Therapiestunden von KankuroPuppet (( Psychological Affairs )) ================================================================================ Kapitel 19: Ein Kinderspiel --------------------------- Achtzehnter Teil Er war gerade einmal acht Jahre, vielleicht auch neun aber auf keinen Fall älter. Law konnte sich deutlich an die heißen Sonnenstrahlen erinnern, die an jenem Tag auf seine weiche Haut fielen und am Abend seinen Nacken und seine Arme verbrannt haben würde. Es passierte in den späten Mittagsstunden, als er sich mit seiner Schwester in den Schatten eines Baumes zurückgezogen hatte. Beide waren außer Atmen, rangen nach der schweren Sommerluft, nachdem sie vom Familienpicknick geflohen waren und sich auf diese Lichtung zurückgezogen hatten. Ihre Wangen glühten, ihre Herzen schlugen kräftig gegen die kleine Kinderbrust. „Was denkst du, wie hoch ich klettern kann?“, fragte er schließlich, schirmte seine Augen mit der Hand ab und blinzelte hinauf ins dichte Blätterwerk über ihren Köpfen. „Gar nicht hoch“, hatte sie ihm geantwortet, „Mama sagt, das ist gefährlich.“ Law scherte sich nicht um die Warnung. Er wusste, was er konnte und war selbstbewusst genug, um kalkulierte Risiken einzugehen. „Das wird unser kleines Geheimnis, ja?“, hatte er geantwortet, seine Hände ins kühle Gras gedrückt und war aufgesprungen. Als er die dunkle Rinde der Eiche berührte, spürte er deutlich den rauen Untergrund, der schon bald seine Finger aufscheuern würde. Nichtsdestotrotz streckte er seinen kleinen, schmalen Körper, griff nach dem ersten Ast und zog sich hinauf, während er die besorgte Stimme seiner kleinen Schwester ignorierte. Law hatte bereits zweidrittel des alten Baumes hinter sich gelassen, konzentrierte sich auf die immer wärmeren Sonnenstrahlen, die sich hier und da durch die Baumkrone wanden, als er hörte, wie sich Sorge in Angst verwandelte. Erschrocken riss er seinen Kopf herum, blickte zum ersten Mal, seit er seinen Aufstieg begonnen hatte, herab, nur um am Ende in die vor Panik aufgerissenen Augen seiner Schwester zu schauen. Erst da hatte er bemerkt, dass er sich zu sehr auf die Herausforderung konzentriert und dabei seine Umgebung und das Gesamtbild außer Acht gelassen hatte. Hilfesuchend streckte das kleine Mädchen ihre winzigen Finger in die Luft, rief den Namen ihres Beschützers und hoffte auf Rettung. „Was tust du da?“, hatte er gerufen, wütend auf sich und seine Schwester zugleich. Dem Mädchen stiegen Tränen in die Augen. „Ich wollte nicht alleine sein“, antwortete ihre bebende Stimme, während sich die Finger ihrer linken Hand gewaltsam um einen Ast klammerten. „Aber du bist doch nicht allein“, hatte Law ihr entgegnet, sich in eine Diskussion verstrickt anstatt das eigentliche Problem zu betrachten. „Du warst so weit oben. Ich konnte dich nicht sehen“, schrie ihm die dünne Stimme entgegen. Heute konnte er sich nicht mehr daran erinnern, was er damals noch gesagt hatte, doch letztendlich hatte er sich durchgerungen die Baumspitze aufzugeben, um seiner kleinen Schwester zu helfen, die gute zwei Meter unter ihm vor Angst zitterte. Seufzend bewegte er sich auf sie zu. „Ich kann nicht mehr“, hatte sie immer wieder geschrieben. "Ich kann nicht mehr.“ Und er hatte geantwortet: „Du musst. Ich bin doch gleich da!“ Innerlich rollte er genervt die Augen, als er sich auf einen der stabilen Äste kniete und eine Hand nach seiner Schwester austreckte. „Da bin ich doch schon“, hatte er zufrieden erklärt. Es war zu spät. Zu verkrampft hatte sich das kleine Mädchen an den Baum geklammert. Ihre jungen Muskeln gaben nach, konnten keine Kraft mehr aufbringen, versagten den Dienst. Law konnte nur noch beobachten, wie seine Schwester abrutschte. Ihr Schrei trillerte in seinen Ohren. Noch heute sah er sie hinabgleiten; in Zeitlupe verfolgte er, wie sie gegen mehrere Äste schlug und am Ende auf dem Boden landete. Zu dem Zeitpunkt war ihr Schrei bereits verebbt und einem verstörtem Schweigen gewichen, während die graublauen Augen des kleinen Mädchens starr hinauf in die Baumkrone blickten. Law hatte aufgehört zu atmen und wie es schien, hatte auch sein Herz voller Panik und Ohnmacht angehalten. Seine Lungen brannten; seine Haut kribbelte unangenehm, während er im Blick seiner Schwester gefangen war. “Ich kann nicht mehr“, hörte er ihre Stimme in Gedanken sagen, während er schwer schluckte. Ein lauter Schmerzensschrei beendete das angespannte Schweigen. „Es tut mir Leid“, hatte er noch gerufen, als er nun schneller die letzten Meter hinabkletterte. Er schluckte schwer. Mehr als deutlich konnte man sie sehen: Die Stelle, an der ihr Arm gebrochen war. * Die Erinnerung an einen lang vergangenen Sommertag leuchtete in Laws Gedanken auf. Panisch zitternde Augen, die ihn voller Erwartung anstarrten; Hände, die sich zu ihm hinauf ins Licht streckten und verräterische Äste, an die sich in letzter Hoffnung geklammert wird auch wenn sie viel zu dünn sind, als dass sie ihre Last tragen könnten. Der graublaue Blick verschwamm und wich einem unnatürlichen klarem Grün, das über zahlreichen purpurnen Flecken leuchtete. Ich kann nicht mehr – Ein Hilfeschrei. Wieder stockte Law der Atem, wieder prickelte seine Haut, während seine Lungen ihn innerlich verbrannten. Paralysiert stand er da, mehr als ein Jahrzehnt später, hatte sich der Herausforderung hingegeben, sein Risiko kalkuliert, war geklettert und hatte dabei den Blick zurück vergessen. So viele Jahre, so viele Bücher… und doch stand er hier, allein und frierend, hilflos. Wieder einmal konnte er nichts anderes tun, als das Kind fallen zu sehen: Er hatte nichts dazugelernt. Und diese traurige, nahezu zynische Erkenntnis entlockte ihm ein verzweifeltes Lachen. Die letzten Wochen war er immer und immer wieder diesen Baum hinaufgeklettert. Anstatt ihn vor der Gefahr zu warnen, wie es seine Schwester damals getan hatte, schien Kid immer neben ihm zu stehen und ihn anzufeuern. Höher. Weiter. Dabei war Law so sehr auf seinen eigenen Höhenflug fixiert gewesen, dass er Kid aus den Augen verloren hatte. Gab es Anzeichen? Kraftlos blickte er auf Kids zitternden Körper, während er sich nur langsam bewusst wurde, was Kid sich selbst und vor seinen eigenen Augen angetan hatte; was die purpurnen Linien bedeuteten, die seine weißen Zähne säumten. Warum hatte er ihm nicht die Flasche aus den Händen genommen? Machtlos blickte Law auf die roten Sprengel in Kids Gesicht; verstand, was in der Flasche gewesen war und auch, welches Ziel Kid damit verfolgte. Ein zynisches Lachen. Mehr blieb Law nicht, während das Leben in einer dickflüssigen Mischung aus Blut und Speichel von Kids Kinn auf den Boden floss und gleichzeitig den angehenden Mediziner mit jedem Tropfen lautstark auslachte. Peng. Du bist tot. Ein Kinderspiel… Müde von seiner eigenen Stagnation verfolgte Law mit trägem Blick, wie Kids Lippen sein eigenes Lachen spiegelten, sich nach oben zogen und ein weiteres Mal seine blutverschmierten Zähne entblößten. Einen Moment standen sich die jungen Männer gegenüber, lachten schließlich wie kleine Jungen nach einem gelungenen Streich, bis sich der Student nicht mehr erinnern konnte, was der Witz gewesen war. Husten brachte ihn in die Realität zurück, als sich Kid abermals mit zitterndem Körper nach vorn beugte und gequält röchelte, bis er vor Schwäche zusammensackte. Das brutale Rauschen des Schneesturms war verschwunden; um Law herum herrschte ein lautes Dröhnen, ein hohes Fiepen als hätte eine starke Druckwelle seine Trommelfelle malträtiert. Paralysiert stand er da, die Arme immer noch weit geöffnet, von der Umarmung, die schon Ewigkeiten zurückzuliegen schien. Unter Kid bildete sich eine kleine Pfütze aus zähem Blut, welche durch nicht endende Tropfen aus seinem Mund getränkt wurde. Luft kämpfte sich rasselnd in seine Lungen. Kid verharrte, bis Law vor ihm mit einem dumpfen Knall auf die Knie fiel. Panik beherrschte inzwischen den Gesichtsausdruck des jungen Arztes, während er mit schmerzhaft aufgerissenen Augen die Lache betrachtete, deren dunkelrote Ausläufer sich in den Fugen des Laminats sammelten. Laws Kopf war leer bis auf ein Wirrwarr aus Bildern, die in rasanter Geschwindigkeit vor ihm aufblitzten und ihm Kopfschmerzen bereiteten: Seine Schwester lachte. Ein Laubhaufen. Fingerspitzen an seiner Stirn. Sonnenstrahlen, die sich durchs Blätterwerk kämpften. Rot. Zahlen auf einem Whiteboard. Eine Klinge. Einkaufwangen. Rot. Ein gebrochener Arm. Rot. Schnee. Dunkelheit. „Law?“, rief ihm seine Schwester von weit unten entgegen. „Law?“ Er sah die Augen seiner Schwester, doch das war nicht ihre Stimme. „Law?“ Erschrocken hob der Medizinstudent sein Kinn, brauchte einige Atemzüge, um in die schreckliche Realität zurückzufinden und erkannte schließlich, dass es nun Kid war, der ihn angsteinflößend liebevoll anlächelte. „Law?“, wiederholte er, leise und kratzig. Der Angesprochene fuhr sich mehrmals übers Gesicht, schlug sich schließlich auf die Wange und kniff die Augen zusammen, bis er reagieren konnte. „Verdammt…“, hauchte er atemlos vor Entsetzen. Ich kann nicht mehr – war es das, was Kid ihn in den letzten Stunden hatte sagen wollen? Wie hatte er ihn überhören können? „Scheiße, Kid…“, weiderholte er und versuchte das Blut von seinen Wangen zu wischen. Kurz wanderte sein Blick zu der Weinflasche; ein Anblick, der ihm nun Galle hochkommen ließ. Wieso hatte er nicht zugehört? Was war ihm entgangen? „Ein Krankenwagen“, dachte Law schließlich laut. Ein weiteres Mal erbebte Kids Körper unter einer langanhaltenden Hustenattacke. Law legte ihm hilflos eine Hand auf die Schulter. Augenblicklich spürte er Rasseln in den Lungen des kämpfenden Körpers. Es war dieses Gefühl, ein Gefühl, das er schon aus seinen Praktika kannte, das zum Katalysator wurde und ihn wie in Trance die nächsten Schritte automatisch und routiniert durchführen ließ. Wie mächtig die Routine doch manchmal sein konnte. Kids Stimme war in weite Ferne gerückt. Entschlossen legte er einen Arm um seinen neuen Patienten, zog ihn zur Wand neben dem Fenster und lehnte ihn dagegen, bevor er sich eines der frisch gewechselten Laken vom Bett nahm und es über den zitternden Körper legte, wo es im selben Moment rot getränkt wurde. Sanft legte er eine Hand auf die blasse Wange des Jungen, der nun in seiner Obhut stand. Er wartete, bis Kid ihm in die Augen sah. „Alles wird gut. Ich bin hier. Ich helfe dir“, erklärte er mit aller Sicherheit, die er aufbringen konnte. In seinem Kopf ratterten die Diagnosen: Säure, es musste sich um Säure handeln. Verätzungen, im Rachen, der Lunge. Speiseröhre. Schließlich hatte er es geschluckt. Freiwillig. Kid hatte sich das selbst angetan – und er hatte zugesehen. Law schüttelte den Kopf, um den letzten Gedankenzug aus seinem Bewusstsein zu verbannen. Das Einzige, worauf er sich jetzt konzentrieren wollte, war Kid zu helfen. Er hatte alles verbockt, doch wenn er Kid jetzt half, würde er es wieder gut machen können. Er würde es gut machen. Er musste es gut machen. Das Handy! Ein Schock fuhr durch Laws Körper. Hastig sprang er auf, blickte zunächst hektisch und verwirrt durch den Raum, bis er sich daran erinnerte, dass es in der Tasche seiner karierten Schlafhose war. Er griff danach. „Keine Angst, Kid. Alles wird gut. Ich hol Hilfe.“ Er sah seinen Patienten nicht an, sprach gegen das künstliche Licht seines Displays, sodass nicht einsichtig war, wen er mit diesen Worten tatsächlich beruhigen wollte. Laws zitternden Finger flogen über den Touchscreen, doch vertippten sich immer wieder. Er hätte die Notfallnummer wählen können, stattdessen versuchte er das Uniklinikum zu erreichen. Er brauchte so schnell es ging Hilfe – da konnten Beziehungen nicht schaden. „Law?“, erklang eine keuchende Stimme neben ihm. Law drehte kurz seinen Kopf; verfolgte wie Kid versuchte seinen Oberkörper aufzurichten, wobei ihm ein weiterer Anfall überkam, nach dem weiteres Blut aus seinem Mundwinkel tropfte. Law ignorierte Kids Frage. „Geh ran!“, befahl er stattdessen dem Freiton seines Telefons. „Geh ran“, wiederholte er wie eine Beschwörungsformel. Wie durch einen Schleier verfolgte er, wie Kid sich auf die Seite drehte und mit seinen Händen gegen den Holzboden drückte, um sich zu Law zu strecken. Sein Arm zitterte vor Schwäche, als er mit seinen Fingern Laws Hosensaum ergriff. „Bitte nicht“, bat seine beängstigend entschlossene Stimme, „Mach es nicht kaputt.“ Mit einem Blick voller Verständnislosigkeit schaute Law hinab auf den Körper zu seinen Füßen. An seinem Ohr knackte es. „Notaufnahme Saint Peter’s Hospital“, erklangen erlösende Worte, doch auf den anschließend genannten Namen achtete Law nicht mehr. „Trafalgar hier“, spie er stattdessen gegen den Display, während seine Augen starr auf die kleinen Kreise aus rotem Purpur gerichtet waren, die von Kids Kinn auf seine Turnschuhe fielen. „Trafalgar Law? Hast dich ja lange nicht mehr sehen lassen“, beschwerte sich die Schwester am anderen Ende mit einem Kichern. Law verdammte sie innerlich für ihre Unbeschwertheit in diesem Moment, in dem es doch um Leben und Tod ging. Sein Leben lag gerade neben ihm und schien jeden Tropfen Blut der sich noch im Körper befand, auszukotzen. „Ich brauche einen Krankenwagen“, erklärte er so schnell er konnte, um die junge Frau von weiterem Schmall Talk abzuhalten. Kurz wurde es still. „Hattest du einen Unfall?“ Seine Gesprächspartnerin klang sichtlich besorgt. „Nein, ein Freund. Er… Er hatte einen Unfall. Es ist dringend. Southside, nahe der Mazestreet Haltestelle. Einen Krankenwagen, Notarzt im besten Fall“, zählte er auf. Innerlich schien ihn die Unruhe aufzufressen. Er hatte keine Zeit für lange Erklärungen, keine Zeit für diesen Nonsens. Kid hatte diese Zeit nicht. Wieder war es still geworden, dann folgte ein Seufzen. „Ich werde einen losschicken, sobald der Sturm ein wenig aufgeklart ist.“ Law hielt entsetzt den Atem an: „Bitte was?“ Die Frau schluckte. „Zwei Wagen sitzen schon auf den Straßen fest, an jeder Ecke ist ein Unfall. Wir sind überlastet, wie so ziemlich jedes Krankenhaus. Hast du schon mal rausgeguckt?“ Ihre Stimmlage verriet, welch anstrengende Zeit sie hinter sich haben musste. „Ich schicke ihn so schnell es geht“, fügte sie beschwichtigend hinzu. Laws Herz blieb stehen, während seine Haut unangenehm brannte. Langsam wanderten seine Augen zum Fenster, hinter dem die Außenwelt zu einer künstlich-weißen Hölle geworden war. Sein Kopf war leer. „Wie lange?“, fragte er aus reiner Verzweiflung. Er hätte das Mädchen anschreien können, hätte solange auf sie einreden können, bis ein Wagen gekommen wäre – doch sie würde Recht behalten. In diesem Wetter würden sie das Haus niemals erreichen. Zumindest nicht pünktlich genug. „Ein Stunde… vielleicht zwei. Es tut mir Leid, Law. Wirklich, es tut mir Leid. Ich wünsche dir alles Gute! Ich weiß, dein Freund ist bei dir in guten Händen. Tu was du kannst und wir schicken dir einen Wagen so schnell wie möglich. Es tut mir unendli-…“ Law hatte aufgelegt, bevor sie den Satz beenden konnte. Die Welt stand still. Kein Ton, keine Bewegung, keine Farben. Für wenige Sekunden spürte Law den Einbruch in den Kaninchenbau. Gegenstände flogen an ihm vorbei oder schwebten vielmehr in der Luft als Zeugen seines unaufhaltsamen, tiefen Falles. Laws Griff um sein Handy wurde fester, bis seine Knöchel weiß wurden; sein Blick starr in die Dunkelheit der Zimmerecken gerichtet. Es würde keine Hilfe kommen und wenn doch, dann würde es zu spät sein. Betrachtete er sich die Blutlache, die sich inzwischen auf dem Boden gesammelte hatte, dann würde es bei dieser Geschwindigkeit nicht lange dauern, bis Kids Körper aufgeben würde. Ohne OP und vielmehr ohne jegliches Equipment gab es nichts, das er tun konnte, um es zu verhindern. Was auch immer Kid geschluckt hatte, es war dabei ihn innerlich zu zerfressen. Wenn die Hilfe ankommt, dann wird er bereits… Nicht einmal seine Gedanken trauten sich dieses absolute, endgültige Wort zu formen. Noch nicht. Machtlos drehte sich der Student zur Seite. Kid lehnte immer noch an der Wand, sein Kinn nun vollkommen rot, nahezu schwarz im fahlen Mondlicht. Seine Hände waren ebenfalls getränkt; hinterließen gruselige Spuren an der verschmierten Tapete. Law schluckte, ließ sein Telefon auf den Boden fallen und kniete sich neben den sterbenden Körper zu seinen Füßen. Während in seinen Augen Angst leuchtete, strahlte ihm Kid geradewegs ironisch entgegen; grinste sein schelmisches Lächeln, wie bei ihrer ersten Begegnung. „Sie sind auf dem Weg“, log Law, „Du musst nur etwas durchhalten.“ Sanft vergrub er seine Finger in den abstehenden, roten Haaren und versuchte dabei das Zittern seines Unterkiefers zu kontrollieren. Kid lehnte sich indes gegen seine Hand, schloss kurz genüsslich die Augen, bevor er Law einen wissenden Blick schenkte. „Kleiner Law…“, flüsterte er mit einem breiten Lächeln und erfreute sich an Laws verzweifelter Naivität. Laut sprechen konnte er wahrscheinlich schon nicht mehr. Zudem war seine Stimme um einiges rauer als gewöhnlich – auch seine Stimmbänder mussten angegriffen sein, diagnostizierte Law, während er seinen müden Blick dem spitzbübischen Grinsen widmete, das ihn und seinen ganzen Berufszweig verspottete. Kid konnte immerhin noch reden, dachte Law. Das bedeutete, dass die Flüssigkeit, die er geschluckt hatte, lediglich mäßig aggressiv war und nur schleichend zum Ziel führen würde. Die Frage, ob dies nun gut oder schlecht war, ließ er offen. „Guck nicht so traurig. Das macht einen ja krank“, fügte Kid mit Galgenhumor hinzu und verfolgte amüsiert, wie Law seine Stirn in Falten legte. Schweigend betrachteten sich die beiden, verfolgten das Schattenspiel des Sturmes im jeweils anderen Gesicht. „Was war in der Flasche?“, fragte Law schließlich. Er wollte nichts mehr, als Kid zu helfen; etwas tun; ein Wunder bewirken – doch Kid seufzte nur. „Macht es einen Unterschied?“, entgegnete er und rang röchelnd nach Luft, während er sichtlich an Kraft verlor. „Was war es?“ „Wieso vergeudest du damit Zeit?“ „Ich will dir helfen.“ „Willst du das?“ „Ja.“ „Und kannst du das?“ Kid lachte rotzig. Law ließ resignierend den Kopf fallen. Machtlos und schweigsam schaute er auf seine blutigen Hände. Kurz lauschten die beiden jungen Männer dem Rauschen des Unwetters, das sich zischend und kalt durch jede undichte Fuge des Fensters kämpfte, bis es unterbrochen wurde, als Kid seinen Oberkörper hustend nach vorn warf. Law tat das einzige, was ihm noch blieb: Vorsichtig legte er seine Hände auf die zitternden Schultern, drehte Kid leicht zur Seite, sodass der dunkelrote Auswurf auf dem Boden und nicht auf seinem Schoß landete. Nach einem schier unendlichen Anfall ließ sich Kid entkräftet in Laws Arme fallen, welche dieser bereitwillig um den immer schwächer werdenden Körper schloss. Während die Luft im Raum immer kälter wurde, fühlte es sich an, als würde Kids Körper brennen. In seiner festen Umarmung spürte Law das Herz im Todeskampf rasen. Ein letzter, aussichtsloser Versuch, das wenige ihm verbliebene Blut durch den Körper zu pumpen, um den lebensnotwendigen Sauerstoff zu verteilen. Das Herz kämpfte erbittert, als wüsste es, dass es noch zu jung war um seinem Dienst zu entsagen. Es kämpfte, doch hatte bereits verloren gegen einen übermächtigen Gegner, der sich nur wenige Zentimeter über ihm befand. Das Herz wollte, doch der Kopf entsagte und so würde in absehbarer Zeit das Herz sein chancenloses Gefecht verlieren. Mächtig genug war das Gehirn, um gegen jeden Instinkt den eigenen Körper, die eigene Versorgung, zu zerstören. Mit leeren Gedanken fuhren Laws Finger über die fahle Haut von Kids Armen. Immer blasser wurde sie, immer dunkler die dünnen Adern, gefüllt mit Blut, das keinen Sauerstoff mehr aufnehmen konnte. Der schmale Oberkörper zuckte auf und ab, im verzweifelten Versuch, die Bronchien oder das, was von ihnen noch blieb, mit Atem zu füllen. Sinnlos, stellte Law verzagend fest, als das Rasseln in Kids Brust verriet, dass sich seine Lungen bereits mit Flüssigkeit füllten. „Warum hast du das getan?“, fragte Law schließlich vorwurfsvoll und erschrak über das Zittern in seinen Worten. Noch bevor er jedoch eine Antwort erhielt, war es die Stimme seiner Schwester, die in seinen Gedanken erklang: Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr…. Ihm wurde eiskalt. Kid drehte seinen Kopf, ruhte ihn auf Laws Schulter, sodass er zu ihm aufsehen konnte. Sein Blick wirkte unstetig, hüpfte nahezu umher, während eine blutverschmierte Hand gegen seinen Oberkörper drückte. Bevor Kid antworten konnte, hatte Law seine Knie angezogen, lehnte sich selbst mit dem Rücken gegen die Wand und zog Kid halb auf seinen Schoß, halb in seinen Arm, um ihm das Atmen soweit es ging zu erleichtern. Kid schluckte, verzog vor Schmerz das Gesicht, nur um anschließend Law fröhlich anzulächeln: „Es ist leise“, erklärte er. Erleichtert. Kaum waren die drei kleinen Worte ausgesprochen, verkrampfte sich alles in Laws Körper. Ihm wurde schlecht. Heiß und kalt zugleich, beim Gedanken an die Dinge, von denen Kid berichtet hatte. „Leise?“, wiederholte er und verfolgte, wie Kids Blick zufrieden den Raum absuchte. Die grünen Augen glitzerten, während sie in aller Ironie umrahmt waren vom roten Blut, das inzwischen im gesamten Gesicht verteilt war und im komplementären Kontrast leuchtete. Laws Unterkiefer bebte. „Leise? Aber das ist es doch nicht wert… Mein Onkel, er… Und deine Medikamente… Kid, scheiße… So eine verdammte Scheiße…“ Die Verzweiflung übermannte ihn, ohne das Law sich vor ihr hätte schützen können. Machtlos hielt er den sterbenden Körper des Jungen in den Armen, der in den letzten Wochen jeden seiner Gedanken bestimmt hatte und dem er doch nicht helfen konnte. „Scheiße“, wiederholte er und versuchte mit seinem Daumen Kids Wange vom trocknenden Blut zu befreien. „Warum machst du so einen Dreck?“ Und während Law spürte, wie sein Blick verschwommen wurde, als sich Wasser in seinen Augenwinkeln sammelte, kicherte Kid wie ein kleines Kind schelmisch in sich hinein. „Es ging nicht allein… Aber Killer hätte es gewusst, weißt du? Er hätt’s gewusst. So wie letztes Mal. Aber allein ging’s nich…“, flüsterte Kid, immer wieder unterbrochen von einem schwächer werdenden Husten. Law schüttelte verständnislos den Kopf. „Es wird nich besser, Law. Verstehst du? Es hört nicht auf. Niemals. Ich hab’s versucht. Ehrlich… Ich hab’s… Aber es geht nicht… gar nicht…“ Mit letzter Kraft hob der Junge in Laws Armen seine Hand und legte sie tröstlich auf seine Wange. „Es war so schrecklich laut und ich hab es wirklich versucht. Das musst du ihm sagen, ja? Ich hab’s wirklich versucht… und ihn enttäuscht. Sie alle… Euch alle. Aber… Ich kann nicht mehr.“ Entsetzt starrte Law hinab. Ein Teil von ihm schien zu verstehen, der andere entsagte jeder Logik. Kids Worte hallten in seinen Ohren, während er vor seinen Augen einen Einkaufwagen vor sich herschob. Kid saß darin, streckte die Arme von sich und lehnte sich zurück, um Law breit anzugrinsen. In seinem Gesicht war kein Blut, nur weiße Zähne und leuchtendes Grün in seinen Augen. Feuerrote Haare auf blasser Haut im Mondlicht. Dann ein Wechsel. Law schüttelte seinen Kopf, war zurück in der Realität, in welcher der Druck auf seinen Beinen größer wurde und Kids Stimme immer leiser. „Aber warum jetzt?“, fragte er, ohne dass er Kontrolle über seine Worte hatte. Kids Hand wanderte indes in seine dunklen Haare; irgendwie verträumt. „Es war gut, oder?“, entgegnete er dabei, ohne zu antworten. Law legte die Stirn in Falten. „Wir beide… der Tag im Park… Das war gut?“ Erst verharrte Law verständnislos, dann nickte er, unfähig etwas auf diese wirren Gedanken und grotesken Fragen zu antworten. „Dann bleibt es jetzt so“, folgerte Kid, ließ seinen Arm fallen und streichelte stattdessen über Laws Schulter, bis ihn ein erneuter Hustenanfall überkam und Law ihn aufrichtete. Law hatte sein Wunderland genossen. Er hatte den Blick über den Bücherrand gewagt und wurde vom Kaninchen auf waghalsige Fahrten, nahezu lebendige Laubhaufen, zu lauter Musik und einer kindischen Tour im Einkaufwagen geführt, mit Küssen, die sein Herz so laut schlagen ließen wie noch nie zuvor. Nächtliche Berührungen im Mondschein, das Gefühl von Haut auf Haut, der Süße von Schokolade am Morgen und dem verwegenen Nebengeschmack des Verbotenen und Neuem. Nun lief seinem Kaninchen tatsächlich die Zeit davon, ohne jeden Antrieb stehenzubleiben. Sanft strich Law über Kids rote Haare, während diesem der Kopf immer weiter in den Nacken fiel, seine Augen sich immer wieder müde schlossen und er sie nur mit Mühe offenhalten konnte. Fröhlich lächelte er Law entgegen, war ganz ruhig, bis auf ein leises Keuchen, jedes Mal wenn er versuchte einzuatmen. Anders als alle Menschen, die Law in seiner Karriere bisher behandelt hatte, hatte Kid das Leben für sich selbst aufgegeben, seinen Willen verloren. Es würde keinen Kampf von Patient und Arzt geben. Keine Teamarbeit, nur Resignation. Jetzt wartete Kid geduldig auf das Ende seines Spurts. Und selbst in dieser abstrus tragischen Situation stürzte er Law in unbekanntes Terrain und ließ ihn sprach- und machtlos auf die Knie gehen. „Du kannst nicht gehen“, hörte Law sich selbst sagen. Er spürte, wie seine Arme zitterten, sein Körper schwächer und sein Herzschlag immer schneller wurde, bis seine Brust schmerzte. „Du kannst mich nicht erst in diese Scheiße hier bringen und dann einfach… einfach abhauen.“ Er war schon zu sehr drin, hatte die letzten Wochen sein ganzes Leben und jegliche Überzeugung in Frage gestellt, sich abgeschottet von seinen Freunden und gierig auf jede kleine Nachricht von diesem rothaarigen Idioten gewartet und das alles… ja, das alles nur, um ihn nun sterbend in den Händen zu halten? Ohne jede Möglichkeit zu helfen? „Das ist nicht fair“, schloss er und sah unglücklich auf Kid hinab. Das Lächeln des Jungen wurde breiter, wobei sich weiteres Blut aus seinen Mundwinkeln kämpfte und zäh sein Kinn hinabfloss. „Ich weiß. Es ist nicht fair. Das ist es nie…“, flüsterte er, nicht mehr in der Lage lauter zu sprechen, „Aber ich entschuldige mich nicht.“ Mit trägem Blick sahen Laws graublauen Augen auf den Körper in seinen Armen. Die blasse Haut, die nur hier und da noch zu sehen war. Die feuerroten Haare, nun verklebt am Ansatz und immer mehr in den Spitzen, durch die Law mit seinen Fingern fuhr. Die grünen Augen, die selbst jetzt noch voller Freude, wenn nicht sogar Vorfreude, leuchteten. Die kleine Ecke am Zahn, die fehlte, als Erinnerung an Kids erste Bewegung mit dem Mann, der ihn über all die Jahre rettete – anders als Law. Law, der nun nur zusehen konnte, wie das letzte bisschen Leben aus dem schwachen Körper wich. „Was willst du wissen?“, fragte Kid mit einem Mal und riss Law aus seiner stummen Bewunderung. Irritiert legte er die Stirn in Falten. „Das ist nicht der Moment, um…“, begann er, wurde aber unterbrochen: „Du kriegst keinen anderen.“ Kid lachte amüsiert auf, zuckte aber bald darauf zusammen, kniff die Augen zu und verzog den Mund. „Findest du das witzig?“, fragte Law, entrüstet über Kids groteske Fröhlichkeit. „Nein… Eher scheiße schmerzhaft. Dreck… Ich dachte, das geht schneller“, murmelte er, so laut er noch konnte, musste wieder kichern und zuckte dadurch abermals zusammen. Law schüttelte ungläubig den Kopf. Er wollte sich nicht ausmalen, was Kid gerade fühlte, da er sich bereits wunderte, wie er so lange so ruhig bleiben konnte. Es geschah langsamer, als Kid gehofft hatte. Mehr Zeit, um nachzudenken. Mehr Zeit für Fragen. Law schluckte schwer. „Bereust du es?“, flüsterte er und verfolgte gebannt wie Kid die Augen aufriss und ihn einen Moment gedankenversunken betrachtete. ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)