Therapiestunden von KankuroPuppet (( Psychological Affairs )) ================================================================================ Kapitel 15: Mentale Brandflecken -------------------------------- Fünfzehnter Teil Laws Hände zitterten immer noch als er den Schlüssel auf den Beifahrersitz seines schwarzen Sportwagens warf, in aller Eile den Gurt um seinen Körper legte, den Motor startete und losfuhr. ‘In 15 Minuten bei dir zu Hause‘, hatte er noch schnell geantwortet und da keine Reaktion folgte, hatte er nicht länger gezögert. Mit heulendem Motor ließ er die östlichen Stadtviertel hinter sich, überholte bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Autos vor sich und kämpfte sich durch den spätabendlichen Verkehr, der an diesem Tag keine Eile zu kennen schien. Als er den Süden der Stadt erreichte, bleib er auf der Hauptstraße und folgte dem Verlauf der Straßenbahnschienen, bis er Gebäude erreichte, die ihm bekannt vorkamen. Hastig bog er in eine Seitengasse, während sein Atem in heftigen, nervösen Stößen seine Lungen verließ und als weißer Nebel durch den eisigen Innenraum seines Wagens schwebte. Vor Aufregung hatte er gar nicht daran gedacht, die Heizung umzustellen. Kids Nachricht bedeutete entweder, dass der Rotschopf selbst in Gefahr war oder aber jemand anderes – so oder so durfte Law keine Zeit verlieren. Als er einen kleinen Hügel erreichte, erinnerte er sich an die Fahrt mit dem Einkaufswagen, folgte der Route und parkte seinen Wagen mit einem erleichterten Seufzen vor einer vertrauten Häuserfront. Die Lichter leuchteten ein letztes Mal auf, als er das Auto verschloss und anschließend in den Innenhof rannte. Die kalte Winterluft brannte in seinen Lungen und er war froh über die Wärme, die ihm seine Mütze schenkte. Doch dieses Mal hatte er keine Zeit, um auf den Müll zu achten, der am Wegesrand lag oder auf den Halbmond, dessen Licht sich tröstlich um die vertrockneten Äste alter Bäume legte. Law richtete all seine Aufmerksamkeit auf sein Ziel: Eine grüne Tür mit abblätterndem Lack. Alsbald huschten seine graublauen Augen über die vergilbten Klingelschilder. Als er feststellte, dass er keinen Namen wiedererkennen können würde, versuchte er sich zu erinnern, welchen Knopf Kid gedrückt hatte. Zumindest wusste er, dass es das dritte Stockwerk sein musste. Am Ende drückte er zwei Klingeln gleichzeitig. „Ich bin’s“, erklärte er, als er ein Knacken im Lautsprecher vernahm, jedoch keine Stimme hörte. Kurz darauf summte die Tür. Er lehnte sich mit seinem Gewicht dagegen und betrat das heruntergekommene Wohnhaus. Eine Katze fauchte wütend, als er auf die erste Treppenstufe sprang. Lass niemanden verletzt sein, betete er wie ein kleines Mantra in seinen Gedanken, wiederholte die Worte immer und immer wieder, in der irrealen Hoffnung, dass sie dadurch wahr werden würden. Kurz rutschte er aus, sein Fuß glitt von einer Stufe, doch er fing sich, indem er das zerbrechliche Treppengeländer umklammerte. Ein schmaler Holzsplitter rammte sich dabei in seine Hand und er verzog das Gesicht, doch ignorierte den Schmerz, um seinen Aufstieg fortzusetzen. Mit jeder weiteren Stufe bereute er seine Flucht vor drei Wochen. Er hatte sich damals freiwillig in die Gefahr begeben, um seine Neugierde zu stillen, nur um am Ende den Schwanz einzuziehen, ohne darüber nachzudenken, was für Konsequenzen folgen konnten. Natürlich muss ich auch an sein Wohl denken, hatte sein Onkel gesagt. Egal was Law erwarten würde, wenn er Kids Wohnung betrat: Es wäre seine Schuld. Allein seine Schuld. Voller Wut auf sich selbst zog er seinen Arm zurück und schlug mit seiner rechten Faust gegen die bröckelnde Wandverkleidung des Treppenhauses. „Fuck!“, brüllte er, teils aus Schmerz, teils aus Frust. Als er seine Hand zurückzog, konnte er Blutspuren auf den Knöcheln sehen, verweilte allerdings nicht, sondern erklomm das letzte Stockwerk. Wild nach Luft ringend erreichte der Student die angestrebte Wohnungstür, beugte sich kurz nach vorn und legte seine Hände unterstützend auf die Oberschenkel, während er versuchte, seinen Herzschlag unter Kontrolle zu kriegen. Alles um ihn herum war leise, keine Schreie, kein Knistern von Feuer… War er zu spät? Mit panisch geweiteten Augen sah Law hoch, richtete sich auf und ging auf die Wohnung zu. Wie er erkennen konnte, war die Tür nur angelehnt. Bitte keine Verletzten…, flüsterte er leise zu sich selbst, als seine Fingerkuppen gegen das Holz drückten und die Wohnungstür mit einem Quietschen öffneten. Um ihn herum war es dunkel bis auf das Mondlicht, das kühl und geheimnisvoll auf das spärliche Mobiliar des Raumes schien. Sogleich umschloss eisige Kälte Laws zitternden Körper und veranlasste den Studenten, die Hände auf seine Oberarme zu legen, um seinen Torso zu wärmen. Er hatte sein Apartment so hastig verlassen, dass er nicht einmal mehr daran gedacht hatte, seine dunkelblaukarierte Schlafanzugshose zu wechseln. Lediglich einen schwarzen Kapuzenpulli hatte er sich übergeworfen und war in seine grauen Schnürturnschuhe geschlüpft. Für mehr war keine Zeit gewesen. Der alte Holzfußboden knarrte, als Law die Wohnung betrat und sich vorsichtig umsah; ein Eindringling in dieser Welt der Stille. Das Bett und der Sessel waren leer, in allen anschließenden Räumen gab es kein Anzeichen von Leben. Auf dem Boden lagen wie beim letzten Mal verschiedene Blätter verstreut. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wandte er sich zum Fenster. Es stand weit offen, der Wind blies in die Vorhänge und ließ sie tanzen, während sich eine kleine Lage aus Schnee auf dem Fensterbrett gebildet hatte. Einige Flocken waren auf dem Boden gelandet. Nachdenklich schob Law die Augenbrauen zusammen, als er das seltsame Bild begutachtete. Plötzlich bemerkte er eine Bewegung auf der rechten Seite, verfolgte die Spur und fand schließlich wonach er gesucht hatte: Unter dem offenen Fenster, neben der kleinen Pfütze aus Schnee hatte sich Kid auf den Boden gesetzt, lehnte an der Wand und starrte nun mit einem zufriedenen Grinsen hinauf zu seinem erschrockenen Gast. „Kid!“, stieß Law in einem Aufschrei hervor, der all seiner Erleichterung freien Raum gab. Der Dunkelheit trotzend ließ er seine Augen über den Körper des jungen Mannes auf dem Boden wandern. Sein Gesicht wirkte etwas schmaler als beim letzten Mal, doch ansonsten schien alles in Ordnung zu sein; äußerlich. „Hey“, erwiderte der Rotschopf auf die ungewöhnliche Begrüßung, hob seine linke Hand und hielt sich eine Zigarette an die Lippen. Ihr Ende glühte auf, kurz bevor er gräulichen Rauch langsam durch seine Nase ausblies, wobei er seinen Gast nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Laws Atmung beruhigte sich indes. „Scheiße… Bei der Nachricht habe ich wenigstens mit ein oder zwei Leichen gerechnet.“ Law nahm seine Mütze vom Kopf und fuhr sich erschöpft durch seine nun verschwitzten Haare. Alles machte den Anschein, als wäre der Hilferuf nur einer von Kids Tricks gewesen und er war wieder einmal reingefallen. Doch das war egal: Keine Verletzten; alles war in Ordnung. Die zynische Übertreibung in Laws Aussage entlockte Kid ein Kichern, bevor er sich einen weiteren Zug gönnte und im Anschluss seinen Arm nach oben streckte, um den Zigarettenstummel aus dem Fenster zu schnipsen. „Willst du mir jetzt sagen, du hast mich den ganzen Weg hierher fahren lassen, nur damit ich das Fenster schließe?“ Law lachte, während er sich neben Kid stellte und tatsächlich die Fensterläden schloss. „Sieht so aus, als würdest du erfrieren wollen. Und was soll der Dreck mit der Dunkelheit? Ist das ein Stromausfall oder bist du auf irgendeinem mystischen Esoteriktrip?“ Die Worte sprudelten nur so aus dem jungen Studenten heraus, als all die Sorgen der vergangenen Minuten seinen Körper und seine Gedanken verlassen wollten. Keine Verletzten. Keine Toten. Zur Bestätigung suchte er ein zweites Mal den Raum ab, fand jedoch nichts Besorgniserregendes. Kid zog seine Füße enger an den Körper und ließ seine Knie schlaksig nach außen fallen, während er mit einer Hand in seine Hosentasche griff, ein Band hervorholte und es daraufhin um seine Stirn knotete. Das Grinsen auf seinen Lippen war verschwunden. „Haste gedacht, jemand wär verletzt?“, fragte er und umklammerte mit den Händen seine angezogenen Knöchel. Law hob nachdenklich eine Augenbraue und begab sich auf die Suche nach einer Antwort, die nicht implizierte, dass seine Befürchtung ein zweites Brandopfer gewesen war. „Ich werde Arzt. Wenn jemand meine Hilfe braucht, gehe ich grundsätzlich davon aus, dass jemand verletzt ist.“ Zufrieden grinsend schlich er zu der Matratze hinter dem Bücherregal und ließ sich rückwärts auf sie fallen. Als er einatmete, verriet ein wohliger Geruch, dass die Laken dieses Mal frisch gewechselt sein mussten. Eine angenehme Überraschung. Kid folgte jeder seiner Bewegungen, rührte sich allerdings nicht. Ein ungeheures Selbstbewusstsein erfüllte mit einem Mal Laws Geist, als er feststellte, dass er den Weg zurück in sein persönliches Wunderland gefunden hatte. Die letzten Wochen hatten nur allzu deutlich gezeigt, wie ihn sein Alltag langweilte und vor lauter Frust hatte er sich beinahe vollständig in seine Wohnung zurückgezogen. Doch das war jetzt vergessen. Da es Kid gut zu gehen schien, konnte Law nunmehr davon ausgehen, dass auch der irre Rotschopf ihm nur geschrieben hatte, um ihn wiedersehen zu können; als würden sie beide die Nähe des anderen suchen. „Vielleicht verstecke ich die Leichenteile ja in der Küche“, wisperte Kid mit einem Mal und lächelte Law aus der Ferne finster entgegen. Für einen Moment griff er neben sich und holte eine offene Flasche Wein hervor, die er daraufhin in seinen Händen schwenkte. Law verdrehte die Augen. „Du bist sauer. Ich habe es verstanden“, erklärte er knapp und während Kids Blick ihn immer noch fixierte, wunderte er sich über die seltsame Atmosphäre, die in der Wohnung lag. Es war anders als beim letzten Mal… Aber das letzte Mal war er auch betrunken gewesen. „Ich hätte nicht gedacht, dass du tatsächlich kommst“, gestand Kid mit einem Mal und stellte die Weinflasche zwischen seinen Beinen ab. Law seufzte müde, legte seinen Hut neben sich und vergrub seine Finger in pechschwarzen Haarsträhnen. „Ich auch nicht“, gab er leise zu und blickte verstohlen zu Kid. Einen Moment schienen beide ihren Gedanken nachzuhängen und keiner sagte ein Wort, bis Law schließlich zur Seite rückte und mit seiner rechten Hand auf den Platz neben sich deutete. Kid schaute zunächst verwundert, stand dann aber auf, nahm die Flasche Wein mit sich und setzte sich zu Law auf die Matratze. Während der Student seine Beine gerade nach vorn streckte, zog Kid seine eng an den eigenen Körper und umklammerte seine Knie mit den Armen. Neben einer dunklen, engen Jeans trug er ein weißes T-Shirt, das offensichtlich zu kurz für ihn war und nun einen Teil seines Rückens entblößte. Law schmunzelte bei dem Anblick: Seine Schlafanzughose und Kids stetig ungeeignete Kleidung… Eigentlich passten sie doch ganz gut zusammen. Er lachte. Sein Sitznachbar drehte verdutzt den Kopf zu ihm und schob die Augenbrauen zusammen. „Was is‘n so lustig?“, hakte er nach. Law schüttelte mit einem breiten Grinsen auf den Backen den Kopf und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung“, entgegnete er, stellte sich mit einem Mal vor, dass unter ihnen keine alte Matratze lag, sondern ein Haufen voll frisch gefallenem Laub, in dem sie beide versackten. So fügte er flugs ein leises: „Das Leben?“, hinzu. Kid musterte ihn irritiert, musste dann aber selbst lächeln und nicken. „Ja“, nuschelte er, griff abermals in seine Hosentasche und entzündete bald darauf eine neue Zigarette. Als er Law den glühenden Stängel anbot, lehnte dieser mit einer knappen Handbewegung ab. „Vielen Dank übrigens.“ Law stellte verwundert fest, wie beruhigend es auf ihn wirkte, Kid beim Rauchen zuzuschauen und so drehte er sich ein Stück, um bessere Sicht zu haben. Ein grünes Augenpaar musterte ihn verwundert, sodass Law eine Erklärung anfügte: „Für das Buch.“ Kaum hatte er es ausgesprochen, sah er, wie sich auf Kids Lippen ein Lächeln bildete, noch während dieser zwischen Daumen und Zeigefinger gepresst die Zigarette an seinen Mund hielt. „Und?“, fragte er mit verrauchter Stimme. Law grinste: „Scheiß Ende.“ Kid nickte und wiederholte ihn bestätigend: „Scheiß Ende.“ Die beiden schwiegen anschließend, bis die Zigarette lieblos auf dem verkratzten Laminatboden ausgedrückt wurde. Eine letzte Rauschschwade entfloh Kids blassen Lippen, während er den Stummel in ruhiger Konzentration gleichmäßig auf dem Boden drehte. Sein Blick verharrte auf dem frischen Brandfleck, als er vollkommen emotionslos erklärte: „Was willst du wissen?“ Law riss überrascht seine Augen auf und schenkte Kid einen fragenden Blick, dann schüttelte er den Kopf: „Warum du so merkwürdig drauf bist? Wär zumindest nen Anfang.“ Kid stutzte und Law fuhr fort: „Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe. Ich hätte nicht einfach gehen sollen… Tut mir Leid. Aber aus irgendeinem Grund hast du mir trotzdem geschrieben und ich bin hier, also lass den Dreck.“ Der Rotschopf schob verblüfft seine Unterlippe vor, bevor er seine Arme von seinen Beinen löste und ein Stückchen näher zu Law rückte. „Scheiß drauf was gewesen ist“, entgegnete er und beugte sich nach vorn, sodass er Law direkt in die Augen schauen konnte. Der Student hielt irritiert den Atem an, während er Kid weiter zuhörte: „Ich meine es ernst. Was willst du wissen?“ Kaum war die auffordernde Frage ausgesprochen, fühlte sich Law von einer plötzlichen Melancholie ergriffen. Es war, als hätte Kid ihr kleines Katz-und-Maus-Spiel aufgegeben und dem angehenden Mediziner dabei seiner Herausforderung beraubt. Irgendetwas hatte sich verändert. Der Student kratzte sich nachdenklich am Kinn. Trotz aller Bedenken erkannte er jedoch, dass er es nicht ungenutzt lassen sollte, dass Kid sich ihm öffnen wollte. „Na schön.“ Law überschlug seine Beine und setzt sich im Schneidersitz vor Kid. „Erzähl mir etwas über deine Familie.“ Er konnte erkennen, wie sein Gegenüber für einen Augenblick verblüfft zusammenzuckte. Ganz offensichtlich hatte er mit einer anderen Frage gerechnet; eine Frage, die Law ganz bewusst umgangen hatte. So wurde aus Verwunderung schließlich ein Blick voller Dankbarkeit. Bevor er anfing Law mehr zu erzählen, senkte Kid seinen Kopf und starrte auf seine Hände, die mit dem Saum seiner Hosenbeine zu spielen begannen. „Würde es dich wundern, wenn ich dir sage, dass ich wahrscheinlich so ziemlich wie du aufgewachsen bin?“ Der rhetorischen Frage folgte ein nahezu nostalgischer Glanz in seinen grünen Augen. „Großes Haus, Papa verdient ordentlich Asche, Mutter bleibt daheim und verbringt ihre Zeit mit Yoga und Tennis…“ Law musste grinsen: „Klingt vertraut.“ Allerdings wunderte es ihn tatsächlich, dass Kid aus eben dieser elitären Welt kommen sollte. Seine Art zu reden, seine Kleidung, der Lebensstil… Alles schien das genaue Gegenteil von ihm zu sein. Das Schneegestöber der letzten Tage schien sich indes in einen größeren Sturm zu verwandeln. Wind heulte durch den Innenhof und kämpfte sich mit eisiger Kraft in die dunkle Wohnung. Law rieb sich fröstelnd die Unterarme, während er Kid weiterhin lauschte. Der Rotschopf schien die Kälte hingegen gar nicht zu spüren. „Und da aus den Kindern mal etwas werden sollte, haben wir Geige gelernt, Hockey gespielt, hatten einen Schachlehrer… Meine kleine Schwester hat das irgendwie besser hinbekommen als ich“, er lachte frech, „Ich bin – Überraschung - nen ziemlicher Reinfall als Bonzensohn.“ Law legte neugierig den Kopf schief: „Du hast eine Schwester?“ Kaum hatte er die Frage formuliert, verfolgte er, wie Kid mit einem Lächeln im Gesicht in seinen Erinnerungen zu versinken schien. Es dauerte eine ganze Weile, in der nur das Rauschen des kraftvollen Windes zu hören war, bis Kid seinen Blick wieder auf Law legte. Bevor er fortfuhr, zog er sich sein Stirnband weiter nach unten. „Ich glaube, sie hatten mich trotzdem lieb. Müssen Eltern ja irgendwie... Oder? Ich war vier… oder fünf… keine Ahnung, scheiß drauf. Auf jeden Fall war ich klein, als ich ihnen das erste Mal gestand, dass ich jemanden gehört habe; dass jemand mit mir spricht. Sie nannten ihn meinen unsichtbaren Freund und damit war dann alles gut.“ Während er Kid zuhörte, zog Law seine Hände in seine Ärmel. „Ist ja auch nicht ungewöhnlich für kleine Kinder. Nur etwas gruselig… Mein jüngste Schwester hat…“, begann er beschwichtigend, brach sein persönliches Beispiel allerdings ab, als er Kids strafenden Blick bemerkte. Offensichtlich wollte er auf altkluge Kommentare verzichten und Law kam diesem Wunsch nur allzu gerne nach, denn ihnen beiden war bereits bewusst, dass Kids Geschichte anders enden würde, als die von Laws Schwester. „Drei Jahre später haben sie mir dann verboten jemals wieder irgendwelche unsichtbaren Menschen oder Stimmen zu erwähnen.“ Law verzog den Mund und sah nachdenklich auf den Boden. Akustische Halluzinationen, schlussfolgerte er. Ein verbreitetes Symptom bei Schizophrenie. Er behielt seinen Gedanken allerdings schweigend für sich. „Sie sagten, das wäre nicht normal und weil ich natürlich ‚normal‘ und ein gutes Kind sein wollte, ignorierte ich es. Je mehr ich es ignorierte, desto lauter wurden die Stimmen. Irgendwann wurden aus den Geräuschen Bilder… und irgendwann bewegten sich die verdammten Bilder…“ Noch während er sprach, verschwand der nostalgische Glanz aus Kids Augen und wich blankem Horror. Nervös wippte der Oberkörper des jungen Mannes vor und zurück, bevor er seinen Daumen an den Mund legte und nachdenklich auf der Nagelspitze kaute. „Ich habe nicht mehr geschlafen. Es war immer so laut… Ich glaube, manchmal war meine Mutter da. Wenn ich geweint habe. Vielleicht ist das aber auch nicht echt…“ Er lächelte traurig, während seine Unruhe auf Law überzuspringen schien. Dieser umklammerte nun seinen Körper mit überkreuzten Armen und blickte gedankenverloren auf den schmelzenden Schnee, dessen weiße Unschuld sich nach und nach in eisiges Wasser verwandelte. Wahrnehmungsstörungen, dachte er für sich. Der Schneefall hatte sich indes zu einem beachtlichen Sturm entwickelt, dessen Böen nun unbarmherzig gegen klappernde Fensterläden drückten und eisige Kälte in die dunkle Wohnung trieben. Kid rieb sich das Kinn. „Ich würde meiner Schwester Angst machen, hat mein Vater gesagt. Wir sind eine normale Familie und ich soll mir nicht so nen Scheiß ausdenken. Ich sei zu alt, um Angst vor dem Monster unter meinem Bett zu haben…“ Ein verächtliches Schnauben entwich seiner Nase, bevor er kurz zu Law sah. „Er wollte einfach einen Sohn wie jeder andere… So jemanden wie dich. Das kann man ihm nicht übel nehmen, denke ich.“ Law zog unentschlossen die Augenbrauen zusammen. Es war nicht unüblich, dass es dauerte, bis Familien eine Krankheit ihrer Angehörigen erkannten und Hilfe suchten. Vielleicht war es sogar noch schwieriger, wenn Symptome mit kindlicher Phantasie verwechselt wurden. Allerdings lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er sich vorstellte, dass Kids Monster mehr als echt gewesen sein musste. Zwar lebte es nicht unter seinem Bett sondern in seinem Kopf, doch sorgte eine psychische Störung dafür, dass die Ängste für das Kind real wurden: akustisch und in Gestalt. Eine traumatisierende Erfahrung, ohne Frage. „Und deine Mutter?“ Kaum war die Frage gestellt, zuckte Kid unbeeindruckt mit den Schultern. „Ich glaube, die wollte einfach, dass alle glücklich sind. So wie die Menschen auf Cornflakes-Packungen, weißte? Ich glaube, das hätte ihr gefallen.“ Kid lachte kurz und Law stimmte mit ein, so traurig der Hintergrund des Gedankens auch war. „Meiner wahrscheinlich auch“, fügte er hinzu und freute sich über Kids anschließendes Lächeln, das ein wenig Erleichterung in sich trug. Augenscheinlich war er dankbar um jeden Hauch von Normalität, den Law dieser Unterhaltung einverleiben konnte. Ihr Lachen war kaum verebbt, da griff der Rotschopf abermals in seine Tasche, holte eine dritte Zigarette hervor und legte sie in seinen Mundwinkel. „Als ich zwölf war“, begann er, untermalt von dem Klicken eines Feuerzeugs, „nahm mich mein Dad mit zu ner Autowerkstatt. Das war voll das Ding für mich, weil ich nicht so oft raus kam… Hätte ja einer merken können, dass der Sohnemann sie nicht alle beisammen hat.“ Mit einem zynischen Grinsen im Gesicht, legte Kid den Kopf schief und entzündete den trockenen Tabak, während orangener Schein für Sekunden sein Gesicht erhellte. Law nahm unmittelbar das zufriedene Schimmern in seinen Augen wahr, welches die nun folgende Erinnerung begleiten würde. „Wie auch immer… Mein Vater verschwand mit dem Mechaniker und ich ging auf Streifzug. Da war überall Werkzeug und es roch nach Öl und die Räume waren voll vom Geräusch von Metall, mit dem gearbeitet wurde… Es war der verdammte Himmel“, erklärte er. Law wuselte sich durch die Haare und dachte zurück an sein erstes Mal in einem Operationssaal. Er kannte das Gefühl nur zu gut, das Kid gerade beschrieb. „Es war leise“, meinte dieser schließlich, während sein Blick schüchtern zu Law huschte, in der Hoffnung, der angehende Mediziner würde ihn verstehen. „Keine Stimmen“, stellte Law daher fest und erntete ein zufriedenes Nicken. „Ich wollte gerade nen Schraubenzieher mitgehen lassen, als ich eine in die Fresse bekam.“ Kid lachte, doch sein gegenüber riss verwundert die Augen auf. „Dein Vater?“, fragte er hastig und verfolgte, die der Rotschopf seinen Kopf schüttelte, während er seine Beine an sich zog und sich auf seine Knie stützte. „So hab ich Killer kennengelernt“, erklärte er und zog an der Zigarette zwischen seinen Fingern, wobei ihn nicht zu stören schien, dass die Asche auf seine Hose fiel und kleine Löcher brannte. Law blieb zunächst verdutzt, dann ergab er sich einem Kichern. „Wie sonst?“, murmelte er, schnappte sich den Glimmstängel aus Kids Hand und gönnte sich nun selbst einen Zug. Kid wuselte sich amüsiert durch die Haare, anschließend zog er sich das Band von der Stirn. „Hat nen Schraubenschlüssel benutzt. Das Andenken hab ich immer noch. Hier!“ Kurz drehte er sich zu Law, zog seine Lippe nach oben, sodass er seine oberen Zähne entblößte, um mit der Zungenspitze auf den abgebrochenen Zahn zu deuten. Law schüttelte ungläubig den Kopf. „Der Beginn einer großen Liebe“, feixte er ironisch. Kid schnappte sich grinsend seine Zigarette zurück, legte sie in seinen Mundwinkel und atmete den würzigen Rauch tief ein. „Oder so ähnlich…“, säuselte er mit belegter Stimme und schnippte den hinterbliebenen Zigarettenstummel zu der kalten Wasserpfütze unter dem Fenster. Law fuhr sich nachdenklich durch die Haare. Er erinnerte sich daran, dass Killer eine Freundin erwähnt hatte, was aber nicht ausschließen würde, dass er auch an Männern interessiert war. Fragend hob er seinen Blick: „Dann seid ihr…?“ Kid hob offensichtlich amüsiert eine Augenbraue hoch. „Ein Paar? Nicht dein Ernst oder?“ Das Schimmern in seinen Augen belächelte den jungen Studenten neben ihm. Law zuckte mit den Schultern und forderte Kid damit zu weiteren Erklärungen auf. „Nach dem Tag hab ich mich öfters aus dem Haus geschlichen, um zur Werkstatt zurückzukommen. Vielleicht wussten‘s meine Eltern, vielleicht auch nicht. Vielleicht war‘s ihnen auch egal… keine Ahnung. Aber es war immer so leise dort und ich wusste, das alles echt war…“ Law lauschte schweigend der Geschichte, spulte dabei in seinen Gedanken eine Liste verschiedenster Symptome ab und setzte sie mit dem Gehörten in Verbindung. Verschiedenste Bilder in Form und Farbe, Geruch, unterschiedlichste Materialien, laute Geräusche, brennende Dämpfe, die auf der Zunge haften blieben… Gab man sich dem Erleben hin, dann konnte selbst eine Werkstatt zu einem Ort werden, der mit allen Sinnen aufs Intensivste erlebt wurde. Ein Ort, der nach Kids Erzählungen für ihn wie ein Anker zur Realität fungiert hatte. Ein natürliches Mittel gegen jede Art von Psychose oder Halluzination. Berücksichtigte man eine psychische Grunderkrankung, konnten Sinneseindrücke noch nachdrücklicher erlebt werden. 'Den Himmel' hatte Kid es genannt. „Killers Vater arbeitete dort und nachdem mir Killer beim ersten Mal einen Zahn ausgeschlagen und ich nicht gepetzt hatte, mochte er mich. Irgendwie.“ Eine Erinnerung zauberte ein breites Grinsen auf Kids Gesicht, bevor er sich ausstreckte, nach hinten fallen ließ und an die Zimmerdecke starrte. „Sein Vater arbeitete und wir haben gebastelt. Es war, als wäre Killer der einzige Mensch, der mich versteht. Als hätte ich… scheiße… was weiß ich… Als hätte ich mich gefunden.“ Law stutzte und drehte sich über die Seite, sodass er Kid ins Gesicht schauen konnte. „Du dich?“, erkundigte er sich verdutzt. Der Gefragte drückte sich seine roten Haare tief ins Gesicht und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. Als keine Antwort folgte, betrachtete Law abermals die unzähligen Aufzeichnungen an den Wänden des kleinen Raumes, all die Zahlen und Symbole in ihrer chaotischen Ordnung. Schizophrenie, sagte er sich abermals. Einmaliges Auftreten, episodisch, chronisch. Patienten mit Ich-Störungen. Gedanken werden als eingegeben betrachtet, von außen oder von sich selbst auf andere, ohne jeden Bezug. Als hätte ich mich gefunden. Er schluckte schwer, während er seine Fingerspitzen nachdenklich über die weißen Leinen der Bettdecke streifen ließ. Killer und Kid… Innerlich schmunzelte er zynisch über den Gedanken, der sich vor ihm auftat: Wie eine Prothese für einen irreparablen Geist. ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)