Dies Irae von Yamato_ (Tag der Rache) ================================================================================ Kapitel 8: Embolium: Atrocitas Mundi ------------------------------------ “Je weiter du zurückblicken kannst, desto weiter wirst du vorausschauen.“ –Winston Churchill– Embolium: Atrocitas Mundi Zwischenspiel: Die Grausamkeit der Welt [B"]Das Mädchen zittert und weint und blutet... ...keiner der anderen Soldaten weiß, ob sie es schaffen wird. Ihre zerfetzte Uniform und die Bissmale auf ihrem Körper sind ein deutliches Indiz dafür, dass sie im Maul eines Titanen gelegen haben muss. Es ist ein Wunder, dass sie von dort wieder freikam. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt. Ein weiterer Soldat lenkt sein Pferd neben den rumpelnden Karren. Sein Blick unter der grünen Kapuze ist besorgt, aber auch voller Fragen und Zweifel. Seine unruhigen Augen suchen den Horizont ab. Werden sie es bis zum Tor schaffen? Das Tor, das hinter die Mauer führt? In Sicherheit? Das Mädchen öffnet die Augen. Ihr Blick ist hart, entschlossen. Ein Feuer brennt darin, ein starker unbeugsamer Wille. Mögen andere sie vielleicht aufgegeben haben, sie sich selbst noch lange nicht. Sie kämpft. Das Tor liegt kurz vor ihnen, nur noch wenige Meter. Nur den letzten Titanen müssen sie noch ausweichen, denjenigen, die an der Mauer stehen. Dann sind sie zu Hause. Erinnerung fährt durch ihren Geist wie ein Blitz. Titan. Stinkendes Maul.. riesige Zähne… ein Geruch nach Verwesung. Das reißende Geräusch von Metall durch Fleisch, ihre Klinge, die durch seine Wange gleitet. Trenn’ den Unterkiefer ab, dann kann er nicht mehr zubeißen! Sie hat die Lektion nicht vergessen, doch ihre Klinge ist nicht stark genug. Ihr Arm ist nicht stark genug. Es ist das Ende... Und dann kommt er… Der Titan mit den spitzen Ohren und dem wilden schwarzen Haar. Seine nackten Füße stampfen über den Boden, sein Brüllen erschüttert die Luft. Es ist lauter als der Schmerz, lauter als die Angst, ja selbst lauter als der Tod. Seine Hände greifen nach dem Kopf des anderen Titanen und reißen ihn auseinander wie ein Stück Papier. Blut spritzt, zischt, verdampft. Hitze. Sie fällt, versucht mit tauben Fingern, das Manövergerät zu betätigen. Doch der Haken findet keinen Halt. Der Boden kommt näher. Und näher. Doch sie schlägt nicht auf. Sie liegt in seiner Hand. Er beugt sich über sie, ein Gesicht so groß wie die ganze Welt. Augen, die sie anstarren und die doch so anders sind, als die dumpfen geistlosen Glubschbälle in den Gesichtern anderer Titanen. Diese Augen sind wach, sie sind beseelt. Etwas brennt darin, genau wie in ihren eigenen… Der Schatten des Tores fällt auf ihr Gesicht. Sie lebt und sie ist in Sicherheit. Sie lebt, weil er sie dort rausgeholt hat. Ein Titan. Ein Titan, der sieht und denkt und weiß. “Er hat mich gerettet“, murmelt sie leise. “Warum rettet ein Titan einen Menschen? Wie kann das sein?“ “Scht… du hast geträumt.“ Das Gesicht des Soldaten, der neben dem Karren reitet, ist jetzt näher bei ihr. Über ihr. Freundliche Augen. Sie kennt es nicht. War er wirklich schon dabei, als sie auf die Mission aufgebrochen sind? Das Wundfieber spielt ihr einen Streich. Sie weiß nicht mehr, was wirklich ist und was nicht. Sie ist zu müde. “Wir… geschafft… Sicherheit.“ Wortfetzen dringen an ihr Ohr, als ein wohliges Dunkel sie umfängt. “Alles ist gut, Carla.“ ~*~ Der Schmetterling zappelt im Spinnennetz. Seine zarten Flatterflügel schlagen, doch mit jedem Schlag verfangen sie sich tiefer in den klebrigen Fäden. Sein Körper wirft sich hin und her, erst hektisch, dann langsamer. Noch langsamer. Die Spinne kommt aus einer Ecke des Netzes gekrabbelt. Ihre gigantischen Kauwerkzeuge knirschen, als sie sich über den Schmetterling beugt. Mit schnellen sicheren Bewegungen spinnt sie ihre Beute ein, als würde sie ihr Lebtag nichts anderes tun. Vermutlich tut sie das auch nicht. Es ist eine Spinne. Wird der Schmetterling jetzt sterben? Geht das denn? Was passiert, wenn man stirbt? Ist dann alles vorbei, als wäre man nie da gewesen? “Oide, Mikasa!“ Mama’s Stimme ruft nach ihr, aus dem Haus. Hell und freundlich durchbricht sie das Spinnennetz, den Tod und die seltsamen Gedanken. Zu Hause. Alles ist sicher und warm und gut. Es gibt keine bösen Enden. Nicht in ihrer Geschichte. Doch warum steckt dann ein Messer in Mama’s Brust? ~*~ Du hast geträumt, mein Kleines... Carla sitzt an ihrem Bett und streicht ihr die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn. Ihr ist heiß. Ihr ist übel. Wieder dieser Alptraum. Immer fängt er ganz harmlos an und plötzlich passiert etwas ganz Schreckliches. “Du musst keine Angst haben.“ Angst? Sie hat keine Angst. Sie weiß nur, wie vergänglich dieses ganze Leben ist. Zerbrechlich wie Glas. Es scheint so real und doch kann man es wie ein Nichts wegfegen. Ihre alte Familie ist tot, ihrer Neuen kann es ebenso ergehen. Nichts ist wirklich. Nichts ist sicher. Man muss sich damit abfinden. “Wenn wieder böse Männer kommen, dann beschütze ich dich, Mikasa.“ Eren’s Stimme ist schlaftrunken. Wahrscheinlich hat ihr Geschrei ihn geweckt. Doch er wird schon bald wieder weiterschlafen. Eren kann immer und überall schlafen. Wie ein Stein. Manchmal beneidet sie ihn darum. “Von nun an beschütze ich dich, Eren.“ Es ist ein Versprechen, das für ein ganzes Leben gilt. ~*~ “Nicht aufgeben... nicht aufgeben.. nicht aufgeben... Wieder und wieder spricht sie die Worte. Sie sind ihr längst zu einem Mantra geworden. Nicht Hunger, nicht Krankheit, nicht Kälte oder Schmerz werden sie zu Fall bringen. Sie wird stark sein, nein, nicht stark. Unbesiegbar. Grischa und Carla sind fort, doch Eren und Armin sind noch da. Sie brauchen sie. Noch ist ihre zweite Familie nicht zerstört und sie wird mit Zähnen und Klauen darum kämpfen, dass sie überlebt. Diesmal wird sie nicht zögern, was auch immer sie tun muss. Bald ist Erntezeit. Sie werden auf die Felder gehen, denn wer hart arbeitet, der bekommt zu essen. Es ist Armin’s Idee gewesen. Feldarbeiter werden immer gesucht, auch wenn es für Kinder eine schwere Arbeit ist. Aber hier im Auffanglager zu bleiben, ist keine Alternative. Es gibt nie genug Essen für alle, es gibt Diebstähle, nächtliche Überfälle und Schlimmeres. Und die Krankheiten. Vielleicht wird schon bald eine Seuche ausbrechen, wenn es irgendwann kein sauberes Wasser mehr gibt. Zu viele Menschen auf zu engem Raum und man kann nachts nicht schlafen, weil irgendjemand immer stöhnt oder jammert. Und die Kinder schreien. ~*~ Nenne no nemunoki nemuri no ki Sotto yusutta sono eda ni Tooi mukashi no yo no shirabe Nenne no nemunoki komori uta Usu kurenai no hana no saku Nemu no kokage de futo kiita Chiisana sasayaki nemu no koe Nenne nenne to utatteta Furusato no yo no nemunoki wa Kyou mo utatte iru deshou ka Ano hi no yoru no sasayaki wo Nemunoki nenne no ki komori uta Schlafe ein im Schatten, schlafe unterm Seidenbaum, In den Zweigen, da schaukelt sanft ein Traum. Leise klingt sein Wiegenlied in stiller Nacht, Schlaf, so wie der Seidenbaum, schlafe ein, ganz sacht. Hörst du seine Stimme, die süßen Schlaf dir bringt? Flüsternder Blättersang, der dich ins Traumland singt. Nachts schläft der Seidenbaum in meinem Heimatland. Schlafe, schlafe, zu seiner Stimme Klang. Schlafe ein zur Melodie, schlaf unterm Seidenbaum, Ihre Klänge weh’n sanft durch Zeit und Raum. Duftend wiegt sich seine Purpurblütenpracht; Schlaf, so wie der Seidenbaum, schlafe ein, ganz sacht. ~*~ “Niemand darf wissen, wer er wirklich ist...“ Grischa’s Worte ergeben keinen Sinn. Was meint er damit? Was ist Eren wirklich? Warum will er ihn mitnehmen? Und wohin? Nein... nein... “Niemand darf es erfahren. Sie werden ihn töten, wenn sie es erfahren, hörst du? Sie werden versuchen, ihn zu töten. Deswegen darfst du es niemandem verraten, auch nicht den Menschen, denen du glaubst, zu vertrauen. Es muss ein Geheimnis bleiben, verstehst du? Du darfst nicht darüber sprechen. Auch nicht zu ihm. Er würde es jetzt nicht verstehen, ja er würde es nicht einmal glauben. Irgendwann wirst du verstehen, warum er ein ganz besonderer Junge ist. Und er selbst wird es auch verstehen. Er ist die letzte Hoffnung für uns alle, die allerletzte Hoffnung für die Menschheit. Aber bis er älter ist, muss dieses Wissen verborgen bleiben. Er wird wie ein ganz normaler Junge sein, solange bis die Erinnerung zurückkehrt und er wieder darauf zugreifen kann. Und was dann geschieht, kann jetzt noch niemand erahnen, aber er wird älter sein und mit seinen Fähigkeiten umgehen können. Er wird darauf vorbereitet sein. Doch damit dies alles so geschieht, muss ich ihn jetzt mitnehmen. Du wartest hier für eine Weile, solange, bis es hell wird, dann kommst du ihn holen. Du darfst uns nicht nachlaufen und du darfst nicht eingreifen, was immer auch geschieht. Gleichgültig was du siehst oder hörst. Vertrau mir! Du musst hier warten, sonst kannst du ihn nicht beschützen. Und beschützen musst du ihn.. Du musst ihn beschützen, weil ich nicht mehr da sein werde, um es zu tun.“ ~*~ Sie rennt durch die Dunkelheit... Zweige schlagen ihr ins Gesicht, doch sie spürt sie kaum. Körperlichen Schmerz ist sie gewohnt. Wo ist Grischa mit Eren hingegangen? Wie hat sie das überhaupt zulassen können? Warum ist sie hier geblieben? Vielleicht wird er... Nein, er ist Eren’s Vater. Er würde Eren niemals wehtun. Sie kennt die Gesichter von Menschen, die anderen wehtun. Und sie kennt Grischa. Er hat kein solches Gesicht. Wie angewurzelt bleibt sie stehen, als sie den Schatten sieht. Ein mächtiger dunkler Schatten zwischen den Bäumen. Ein Schatten, der sich bewegt. Titan... Die nächste Mauer ist durchbrochen, jetzt werden sie kommen und sie alle holen. Alle. Es gibt kein Entrinnen. Menschen werden schreien, in Panik fliehen, sich gegenseitig tot trampeln. Sie werden sich verstecken, sich in Ecken kauern und einer nach dem anderen gepflückt werden. Es ist wie im Sommer. Sie muss zurück zur Scheune. Armin ist noch da drinnen. Aber... Eren... Eine riesige Hand erhebt sich über die Bäume. Sie hält etwas, einen Menschen mit Armen und Beinen. Normalerweise zappeln sie. Und schreien. Dieser schreit und zappelt nicht. Er ist so ruhig, dass man ihn für tot halten könnte, hielte er nicht seinen winzigen Kopf nach oben gereckt, als wolle er den Titanen ansehen. Als wüsste er genau, was jetzt passieren wird. Der riesige Schatten öffnet seinen Mund. Und der kleine Mensch verschwindet. Furcht ergreift sie, doch es ist nicht dieselbe lähmende Furcht wie beim ersten Mal, als sie einem von ihnen begegnete. Armin hatte recht, Titanenfurcht kann überwunden werden. Sie muss überwunden werden, denn Eren ist noch irgendwo in diesem Wald. Sie muss ihn finden, bevor der Titan es tut. Als sie wieder aufblickt, ist der große Schatten verschwunden, doch sie hat keine krachenden Äste und keine stampfenden Schritte gehört. Sie läuft weiter, versucht den Ort zu erreichen, an dem sie ihn als Letztes gesehen hat. Es gibt keine Wege oder Waldpfade, doch sie bahnt sich ihren eigenen Weg durch das Unterholz. Gut, dass ihre Haare wieder kürzer sind, so können die Zweige nicht nach ihnen greifen. Den Brombeerranken mit ihren gekrümmten Dornen weicht sie aus, doch anderes Gestrüpp kratzt ihr an den Beinen entlang. Blätter rascheln, tanzen vor ihrem keuchenden Atem. Als sie auf die Lichtung hinausstürmt, sieht sie sofort den durchgebrochenen Baum und die abgeknickten Äste. Hier, hier ist es gewesen. Hier war der Titan. Hier waren auch Eren und Grischa, denn Grischas Hut liegt vor ihr im Gras. Eren, wo bist du? Tsuzuku... (to be continued) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)