz, aber eigentlich hatten sie keine Schwierigkeiten gehabt. Genaugenommen waren sie unterwegs auch nicht vielen Leuten begegnet. “Gut, dann gab’s keinen Ärger.” Mike nickte zufrieden und nahm den leeren Eimer wieder an sich. “Oh, und Eren? Du solltest Résistance keine Möhren versprechen, wenn du keine bei dir hast. Pferde haben eine ausgesprochen feine Nase, vergiss das nicht. Sie erkennen alles und jeden am Geruch, das ist ihre Spezialität.” Mit diesen Worten wandte er sich um und ging in Richtung des Tores zurück. Tsuzuku... to be continued Kapitel 2: Secundus Ictus Campanae: Medicina aut Venenum -------------------------------------------------------- "Alles ist ein Rätsel und der Schlüssel zu diesem Rätsel ist ein weiteres Rätsel." -Ralph Waldo Emerson- Secundus Ictus Campanae: Medicina aut Venenum Zweiter Glockenschlag: Medizin oder Gift Gebiet Rose, neues Hauptquartier des Kundschafterkorps, Küche, selber Abend “Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Jean tatsächlich hier ist.” Eren nahm den nächsten Teller von Mikasa entgegen und stellte ihn ins Regal. “Immer, wenn ich an ihn gedacht habe, hab’ ich mir vorgestellt, dass er mit Marco ein angenehmes Leben bei der Militärpolizei führt. Marco muss ihm sehr fehlen.” Eren, Armin und Mikasa hatten sich heute Abend freiwillig für den Küchendienst gemeldet, weil ihnen diese Arbeit die Gelegenheit bieten würde, sich längere Zeit ungestört zu unterhalten. Nachmittags hatten sie nur kurz miteinander sprechen können, da der Trainingsplan ziemlich straff organisiert war. Eren hatte sich, nachdem seine Pflichten im Stall erledigt waren, den anderen Rekruten angeschlossen und mit ihnen am Training teilgenommen. Mit Erleichterung hatte er festgestellt, dass seine alten Kameraden ihn weder mieden, noch ihn mit Misstrauen behandelten. Im Gegenteil, die meisten hatten sich darüber gefreut, ihn wiederzusehen und wollten ganz genau wissen, wie es ihm ergangen war. Jetzt aber genoss er es, Armin und Mikasa endlich auch mal für sich zu haben. Und es gab so viel zu erzählen. Obwohl er nur einen Monat fort gewesen war, erschien es ihm wie eine halbe Ewigkeit. Fast so, als hätte er ein komplettes Leben ohne sie verbracht. “Ich vermisse ihn auch”, gab Armin zu, während er den nächsten Trinkbecher mit der Spülbürste bearbeitete. “Und Jean hat sich sehr verändert, seit Marco nicht mehr da ist. Er ist viel ernster geworden und nachdenklicher. Aber das trifft, glaub’ ich, auf uns alle zu.” Eren und Mikasa nickten zustimmend. Für die meisten von ihnen war der Kampf in Trost die erste Begegnung mit den Titanen gewesen und sie hatten an diesem Tag sehr viele Kameraden verloren. In den letzten Wochen war Eren zu beschäftigt gewesen, um groß darüber nachzudenken, was an diesem Tag vorgefallen war. Aber nun, da er wieder mit den anderen zusammen war, erwachte der Schmerz aufs Neue, wie eine heilende Wunde, die unerwartet wieder aufgerissen wurde. “Ich bin nur froh, dass dir nichts passiert ist.” Mikasa hielt Eren’s Hand einen Moment lang fest, als sie ihm den Trinkbecher weiterreichte. “Wir wussten ja nicht, wo du bist und was sie mit dir gemacht haben. Nicht mal schreiben durften wir dir, weil der Kommandant es nicht riskieren wollte, Botenreiter zu deinem Versteck zu schicken. Sie hätten dich auch einsperren oder foltern können und wir hätten nichts davon erfahren.” “Mikasa, wie oft denn noch, niemand hat mir etwas getan.” Eren zog seine Hand zurück. “Ich bin ein Mitglied des Korps und jetzt auch ein Mitglied von Captain Levi’s Team. Ich gehöre…” “Nein, bist du nicht”, unterbrach Mikasa ihn heftig. “Captain Levi’s Team ist dazu abgestellt, dich zu überwachen und notfalls sogar zu töten, falls du dich verwandelst und als Titan die Kontrolle verlierst. Das ist ein himmelweiter Unterschied!” Verdammt, sie hatte doch keine Ahnung! Natürlich gehörte er zum Team. Levi hatte nie einen Zweifel daran gelassen. Eren wollte protestierend auffahren, doch Armin legte ihm eine Hand auf die Schulter. “Du musst verstehen, das Letzte, das wir von dir gesehen haben, war, dass du von Soldaten aus dem Gerichtssaal gezerrt wurdest, nachdem der Captain dich zusammengetreten hatte. Und da sah es definitiv nicht danach aus, dass dich irgendjemand als Teil eines Teams betrachten würde." Eren stutzte. Armin hatte recht - für die beiden mussten die vergangenen Wochen fürchterlich gewesen sein. Er konnte ihnen wirklich nicht vorwerfen, dass sie sich Sorgen um ihn gemacht hatten. Armin ergriff den nächsten Schwung Teller und hob ihn in den Spülbottich. "Wir haben versucht, herauszufinden, wie es dir geht und wo du bist, aber niemand wusste darüber Bescheid. Das Einzige, das wir in Erfahrung bringen konnten, war, dass es beim Kundschafterkorps eine Wissenschaftlerin gibt, die sich mit der Erforschung von Titanen beschäftigt." "Hanji." Sofort stieg das Bild der unkonventionellen, warmherzigen Frau vor Eren's innerem Auge auf. "Ja, sie war längere Zeit bei uns. Sie hat mir von ihren Forschungsarbeiten erzählt." Und das nächtelang. Dennoch hatte die Erinnerung daran auch angenehme Seiten. Durch Hanji hatte Eren gelernt, manches in einem anderen Licht zu sehen. "Hat sie denn irgendwas über deine Titanenkräfte herausfinden können?", wollte Armin wissen. "Ich meine, woher kommt es, dass du dich verwandeln kannst? Ist das eine angeborene Fähigkeit oder tatsächlich das Ergebnis eines Experiments, wie Kommandant Pixis behauptet hat." "Wir wissen es nicht." Eren's Blick wanderte über die Regale, um einen passenden Platz für eine der großen Schüsseln zu finden. Mikasa zeigte es ihm mit einer Kopfbewegung in die richtige Richtung. "Eren, es könnte vielleicht sein, dass dein Vater etwas über die Sache weiß." Eren nickte und seine Miene verdüsterte sich. Der Verdacht war ihm selbst schon gekommen, gerade in der letzten Zeit, als winzige Bruchstücke von Erinnerungen in seinem Geist auftauchten. Das meiste davon waren Bilder und Gedankenfetzen, die er nicht einordnen konnte. Eine Mühle, ein Tal, eine riesige Hand - nichts was zusammenpasste oder irgendeinen Sinn ergab. Doch in einigen dieser Bilder tauchte auch sein Vater auf. Und eine Spritze, da war eine Spritze. Sie tat weh. Er bekam sie in den Arm, aber warum? Hatte sein Vater ihm die Spritze verabreicht? "Wie kommst du auf die Idee?" Stirnrunzelnd blickte er Mikasa an, ihm war gerade bewusst geworden, dass er mit seinen Freunden über seine Träume kaum gesprochen hatte. Und mit Sicherheit nicht über seinen Vater. Mikasa und Armin wechselten einen kurzen Blick. Ungesagte Worte lagen darin und für einen Moment lang verspürte Eren einen Anflug von Eifersucht. Sie hatten offenbar über diese Dinge gesprochen, als er nicht da war. "In der Nacht, als dein Vater zu uns ins Auffanglager kam, um dich mitzunehmen, hat er etwas Seltsames zu Mikasa gesagt", begann Armin und Mikasa setzte die Erklärung fort: "Ich habe Grischa gefragt, wohin er dich bringt und er versprach, er würde uns bald aus dem Lager holen, damit wir wieder ein richtiges Zuhause hätten. Er müsse nur noch ein paar Dinge erledigen, sagte er. Er klang sehr gehetzt und angespannt, überhaupt nicht wie sonst. Auch sein Gesicht war anders, er hatte Ringe unter den Augen, als hätte er lange Zeit nicht geschlafen. Ich habe ihn noch mal gefragt, wo er dich hinbringt und er sagte, du seiest krank und bräuchtest deine Medizin." Krank? Medizin? Eren blickte sie fassungslos an. Ums Haar hätte er den Teller fallen lassen, den er gerade in den Händen hielt. "Wieso weiß ich davon nichts?", fragte er scharf. "Weil du noch halb geschlafen hast, als dein Vater dich wegbrachte." Mikasa's Hände hielten in ihrer Arbeit inne. "Ich habe versucht, wach zu bleiben, stundenlang, aber irgendwann bin ich doch eingeschlafen. Den Rest kennst du. Als Armin und ich am nächsten Morgen aufgewacht sind, warst du immer noch verschwunden, aber wir haben dich gesucht und im Wald wiedergefunden. Von Grischa fehlte jede Spur. Wir haben darauf gewartet, dass er kommt und uns holt, aber er ist nie gekommen. Irgendwann haben wir die Hoffnung aufgegeben." Klirr! Das Geschirr im Regal schepperte laut, als Eren den Teller mit voller Wucht abstellte. "Das meine ich nicht. Ich weiß, dass Vater uns holen wollte und es nie getan hat. Aber du hast mir nie gesagt, dass er behauptet hat, ich wär’ krank." "Sie hat mit gutem Grund nicht darüber gesprochen", stellte Armin fest. "Eren, du weißt wie misstrauisch die Leute im Lager in Bezug auf Krankheiten waren. Die Seuchengefahr war einfach zu groß. Erinnerst du dich an das kleine Mädchen, das erkältet war und am nächsten Morgen nicht wieder aufgewacht ist. Sie ist nicht am Fieber gestorben." "Es ging das Gerücht um, sie habe die Blattern", fügte Mikasa hinzu. "Nachts haben sich ein paar Leute zusammengetan und ein Kissen genommen..." Sie beendete den Satz nicht. "Und das Schlimmste daran ist, dass man es ihnen nicht mal verübeln konnte." Obwohl der Teller in Armin's Händen längst sauber war, fuhr er fort, ihn heftig zu schrubben. "In einem der anderen Auffanglager ist die Hälfte der Leute an den Blattern gestorben. Glaubst du ernsthaft, unter diesen Umständen wäre es eine gute Idee gewesen, offen über deine angebliche Krankheit zu sprechen?" "Wir haben dich die nächsten Tage und Wochen beobachtet, aber du hast nie irgendwelche Anzeichen einer Krankheit gezeigt”, fiel Mikasa ein. “Also gingen wir davon aus, dass sich das Thema erledigt hat. Erst seit deiner Verwandlung haben wir uns wieder darüber Gedanken gemacht und uns gefragt..." ". ..ob er mit dieser angeblichen Krankheit meine Titanenkräfte gemeint hat", beendete Eren den Satz. Hatte Vater wirklich davon gewusst? Oder war er sogar dafür verantwortlich? Hatte dieses Mittel, das er ihm gespritzt hatte, etwas damit zu tun? Eren wusste es nicht. Und er würde es wahrscheinlich nie erfahren, wenn sie nicht endlich diesen verdammten Keller erreichten. Vater war fort und würde ihm keine Antworten geben. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Zu lange hatte er darauf gewartet und sich in sinnlosem Hoffen verloren. Eine Weile schwieg er und stapfte verbissen in der Küche herum, um das Geschirr zu verräumen. Mikasa machte einen Versuch, ihn anzusprechen, ließ es jedoch wieder sein, als er sie anstelle einer Antwort nur wütend anstarrte. Mit dem Kopf wusste Eren, dass er seinen Freunden eigentlich keinen Vorwurf machen konnte. Aber in seinem Herzen fühlte es sich trotzdem an wie Verrat. Erst ein lautes Scheppern riss ihn aus seinen Gedanken. Seine Hände hatten tatsächlich eine Schüssel fallen lassen, zum Glück war sie heil geblieben. Hastig hob Eren sie auf und verstaute sie im Regal. Wäre der Captain jetzt hier gewesen, hätte er ihn vermutlich ein paar Liegestütze machen lassen. Oder wäre gleich mit ihm in den Ring gestiegen. Kampftraining mit Captain Levi war bis vor kurzem die beste Möglichkeit gewesen, um aufgestaute Emotionen loszuwerden, ganz einfach deshalb, weil Eren sich bei ihm nicht zurückhalten musste. Levi war nicht körperlich stärker als Eren, hatte aber langjährige Erfahrung und unglaubliche Reflexe. Außerdem verstand er es meisterhaft, einen Gegner mit dessen eigenem Schwung aufs Kreuz zu legen. Wenn er auf Levi zustürmte, lag Eren hinterher meistens im Sand und das, obwohl er ein vortrefflicher Nahkämpfer war. Hinterher fühlte er sich ausgepowert, doch es war eine angenehme Art der Erschöpfung. Eine, die ihm die Grübeleien vor dem Einschlafen fernhielt. Und irgendwann kam jene Nacht, und ab dann war der Kampf nur noch die zweitbeste Möglichkeit gewesen, um die Grübeleien und die Alpträume fernzuhalten. Die Erinnerung daran trieb die Hitze auf Eren’s Wangen und einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, nach getaner Arbeit einfach nach oben zu marschieren und an Levi’s Zimmertür zu klopfen. Mehr als nein sagen konnte Levi schließlich nicht. Bisher hatte er ihn nur einmal abgewiesen, und da war er zu müde gewesen. Aber es gab ein Problem bei der Sache. Genauer gesagt, zwei. Levi hatte ihm immer noch nichts darüber gesagt, wie es jetzt weiterlaufen würde und Eren hatte keine Ahnung, welches überhaupt sein Zimmer war. “Vielleicht ist mein Vater ja für diese Krankheit verantwortlich.” Eren griff so heftig nach einem Schwung Besteck, dass er sich in die Hand schnitt, doch es war ihm gleichgültig. Bis spätestens morgen früh würde ohnehin alles wieder verheilt sein. Er spürte, wie sich die Wut, die in seinem Inneren brodelte, plötzlich und unerwartet gegen seinen Vater richtete. Mikasa und Armin konnten vielleicht nichts dafür, aber Vater schon. Er hatte ihn mitten in der Nacht weggezerrt, ihm eine Spritze verpasst und ihm irgendwelche Lügenmärchen über die Zukunft erzählt. Und er war nie gekommen. Niemals! Er hatte ihn belogen, ihm mitten ins Gesicht gelogen! “Mein Vater hat mir eine Spritze gegeben”, fauchte Eren und leckte sich das Blut von der Hand. Im nächsten Moment blieb er wie angewurzelt stehen. Hatte Levi ihm nicht eingeschärft, er müsse mit Verletzungen vorsichtig sein. Eine Verletzung konnte eine Verwandlung auslösen, ganz besonders dann, wenn er zuließ, dass seine Wut die Oberhand gewann. Dann konnte es sein, dass sich in seinen Gedanken ein unkontrolliertes Ziel festsetzte, etwa ‘Ich will meinen Vater finden und ihm eine verpassen!’ Ein solches Risiko konnte er nicht eingehen. Er schwieg, atmete tief durch und ging in Gedanken die Schwertformationen durch, die er stundenlang mit Levi geübt hatte. Genauso wie Levi es ihm beigebracht hatte. Auch dieses Mal verfehlte die monotone Aufzählung der einzelnen Attacken und Paraden ihre Wirkung nicht. Eren spürte, wie die Wut langsam abflaute. Sein Herzschlag verlangsamte sich wieder, sein Atem ging weniger stoßweise. “Mein Vater hat mir eine Spritze gegeben”, wiederholte er merklich ruhiger. Es war ohnehin höchste Zeit, dass er diese Information mit seinen Freunden teilte. Mikasa sog hörbar die Luft ein. “Aber er wird doch nicht… nein, das würde Grischa niemals tun. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.” “Vielleicht hat er diese Kräfte in dich gelegt, weil er dich schützen wollte”, überlegte Armin. “Ich würde Dr. Jäger auch nicht so einschätzen, dass er einem Menschen Schaden zufügen könnte, am allerwenigsten dir, seinem eigenen Sohn. Aber vielleicht hat er befürchtet, dass ihm was zustößt und wollte deshalb dafür sorgen, dass du dich im Ernstfall auch allein wehren kannst. Ich könnte mir vorstellen, dass er sich durch seine Forschung Feinde gemacht hat.” “Aber wie kann es denn ein Mittel geben, mit dem sich Menschen in Titanen verwandeln?”, fragte Mikasa sichtlich verwirrt. “Ich meine, die normalen Titanen sind ja auch keine Menschen. Sie sind von irgendwoher aufgetaucht und niemand weiß woher.” Kopfschüttelnd fuhr sie sich durch die Haare. “Es ergibt alles keinen Sinn.” “Und was am allerwenigsten Sinn ergibt, ist, dass ich mich vor dem Kampf in Trost noch nie verwandelt habe.” Eren runzelte die Stirn. “Ich wurde so oft verletzt, ganz besonders während meiner Trainingszeit. Aber nichts davon hat eine Verwandlung ausgelöst. Wenn ich die Kräfte schon damals im Auffanglager besessen habe, warum konnte ich sie erst ganze viereinhalb Jahre später einsetzen?” “Das ist ein Problem, das mich schon die ganze Zeit beschäftigt”, murmelte Armin. Zwar blickte er Eren immer noch an, doch seine Augen waren glasig und schienen ihn überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Als ob er in Gedanken plötzlich weit fort wäre. Eren wandte sich ab. Er kannte dieses Verhalten nur allzu gut von Armin und wusste, dass es keinen Sinn hatte, jetzt auf seinen Freund einzureden. Stattdessen widmete er sich wieder der Arbeit. Und sehnte sich für einen Moment lang ins alte Schloss zurück. Aber nur für einen Moment, mehr gestattete er sich nicht. ~*~ Büro des Kommandanten, selber Abend, selbe Zeit “Ihr wolltet mich sprechen, Kommandant.” Levi salutierte im Türrahmen, bevor er mit seiner gewohnt ausdruckslosen Miene das Büro betrat. Er schien völlig gelassen, Erwin bemerkte keinerlei Unruhe an ihm. Üblicherweise war es eine leichte Anspannung der Schultern, die ihm verriet, dass Levi einer Sache gegenüber nicht so gleichgültig war, wie er vorgab zu sein. Aber worüber hätte Levi sich auch wundern oder gar Sorgen machen sollen? Wahrscheinlich vermutete er einfach, Erwin habe noch einige Fragen wegen ihres Gesprächs heute Nachmittag und habe ihn deshalb noch ein weiteres Mal in sein Büro gebeten. Erwin atmete tief ein. Das machte die Situation nicht unbedingt einfacher. “Schließ die Tür und setz’ dich bitte.” Erwin nahm die Teekanne, die auf seinem Schreibtisch stand, um Levi eine Tasse einzugießen und sich selbst eine weitere. “Ich muss mit dir über Eren Jäger sprechen.” Er zögerte einen Moment, entschied sich dann aber dafür, dass in diesem Fall eine direkte Vorgehensweise die Beste sei. “Genauer gesagt, über Eren Jäger und dich.” Nun hob sich doch eine Augenbraue. Erwin vermutete, dass Levi gerade innerlich abwog, wie viel Erwin darüber wissen konnte und ob es sinnvoll wäre, Unwissen vorzutäuschen. Es sprach jedoch für ihn, dass er keinen Versuch machte, es abzustreiten. “Wie hast du’s rausgefunden?” “Das tut nichts zur Sache.” Erwin rechnete damit, dass es Levi früher oder später selbst klar werden musste, doch er würde keinen Sündenbock festlegen. Ein weiteres Mal deutete er auf den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch. “Setz dich bitte.” “Ich stehe lieber.” In gewohnt gleichgültiger Geste lehnte Levi sich gegen die Wand, aber jetzt waren seine Schultern leicht erhoben. “Ich schätze, allzu lange wird dieses Gespräch ohnehin nicht dauern, nicht wahr?” Dieser Sturkopf. Dieser verdammte Sturkopf! All die Erklärungen, all die vernünftigen Argumente, die Erwin sich zurechtgelegt hatte, waren mit einem Mal wie weggefegt. Nicht, dass er sie unbedingt gebraucht hätte. Er konnte Levi auch einfach nur einen Befehl erteilen und ihn aus dem Zimmer schicken. Doch das wollte er nicht. Er wollte, dass Levi seine Entscheidung verstand. Dass er nachvollziehen konnte, warum er als Kommandant unter den gegebenen Umständen so handeln musste. Auch Levi musste unangenehme Entscheidungen treffen und harte Befehle erteilen. Und anders als auf dem Schlachtfeld blieb ausnahmsweise genug Zeit, um die Gründe dafür darzulegen. “Levi.” Erwin ging nicht auf die kleine Herausforderung ein, jetzt war nicht der passende Zeitpunkt. Dafür war die Situation zu ernst. “Ich kann es leider nicht zulassen, dass du zu dem Jungen eine engere Beziehung eingehst, als es unsere Vorschriften gestatten.” Erwin blickte Levi durchdringend an. “Diese Sache wird enden und zwar unverzüglich.” Tsuzuku... to be continued Kapitel 3: Tertius Ictus Campanae: Dolor contra Dolor ----------------------------------------------------- “Was wir für uns selbst tun, stirbt mit uns. Was wir für andere tun und für die Welt, ist und bleibt unsterblich." -Albert Pine- Tertius Ictus Campanae: Dolor contra Dolor Dritter Glockenschlag: Schmerz gegen Schmerz Gebiet Rose, neues Hauptquartier des Kundschafterkorps, Büro des Kommandanten, selber Abend “Erwin, was zur Hölle meinst du überhaupt mit ‘engerer Beziehung’?“ Levi’s Verwirrung schien echt, er verstand wohl wirklich noch nicht, was hier auf dem Spiel stand. "Wir haben ein paar Mal gevö... – waren ein paar Mal miteinander im Bett. Das war’s auch schon. Wo ist dein verdammtes Problem?“ “Mein Problem ist, dass du sein Vorgesetzter bist und dass es verboten ist.” Erwin überlegte kurz, ob er die Vorschriften zitieren sollte, entschied aber dann, dass es unnötig sei. Levi kannte sie ebenso gut wie er selbst. “Und so was interessiert dich seit wann?”, fragte Levi zurück. Normalerweise mischte sich Erwin nicht in das Privatleben seiner Leute ein. Nicht anders als er selbst führten seine Soldaten ein sehr asketisches Leben mit einer strikten Tagesplanung, ausgeprägtem Kampf- und Fitness-Training, Haus- und Stallarbeit und zwei, in seltenen Fällen drei Mahlzeiten am Tag. Missbrauch von Alkohol oder Rauschmitteln kam im Gegensatz zu den anderen militärischen Einheiten nur selten vor. Bei Leuten, die sich im Kampf hundertprozentig auf ihre Kameraden verlassen mussten, war Disziplin oberstes Gebot. Der Punkt, worin jedem Einzelnen seine Freiheit blieb, waren die Beziehungen der Soldaten untereinander. Die meisten Mitglieder des Korps waren unvermählt – diese Art von Leben ließ sich einfach nicht mit einer bürgerlichen Existenz vereinbaren. Aber insbesondere vor oder nach Missionen, wenn die Konfrontation mit dem Tod und dem unsäglichen Grauen vor den Mauern tiefe Wunden in Körper und Seele riss, war menschliche Nähe oft das Einzige, was dem Schmerz Linderung verschaffte. Beim Korps wurde nicht kontrolliert, wer die Nacht in welchem Bett verbrachte. Hier hieß das oberste Gebot nicht Disziplin, sondern Diskretion. “Du bist auch mein direkter Vorgesetzter und trotzdem hat es niemanden interessiert“, fügte Levi hinzu. “Dich selbst am allerwenigsten.“ Einen Moment lang fragte sich Erwin, ob Levi dieses Thema bewusst anschnitt, dann ließ er den Gedanken kopfschüttelnd fallen. Levi spielte solche Spielchen nicht. Aber er selbst hatte wohl zuviel mit Leuten zu tun, die es taten. “Levi, ich glaube, dir ist noch gar nicht bewusst, welche Bedeutung dieser Junge für die Menschheit hat und wie sehr seine bloße Existenz das Gleichgewicht der Kräfte verändert“, begann Erwin. “Was dir jedoch klar sein muss, ist, dass Eren im Moment nur auf Probe beim Korps ist. Der Militärpolizei ist jeder Vorwand recht, um ihn in die Finger zu bekommen und mit einer gebrochenen Vorschrift würden wir ihnen geradezu in die Hände spielen.“ “Soll Nile doch erstmal dafür sorgen, dass seine Leute nicht schon am frühen Vormittag besoffen aus dem Bordell wanken”, knurrte Levi verachtungsvoll. “Nile ist nicht derjenige, der in dieser Angelegenheit die Fäden zieht.“ Noch deutlicher konnte Erwin nicht werden, ohne es laut auszusprechen. Einen Augenblick lang wanderten seine Gedanken zurück zum Tag der Gerichtsverhandlung. Man hatte deutlich gemerkt, unter welchem Druck Nile gestanden und wie unwohl er sich gefühlt hatte, als er dem Generalissimus seine Proklamation heruntergerattert hatte. Manchmal fragte sich Erwin, ob er seine Entscheidung zur Militärpolizei zu gehen, nicht insgeheim bereute. Levi’s Augen weiteten sich, und Erwin wurde klar, dass er begriffen hatte. ’Das Zentralkommando...’, seine Lippen formten die Worte, ohne sie laut auszusprechen. Mit einem düsteren Nicken stimmte Erwin ihm zu. Das Zentralkommando, der Mauerkult, das Handelskartell – es gab einfach zu viele Parteien, die Interesse an dem Jungen zeigten. Und es wäre auch nicht das erste Mal, dass eine dieser Parteien Spione beim Korps eingeschleust hätte. Insofern mussten sie doppelt vorsichtig sein. “Vergessen wir die Wandler nicht.“ Wenn der Koloss und der Gepanzerte wirklich Menschen waren, wovon Erwin stark ausging, so würden auch sie handeln. Entweder würden sie versuchen, Eren auf ihre Seite zu ziehen oder ihn als mögliche Bedrohung eliminieren. “Nun, die Wandler werden sich kaum auf irgendwelche Vorschriften berufen oder glaubst du, sie stecken mit dem Militär oder dem Kult unter einer Decke?“, fragte Levi. Erwin schüttelte den Kopf. “Nein. Ich gehe davon aus, dass sie eine unabhängige Partei von außerhalb der Mauern sind, welche ihre eigenen Ziele verfolgt. Aber wenn sie es wirklich auf Eren abgesehen haben, wo glaubst du, kommen sie leichter an ihn ran? Hier, wo ihnen erprobte Veteranen gegenüber stehen oder bei der Militärpolizei, welche Titanen höchstens von Zeichnungen kennt?“ “Ich verstehe.“ Levi’s Gesichtszüge verhärteten sich leicht. “Ich habe dein Team und dich nicht ohne Grund mit Eren weggeschickt“, fügte Erwin hinzu. Er wandte den Blick zum Fenster und sah auf den abendlichen Hof hinunter, der langsam in den wachsenden Schatten der untergehenden Sonne versank. “Ich wollte sichergehen, dass niemand weiß, wo er sich befindet, aber jetzt, wo ihr wieder zurück seid, werden die verschiedenen Parteien sehr bald darüber Bescheid wissen. Und die letzten Tage vor der Mission sind die entscheidendsten.“ Erwin erhob sich vom Schreibtisch, trat auf Levi zu und legte eine Hand auf seine Schulter. “Ich bedaure es aufrichtig, dass ich so massiv in dein und in Eren’s Privatleben eingreifen muss. Diese Entscheidung ist mir wahrlich nicht leicht gefallen. Aber wir können das Risiko nicht eingehen, dass jemand diese Vorschrift benutzt, um unsere Pläne zu durchkreuzen. Es steht zuviel auf dem Spiel.“ Einen Moment lang schien es ihm, als würden Levi’s Augen sich verdunkeln. Ein seltsamer Ausdruck lag darin, den Erwin nicht deuten konnte. Schmerz? Bedauern? Bitternis? Doch im nächsten Moment war dies nicht länger zu erkennen, denn Levi senkte den Blick und als er ihn wieder hob, lag nur der übliche Gleichmut darin. “Ihr müsst Euch nicht rechtfertigen. Ihr seid der Kommandant und ich vertraue Euren Entscheidungen.“ Einen kurzen Moment lang ergriff Levi Erwin’s Hand, die noch auf seiner Schulter ruhte und drückte sie. Dann ließ er sie los, trat er einen Schritt zurück und salutierte zackig. “Gibt’s noch weitere Punkte, die Ihr mit mir besprechen wolltet?“ “Der einzige Punkt, der noch zu klären bleibt, ist, ob du selbst mit Eren sprichst oder ob es dir lieber wäre, wenn ich das übernehme“, begann Erwin, doch Levi schüttelte den Kopf. “Das ist meine Aufgabe.“ Er wandte sich zur Tür, drehte sich jedoch noch einmal um. “Es ist besser, wenn ich mich darum kümmere. Wenn er einen Groll gegen mich hegt, kriegen wir die Sache geklärt, aber ein Groll gegen Euch würde wahrscheinlich noch ewig in ihm weiterschwären.“ ’Selbst das kann ich dir nicht ersparen’, schoss es Erwin durch den Kopf, doch ihm war bewusst, dass Levi mit jedem Wort recht hatte. Wie Eren wohl dieses Verbot aufnehmen würde? Sicher würde es ihm ungerecht erscheinen. Gerade jetzt, nachdem er schon so viele Ungerechtigkeiten durchlitten und vielleicht darauf gehofft hatte, dass die Dinge sich endlich ändern würden. Jetzt, nachdem sich sein Herzenswunsch erfüllt hatte und er endlich beim Kundschafterkorps war. “Levi.“ Levi’s Hand lag bereits auf der Klinke, da rief Erwin ihn noch einmal zurück. “Vielleicht irgendwann, wenn sich die Umstände geändert haben...“ Levi’s Augenbrauen hoben sich zweifelnd, und Erwin ließ den Satz unvollendet. In einer Welt, in der jeder von ihnen bei der nächsten Mission fallen konnte, schien es unpassend, ja geradezu lächerlich, sich die Zukunft in rosigen Farben auszumalen. Er konnte Levi nicht mit der Hoffnung auf ein ’Irgendwann’ vertrösten. Besser war es, zu schweigen. ~*~ Aufenthaltsraum, selber Abend Etwas später “Ich liebte einst ein Mägdelein, Der ganzen Welt zum Trotze. Sie war recht lieb, sie war recht fein, Sie hatt’ ’ne große F...furchtbar treue Seele Und ihr Name war Adele.“ “Ernsthaft, Orlo, wenn du dieses Lied heute noch einmal singst, dann schwöre ich dir, ich werfe die Laute aus dem Fenster. Ist dir klar, dass wir hier nicht mehr unter uns sind? Hier sind junge Rekruten anwesend.“ “Ich bitte dich, Petra, ich sehe dein Problem nicht. Die Adele ist ein wunderschönes romantisches Liebeslied. Solltest du etwas anderes darin sehen…nun, ich bin schließlich nicht für deine schmutzigen Fantasien verantwortlich.“ “Niemand wirft hier Lauten aus dem Fenster und bessere Musik könnten wir auch vertragen.“ Erd beendete den aufkommenden Streit, indem er Orlo die Laute wegnahm. Er hielt sie einen Moment lang fest, schien zu überlegen, an wen er sie weiterreichen sollte. Es mochten gut und gern sechzig oder siebzig Soldaten im Aufenthaltsraum versammelt sein, um den Abend gemeinsam ausklingen zu lassen. Einige lasen, andere schrieben Briefe, wieder andere saßen in kleinen Gruppen um die Tische herum und unterhielten sich. Armin spielte eine Partie Schach gegen Einheitenführer Zacharias... Mike, und hatte ihn bereits in arge Bedrängnis gebracht. Eren fand es seltsam und ungewohnt, mit Armin und Mikasa im selben Raum zu sein und nicht bei ihnen zu sitzen. Doch Orlo und Günther hatten ihn aufgefordert, sich zu ihnen zu setzen, kaum dass er den Raum betreten hatte und es erschien ihm unhöflich, das Angebot abzulehnen. So saß er nun, bedacht mit den neidischen Blicken seiner Trainingskameraden, bei den restlichen Mitgliedern von Levi’s Team und hörte den üblichen Kabbeleien zu. Levi selbst war den ganzen Abend nicht aufgetaucht. Eren fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte, oder ob er seine Freizeit lieber allein verbrachte. Erd’s Blick richtete sich nun fragend in Richtung der Hundertvierten, doch auch hier gab es nur verlegenes Kopfschütteln. Eren wusste, dass die meisten seiner Kameraden nur ein paar Griffe kannten, um die üblichen Soldatenlieder zu begleiten. Christa konnte recht gut spielen, doch bei so vielen Zuhörern fehlte ihr sicher der Mut. Reiner war in ungewohnter Stimmung heute, er schien gar nicht mitzubekommen, was um ihn herum geschah und starrte nur düster vor sich hin. Und nachdem, was Mikasa erzählt hatte, hatte Jean seine Laute seit Marco’s Tod nicht mehr angerührt. Eren seufzte. Marco war der Musiker unter ihnen gewesen. Es schien immer noch unfassbar, dass sie seine Stimme nie wieder hören würden. Zwei Tage noch. Am Morgen des dritten Tages würden sie ins Gebiet Maria ausziehen. Wie viele von seinen Freunden würde diese Mission das Leben kosten? Wen von ihnen würde er als Nächstes verlieren? Erd behielt die Laute schließlich bei sich. Seine Finger griffen mühelos in die Saiten, während er eine Weise anstimmte, die Eren während des letzten Monats auf der Burg schon einige Male gehört hatte. Einstmals lebte zu Kildorey, eine Maid gar schön und hold, Augen licht wie Diamanten, langes Haar wie pures Gold. Kam ein reicher Mann geritten, klopft’ an ihres Vaters Tor, sprach: “So öffnet mir die Pforte, denn der Gutsherr steht davor." Step it out, Mary, schwing die Beine, Step it out, Mary, wenn du’s kannst. Step it out, Mary, schwing die Beine, zeig’ dem Gutsherrn, wie gut du tanzt. Erd hatte eine tiefe samtige Stimme, die den Raum ohne Schwierigkeiten ausfüllte. Gesichter wandten sich ihm zu, viele der Gespräche wurden leiser und verstummten schließlich ganz. "Ich will Eure Tochter freien, Mary mit dem gold’nen Haar, Ich bring’ Gold und Geld und Güter, ich bau’ ihr ein Haus sogar. Ich kleid’ sie in Samt und Seide, für ihr Haar ein edles Band, Nur das kostbarste Geschmeide, einen Goldring an die Hand." Step it out, Mary, schwing die Beine, Step it out, Mary, wenn du’s kannst. Step it out, Mary, schwing die Beine, zeig’ dem Gutsherrn,wie gut du tanzt. Auch hier schien das Lied vielen bekannt. Einige Stimmen fielen in den Refrain mit ein, trugen die Melodie weiter und vermengten sich zu einer Vielzahl von Klängen. “Vater, ich lieb’ den Soldaten, ihm gelob’ ich Herz und Hand. Ich brauch’ weder Samt und Seide, weder Gold noch Schmuck noch Land. Mary’s Vater ward sehr zornig: “Du wirst tun, wie man dir sagt. Seinen Goldring wirst du tragen, Sonntag ist dein Hochzeitstag. Step it out, Mary, schwing die Beine, Step it out, Mary, Tochter mein Step it out, Mary, schwing die Beine, Sonntag soll deine Hochzeit sein. Petra, die neben Eren saß, hatte das Gesicht abgewandt und blickte gedankenverloren zum Fenster hinaus. Die Sonne war hinter dem Gebäude versunken und der Hof lag mittlerweile in völliger Dunkelheit. Eren fragte sich, was sie dort draußen zu sehen erhoffte. Stetig rauschte zu Kildorey, ein gar tiefer wilder Fluss, Dort ertrank die schöne Mary mit der Liebe letztem Kuss. Drunt im Dorf erklingt die Trommel, Lautenspiel und Dudelsack, “Step it out, Mary“, spricht der Vater, "Sonntag ist dein Hochzeitstag.“ Step it out, Mary, schwing die Beine, Step it out, Mary, wenn du’s kannst. Step it out, Mary, schwing die Beine, zeig’ dem Gutsherrn, wie gut du tanzt. Step it out, Mary, schwing die Beine, Step it out, Mary, Tochter mein Step it out, Mary, schwing die Beine, Sonntag soll deine Hochzeit sein. “Na, ehrlich“, durchbrach Orlo’s Stimme das Schweigen, welches den Raum erfüllte, nachdem der letzte Akkord verklungen war. “Da hätt’ ich doch besser die Adele gesungen. Dann würden sie jetzt alle lachen und nicht trübsalblasend vor sich hin starren.“ “Wahrscheinlich eher mit den Augen rollen“, entgegnete Erd grinsend und schlug dem Jüngeren gönnerhaft gegen die Schulter. “Oder dich teeren und federn und aus der Stadt jagen, wie man’s mit schlechten Barden zu tun pflegt.“ Levi stand im Türrahmen zum Aufenthaltsraum, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick verhieß nichts Gutes. “Eren. Komm. Ich hab’ mit dir zu reden.“ Eren nickte und erhob sich. Er war den ruppigen Tonfall seines Vorgesetzen gewohnt, der bereitete ihm keine Sorgen. Trotzdem hatte er das unbestimmte Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Vielleicht wollte Levi ihm auch nur eine Anweisung geben, was das morgige Training betraf oder ihn kritisieren, weil er bei den Pferden etwas falsch gemacht hatte. “Hört der denn nie auf, dich zu schikanieren?“, raunte Mikasa leise, als Eren auf dem Weg zur Tür an ihr vorbeiging. “Du hast doch jetzt Freizeit.“ Auch Armin blickte ihm besorgt hinterher, zog es jedoch vor, nichts zu sagen. Levi ging nicht weit, nur ein Stück in den Gang hinein bis zu einer Fensternische. Dort lehnte er sich gegen die Wand und wartete regungslos, bis Eren ihn erreicht hatte. “Captain?“ “Ich wollte dir miteilen, dass es ab jetzt keine nächtlichen Besuche mehr geben wird“, erklärte Levi knapp. “Das ist beendet.“ “Ich... ich verstehe.“ Verdammt, wieso konnte er seine Stimme nicht ruhig halten? Das war doch echt peinlich. “Captain Levi... darf ich erfahren, warum? Hab’ ich irgendwas falsch gemacht?“ “Nein, hast du nicht, Eren.“ Ein kurzes Kopfschütteln, dann schien Levi ihn nachdenklich zu mustern. “Die Umstände haben sich geändert. Wir sind nicht mehr auf der Burg und das Risiko ist einfach zu groß.“ Natürlich, die Vorschriften. Einen kurzen Moment lang fragte Eren sich, ob das vielleicht nur ein Vorwand war, weil Levi das Interesse an ihm verloren hatte, doch er verwarf diese Überlegung sofort. Allein der Gedanke war albern und kindisch. Levi würde ihn niemals belügen. Er verschwieg ihm manchmal Dinge, wenn er der Meinung war, dass Eren etwas Bestimmtes nicht erfahren sollte, aber er hatte ihm noch niemals wissentlich die Unwahrheit gesagt. Ausreden, Notlügen, Beschönigungen – das alles war nicht seine Art, er war geradezu brutal ehrlich. Wenn er Eren also langweilig finden würde, dann hätte er ihm das auch schonungslos mitgeteilt. “Ich verstehe.“ Was sollte er auch anderes darauf antworten? Dass ihm verdammt noch mal zum Heulen zumute war, brauchte Levi nicht zu erfahren. Da würde er sich doch eher die Zunge abbeißen! “Weiterhin wirst du ab morgen am normalen Training mit deinen Kameraden teilnehmen. Weißt du schon, wo sich die Räumlichkeiten befinden?“ “Ja, Captain.“ Mikasa und Armin hatten ihm die meisten Orte und Abläufe schon gezeigt und erklärt, er konnte sich einfach an sie wenden, wenn er Fragen hatte. Außerdem hingen die Trainingspläne in der Vorhalle aus. Es war fast wie früher auf der Militärakademie, aber auch nur fast. Wie eine bekannte Melodie, in die sich plötzlich fremde Töne geschlichen hatten. “Nahkampf- und Schwertkampftraining hast du weiterhin bei mir, daran hat sich nichts geändert. Ich werd’ dich also morgen ’ne Stunde früher wecken und erwarte, dass du binnen zehn Minuten fertig angezogen draußen im Hof bist. Und vor dem Abendessen, wenn die anderen ihre taktischen Einsatzbesprechungen haben, kommst du ebenfalls. Alles klar?“ “Ja, Captain.“ Wenigstens ging Levi ihm nicht aus dem Weg oder schob ihn an jemand anderen ab. Wie es schien, hatte er es wirklich ernst gemeint, als er sagte, dass er solche Dinge trennen konnte. ’Also muss ich das auch lernen’, nahm sich Eren fest vor. ’Schließlich hab’ ich die ganze Zeit gewusst, dass es jederzeit enden kann. Es ist keine so große Sache.’ Warum tat es dann so verdammt weh? “Captain Levi, was soll ich tun, wenn ich wieder träume?“ Die Frage war ihm einfach so rausgerutscht, noch bevor ihm klar werden konnte, wie kindisch er sich anhören musste. Hoffentlich würde Levi ihn jetzt nicht für einen Schwächling halten. Bloß das nicht. Aber er wollte es wirklich wissen. Er konnte jetzt nicht mehr bei Levi an die Tür klopfen, wenn die Träume kamen. “Dann gibst du mir Bescheid und wir gehen ’ne Runde trainieren. Mein Zimmer ist oben in der dritten Etage, bei den Räumen der Einheitenführer. Ganz hinten am Ende des Gangs. Du klopfst einfach und wartest, bis ich rauskomme.“ Levi’s Blick schien einen Moment lang weich zu werden. “Macht auch nichts, wenn’s spät oder früh ist. Du weißt, ich hab’ ’nen leichten Schlaf.“ Eren konnte nur nicken, er brachte kein Wort heraus. “Gut, dann seh’n wir uns morgen.“ Levi klopfte ihm auf die Schulter. “Geh schlafen, Kleiner, du siehst müde aus. War’n harter Tag heute.“ Eren biss sich auf die Lippe. Schmerz gegen Schmerz, das hatte immer funktioniert. Er unterdrückte den sinnlosen egoistischen Wunsch, alles zu vergessen und sich einfach in Levi’s Arme zu stürzen. Das durfte er nicht tun, das war vorbei. Er musste sich jetzt verdammt noch mal zusammenreißen und sich wie ein Erwachsener benehmen. Er war Soldat, verflucht! Kein kleiner Junge mehr! So. Er würde noch Armin und Mikasa und den anderen eine gute Nacht wünschen und dann runter gehen. In seinen neuen Schlafraum. Wieder im Keller. Wie es die Vorschrift verlangte. Allein. Wie es die Vorschrift verlangte. Wie ihm wirklich zumute war, würde er niemanden sehen lassen. Auch nicht Levi. Am allerwenigsten Levi. Tsuzuku... to be continued ~*~ Kapitel 4: Embolium: Aegri somnia --------------------------------- “Wenn du lange genug in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein." -Friedrich Nietzsche- Embolium: Aegri somnia Zwischenspiel: Des kranken Geistes Träume Im Gesicht des Mannes regnet es und in der Hand hält er immer noch die Spritze... Der Mann ist klein, geradezu winzig. Ein weißes Gesicht, ein heller Punkt zwischen dem schwarzen Haar und dem schwarzen Stoff seines Anzugs. Vier Augen wie ein Käfer. Vielleicht ist er ein Käfer. Menschen sind doch nicht so winzig, oder? Nicht so winzig, dass man sie in die Hand nehmen und hochheben kann. Im Gesicht des Mannes regnet es, doch sein Mund lächelt. Sein Mund lächelt noch immer, als der Mann größer wird. Immer größer, bis seine Insektenaugen ganz nahe sind. Immer größer und immer näher, bis er schließlich verschwindet. Der Mund lächelt noch immer, als der Mann ’knack’ zwischen den Zähnen macht. ~*~ Das Kinderzimmer war leer.. ... es schien verlassen. Das Fenster war geöffnet und die weißen Tücher wehten zitternd über den Möbeln. Tücher halfen gegen den Staub. Das Kinderzimmer war staubig. Es war lange nicht mehr benutzt worden. Eigentlich war es noch nie benutzt worden. Das Kind hatte es nicht gebraucht. Doch jetzt lag das Kind in der Krippe und blickte ihn an. “Papa“, sagte es und ein Käfer krabbelte aus seinem Mund. “Warum hast du Mama und mich alleingelassen? Warum hast du zugelassen, dass sie uns mitnehmen? Es ist kalt unter der Erde, Papa... so kalt.“ “Scht“, sagte Lily und nahm das Kind aus der Krippe. Sie trug immer noch das weißrosa Kleid, welches sie getragen hatte, als sie sie in den Sarg legten. Aber jetzt war das Kleid zerrissen und voller Erde und Lily’s langes Haar hing in verfilzten Zotteln auf ihre bleichen Schultern hinab. “Scht, mein Kleines, Papa braucht uns nicht mehr. Papa hat jetzt eine neue Frau. Und bald auch ein neues Kind.“ “Papa hat keine neue Frau“, sagte das Kind und verzog seinen winzigen Mund zu einem bösen Lächeln. “Papa wird nie eine neue Frau haben. Niemalsnie!“ Eine winzige verrottete Hand erhob sich von Lily’s Arm und der einzelne Knochen eines abgefaulten Zeigefingers richtete sich auf ihn. “Niemalsnie!“ ~*~ “Mein Sohn, woher hast du diesen Kerzenleuchter?“, fragt der Priester ein weiteres Mal. Seine Stimme klingt ruhig, gönnerhaft, als habe er alle Zeit der Welt. “Gefunden. Hab’ ich doch schon gesagt, gefunden. Ich hab’ nichts gemacht, wirklich nicht.“ “Lügner.“ Der Priester nickt dem hässlichen Mann zu und der hässliche Mann hebt die Hand mit der Peitsche. Nur, dass er diesmal nicht auf meinen Rücken zielt. Diesmal zielt er auf mein Gesicht. Verdammt, jetzt wird es ernst. “Der Trotz ist den Drei ein Gräuel und ebenso die Unwahrheit. Gestehe, Kind und bereue, sonst wirst du die ewige Verdammnis erleiden.“ Ich muss die Augen schließen, dass ich sie ja nicht verliere... Wenn die Nase bricht, ist das nicht schlimm, sie blutet, aber sie wächst wieder zusammen. Eine Nase kann viel aushalten. Aber nicht die Augen. Eine der ersten Lektionen, die du auf der Straße lernst, ist es, deine Augen zu schützen. Die Peitsche kommt näher, doch der Schlag bleibt aus. Noch. “Ich frage dich zum letzten Mal. Woher hast du diesen Kerzenleuchter?“ “Scheiße, ich hab’ ihn nicht gefunden. Ich geb’s ja zu. Ich hab’ ihn gestohlen. Er lag auf einem Wagen. Ein Wagen mit Gütern für die reichen Leute in Mithras. Ich hab’ ihn gesehen und mitgenommen, weil ich dachte, der ist bestimmt was wert. Ich wollte...“ “Lügner!“ Ein brennender Schmerz zuckt mitten durch mein Gesicht. Ich sinke vornüber, spüre den harten Steinboden unter den Knien. Einen Moment lang ist alles schummerig, doch die Kälte des Bodens bringt mich wieder zur Besinnung. Warum hat er zugeschlagen? Verdammt, warum hat er zugeschlagen? Er wollte doch bestimmt hören, dass ich das verdammte Scheißteil gestohlen hab’ und ich hab’s gesagt. Jetzt können sie mich einknasten, mich zur Zwangsarbeit schicken, was auch immer. Sie haben doch, was sie wollten. Ein Geständnis. Was wollen sie denn noch? “Sprich die Wahrheit und dir wird vergeben werden.“ Eine Hand packt meine Haare und zieht meinen Kopf wieder nach oben. Doch ich kann nichts sehen. Blut rinnt mir übers Gesicht, rinnt in meine Augen. Er muss mich an der Stirn erwischt haben. “Du hast diesen Leuchter weder gefunden noch gestohlen. Wir wissen das. Und die göttlichen Drei wissen es auch. Also, mein Sohn, woher hast du diesen Leuchter?“ Der Schmerz auf dem Rücken ist dumpfer, verschwommener. Ich kann nicht mehr genau fühlen, wohin die Peitsche mich trifft. Ich sehe die stechenden Augen des Priesters umrahmt von meinem eigenen Blut und ich weiß, der hässliche Mann wird nicht aufhören, mich zu schlagen, bis ich ihm die Wahrheit sage. Woher verdammt noch mal, wissen sie, dass ich gelogen habe? Sie können es nicht wissen. Sie können doch keine Gedanken lesen. Oder doch? ~*~ Niemand darf wissen, wer er wirklich ist... Niemand darf es erfahren. Sie werden ihn töten, wenn sie es erfahren, hörst du? Sie werden versuchen, ihn zu töten. Deswegen darfst du es niemandem verraten, auch nicht den Menschen, denen du glaubst, zu vertrauen. Es muss ein Geheimnis bleiben, verstehst du? Du darfst nicht darüber sprechen. Auch nicht zu ihm. Er würde es jetzt nicht verstehen, ja er würde es nicht einmal glauben. Irgendwann wirst du verstehen, warum er ein ganz besonderer Junge ist. Und er selbst wird es auch verstehen. Er ist die letzte Hoffung für uns alle, die allerletzte Hoffnung für die Menschheit. Aber bis er älter ist, muss dieses Wissen verborgen bleiben. Er wird wie ein ganz normaler Junge sein, solange bis die Erinnerung zurückkehrt und er wieder darauf zugreifen kann. Und was dann geschieht, kann jetzt noch niemand erahnen, aber er wird älter sein und mit seinen Fähigkeiten umgehen können. Er wird darauf vorbereitet sein. Doch damit dies alles so geschieht, muss ich ihn jetzt mitnehmen. Du wartest hier für eine Weile, solange, bis es hell wird, dann kommst du ihn holen. Du darfst uns nicht nachlaufen und du darfst nicht eingreifen, was immer auch geschieht. Gleichgültig was du siehst oder hörst. Vertrau mir! Du musst hier warten, sonst kannst du ihn nicht beschützen. Und beschützen musst du ihn.. Du musst ihn beschützen, weil ich nicht mehr da sein werde, um es zu tun. ~*~ An dem Tag, als sie auf den Friedhof gingen, regnete es wieder. Der Regen war nass und kalt. Er fiel auf ihre Zöpfe, er fiel auf das neue Kleid, das Papa ihr gekauft hatte, er fiel auf die Blumen, die sie auf Mama’s Grab legten. Papa sah müde und traurig aus. Viele fremde Leute kamen und schüttelten seine Hand. Ihr schüttelten sie auch die Hand und manche strichen ihr sogar übers Haar. Sie mochte es nicht, von so vielen fremden Leuten angefasst zu werden. Aber sie wusste, dass sie es ertragen musste. Sie musste tapfer sein. Papa war jetzt ganz alleine. Er hatte nur noch sie. Ein fremder Mann beugte sich zu ihr hinunter. “Weißt du noch, wer ich bin, meine Kleine? Ich war mit deiner Tante Lily verheiratet, der jüngeren Schwester deiner Mama.“ Sie erinnerte sich nicht. Dass es eine Tante Lily gegeben hatte, wusste sie aber, denn sie hatte ihr die Puppe mit dem blauen Kleid und den echten Haaren geschenkt. “Die ist von deiner Tante Lily“, hatte Mama immer gesagt, wenn sie die Puppe zu den anderen ans Tischchen setzte und ihr Tee eingoss. Und dann hatte Mama ganz traurig geseufzt. “Deine Mama ist jetzt bei Lily im Himmel.“, sagte der fremde Mann. “Sie sind beide Engel und beschützen uns im Namen der Drei.“ ~*~ Höher und höher schlugen die Flammen. Liebevoll, beinahe zärtlich umspielten sie ihren Thron, die Klinge ihres Schwertes, leckten am Saum ihres langen Gewandes. Einen Moment lang sah es so aus, als stünde die Göttin selbst in Flammen, schön und schrecklich. Ein jeder, der sie anblickte, musste sie lieben… und verzweifeln. Reglos leuchtete ihr strenges Antlitz über dem Inferno, hatte keinen Blick für die Sünder, die qualvoll schreiend zu ihren Füßen krochen, sich in endlosen Höllenqualen wanden. Und keine Gnade. Ein jeder von ihnen hatte die Möglichkeit gehabt, ein gottesfürchtiges Leben zu führen, ein Leben, welches den Drei gerecht wurde. Sie alle hatten diese Möglichkeit verschwendet. Nun war es zu spät. Ein alter Mann streckte seine verkohlte Hand aus dem Feuer. Der betrügerische Händler, der heimlich Kiesel in seinen Mehlsäcken versteckt hatte, um das Gewicht und damit den Preis hochzutreiben. Oh ja, er hatte es verdient, hier zu sein. Ebenso die Frauen, die ihren Körper verkauften. Die Frau war im Ebenbild der Göttinnen geschaffen und als solche hatte sie ein tugendhaftes Leben zu führen und dem Manne, der dem Teufel näher stand als sie, als Vorbild zu dienen. Wer log und betrog, wer stahl, wer falsch’ Zeugnis ablegte, wer die Ehe brach und der Unkeuschheit frönte – sie alle würden brennen. Und die Schlimmste aller Strafen erwartete die Ketzer. Er wusste, dass es sie gab, selbst hier in der heiligen Bastion der Drei, dem letzten Hort der Menschheit, den die Göttinnen für die Gläubigen geschaffen hatten. Ketzer, die heimlich Bücher über die Außenwelt verbreiteten. Ketzer, die behaupteten, die Welt sei nicht vor 850 Jahren von den Drei erschaffen worden, sondern wäre in Wirklichkeit Tausende, ja Millionen von Jahren alt. Ketzer, die nicht den Drei huldigen, sondern falschen Götzen... Das Gesicht eines Jungen tauchte in den Flammen auf. Er mochte zwölf oder dreizehn Jahre sein, ein Kind noch, doch seine Seele war schon von Grund auf verdorben. Sein Körper war gezeichnet. Er trug das Mal der Ketzerei. Schlimmer noch, ein Kind war immer der Beweis, dass es noch andere geben musste. Wo ein Kind war, da war auch ein Nest. Ein Nest musste man ausräuchern, bevor sich die böse Saat ausbreitete und Früchte trug. Auch für diesen Jungen würde es keine Gnade geben. Es würde für niemanden Gnade geben. Die Feuer der Vergeltung würden sie alle verschlingen. Tsuzuku... to be continued Kapitel 5: Quartus Ictus Campanae: Gladiis strictis --------------------------------------------------- “Das Leid bringt die stärksten Seelen hervor; die stärksten Charaktere sind mit Narben übersät.” -Kahlil Gibran- Quartus Ictus Campanae: Gladiis strictis Vierter Glockenschlag: Gezückte Klingen Gebiet Rose, neues Hauptquartier des Kundschafterkorps, Eren’s Zimmer, ein Tag vor der 57.Mission Mit einem Aufschrei fuhr Eren hoch, fiel wieder zurück, verschluckte sich keuchend an seinem eigenen Atem. Er hustete und hielt sich die schmerzende Seite, während er nach Luft rang. Sein Herz raste. Es pochte wie wild gegen seinen Brustkorb, flatterte wie ein gefangener Vogel. Sein Gesicht war feucht, er fühlte den Schweiß an der Stirn kleben. Und Tränen. Auf seinen Wangen waren Tränen. Er presste die Hand gegen die Brust und versuchte als erstes, seine verdrehten Glieder zu sortieren und irgendwie auf die Beine zu kommen. Liegen bleiben konnte und wollte er nicht mehr, keinen Moment länger, da war eine fürchterliche Unruhe in ihm. Er musste sich bewegen. Der Versuchung, über seinen Traum nachzugrübeln, widerstand er jedoch. Er konnte sich nicht erinnern, er konnte sich nie an seine Träume erinnern. Zu oft hatte er es versucht, hatte in den dunklen Tiefen seines Geistes nach Bildern gewühlt, nach Eindrücken, nach Gedanken, nach winzigen Fetzen, die ihm dabei halfen, diese entsetzliche Leere auszufüllen. Vergebens. Alles vergebens. Es war, als würde ein Stück von ihm fehlen. Seine Kehle brannte, doch seine Feldflasche war leer, er hatte abends vor dem Einschlafen vergessen, sie wieder aufzufüllen. So musste er wohl oder übel die Treppen hoch in den Waschraum tapsen und sich neues Wasser pumpen. Die Kälte tat gut auf der Haut, erfrischte ihn. Er wusch sich das Gesicht und die Arme, trank danach in kräftigen Zügen. Leider trug das Wasser nicht unbedingt dazu bei, ihn wieder in schläfrige Stimmung zu versetzen. Vielleicht sollte er ein paar Runden laufen oder einen Sandsack zum Duell herausfordern. Eigentlich wollte er weder das eine noch das andere. Was er wollte, war Levi. Wären sie noch in der alten Burg, gäbe es keinen Zweifel, was er als Nächstes tun würde. Er würde sich schnurstracks umdrehen, an seine Schlafzimmertür klopfen und sich von ihm die verdammten Alpträume aus dem Leib vögeln lassen. Gnadenlos. Und wenn er dann zitternd und atemlos und erschöpft zusammenbrach, würde er schlafen. Tief, traumlos, ohne Gedanken oder Grübeleien. Selbst wenn er dann wieder zurück in den Keller musste, weil es zu den verdammten Bedingungen gehörte, die der Generalissimus ihnen aufgebrummt hatte. Aber diese Möglichkeit war ihm jetzt verschlossen. “Kannst du auch nicht schlafen?“ Eren fuhr herum, er hatte gar nicht gemerkt, dass jemand anderes hinter ihm den Waschraum betreten hatte. Er kannte den Jungen aus der Hundertvierten, sie hatten sicherlich ein paar Mal beim Essen miteinander geredet oder waren sich beim Training über den Weg gelaufen. An sein Gesicht erinnerte sich Eren jedenfalls, auch wenn ihm der Name dazu partout nicht einfallen wollte. “Ich hoffe, es läuft alles gut bei eurem Probelauf morgen.“ Erst jetzt fiel Eren auf, dass der Junge seinen Arm in einer Schlinge trug. “Trost?“, fragte er zurück. “Unter anderem.“ Der Junge senkte den Blick. “Ich bin vor ein paar Tagen beim Training abgestürzt. Aber es ist derselbe Arm, den ich mir schon in Trost gebrochen hatte und jetzt schmerzt er wieder. Deshalb hat Einheitenführerin Hanji entschieden, dass wir das erst mal weiter beobachten und dass ich morgen nicht auf die Probe-Expedition mitkomme.“ “Na, ja, eine Gelegenheit weniger, um gefressen zu werden.“ Eren war bewusst, wie flach dieser Witz klang, aber ihm fiel partout nichts Besseres ein, was er hätte sagen können, um den Jungen aufzumuntern. Er war nicht gut in solchen Dingen, gerade jetzt nicht, da er selbst mit einer so schlechten Stimmung zu kämpfen hatte. “Gute Nacht“, beendete er das Gespräch, “ich hoffe, deinem Arm geht’s bald besser.“ Und bevor der andere Rekrut ihm darauf etwas erwidern konnte, hatte Eren sich bereits abgewandt und war durch die Tür hinaus in den Gang getreten. Mein Zimmer ist oben in der dritten Etage, bei den Räumen der Einheitenführer. Ganz hinten am Ende des Gangs. Eren’s Hand zitterte leicht, als er gegen die Tür klopfte. Unter dem Spalt drang ein schwacher Lichtschein hervor – Levi schlief offenbar noch nicht oder war bereits wieder wach. Hatte er ebenfalls schlecht geträumt? Oder war er noch mit den Vorbereitungen für morgen beschäftigt? “Eren.“ Levi trug nur eine leichte Leinenhose, als er die Tür öffnete, sein Oberkörper war nackt. Fasziniert wanderte Eren’s Blick an der wohlgeformten Brust entlang, betrachtete das Spiel der sehnigen Muskeln, die angespannt unter der Bauchdecke bebten. Auf den ersten Blick wirkte Levi durch seine geringe Größe eher schmächtig, doch dahinter verbargen sich eisenharte Muskeln und die Gewandtheit einer Raubkatze. Deutlich konnte man auch die Spuren der Manövergurte erkennen, welche Rötungen auf der blassen Haut und teilweise sogar Narben hinterlassen hatten. Levi’s Blick war kühl und ausdruckslos wie immer, doch zumindest schien er von dem nächtlichen Besuch nicht überrascht oder übermäßig genervt zu sein. “Darf ich reinkommen?“ Eren tat einen vorsichtigen Schritt nach vorne, doch Levi blieb im Türrahmen stehen und machte keinerlei Anstalten, beiseite zu treten. “Warte hier. Ich zieh’ mir was über und wir gehen runter in den Aufenthaltsraum.“ Levi schickte sich an, die Zimmertür wieder zu schließen. Zu sehen, wie er Stück für Stück in der Dunkelheit verschwand, versetzte Eren einen Stich, so heftig und schmerzhaft wie ein Dolchstoß in die Brust. “Captain Levi, ich...“ Er trat einen weiteren Schritt nach vorne, doch Levi legte ihm mit gestreckten Armen die Hände auf die Schultern, umfasste sie und hinderte ihn so daran, sich ihm weiter zu nähern. “Eren, ich habe ’nein’ gesagt.“ “Verdammt.“ Die Tränen konnte er zurückhalten, nicht aber die aufsteigende Wut. Wut auf Levi, der ihn so eiskalt zurückwies, Wut auf die Umstände, die es ihm nicht erlaubten, Levi nahe zu sein und vor allen Dingen Wut auf sich selbst. Wieder einmal hatte er es erfolgreich geschafft, sich vor dem Captain zum Narren zu machen. Dabei hatte er sich so fest vorgenommen, mit der Situation fertig zu werden. Aber jetzt, da Levi vor ihm stand, schmolzen alle seine Vorsätze dahin. “Verdammt, warum nimmt man mir eigentlich immer gerade das weg, was ich am meisten brauche! Ihr habt selbst gesagt, wir müssen nur vorsichtig sein. Dann kriegt’s auch keiner mit und es verursacht keine Probleme. Wenn Ihr von Anfang an gewusst habt, dass es nicht mehr geht, sobald wir hier sind, warum habt Ihr mir das nicht gleich so gesagt?“ Levi musterte ihn lange und nachdenklich. “Vergiss den Aufenthaltsraum. Hol deine Übungsschwerter, wir geh’n auf den Trainingsplatz in der Scheune.“ Eren nickte. Training war jetzt besser als Reden, zumindest würde es ihn körperlich auslaugen. Aber natürlich war ihm nicht entgangen, dass ihm Levi auf seine Frage keine Antwort gegeben hatte. Irgendwas passte hier nicht zusammen. Was, wenn doch jemand Bescheid wusste und Levi Ärger bekommen hatte? Doch er konnte nicht weiter darüber nachgrübeln, denn das Kampftraining erforderte seine volle Konzentration. Sie jagten einander quer durch den Ring und ließen dem Gegner keinerlei Rast. Auch wenn die Übungsschwerter nur aus Holz bestanden, so waren blaue Flecken in jedem Fall vorprogrammiert. Levi war blitzschnell und seine Klingen schienen von überall gleichzeitig zu kommen. Eren holte sich einen Rüffel ab, weil er in der Hitze des Gefechts wieder einmal seine Abwehr vernachlässigt hatte, aber dennoch gelang es ihm kaum, einen Treffer zu landen. Was Levi nicht blocken konnte, dem wich er mit wilden Sprüngen und geschmeidigen Drehungen aus und im nächsten Moment griff er wieder aus einer völlig unerwarteten Richtung an. Irgendwann, endlich, spürte Eren die ersten Anzeichen der Erschöpfung am eigenen Körper. Sein Atem ging schwerer, seine Reflexe wurden langsamer und er fing sich noch mehr an schmerzenden Treffern ein. Dennoch wollte er nicht aufgeben, wollte jeden Moment Zeit, den er mit Levi verbringen durfte, bis zum Letzten auskosten. Wer wusste schon, was der morgige Tag bringen würde? Ob sie überhaupt lebend zurückkommen würden? Aber die Nacht gehörte noch ihnen. Und wenn sie sie auch nicht so miteinander verbringen konnten, wie Eren es sich so sehnlichst wünschte, so sollte ihm dieser Tanz der Klingen genug sein und niemals enden. ~*~ Gebiet Sina, Mithras, königliches Schloss, Ratssaal selbe Zeit Licht und Schatten flackerten über den großen Konferenztisch. Kerzenflammen tanzten, zuckten in den Atemzügen, welche dann und wann die Luft erschütterten, malten unruhige Bilder auf das blanke Holz und die kostbaren Wandteppiche. Die Gesichter jedoch blieben unbewegt. Sie wirkten geradezu leer in ihrer Emotionslosigkeit, zu routiniert darin, jegliche Gefühlsregung aus ihren Zügen zu verbannen. “Werte Herren, ich darf Euch mitteilen, dass sich die Situation entspannt hat und bis auf Weiteres unter Kontrolle ist.“ Die Blicke der Anwesenden wandten sich in Richtung des dunkelhaarigen Offiziers mit den angegrauten Schläfen, der an einem der beiden Kopfenden des Tisches saß. “Die Versammlungen im Gebiet Rose wurden aufgelöst, die Rädelsführer in Gewahrsam genommen. Somit konnte die mögliche Bedrohung eines Bürgerkrieges ein weiteres Mal erfolgreich abgewandt werden – zumindest für den Augenblick!“ “Das sind erfreuliche Neuigkeiten.“ Das Klingen schwerer Goldketten begleitete die Worte des beleibten Mannes an der Mitte des Tisches. “Wir befürchteten schon, die politischen Unruhen könnten einen schlechten Einfluss auf unsere Geschäfte haben. Das hätte äußerst unerfreulich werden können… äußerst unerfreulich.“ Seine wulstigen Lippen verzogen sich zu einem besorgten Ausdruck, der an den Schmollmund eines trotzigen Kindes erinnerte. Ein messerdünnes Lächeln hob die schmalen Lippen des Offiziers. “Nur keine Sorge.“ Er wechselte einen kurzen Blick mit seinen beiden Begleitern, welche ebenfalls die Uniformen der Militärpolizei trugen. “Wie Ihr wisst, ist der Schutz des Handels eine unserer obersten Prioritäten. Nach dem Schutz des Friedens, natürlich.“ “Natürlich“, wiederholte der Händler und verschränkte die fleischigen Finger ineinander. “Und was ist mit dem Schutz des Glaubens?“, fragte der Priester, der den drei Militärs am anderen Ende des Tisches gegenüber saß. Er stützte die Ellenbogen auf die schwere Holzplatte, so dass die langen Ärmel seiner Robe nach unten rutschten und den Blick auf die beringten Hände freigaben. “Hattet Ihr nicht auch versprochen, Ihr würdet Euch des Dämons annehmen, der den dreigöttlichen Frieden bedroht? Wie kommt es dann, dass diese Kreatur noch immer in unserer Mitte weilt?“ Einen Moment lang herrschte Schweigen und alle Blicke richteten sich wieder auf die drei Offiziere. Zwei von ihnen schwiegen, doch der Älteste am Kopfende des Tisches ergriff das Wort. “Allerdings, es ist äußerst bedauerlich, dass Eren Jäger diesen flügeltragenden Narren zugesprochen wurde. Doch je weiter außerhalb er sich befindet, desto weniger Schaden kann er hier im Inneren der Mauer anrichten. Zunächst einmal war es wichtig, dass sich die Situation beruhigt, jetzt können wir unsere Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden.“ “Und vergessen wir nicht, dass es sich nur um eine Zuteilung auf Probe handelt“, fügte einer der beiden anderen Militärpolizisten hinzu. Seine Finger legten sich auf ein edelsteinbesetztes Amulett, welches er um den Hals trug. “Alles hängt von der nächsten Expedition ab. Sollte sie scheitern…“ “Wird sie scheitern?“, fragte ein Mann, der bisher noch nicht gesprochen hatte. Auf seinem kostbar bestickten Wams prangte weithin sichtbar das königliche Wappen. Zusätzlich wurde es von einer Brosche in Form einer Hand geschmückt, welche an seiner linken Schulter befestigt war. “Ihr könnt Seiner Majestät ausrichten, dass er wohl keine zu großen Hoffnungen ins Kundschafterkorps setzen sollte.“ In einer Geste, die vielleicht Bedauern, möglicherweise aber auch Spott ausdrücken mochte, zuckte der Offizier mit den Achseln. “Diese Expedition wird scheitern.“ ~*~ Büro des Kommandanten, einige Zeit später Manchmal gibt es auch im dunkelsten Moment noch Lichtblicke. Einer dieser Lichtblicke ist Levi. Der Junge lernt so schnell, dass ich Mühe habe, ihn genug zu beschäftigen, ohne dass meine anderen Aufgaben darunter leiden. Mittlerweile unterrichtet Mike ihn mit der Gear und kann sich ebenso nur darüber wundern, dass der Junge auch ohne Ausbildung damit so leicht umzugehen vermag. Zu seinen Kameraden hält er Distanz, aber er scheint nicht mehr ganz so verschlossen zu sein. Beim Essen hat er sich daran gewöhnt, dass ihm keiner seine Ration streitig macht, er wirkt wesentlich entspannter. Hanji bringt ihm Lesen und Schreiben bei, wobei das eine der wenigen Sachen ist, wo er sich nicht so geschickt anstellt. Aber was sein muss, muss sein. Schließlich braucht der Verstand auch einen Ausgleich zur körperlichen Betätigung. Den Schwert-, wie auch den Nahkampf jedoch lasse ich mir nicht nehmen, darin unterrichte ich ihn persönlich. Er scheint die Lektionen blitzschnell zu verinnerlichen, er kann sofort umsetzen, was ich ihm erkläre oder zeige. Ich lasse es ihn üben, bis zum Umfallen, denn nur so geht es in Fleisch und Blut über. Oft schleppt er sich abends völlig erledigt ins Bett, hat kaum Zeit dazu, über irgendwelche belanglosen Dinge zu grübeln. Das war auch der Plan. Ein erfülltes Leben erfordert keine Grübeleien. Nachtrag Manchmal sollte ich meine eigenen Ratschläge beherzigen... Ein Lächeln stahl sich auf Erwin’s Lippen, als er sein Tagebuch zuklappte. Oftmals half es ihm, seine Gedanken zu ordnen, wenn er durch die alten Einträge blätterte. Manchmal erinnerte es ihn wieder an an alles, was er verloren... und was er gewonnen hatte. Aber in erster Linie machte es ihm immer wieder bewusst, welchen Weg er in seinem Leben gewählt und warum er diese Entscheidung getroffen hatte. Er legte das Buch zurück ins Geheimfach seines Schreibtischs und nahm sich als nächstes einen Stapel Briefe vor, als ein Klopfen an der Tür seine Gedankengänge unterbrach und ihn unverzüglich in Alarmstimmung versetzte. Um diese Uhrzeit waren nicht mehr viele Leute wach, deswegen rechnete er im ersten Moment mit einem Notfall. Doch als sich auf sein ’Herein’ hin die Bürotür öffnete und den Blick auf Mike freigab, erkannte Erwin schon an dessen Gesicht, dass seine Sorge unbegründet war. “Schläfst du eigentlich nie, Erwin? Manchmal glaub’ ich, dein Büro riecht Tag und Nacht nach Kerzenwachs.“ “Ja, das ist gut möglich.“ Mit einer Handbewegung forderte Erwin seinen alten Freund auf, einzutreten und die Tür hinter sich zu schließen. Mike verzichtete auf einen Salut und ließ sich einfach in den Stuhl gegenüber des Schreibtischs sinken. “Da du eh noch wach bist, da gibt’s was, das solltest du dir ansehen.“ “Ich hoffe, es sind bessere Neuigkeiten als die von vor zwei Tagen.“ Erwin lehnte sich im Sessel zurück und schloss für einen Moment müde die Augen, bevor er sich wieder seinem Gesprächspartner zuwandte. Der zuckte nur die Schultern. “Levi lässt eben nix anbrennen. Ehrlich gesagt, hätt’s mich eher gewundert, wenn Eren zurückgekommen wäre und nicht nach ihm gerochen hätte. Aber einer ist ja immer der Erste und der Kleine hätt’s schlechter treffen können.“ Erwin zog die Augenbrauen hoch. “Aus deinem Mund klingt das, als würde Levi regelmäßig alle unsere neuen Rekruten flachlegen.“ Mike schüttelte den Kopf. “Nein, er ist äußerst wählerisch, das ist mir schon klar. Hat schließlich vom Meister gelernt.“ Er zwinkerte Erwin zu, doch Erwin ging nicht auf den Witz ein. Seine Miene blieb ernst und sein Blick fragend. “Du bist doch nicht hierher gekommen, um Levi’s Privatleben mit mir zu diskutieren.“ “Ich bin hier, weil ich dir etwas zeigen wollte.“ Auch Mike wurde jetzt ohne Übergang ernst. “Vielleicht trägt es dazu bei, deine Stimmung zu heben. Zumindest wird es dir wieder ins Gedächtnis rufen, was du deinen Leuten wert bist, und wie viel Gewicht sie auf dein Wort geben.“ “Nun gut.“ Erwin erhob sich und folgte Mike durch die Bürotür auf den Gang hinaus. Um diese Zeit sollten eigentlich alle Soldaten schlafen. Zwar hatte er ausdrücklich betont, dass es sich bei der Mission um einen Probelauf handelte, aber dennoch war dies kein Grund, unvorsichtig zu sein. Und was die Meisten nicht wissen durften, war, dass sie morgen vermutlich dem Koloss und dem Gepanzerten gegenüberstehen würden. Die Scheune? Um diese Zeit würde doch hoffentlich niemand mehr trainieren, schon gar nicht bei diesem schlechten Licht. In einem hölzernen Gebäude durften nur geschlossene Lampen verwendet werden und auch nur an den vorgesehenen Stellen. Aber in der Scheune brannte kein Licht mehr. Außer dem schwachen Schein des Mondes und Erwin’s eigener Öllampe schien alles dunkel. Sie lagen mitten auf dem Übungsplatz. Ihren zerzausten Haaren und Kleidern zufolge mussten sie bis zur völligen Erschöpfung gekämpft haben, bis an den Rand der Bewusstlosigkeit. Eren hatte sich mit angezogenen Knien auf die Seite gerollt und benutzte seinen eigenen Arm als Kopfkissen, Levi lag ausgestreckt auf dem Rücken, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Eine seiner Lieblingshaltungen, wenn er schlief, doch Levi konnte in beinahe jeder Position schlafen. Wie eine Katze beherrschte er den Minutenschlaf, äußerst praktisch für jemanden, der ständig auf der Hut sein musste. Erwin hatte ihn oft darum beneidet. Durch das geöffnete Dachfenster fiel das Mondlicht und brach sich auf Levi’s messerscharfen Klingen, die zwischen den beiden Schlafenden auf dem Boden lagen. Um sie vor jedweder Versuchung zu bewahren. Lange Zeit stand Erwin schweigend da und betrachtete die Szenerie. Sein Gesicht war so reglos, es hätte aus Marmor gemeißelt sein können. Auch sein Herz fühlte sich an wie ein Stein, welcher in seiner Brust scheuerte und ihn zu Boden drückte. Er wusste nicht, was schwerer wog. Das Wissen um die unerschütterliche Loyalität, die Levi ihm entgegenbrachte und welche dieser über alles andere in seinem Leben stellte, oder die Tatsache, dass er ihn unwiederbringlich verloren hatte. Tsuzuku... to be continued ~*~ Kapitel 6: Quintus Ictus Campanae: Hoc Die in Aeternum ------------------------------------------------------ Wenn Schwierigkeiten kommen, dann soll dies zu meiner Zeit geschehen, auf dass meine Kinder Frieden haben mögen.” -Thomas Paine- Quintus Ictus Campanae: Hoc Die in Aeternum Fünfter Glockenschlag: Das Heute für die Ewigkeit Gebiet Sina, Mithras, königliches Schloss, Ratssaal Ein Tag nach der 57.Mission “Des weiteren vermerken wir menschliche Verluste von insgesamt sechsundachtzig Männern und Frauen, darunter über die Hälfte der neuen Rekruten aus der 104.Einheit und das gesamte Sondereinsatzkommando des Korporal... Hauptgefreiten... was auch immer... Levi, hohe Verluste an Material, an Waffen...soll ich fortfahren, meine Herren? Und diesem Ergebnis gegenüber steht natürlich der Gewinn der 57.Expedition vor die Mauern und dieser besteht aus... Nichts. Absolut nichts.“ Der Offizier mit den angegrauten Schläfen schwieg einen Moment, um seine vor Hohn triefenden Worte auf alle Anwesenden wirken zu lassen, während er die eng beschriebenen Seiten auf dem Konferenztisch ablegte. Dann fuhr er fort: “Soweit zu dem Bericht, den Kommandant Erwin Smith heute Nachmittag an Generalissimus Darius Zackley geschickt hat. Solltet Ihr ihn zu lesen wünschen, so werden unsere Schreiber sicherlich gern bereit sein, eine Kopie anzufertigen. Eins sollte vielleicht noch erwähnt werden, der Titanenwandler konnte trotz seiner angeblichen Fähigkeiten nicht das Geringste gegen die Gegner ausrichten. Diese Mission war ein Misserfolg auf der ganzen Linie und beweist uns wieder einmal aufs Neue, welche Verschwendung an wertvollen Ressourcen und natürlich an Menschenleben dieses Kundschafterkorps darstellt. Werte Hand, ich frage Euch, wie lange sollen wir uns das noch bieten lassen?“ “Ich habe Seiner Majestät bereits mehrfach geraten, dem Antrag zur Auflösung des Korps zuzustimmen.“ Der oberste Berater des Königs schrak nicht zurück, als ihn die anklagenden Worte des Offiziers und die nicht minder anklagenden Blicke der weiteren Personen im Konferenzsaal trafen. “Es ist sicherlich möglich, dass sich Seine Majestät unter den gegebenen Umständen noch einmal Gedanken über den Sachverhalt macht. Er hat selbstverständlich Kommandant Smith’s Expeditionsbericht erhalten und ich werde ihm auch die Worte dieser Versammlung weitertragen. Möglicherweise wird er aufgrund der neuen Informationen eine andere Entscheidung treffen.“ “Wir erwarten seine Entscheidung voller Ungeduld.“ Der Händler gewährte der Hand des Königs ein huldvolles Nicken, welches schon beinahe einer Beleidigung gleichkam und richtete das Wort an den Offizier: “Oberst Sanez, lasst mich noch einmal betonen, dass das Kartell eine Auflösung des Korps in vollem Maße unterstützen wird. Und ich schätze, die werte Priesterschaft sieht die Situation ähnlich, nicht wahr, Pater Lucius?“ “Nun, je eher diese Ketzer verschwunden sind, desto besser für unser aller Seelenheil.“ Der Priester schürzte die Lippen. “Allerdings kann die werte Priesterschaft für sich selbst sprechen und benötigt keinen geldgierigen Feilscher als Advokat, Herr Reebs.“ Herablassend musterte der Priester den Händler, welcher nicht minder verachtungsvoll zurückstarrte. “Bleibt Ihr bei Euren Predigten, Pater, und wir bei unseren Kontorbüchern, damit ist uns allen geholfen.“ “Haben wir noch weitere Punkte zu erörtern, meine Herren?“, unterbrach die Hand des Königs den aufflammenden Disput. “Falls nicht, erkläre ich unsere Versammlung hiermit für geschlossen, da Seine Majestät voller Ungeduld meinen Bericht erwartet. Oberst Delacroix, mein aufrichtiges Beileid, Oberst Sanez, Seine Majestät erwartet Euch morgen zur üblichen Stunde zur Audienz. Und nein, ich benötige keine Kopie des Expeditionsberichts, da Kommandant Smith ihn in einem separaten Schreiben an Seine Majestät höchstpersönlich geschickt hat. Werte Herren, ich darf mich empfehlen.“ Als er sich erhob, taten die anderen es ihm gleich. Ein vielstimmiges Gemurmel raunte durch den Saal, Stühle kratzten über den kostbaren Marmorboden und viele schwere Schritte entfernten sich in Richtung der großen Flügeltüre. “Oberst Sanez.“ Pater Lucius war so plötzlich vor dem Offizier aufgetaucht, dass dieser ihn verwundert musterte. “Was kann ich für Euch tun, Pater?“ “Nun, eigentlich wollte ich Euch nur zu Eurer Vorsicht gratulieren. Natürlich weiß ich nicht, wie es um Eure Frömmigkeit bestellt ist, aber möglicherweise habt Ihr mit Eurer Kurzfassung von Kommandant Smith’ Bericht erfolgreich eine Glaubenskrise verhindert. Dafür wollte ich Euch nur meinen Dank aussprechen.“ “Ralph, Henri, wartet draußen auf mich.“ Sanez nickte seinen beiden Begleitern zu, welche wortlos den Konferenzsaal verließen. Die großen Flügeltüren fielen ins Schloss und der Priester stand jetzt mit dem Militärpolizisten allein im Raum. Sanez’ Augen verengten sich, als er sein Gegenüber betrachtete. “Wie darf ich Eure Worte verstehen, Pater?“ Pater Lucius lächelte huldvoll. “Nun, als Gläubige gehen wir doch von der Annahme aus, dass die Frau als Ebenbild der göttlichen Drei geschaffen wurde, während wir Männer ein Leben lang mit unserer Unvollkommenheit zu kämpfen haben. Genau aus diesem Grund können diese furchtbaren Dämonen die unsere Welt heimsuchen, auch nur in männlicher Gestalt erscheinen.“ “Erspart mir die Einzelheiten, Pater, ich bin mit Glaubensdingen bestens vertraut“, schnitt Sanez die Ausführungen des Priesters ab. “Allein die Vorstellung eines weiblichen Titans könnte unter den Gläubigen eine Panik auslösen und den Frieden bedrohen, den Ihr und das ehrenwerte Zentralkommando so mühsam wiederhergestellt habt. Insofern ist es äußerst löblich, dass Ihr gewisse Details für Euch behalten und nicht auf der Versammlung verkündet habt.“ “Ein weiblicher Titan? Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr sprecht, Pater.“ Sanez’ Gesicht zeigte keinerlei Gefühlsregung. “Selbstverständlich nicht, Oberst. Auch der Klerus wird mit dererlei brisanten Informationen achtsam umgehen. Ihr habt mein Wort darauf, Oberst Sanez.“ Die Stimme des Priesters hatte einen lauernden Unterton angenommen. “Habe ich denn Euer Wort, Oberst, dass Ihr Euch dieses Dämons annehmen werdet?“ “Generalissimus Zackley hat seine Entscheidung bereits getroffen. Ein Botenreiter mit dem Befehl zur Auslieferung des Titanenwandlers befindet sich just in diesem Moment auf dem Weg zum Kundschafterkorps.“ Sanez lächelte. Es war kein gutes Lächeln. “In drei Tagen gehört Eren Jäger uns.“ ~*~ Gebiet Rose, ehemaliges Hauptquartier des Kundschafterkorps, Büro des Kommandanten, wenige Stunden später Wieder und wieder starrte Erwin auf die wenigen Zeilen in seinen Händen. Er hatte damit gerechnet, dass dieses Schreiben kommen würde, aber erst jetzt, da er es schwarz auf weiß vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, spürte er, wie ihm all seine Pläne und möglichen Auswege zwischen den Fingern zerrannen. Er konnte sich nicht gegen einen Befehl des Generalissimus stellen. Es wäre Hochverrat. Und Hochverrat würde nicht nur ihn selbst den Kopf kosten, sondern hätte womöglich die sofortige Auflösung des gesamten Kundschafterkorps zur Folge. Das konnte er nicht riskieren, selbst wenn er den eigenen Tod in Kauf nahm. Das Korps musste weiterleben. Es war die letzte Hoffnung der Menschheit. Nein, Eren Jäger war die letzte Hoffnung der Menschheit... Sie hatten die Pläne so genau durchdacht, die Falle im Wald so sorgfältig vorbereitet. Doch keiner von ihnen hatte damit rechnen können, dass es einen dritten Titanenwandler gab. Genauer gesagt, eine Wandlerin. Und die Kampfkraft dieses Geschöpfs übertraf alles, mit dem sie es bisher zu tun gehabt hatten. Als er das Blatt sinken ließ, wurde Erwin bewusst, dass Levi noch immer am Fenster stand. Reglos wie eine Statue, das Gesicht wie in Stein gemeißelt, die starren Augen auf einen unbestimmten Punkt im Raum gerichtet. Es brauchte keinerlei Worte zwischen ihnen, ja nicht einmal Blicke, um zu verstehen, wo sich seine Gedanken befanden. Bei seinem Team. Bei Erd, Günther, Orlo und Petra. Trotz aller seiner Versuche, sich von anderen Menschen zu distanzieren, konnte auch Levi nicht verhindern, dass sie sich immer wieder in sein Herz schlichen. So kühl und abweisend er sich nach außen hin zeigte, wer ihn lange genug kannte, blickte hinter die brüske Fassade. Im Laufe der Monate und Jahre waren seine Kameraden zu seiner Familie geworden, insbesondere sein Team, das er täglich trainiert und ausgebildet hatte. Mit Erd und Günther hatte er schon viele Expeditionen durchgeführt und viele gemeinsame Erinnerungen geschaffen, die ihn mit den beiden verbanden. Orlo war noch relativ neu gewesen, aber so talentiert, dass Levi insgeheim einen Nachfolger in ihm gesehen hatte. Zwar hatte er es Erwin gegenüber niemals laut ausgesprochen, aber die Art, wie er mit Orlo trainiert hatte, sprach Bände. Und Petra? Da sie keine Solo-, sondern eine Teamkämpferin war, waren ihre Fähigkeiten zunächst verborgen geblieben, aber nicht für lange und schon gar nicht Levi’s exzellenter Beobachtungsgabe. Sie war das neueste Mitglied seines Teams gewesen und selbst wenn er es niemals offen gezeigt hatte, auch diejenige, die ihm besonders nahe stand. Sie hatte die Lücke gefüllt, die Isabelle’s Tod in sein Herz gerissen hatte. Und Isabelle war für Levi wie eine leibliche Schwester gewesen. Erwin ertappte sich dabei, wie er nicht länger auf die beschriebenen Blätter starrte, sondern auf seine eigenen Hände. Auch wenn man es nicht sehen konnte, so waren sie mit Blut befleckt. Es war ihr Schicksal. Es war ihr verdammtes Schicksal, immer wieder neue Generationen an jungen Soldaten auszubilden, ihre Hoffnungen in sie zu setzen, dabei zuzusehen, wie sie heranwuchsen und stärker wurden. Und dann mussten sie dabei zusehen, wie sie starben. Die einen früher, die anderen später, aber irgendwann traf es jeden. Jeden einzelnen von ihnen. Manchmal fragte er sich, ob er Levi aus der Hölle geholt hatte, nur um ihn in eine noch weitaus schlimmere zu stürzen. Mehr als alles andere wünschte er sich Worte, die richtigen Worte, um Levi Trost zu spenden, doch es gab keine Worte, um die klaffenden Wunden in seinem Herzen zu schließen. Und es gab keine Tränen, mit denen sich Levi den Schmerz von der Seele weinen konnte. Es gab nur die Hoffnung, dass all dies irgendwann einmal ein Ende haben würde, und dass es nicht umsonst gewesen war. “Wann?“ Levi’s Stimme war ungewohnt leise. Er versuchte, einen Schritt zu tun, ohne seinen verletzten Knöchel zu belasten und seine Hand krallte sich um den Knauf des Gehstocks, den Erwin ihm gegeben hatte. “Setz dich, Levi.“ Erwin’s Stimme ließ keinen Widerspruch zu. “Ich erwarte von dir, dass du endlich dein Bein schonst.“ “Wann?“ Levi wiederholte die Frage, kaum, dass er sich in den zerschlissenen Sessel hatte fallen lassen. Das alte Zimmer war lange nicht mehr genutzt worden und hatte längst nicht dieselben Vorzüge wie sein reguläres Büro, doch Erwin dankte im Stillen seiner Voraussicht, dass er Levi direkt nach der Mission mit Eren und einem kleinen Trupp hierher geschickt hatte. Am Hauptquartier hatte bereits eine Eskorte der Militärpolizei gewartet, um Eren in Empfang zu nehmen, noch bevor Zackley’s Befehl überhaupt eingetroffen war. Hierher zu reiten, hatte ihnen einen Aufschub von einigen wenigen Tagen verschafft. “Sie erwarten Eren in spätestens drei Tagen in Mithras.“ Levi nickte düster. Sein Blick wurde hart, auch wenn sein Gesicht ansonsten völlig ausdruckslos blieb, doch Erwin verstand, wie heftig es hinter seiner Stirn arbeitete. Suchte er nach einem Ausweg aus der Situation oder versuchte er sich bereits mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass er nach seinem Team nun auch Eren verlieren würde? Einen Moment lang dachte Erwin an die Nacht vor der Mission zurück, als er die beiden in der Trainingshalle gefunden hatte. Die blanken Klingen zwischen ihnen. Die Nähe, die sie einander versagt hatten, weil er es ihnen verboten hatte. Und schließlich die Erkenntnis, dass das Band zwischen ihnen schon weitaus stärker war, als sie es sich eingestehen wollten. Eren, weil er es vielleicht noch nicht verstand. Levi, weil er es nicht zulassen wollte. “Mein Befehl ist aufgehoben.“ Wenn er schon sonst nichts tun konnte, dann wenigstens das. Die Entscheidung bezüglich Eren war gefallen, jetzt interessierte es ohnehin niemanden mehr, ob er vorschriftsmäßig im Keller schlief oder woanders. “Ich hab’s beendet“, entgegnete Levi knapp. “Die Sache ist durch.“ Erwin’s Augen weiteten sich. Levi hatte Eren tatsächlich nicht mitgeteilt, dass ein Befehl dahinterstand? Er hatte also wirklich verhindern wollen, dass sich Eren’s Enttäuschung gegen ihn, den Kommandanten richtete? Warum? Weil er Eren’s Loyalität gegenüber dem Korps nicht gefährden wollte? “Was wirst du jetzt tun, Erwin? Ihn ausliefern?“ “Im Moment scheint es so, dass ich keine andere Wahl habe.“ Erwin hatte viele Pläne geschmiedet und wieder verworfen, es gab keinen, der unter den gegebenen Umständen funktionieren würde. Er dachte noch darüber nach, welche von ihnen ausgereift genug waren, um sie mit Levi zu diskutieren, als es an der Tür klopfte. “Ja?“ “Ihr habt nach mir geschickt, Kommandant?“ Eren salutierte und betrat das Zimmer, als er den Jungen mit einer Handbewegung dazu aufforderte, näher zu kommen. “Steh bequem, Soldat Jäger. Und schließ’ die Tür, damit wir auf die Formalitäten verzichten können.“ Eren’s Augen richteten sich auf den Brief und weiteten sich, als er das Siegel erkannte. Fragend blickte er zu Levi hinüber und schließlich zu Erwin selbst. “Kommandant? Muss ich weg vom Korps?“ “Ich fürchte, so lautet der Befehl.“ Erwin entschied sich dafür, ohne lange Umschweife zum Punkt zu kommen. “In drei Tagen müssen wir dich an die Militärpolizei ausliefern. Es tut mir aufrichtig leid, Eren. Ich wünschte, es gäbe bessere Neuigkeiten.“ Eren senkte den Kopf. Einen Augenblick lang machte der Junge den Eindruck, als wolle er im nächsten Moment losheulen, doch dann straffte er die Schultern, biss sich auf die Lippe und hob das Kinn. “Dieser Befehl... gilt der nur für mich, Sir? Was ist mit Armin und Mikasa?“ Zumindest was diesen Punkt anging, konnte Erwin ihn beruhigen. “Der Befehl gilt nur für dich, über deine Freunde wurde nichts gesagt. Sollten sie sich dazu entscheiden, hier bei uns zu bleiben, hast du mein Wort darauf, dass wir uns um sie kümmern werden. Für ihre Sicherheit kann ich natürlich nicht garantieren, aber wir werden unser Möglichstes tun.“ “Ich danke Euch.“ Eren hob die Mundwinkel und brachte beinahe ein Lächeln zustande. “Ich hoffe, ich kann sie davon überzeugen, zu bleiben. Selbst wenn das Leben beim Korps gefährlich ist, so sind sie doch bei Euch und Captain Levi sicherer als anderswo.“ “Eren.“ Erwin lehnte sich nach vorne, um den Jungen eindringlich anzublicken. “Ich möchte ehrlich sein, im Augenblick sieht es sehr schlecht aus und es gibt nicht viel, was wir tun können. Aber das heißt noch nicht, dass alles verloren ist. Die verbleibenden Tage werden wir dazu nutzen, um nach einer Lösung zu suchen. Und selbst wenn deine Situation aussichtslos erscheint, so bin ich in Mithras auch nicht ganz ohne Freunde und Einfluss. Ich werde dir sofort mitteilen, sobald sich etwas Neues ergibt.“ “Wir haben noch nicht aufgegeben“ Levi’s Blick traf auf Eren’s, hart und entschlossen. “Und du wirst das auch nicht tun, verstanden?“ “Nein, Captain, werd’ ich nicht!“ Eren’s Faust fuhr an seine Brust. “Unser Team hätte auch nicht gewollt, dass ich mich hängenlasse.“ “Eren, eins noch, bevor ich dich entlasse.“ Erwin überlegt kurz, wie er dieses sensible Thema ansprechen sollte, doch er hatte sich bereits entschieden. “Einige Tage vor der Expedition habe ich Captain Levi einen Befehl erteilt, der sein und auch dein Privatleben betrifft. Ich hatte gute Gründe für diesen Befehl. Doch die Situation hat sich geändert und der Befehl ist somit aufgehoben.“ Mit verwirrter Miene starrte der Junge ihn an, doch langsam erwachte die Erkenntnis in seinen Augen. Sein Blick wechselte zwischen Erwin und Levi hin und her, wandelte sich von ungläubig zu erschrocken, von wütend zu fassungslos. Einen Augenblick lang fürchtete Erwin, er würde die Beherrschung verlieren und einfach aus dem Büro stürmen, doch Eren behielt eisern die Nerven. “Darf ich gehen, Kommandant?“ Erst als Erwin es ihm gestattete, verließ er das Büro und erst, als er draußen auf dem Flur war, hörte Erwin, wie er anfing zu laufen. ~*~ Gebiet Rose, ehemaliges Hauptquartier des Kundschafterkorps, Auf dem Flur, selber Abend, einige Zeit später “Ich kann einfach glauben, dass die dich nach alldem immer noch im Keller schlafen lassen wollen! Jetzt kriegt Kommandant Erwin echt was zu hören“, fauchte Mikasa, während ihre Lippen vor Zorn bebten. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürmte die Treppen hinauf. Eren wollte sofort hinterher, doch Armin hielt ihn am Arm fest. “Bevor du keine bessere Ausrede hast, warum du heute Nacht nicht bei uns schläfst, solltest du lieber nicht weiter mit ihr diskutieren.“ Eren blieb der Mund offen stehen. “Ich... ich...“ “Schon gut“, befreite ihn Armin aus seiner Misere. “Du musst mir nichts erklären, okay? Jeder hat schließlich seine Geheimnisse, die er für sich behält und es ist manchmal schwierig, darüber zu sprechen. Sei einfach nur vorsichtig und lass dich nicht erwischen.“ Eren nickte. Es war ihm unangenehm, dass Armin jetzt etwas vermutete und sicher auch die richtigen Schlüsse gezogen hatte, aber er konnte schweigen wie ein Grab. “Mikasa...“ “... sagen wir lieber nichts davon, sie kriegt das in den falschen Hals“, ergänzte Armin. “Ich rede mit ihr und lass’ mir was einfallen.“ “Du bist’n echter Freund.“ Spontan zog er Armin an sich und drückte ihn fest. “Hör mal... nur für den Fall, dass es alles schief läuft, versprichst du mir was? Kannst du bitte ein Auge auf Mikasa haben? Ich weiß, sie ist eine großartige Kämpferin und besser als wir alle zusammen, aber sie ist so temperamentvoll und sie denkt oft nicht nach, bevor sie handelt.“ “Da kenn’ ich noch jemanden“, fiel Armin ein, und ein breites Lächeln zierte seine Lippen. “Versprochen, Eren. Du weißt, wir drei passen immer aufeinander auf.“ “Okay.“ Verlegen ließ Eren Armin wieder los. Es war ein seltsames Gefühl, beinahe so, als würde er sich von ihm verabschieden. Dabei würden sie sich doch morgen zum Frühstück alle wiedersehen. “In der Kammer, wo unsere Manövergeräte aufbewahrt werden, sind Feldbetten“, erklärte Armin. “Es wär’ vielleicht sinnvoll, eins zu holen und es... dort aufzustellen, wo du schläfst.“ “Klar, mach’ ich. Gute Nacht, Armin.“ Morgen – das nahm er sich fest vor – würde er den Tag, soweit es seine Pflichten zuließen, mit Armin und Mikasa verbringen. Egal, was noch auf ihn zukam, von der Zeit, die ihm noch blieb, würde er nicht eine Minute mehr verschwenden. Seit Mama’s Tod war ihm deutlich bewusst gewesen, wie vergänglich das Leben war, aber während der letzten Tage war ihm wieder klar geworden, dass es wie Sand zwischen den Fingern zerrann. So viele seiner Kameraden und Freunde waren tot – erst bei der Schlacht um Trost, dann beim Kampf gegen den weiblichen Titan. Und er selbst hatte vielleicht auch nicht mehr lange zu leben. Eigentlich hatte er vorgehabt, mit Captain Levi zu reden. Ihn zu fragen, warum er ihm den Befehl des Kommandanten verschwiegen hatte. Ihm zu sagen, dass er es ungerecht fand, dass er wütend war und verwirrt und auch verzweifelt. Aber als Levi ihm die Tür öffnete, verspürte er kein Bedürfnis mehr, überhaupt über irgendetwas zu reden, und Levi offenbar genauso wenig. Binnen Sekunden flogen ihre Uniformen zu Boden, verspürte er die warme feste Berührung von Levi’s starken Armen um seinen Körper, fühlte seine Lippen und Zähne auf der bloßen Haut. Und doch war alles anders als sonst. Die ersten paar Male war Levi sehr behutsam vorgegangen, hatte Eren alles gezeigt und erklärt, was für ihn neu und aufregend war, hatte immer nachgefragt, ob ihm irgendwas weh tat und ob es ihm gut ging. Jetzt konnte es ihm offenbar nicht schnell genug gehen, er war wild, beinahe schon grob, als er Eren aufs Bett stieß und sich gerade noch die Zeit nahm, ihn mit Öl einzureiben, bevor er sich in ihm versenkte. Doch Eren hegte überhaupt nicht den Wunsch, ihn zu bremsen. Wie von selbst umschlossen seine Hände Levi’s Gesäß, krallten sich die Fingernägel in sein Fleisch, um ihn noch tiefer in sich hineinzuführen. Levi hob Eren’s Hüften an, zog die Beine über seine Schultern und senkte seinen Mund zwischen die gespreizten Schenkel. Der vereinte Rhythmus seiner Lippen und seiner Stöße brachte Eren dazu, laut aufzustöhnen, ja beinahe zu schreien. Erschrocken schob er sich die Fingerknöchel in den Mund, um das Geräusch zu dämpfen. Levi hob den Kopf. “Das sind uralte Steinmauern, da hört uns keiner.“ Eren’s Lippen entfloh ein leises Wimmern und er griff in Levi’s Haar, versuchte seinen Kopf wieder nach unten zu schieben. “Bitte, Captain Levi, hört jetzt nicht auf.“ Schon verspürte er das vertraute Pulsieren, doch Levi packte Eren’s Schwanz und presste die Finger darauf, erlaubte ihm zwar den Höhepunkt, nicht aber die Erleichterung. Stöhnend und zitternd brach Eren zusammen, fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er rang einige Minuten lang nach Atem, während Levi’s Stöße ruhiger und flacher wurden. Mit quälender Langsamkeit schob er sich in Eren hinein und Eren spannte die Muskeln an, um zumindest den Druck zu verstärken. Levi fluchte leise und zog ihn näher zu sich heran. Dann fluchte er erneut, diesmal vor Schmerz, weil er offenbar nicht auf seinen Knöchel geachtet hatte. Erst als Eren sich etwas erholt hatte, beschleunigte Levi das Tempo wieder. Er hatte die Position gewechselt, so dass er nun auf Eren lag und ihn in die Kissen drückte. Mit einer Hand stützte er sich ab, mit der anderen fuhr er über Eren’s Brust, kniff kräftig in eine der Spitzen. Es tat weh und fühlte sich gleichzeitig so gut an. Hitze breitete sich aus, stillte den brennenden Hunger, der in ihm tobte und entfachte ihn doch aufs Neue. Wieder und wieder murmelte er Levi’s Namen, wand sich unter seinen Stößen, fuhr mit seinen Fingerspitzen die Narben auf Levi’s Rücken entlang. Levi hatte ihm nie erzählt, woher die Narben stammten und Eren hatte nicht gewagt, zu fragen. Soviel war in Levi’s Vergangenheit geschehen, wovon er nicht wusste und was er nicht kannte, doch es stand ihm nicht zu, danach zu fragen. “Eren.“ Rau klang sein Name in Levi’s Kehle. Es war gut, doch es war nicht genug, er wollte mehr, wollte ihn tiefer, wollte, dass er den Schmerz betäubte, die entsetzliche Leere in seinem Inneren ausfüllte. Auch Levi hatte inzwischen angefangen zu zittern. Irgend etwas schüttelte ihn wie im Fieber, schien ihn innerlich zu zerreißen. Eren hätte schwören können, dass es ein Schluchzen war. Doch Levi’s Augen und Wangen waren trocken, nur der Schweiß klebte auf seinem Gesicht. Sie kamen knapp hintereinander, Eren fühlte Levi’s Hitze wie flüssiges Feuer in seinem Unterleib und ergoss sich kurz danach auf seinen eigenen Bauch. Levi säuberte ihn und zog ihn rasch unter die Decke, bevor ihm kalt werden konnte. Eren verspürte ein leises Kribbeln bei dem Gedanken, dass er hier bleiben durfte, dass er jetzt nicht aufstehen und in den Keller gehen musste, sondern hier schlafen durfte. Eine ganze Nacht, bis kurz vor dem ersten Licht des Tages. Und mit einem Mal schien ihm die Zeit nicht mehr kurz, sondern lang. Endlos lang. Wen interessierte noch, was morgen war? Das Hier und Jetzt war das Einzige, was zählte. Warm und geborgen lag er in Levi’s Armen, den Kopf auf seiner Brust, hörte dem ruhigen gleichmäßigen Schlag seines Herzens zu. In einem solchen Moment gab es keine Angst mehr, nicht vor der Zukunft, nicht vor der Ungewissheit, nein, noch nicht einmal vor dem Tod. In einem solchen Moment wusste er, was es bedeutete, zu leben. “Ich liebe Euch, Captain.“ Die Worte waren seinen Lippen entschlüpft, ehe er sie zurückhalten konnte, aber er bereute sie nicht. Er hatte sich geschworen, nie wieder einen Moment seines Lebens zu verschwenden und wenn es wirklich das war, was er für Captain Levi empfand, so gab es keinen Grund, es zu verschweigen. “Versteht mich nicht falsch, ich weiß genau, dass wir eine Abmachung haben und das ist in Ordnung so und ich will auch nicht mehr als das, was ich kriege. Und ich kann sogar damit leben, dass Ihr mich jetzt für einen blöden Trottel haltet.“ “Es gibt viele Gründe, dich für einen Trottel zu halten.“ Mit zwei Fingern umfasste Levi Eren’s Kinn und hob es leicht an, um ihm in die Augen zu blicken. “Aber das ist keiner von ihnen.“ “Meine Zeit bei Euch und dem Korps war das Beste, was mir in meinem ganzen Leben passiert ist“, murmelte Eren leise an Levi’s Brust. “Ich schätze, das will nicht viel heißen, weil mir nicht viel Gutes passiert ist, aber für mich bedeutet es sehr viel. Ich hab’ die Flügel der Freiheit auf dem Rücken getragen und dieses Gefühl kann mir keiner mehr nehmen. Selbst, wenn sie mich mitnehmen und mich foltern und töten, wie sie’s im Gerichtssaal angedroht haben, so ändert es nichts daran. Ich werde tapfer sein und ihnen keine Tränen zeigen. Und ich werde nicht um mein Leben betteln.“ Er lehnte sich zurück und schmiegte den Kopf in Levi’s Halsbeuge. “So tapfer wie Erd, Günther, Orlo und Petra, und all die anderen, die mit uns gekämpft haben und für uns gestorben sind. Ich will, dass sie stolz auf mich sein können.“ “Du weißt, dass sie uns niemals wirklich verlassen haben.“ Sanft fuhr Levi’s Atem durch Eren’s Haar und einen Augenblick später gesellte sich auch seine Hand dazu. “Sie sind immer bei uns, wenn wir in die Schlacht ziehen. Denk daran, jedes Mal, wenn du zuschlägst, kämpfst du nicht allein, sondern hast deine Kameraden bei dir, die deine Klingen führen und deinen Armen Stärke verleihen.“ Seine Hand umfasste die von Eren und ihre Finger verschränkten sich ineinander. “Mach sie stolz, Eren.“ Tsuzuku... to be continued Kapitel 7: Sextus Ictus Campanae: Aenigma Vis --------------------------------------------- "In Zeiten, da Täuschung und Lüge allgegenwärtig sind, ist das Aussprechen der Wahrheit ein revolutionärer Akt!" -George Orwell, 1984- Sextus Ictus Campanae: Aenigma Vis Sechster Glockenschlag: Das Rätsel der Macht Gebiet Sina Mithras, Hauptquartier der Militärpolizei, Oktober 850, vier Tage nach der 57.Expedition, kleiner Konferenzsaal, morgens “Angeklagter Erwin Smith, dreizehnter Kommandant des Kundschafterkorps. Ihr steht heute hier vor diesem Tribunal, weil Ihr des Hochverrats beschuldigt werdet. Da Ihr dem Militär angehört, wird ein Militärgericht über Eure Schuld oder Unschuld befinden. Habt Ihr diesbezüglich irgendwelche Einwände?“ “Nein, Generalissimus.“ Erwin straffte die Schultern und blickte Zackley entschlossen in die Augen. Ruhig wie ein Fels stand er vor dem obersten Kommandanten und ließ sich seine Anspannung nicht anmerken. Trotz seiner schwierigen Lage empfand Erwin auch Erleichterung. Erleichterung über die Möglichkeit, seinem Vorgesetzten die Beweggründe für sein Handeln erklären zu können. Selbst wenn Zackley ihn anschließend für schuldig befinden und hinrichten lassen würde, so konnte der Generalissimus nun nicht mehr die Augen vor der Wahrheit verschließen. Keiner konnte das! Zu viele Menschen hatten den Kampf der Titanen mitverfolgt. Titanenwandler lebten im Inneren der Mauer und sie verbargen sich mitten unter dem Volk… Anders als bei Eren’s Tribunal hatte sich Zackley diesmal gegen eine öffentliche Verhandlung im großen Gerichtssaal entschieden. Nur eine Handvoll Militärs waren anwesend und saßen mit ernsten Mienen um den wuchtigen Konferenztisch herum. Die beiden Kommandanten Dawk und Pixis repräsentierten die Militärpolizei und die Stadtwache, außerdem waren mehrere Adjutanten als Begleiter zugegen. Und Oberst Djel Sanez vom Zentralkommando. Erwin wusste, wer dieser Offizier war, auch wenn sie bisher noch nicht viel miteinander zu tun gehabt hatten. Üblicherweise hielt sich das Zentralkommando stark im Hintergrund und konzentrierte sich auf seine Hauptaufgabe, den König und den Hochadel zu beschützen. Außerhalb von Mithras ließen sie sich kaum sehen. Auch wenn Erwin sich zuweilen fragte, ob diese undurchsichtigen Gestalten nicht eher Bewacher als Leibwächter darstellten. Die Rolle des Zentralkommandos war und blieb sehr rätselhaft. Sie unterstanden nicht der normalen Militärpolizei, sondern agierten völlig unabhängig von dieser. Außer dem Generalissimus und natürlich dem König selbst gab es niemanden, der ihnen Befehle erteilen konnte. “Kommandant Smith, Ihr werdet nun diesem Gericht Euer Verhalten erläutern, damit wir uns ein genaueres Bild machen können.“ Zackley blickte ebenso entschlossen zu Erwin zurück. Seine Miene wirkte allerdings eher besorgt als anklagend und das galt ebenso für Pixis. Nur Nile wich Erwin’s Blick aus. Vielleicht war es das schlechte Gewissen, weil Nile ihn ums Haar standrechtlich erschossen hatte, vielleicht war es auch einfach nur Unsicherheit. Nile war dieser Situation nicht gewachsen, er war es gewohnt, Befehle auszuführen und klaren Strukturen zu folgen. Und im Augenblick war nichts mehr klar. “Selbstverständlich, Generalissimus.“ Erwin atmete noch einmal tief durch, bevor er sich vom Tisch abwandte und auf die große Schiefertafel zuging, die an der Wand gegenüber hing. Der kleine Konferenzraum wurde hauptsächlich für strategische Besprechungen genutzt, deswegen fand er hier alles vor, was er für seine Ausführungen benötigte. Und glücklicherweise hatte man für die Verhandlung auf Handschellen verzichtet. “Über die Einzelheiten der 57.Expedition hatte ich Euch bereits in meinem Bericht informiert, deswegen fasse ich diese hier nur kurz zusammen.“ Erwin nahm die Kreide und zeichnete die Grundzüge der Formation an die Tafel. “Offiziell war diese Mission eine Übung für die geplante Expedition nach Shiganshina, inoffiziell jedoch war sie eine Finte, um die beiden Titanen einzufangen, die für den Angriff auf Trost letzten August und für den Angriff auf Shiganshina vor fünf Jahren verantwortlich waren.“ Er setzte die Kreide ab und wandte sich um. “Womit wir allerdings nicht gerechnet hatten, war der Angriff des weiblichen Titans, hinter dem sich die Wandlerin Annie Leonhardt verbarg. Jetzt sind wir mehr denn je überzeugt davon, dass es sich auch bei dem Koloss und dem Gepanzerten um Wandler handelt, die ihre Gestalt wechseln können…“ “Das sind haltlose Spekulationen, für die hier kein Platz ist“, unterbrach Nile. “Ihr solltet dem Gericht besser erklären, warum Ihr zugelassen habt, dass Eren Jäger wie ein Berserker durch Stohess getobt ist und dabei die halbe Stadt in Schutt und Asche gelegt hat. Eure Anweisungen waren klar, Ihr solltet Jäger an die Militärpolizei ausliefern. Stattdessen habt Ihr einen direkten Befehl missachtet und diesen... Titanen für Euren lächerlichen Putschversuch benutzt. Ihr habt uns alle hintergangen, Smith. Glaubt nicht, dass wir Euer kleines Spiel nicht durchschauen!“ Nile schlug mit der Faust auf den Tisch, um seine Empörung zu bekräftigen – allerdings einige Augenblicke zu spät. Er war kein guter Schauspieler, Erwin wusste das und Nile selbst wusste es auch. Die Tatsache, dass sich eine Wandlerin unbemerkt unter seinen eigenen Leuten verborgen hatte, machte ihm schwer zu schaffen. Erwin überlegte kurz, ob er dieses Thema ansprechen sollte, entschied sich aber schließlich dagegen. Es wäre ein billiger Sieg gewesen, seiner nicht würdig, und außerdem stand er nicht hier, um alte Streitigkeiten mit Nile aufzuwärmen. “Nachdem wir ihre Identität kannten, war es unser neues Ziel, Annie Leonhardt dingfest zu machen“, fuhr Erwin fort. Weder ging er auf Annie’s Zugehörigkeit zur Militärpolizei ein, noch auf Nile’s unsinnige Behauptung, was diesen angeblichen Putschversuch anging. “Aber ohne Eren Jäger’s Hilfe wäre es nicht möglich gewesen, sich einer Wandlerin zu stellen. Also haben wir uns dafür entschieden, ihn nicht an die Militärpolizei auszuliefern. Stattdessen erteilte ich dem Soldaten Jean Kirschstein den Befehl, als Eren Jäger verkleidet nach Mithras zu reisen.“ “Womit er Zeuge und Mittäter für Euren Verrat wurde.“ Nile’s Augen verengten sich. “Ihr seht, Generalissimus, das Kundschafterkorps ist eine wahre Brutstätte für Pflichtverletzung und Unaufrichtigkeit.“ “Mit Verlaub, Kommandant Dawk, ist es nicht die oberste Pflicht eines Soldaten, dem Befehl seines Vorgesetzten Folge zu leisten?“, fragte Pixis. “Wäre es nicht eher Pflichtverletzung und Unaufrichtigkeit gewesen, Kommandant Smith’ Autorität in Frage zu stellen?“ Nile blickte Pixis finster an, doch Zackley beantwortete die Frage stattdessen. “Wir verhandeln hier zunächst über die Schuldfrage von Kommandant Smith. Ob und wie seine Männer zu bestrafen sind, werden wir an anderer Stelle entscheiden.“ “Dennoch sollten wir nicht vergessen, Generalissimus, dass auch die Auflösung des Kundschafterkorps eine noch ungeklärte Frage ist“, wandte einer der Adjutanten ein. “Schließlich hat der König höchstpersönlich…“ Ein eiskalter Blick von Sanez brachte ihn zu Schweigen und mit hochrotem Gesicht senkte er den Blick. “Dieser Punkt ist nicht vergessen“, entschied Zackley. “Im Falle einer Verurteilung wird uns ohnehin keine andere Wahl bleiben, als das Kundschafterkorps aufzulösen, da wir nicht wissen, wer alles aktiv an diesem möglichen Putschversuch beteiligt war. Fahrt mit Euren Ausführungen fort, Kommandant Smith.“ “Während Jean Kirschstein in der Verkleidung von Eren Jäger nach Mithras unterwegs war, verabredete der echte Eren Jäger gemeinsam mit den Soldaten Mikasa Ackermann und Armin Arlert ein Treffen mit Annie Leonhardt. Unser ursprünglicher Plan war es, Annie in die Unterstadt zu locken, weil sie sich im Untergrund nicht verwandeln kann, doch bedauerlicherweise erkannte sie unsere Absichten und der Plan schlug fehl. Deshalb hatten wir unsere Leute auf den Dächern von Stohess postiert, um die Wandlerin notfalls auch in ihrer Titanenform einfangen zu können.“ Erwin trat wieder zur Tafel, um die Positionen der einzelnen Teams aufzuzeichnen und seine taktischen Pläne ausführlich zu erklären. “Hier… diese drei Teams hatten sich direkt um den Eingang zur Unterstadt postiert. Ihre Aufgaben bestanden darin…“ “Die Kurzfassung bitte.“ Selbst der bedächtige Zackley schien langsam ein wenig ungeduldig zu werden. “Eure taktischen Fähigkeiten in allen Ehren, Smith, doch Ihr steht hier als Angeklagter und nicht als Stratege.“ “Dies ist mir durchaus bewusst, Sir“, gab Erwin zurück. Er spürte, dass der Zeitpunkt gekommen war, seine Trumpfkarte auszuspielen. “Aber da ich im Augenblick der Einzige bin, der diese Kampfstrategie kennt und im Falle einer Verurteilung höchstwahrscheinlich hingerichtet werde, erscheint es mir notwendig, sie vorher mit den anderen Kommandanten zu teilen.“ Erwin sah die Soldaten der Reihe nach an. Schließlich blieb sein Blick an Nile und Pixis hängen. “Falls der Koloss und der Gepanzerte erneut angreifen, stehen die Soldaten im Inneren der Mauer einer nahezu unverwundbaren Kampfmaschine und einem sechzig Meter hohen Riesen gegenüber. Wenn wir unsere Kameraden von der Militärpolizei und der Stadtwache schon nicht im Kampf selbst unterstützen können, möchte ich zumindest den Kommandanten Dawk und Pixis alle verfügbaren Informationen überlassen, damit sie diesen Einsatz leiten und eine sinnvolle Strategie vorbereiten können.“ “Spekulationen… nichts als Spekulationen“, stammelte Nile. Seine Hände zitterten so sehr, dass er beinahe das Tintenfass umgestoßen hätte, welches zwischen ihm und seinem Adjutanten stand, damit dieser sich Notizen machen konnte. “Wollt Ihr…“ “Wollt Ihr nicht lieber schweigen, damit Kommandant Smith seine Ausführungen fortsetzen kann?“, fragte Sanez. Es war das erste Mal, dass jemand vom Zentralkommando das Wort ergriffen hatte und Nile brach sofort ab. Nur sein Blick verriet eine Mischung aus Betretenheit und Überraschung. Er hatte nicht verstanden, wie ihm geschah. Erwin lächelte in sich hinein. Sein Trumpf war nicht seine Unschuld. ~*~ Gebiet Sina, Mithras, Kathedrale der Drei, selber Tag, abends “Vergebt mir, Pater, denn ich habe gesündigt.“ “Bekenne deine Sünden im Namen der Jungfrau, der Mutter und der Gerechten, mein Sohn, sonst wirst du nimmermehr Vergebung erfahren.“ Die Stimme des Priesters hinter dem Vorhang hatte einen monotonen, leiernden Tonfall angenommen. Offenbar war es auch für ihn ein langer Tag gewesen. In den Buntglasfenstern der Kathedrale brachen sich die letzten Sonnenstrahlen des Abends. Das gewaltige Kirchenschiff war nahezu leer, nur einige vereinzelte Gläubige saßen oder knieten noch in den Bänken. Eine alte Frau zündete Kerzen an und faltete die Hände zum Gebet. Wie auch die anderen Besucher der Kirche befand sie sich außer Hörweite des Beichtstuhls, der durch zwei schmucklose Holztüren vor neugierigen Blicken geschützt war. Hier in Dunkelheit und Stille konnten die Sünder ihre Taten bekennen. “Es ist äußerst kompliziert, Pater“, begann der Fremde erneut. “Um Euch das gesamte Ausmaß meiner Sünden darzulegen, muss ich Euch zunächst eine Frage stellen. Die Antwort wird mir dabei helfen, Klarheit in meinen verwirrten Geist zu bringen.“ “Fahre fort, mein Sohn.“ Die Stimme klang nun ein wenig aufmerksamer, eine solch ungewöhnliche Aussage hörte wohl selbst ein Priester nicht jeden Tag. “Stelle deine Frage.“ “Drei Männer geraten in einen fürchterlichen Streit, ein Fürst, ein Priester und ein reicher Händler. In dem Raum, in welchem dieser Streit stattfindet, sitzt aber noch ein vierter Mann, ein einfacher Krieger mit einem Schwert. Daraufhin wendet sich der Fürst an den Mann: “Soldat, du bist mir zum Gehorsam verpflichtet, denn ich vertrete das Gesetz. Ziehe dein Schwert und töte die beiden anderen, sonst wirst du zum Verräter am eigenen Land. Daraufhin spricht der Priester zu dem Mann: “Mein Sohn, du bist mir zum Gehorsam verpflichtet, denn ich stehe für eine höhere Macht, die nicht von dieser Welt ist. Ziehe dein Schwert und töte die beiden anderen, sonst wirst du die ewige Verdammnis erleiden. Als letzter ergreift der Händler das Wort: “Ich stehe für nichts und du bist mir zu nichts verpflichtet. Aber ziehe dein Schwert und töte die beiden anderen und ich zahle dir dreißig Silberstücke aus meinem Beutel.“ Der Erzähler hielt inne: “So sagt mir nun, Pater, wer lebt und wer stirbt?“ “Spricht der Satan aus dir, mein Sohn? Willst du einen getreuen Diener der Drei in Versuchung führen und das an diesem heiligen Ort?“ Die Stimme des Priesters bebte vor Empörung. “Du weißt, dass es nur eine Antwort auf diese Frage geben kann. Der Mann wird den Anspruch des Priesters unterstützen, oder auf ewig in der Hölle schmoren. Nichts steht über der Gerichtsbarkeit der göttlichen Drei.“ “Die Kirche lehrt also, dass ein Mann der dem Glauben dient und um jeden Preis die Interessen der Kirche wahrt, Vergebung erfährt, selbst wenn er dafür die weltlichen Gesetze bricht?“, fragte der Besucher hinter dem Vorhang. “Ist es nicht eine schwere Sünde, wenn beispielsweise ein Soldat einen Befehl missachtet und dazu noch geheime Informationen weitergibt, die er geschworen hat, zu bewahren.“ “Nun“, begann der Priester. “Das käme ganz darauf an, ob die Preisgabe dieser Informationen der heiligen Mutter Kirche von Nutzen wäre.“ “Die Information betrifft den Dämon Eren Jäger“, entgegnete der Mann hinter dem Vorhang. “Und die Pläne, die das Zentralkommando mit ihm hat, sobald sie seiner habhaft geworden sind.“ “Sprich weiter, mein Sohn.“ Der Priester hatte sich jetzt so weit vorgelehnt, dass seine Lippen beinahe den Vorhang berührten.“ “Diese Pläne… sie liegen nicht im Interesse der Kirche, ganz gewiss nicht...“ Die Stimme brach ab. Ein tiefer Atemzug war zu hören, danach wurde die Luft hörbar wieder ausgestoßen. “Das Zentralkommando hat die heilige Mutter Kirche verraten. Anstatt den Dämon zu vernichten, wollen sie seine Macht für sich selbst.“ ~*~ Gebiet Rose, neues Hauptquartier des Kundschafterkorps, zwei Tage später, früher Morgen Captain Levi’s Zimmer ... hat das Gericht entschieden, Kommandant Erwin Smith von allen Vorwürfen freizusprechen. Weiterhin wurde beschlossen, dass der Soldat Eren Jäger auf unbestimmte Zeit Mitglied des Kundschafterkorps bleibt... ..auf unbestimmte Zeit.... Auf unbestimmte Zeit, das hieß dauerhaft. Er war jetzt ein vollständiges Mitglied des Kundschafterkorps. Diese verdammten Militärpolizisten würden ihn nicht in ihre schmierigen Finger kriegen. Diese Schlacht war gewonnen. Aber obwohl Eren sich die Worte wieder und wieder im Kopf vorsagte, fiel es ihm immer noch schwer, sie zu glauben. Zuviel war in den letzten Tagen und Wochen geschehen. Die gescheiterte Mission, der Kampf gegen Annie, der Tod von Levi’s Team, Erwin’s Tribunal und immer wieder sah er sich mit dem Gedanken konfrontiert, dass ihm selbst auch nicht mehr viel Zeit blieb. Und jetzt war alles anders. Jetzt würde er beim Kundschafterkorps bleiben. Dauerhaft. Weil dieses Stück Papier das sagte. “Hör mit der Zappelei auf“, knurrte Levi im Halbschlaf. Der Captain roch nach Seife und nach schwarzem Tee. Und ein bisschen nach Rauch. Gestern Abend hatten sie noch eine Weile vor dem Kamin gesessen und geredet. Nicht so, wie Eren es sich erhofft hatte, denn insgeheim wünschte er sich doch, dass Levi mal ein bisschen mehr von sich selbst preisgab. Mal etwas von seiner Vergangenheit erzählte. Oder auch nur, wie es ihm gerade ging. Aber der Captain war nun mal der Captain und es war sinnlos, über ihn zu grübeln oder ihn ändern zu wollen. ’Nein’, nahm Eren sich fest vor. ’Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Mehr will ich nicht.’ Durch das Fenster sah er bereits das erste Grau des Morgens heraufziehen. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Er musste in die Bude zurückkehren, bevor Armin, Jean, Connie, Reiner und Bertholdt aufwachten und merkten, dass er heute Nacht fort gewesen war. Glück war nie von Dauer, dessen war sich Eren bewusst, als er sich ein letztes Mal an Levi’s warme Brust schmiegte und seinem kräftigen Herzschlag lauschte. Es waren immer nur kurze Momente, gestohlene Augenblicke zwischen all dem Schmerz und dem Tod, den sie tagtäglich vor Augen hatten. Und doch war er für diesen einen Wimpernschlag der glücklichste Mensch der Welt. Draußen schlug ihm die morgendliche Kühle entgegen. Er blickte zum Haupthaus hinüber und sah, dass in seiner Stube bereits Öllampen flackerten. Die anderen waren wach. Also war es schon zu spät, um sich ungesehen zurückzuschleichen. Eren seufzte. In Zukunft würde er wohl noch früher aufstehen müssen. Für heute morgen war kein Sondertraining mit Levi angesetzt, denn Kommandant Erwin bestand darauf, dass der Captain zuerst seinen verletzten Fuß auskurierte. Also blieb noch über eine Stunde Zeit bis zum Frühstück. Warum nicht nach Rebellion sehen? Das wäre zumindest eine plausible Erklärung für seine Abwesenheit. Auf keinen Fall wollte er, dass die anderen Verdacht schöpften. Im Stall schlug ihm der vertraute Geruch von Pferden, Heu und Leder entgegen, während er weiter seinen Gedanken nachhing. Was [style type="italic"]würde[/style] passieren, wenn sie Verdacht schöpften? Armin vertraute er, aber Connie war eine Klatschtante und Jean würde ihn einfach nur gnadenlos aufziehen. Reiner und Bertholdt – gut, die beiden würden sich vermutlich raushalten, schließlich klatschte er auch nicht über das, was die nachts in ihren Betten trieben. Sie waren aber auch schon so lange zusammen, dass es keinen wirklichen Gesprächsstoff mehr bot. Genau wie früher bei Hannah und Franz…. arme Hannah… Waren Jean und Marco eigentlich mehr gewesen als gute Freunde? Eren wusste es nicht. Er selbst hatte so etwas natürlich immer als Letzter mitbekommen, weil er sich für solche Dinge nicht im Geringsten interessiert hatte. Er hatte ja auch keine Ahnung von gar nichts gehabt und sich nie damit beschäftigt und Captain Levi musste ihn wirklich für einen naiven, unerfahrenen Idioten halten. “Guten Morgen, Eren. Willst du mit ausreiten?“ “Klar, warum nicht?“ Das hatte er zwar nicht vorgehabt, aber Zeit war ja noch genug und vielleicht würde ihm etwas frische Luft gut tun und ihm dabei helfen, den Kopf frei zu kriegen. Diese ganze Grüblerei nervte ihn. Er war es nicht gewohnt, sich so viele Gedanken zu machen. Handeln war besser. “In Ordnung. Ich gebe nur schnell Bescheid und melde uns ab.“ Rebellion begrüßte ihn mit einem freudigen Schnauben. ’Hätte er mich vermisst, wenn ich nicht zurückgekommen wäre?’, fragte sich Eren, während er den Hengst aufsattelte. ’Oder hätte er sich an einen neuen Reiter gewöhnt und mich irgendwann vergessen?’ Die Pferde im Korps bekamen oft neue Reiter. Rebellion war einfach noch zu jung, um das zu kennen. Mit einem Mal kam Eren sich unglaublich alt vor. Der Waldboden war feucht von der Nacht, aber noch zeigte sich kein Raureif. Aber lange konnte es nicht mehr dauern bis zum ersten Frost. Damals als sie auf den Feldern mit anpacken mussten, hatten sie den Frost gefürchtet, denn er bedeutete, dass sie noch härter arbeiten mussten als sonst. Und mit dem Frost kamen der Winter, die Kälte und der Schnee. Oft hatten die zerschlissenen Decken und das wenige Feuerholz nicht ausgereicht, um sich warmzuhalten. Armin, Mikasa und er hatten sich gegenseitig gewärmt und sich immer wieder versichert, dass sie aufeinander aufpassen würden. Wie konnten sie sich in nur einem Monat so fremd geworden sein? Lag es daran, dass er zum ersten Mal ein Geheimnis hatte, welches er nicht mit ihnen teilen konnte? Sie spürten wohl, dass auch er sich verändert hatte. Die Zeit mit Captain Levi hatte ihn verändert. Das Training, das Leben in der alten Burg, die Leute, das Gefühl wieder zu einem Team zu gehören... Und diese anderen Gefühle, die noch so fremd und so neu waren. Aber sie waren einfach da, ebenso wie der Titan. Letztendlich konnte er sich nicht dafür oder dagegen entscheiden, sondern nur dafür, ob er sich feige verkriechen oder hocherhobenen Hauptes in die Schlacht ziehen wollte. Ob er selbst die Kontrolle über sein Leben übernahm oder zuließ, dass andere sie ihm…. Schatten… ...................Schmerz… ....................................Schwärze. Tsuzuku... (to be continued) Kapitel 8: Embolium: Atrocitas Mundi ------------------------------------ “Je weiter du zurückblicken kannst, desto weiter wirst du vorausschauen.“ –Winston Churchill– Embolium: Atrocitas Mundi Zwischenspiel: Die Grausamkeit der Welt [B"]Das Mädchen zittert und weint und blutet... ...keiner der anderen Soldaten weiß, ob sie es schaffen wird. Ihre zerfetzte Uniform und die Bissmale auf ihrem Körper sind ein deutliches Indiz dafür, dass sie im Maul eines Titanen gelegen haben muss. Es ist ein Wunder, dass sie von dort wieder freikam. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt. Ein weiterer Soldat lenkt sein Pferd neben den rumpelnden Karren. Sein Blick unter der grünen Kapuze ist besorgt, aber auch voller Fragen und Zweifel. Seine unruhigen Augen suchen den Horizont ab. Werden sie es bis zum Tor schaffen? Das Tor, das hinter die Mauer führt? In Sicherheit? Das Mädchen öffnet die Augen. Ihr Blick ist hart, entschlossen. Ein Feuer brennt darin, ein starker unbeugsamer Wille. Mögen andere sie vielleicht aufgegeben haben, sie sich selbst noch lange nicht. Sie kämpft. Das Tor liegt kurz vor ihnen, nur noch wenige Meter. Nur den letzten Titanen müssen sie noch ausweichen, denjenigen, die an der Mauer stehen. Dann sind sie zu Hause. Erinnerung fährt durch ihren Geist wie ein Blitz. Titan. Stinkendes Maul.. riesige Zähne… ein Geruch nach Verwesung. Das reißende Geräusch von Metall durch Fleisch, ihre Klinge, die durch seine Wange gleitet. Trenn’ den Unterkiefer ab, dann kann er nicht mehr zubeißen! Sie hat die Lektion nicht vergessen, doch ihre Klinge ist nicht stark genug. Ihr Arm ist nicht stark genug. Es ist das Ende... Und dann kommt er… Der Titan mit den spitzen Ohren und dem wilden schwarzen Haar. Seine nackten Füße stampfen über den Boden, sein Brüllen erschüttert die Luft. Es ist lauter als der Schmerz, lauter als die Angst, ja selbst lauter als der Tod. Seine Hände greifen nach dem Kopf des anderen Titanen und reißen ihn auseinander wie ein Stück Papier. Blut spritzt, zischt, verdampft. Hitze. Sie fällt, versucht mit tauben Fingern, das Manövergerät zu betätigen. Doch der Haken findet keinen Halt. Der Boden kommt näher. Und näher. Doch sie schlägt nicht auf. Sie liegt in seiner Hand. Er beugt sich über sie, ein Gesicht so groß wie die ganze Welt. Augen, die sie anstarren und die doch so anders sind, als die dumpfen geistlosen Glubschbälle in den Gesichtern anderer Titanen. Diese Augen sind wach, sie sind beseelt. Etwas brennt darin, genau wie in ihren eigenen… Der Schatten des Tores fällt auf ihr Gesicht. Sie lebt und sie ist in Sicherheit. Sie lebt, weil er sie dort rausgeholt hat. Ein Titan. Ein Titan, der sieht und denkt und weiß. “Er hat mich gerettet“, murmelt sie leise. “Warum rettet ein Titan einen Menschen? Wie kann das sein?“ “Scht… du hast geträumt.“ Das Gesicht des Soldaten, der neben dem Karren reitet, ist jetzt näher bei ihr. Über ihr. Freundliche Augen. Sie kennt es nicht. War er wirklich schon dabei, als sie auf die Mission aufgebrochen sind? Das Wundfieber spielt ihr einen Streich. Sie weiß nicht mehr, was wirklich ist und was nicht. Sie ist zu müde. “Wir… geschafft… Sicherheit.“ Wortfetzen dringen an ihr Ohr, als ein wohliges Dunkel sie umfängt. “Alles ist gut, Carla.“ ~*~ Der Schmetterling zappelt im Spinnennetz. Seine zarten Flatterflügel schlagen, doch mit jedem Schlag verfangen sie sich tiefer in den klebrigen Fäden. Sein Körper wirft sich hin und her, erst hektisch, dann langsamer. Noch langsamer. Die Spinne kommt aus einer Ecke des Netzes gekrabbelt. Ihre gigantischen Kauwerkzeuge knirschen, als sie sich über den Schmetterling beugt. Mit schnellen sicheren Bewegungen spinnt sie ihre Beute ein, als würde sie ihr Lebtag nichts anderes tun. Vermutlich tut sie das auch nicht. Es ist eine Spinne. Wird der Schmetterling jetzt sterben? Geht das denn? Was passiert, wenn man stirbt? Ist dann alles vorbei, als wäre man nie da gewesen? “Oide, Mikasa!“ Mama’s Stimme ruft nach ihr, aus dem Haus. Hell und freundlich durchbricht sie das Spinnennetz, den Tod und die seltsamen Gedanken. Zu Hause. Alles ist sicher und warm und gut. Es gibt keine bösen Enden. Nicht in ihrer Geschichte. Doch warum steckt dann ein Messer in Mama’s Brust? ~*~ Du hast geträumt, mein Kleines... Carla sitzt an ihrem Bett und streicht ihr die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn. Ihr ist heiß. Ihr ist übel. Wieder dieser Alptraum. Immer fängt er ganz harmlos an und plötzlich passiert etwas ganz Schreckliches. “Du musst keine Angst haben.“ Angst? Sie hat keine Angst. Sie weiß nur, wie vergänglich dieses ganze Leben ist. Zerbrechlich wie Glas. Es scheint so real und doch kann man es wie ein Nichts wegfegen. Ihre alte Familie ist tot, ihrer Neuen kann es ebenso ergehen. Nichts ist wirklich. Nichts ist sicher. Man muss sich damit abfinden. “Wenn wieder böse Männer kommen, dann beschütze ich dich, Mikasa.“ Eren’s Stimme ist schlaftrunken. Wahrscheinlich hat ihr Geschrei ihn geweckt. Doch er wird schon bald wieder weiterschlafen. Eren kann immer und überall schlafen. Wie ein Stein. Manchmal beneidet sie ihn darum. “Von nun an beschütze ich dich, Eren.“ Es ist ein Versprechen, das für ein ganzes Leben gilt. ~*~ “Nicht aufgeben... nicht aufgeben.. nicht aufgeben... Wieder und wieder spricht sie die Worte. Sie sind ihr längst zu einem Mantra geworden. Nicht Hunger, nicht Krankheit, nicht Kälte oder Schmerz werden sie zu Fall bringen. Sie wird stark sein, nein, nicht stark. Unbesiegbar. Grischa und Carla sind fort, doch Eren und Armin sind noch da. Sie brauchen sie. Noch ist ihre zweite Familie nicht zerstört und sie wird mit Zähnen und Klauen darum kämpfen, dass sie überlebt. Diesmal wird sie nicht zögern, was auch immer sie tun muss. Bald ist Erntezeit. Sie werden auf die Felder gehen, denn wer hart arbeitet, der bekommt zu essen. Es ist Armin’s Idee gewesen. Feldarbeiter werden immer gesucht, auch wenn es für Kinder eine schwere Arbeit ist. Aber hier im Auffanglager zu bleiben, ist keine Alternative. Es gibt nie genug Essen für alle, es gibt Diebstähle, nächtliche Überfälle und Schlimmeres. Und die Krankheiten. Vielleicht wird schon bald eine Seuche ausbrechen, wenn es irgendwann kein sauberes Wasser mehr gibt. Zu viele Menschen auf zu engem Raum und man kann nachts nicht schlafen, weil irgendjemand immer stöhnt oder jammert. Und die Kinder schreien. ~*~ Nenne no nemunoki nemuri no ki Sotto yusutta sono eda ni Tooi mukashi no yo no shirabe Nenne no nemunoki komori uta Usu kurenai no hana no saku Nemu no kokage de futo kiita Chiisana sasayaki nemu no koe Nenne nenne to utatteta Furusato no yo no nemunoki wa Kyou mo utatte iru deshou ka Ano hi no yoru no sasayaki wo Nemunoki nenne no ki komori uta Schlafe ein im Schatten, schlafe unterm Seidenbaum, In den Zweigen, da schaukelt sanft ein Traum. Leise klingt sein Wiegenlied in stiller Nacht, Schlaf, so wie der Seidenbaum, schlafe ein, ganz sacht. Hörst du seine Stimme, die süßen Schlaf dir bringt? Flüsternder Blättersang, der dich ins Traumland singt. Nachts schläft der Seidenbaum in meinem Heimatland. Schlafe, schlafe, zu seiner Stimme Klang. Schlafe ein zur Melodie, schlaf unterm Seidenbaum, Ihre Klänge weh’n sanft durch Zeit und Raum. Duftend wiegt sich seine Purpurblütenpracht; Schlaf, so wie der Seidenbaum, schlafe ein, ganz sacht. ~*~ “Niemand darf wissen, wer er wirklich ist...“ Grischa’s Worte ergeben keinen Sinn. Was meint er damit? Was ist Eren wirklich? Warum will er ihn mitnehmen? Und wohin? Nein... nein... “Niemand darf es erfahren. Sie werden ihn töten, wenn sie es erfahren, hörst du? Sie werden versuchen, ihn zu töten. Deswegen darfst du es niemandem verraten, auch nicht den Menschen, denen du glaubst, zu vertrauen. Es muss ein Geheimnis bleiben, verstehst du? Du darfst nicht darüber sprechen. Auch nicht zu ihm. Er würde es jetzt nicht verstehen, ja er würde es nicht einmal glauben. Irgendwann wirst du verstehen, warum er ein ganz besonderer Junge ist. Und er selbst wird es auch verstehen. Er ist die letzte Hoffnung für uns alle, die allerletzte Hoffnung für die Menschheit. Aber bis er älter ist, muss dieses Wissen verborgen bleiben. Er wird wie ein ganz normaler Junge sein, solange bis die Erinnerung zurückkehrt und er wieder darauf zugreifen kann. Und was dann geschieht, kann jetzt noch niemand erahnen, aber er wird älter sein und mit seinen Fähigkeiten umgehen können. Er wird darauf vorbereitet sein. Doch damit dies alles so geschieht, muss ich ihn jetzt mitnehmen. Du wartest hier für eine Weile, solange, bis es hell wird, dann kommst du ihn holen. Du darfst uns nicht nachlaufen und du darfst nicht eingreifen, was immer auch geschieht. Gleichgültig was du siehst oder hörst. Vertrau mir! Du musst hier warten, sonst kannst du ihn nicht beschützen. Und beschützen musst du ihn.. Du musst ihn beschützen, weil ich nicht mehr da sein werde, um es zu tun.“ ~*~ Sie rennt durch die Dunkelheit... Zweige schlagen ihr ins Gesicht, doch sie spürt sie kaum. Körperlichen Schmerz ist sie gewohnt. Wo ist Grischa mit Eren hingegangen? Wie hat sie das überhaupt zulassen können? Warum ist sie hier geblieben? Vielleicht wird er... Nein, er ist Eren’s Vater. Er würde Eren niemals wehtun. Sie kennt die Gesichter von Menschen, die anderen wehtun. Und sie kennt Grischa. Er hat kein solches Gesicht. Wie angewurzelt bleibt sie stehen, als sie den Schatten sieht. Ein mächtiger dunkler Schatten zwischen den Bäumen. Ein Schatten, der sich bewegt. Titan... Die nächste Mauer ist durchbrochen, jetzt werden sie kommen und sie alle holen. Alle. Es gibt kein Entrinnen. Menschen werden schreien, in Panik fliehen, sich gegenseitig tot trampeln. Sie werden sich verstecken, sich in Ecken kauern und einer nach dem anderen gepflückt werden. Es ist wie im Sommer. Sie muss zurück zur Scheune. Armin ist noch da drinnen. Aber... Eren... Eine riesige Hand erhebt sich über die Bäume. Sie hält etwas, einen Menschen mit Armen und Beinen. Normalerweise zappeln sie. Und schreien. Dieser schreit und zappelt nicht. Er ist so ruhig, dass man ihn für tot halten könnte, hielte er nicht seinen winzigen Kopf nach oben gereckt, als wolle er den Titanen ansehen. Als wüsste er genau, was jetzt passieren wird. Der riesige Schatten öffnet seinen Mund. Und der kleine Mensch verschwindet. Furcht ergreift sie, doch es ist nicht dieselbe lähmende Furcht wie beim ersten Mal, als sie einem von ihnen begegnete. Armin hatte recht, Titanenfurcht kann überwunden werden. Sie muss überwunden werden, denn Eren ist noch irgendwo in diesem Wald. Sie muss ihn finden, bevor der Titan es tut. Als sie wieder aufblickt, ist der große Schatten verschwunden, doch sie hat keine krachenden Äste und keine stampfenden Schritte gehört. Sie läuft weiter, versucht den Ort zu erreichen, an dem sie ihn als Letztes gesehen hat. Es gibt keine Wege oder Waldpfade, doch sie bahnt sich ihren eigenen Weg durch das Unterholz. Gut, dass ihre Haare wieder kürzer sind, so können die Zweige nicht nach ihnen greifen. Den Brombeerranken mit ihren gekrümmten Dornen weicht sie aus, doch anderes Gestrüpp kratzt ihr an den Beinen entlang. Blätter rascheln, tanzen vor ihrem keuchenden Atem. Als sie auf die Lichtung hinausstürmt, sieht sie sofort den durchgebrochenen Baum und die abgeknickten Äste. Hier, hier ist es gewesen. Hier war der Titan. Hier waren auch Eren und Grischa, denn Grischas Hut liegt vor ihr im Gras. Eren, wo bist du? Tsuzuku... (to be continued) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)