Therapiestunden von KankuroPuppet (( Psychological Affairs )) ================================================================================ Kapitel 8: Kontrollverlust -------------------------- Achter Teil Der Schock der Erkenntnis saß tief, beinahe tief genug um seinen ohnehin schon knappen Atem zum Stillstand zu bringen. Doch dieses Mal wollte er sich nicht überwältigen lassen. Vielmehr fragte sich Law, warum ihm diese Einsicht nicht schon viel früher gekommen war; warum er nicht pauschal davon ausging, dass sich diese psychopathischen Idioten wie zum Spaß gegenseitig verstümmelten… Er schluckte, schüttelte den Gedanken an Kid beiseite und drehte seinen Blick entschlossen zu Killer, der immer noch neben ihm hockte und amüsiert grinste. Ohne jede Vorwarnung zog Law seine Knie eng an den Körper, holte mit seinen Schultern Schwung, schlug das Messer von seiner Wange und sprang auf, wobei er sein Gegenüber in eben dieser Bewegung zu Boden riss. Alles ging schnell. Laws Herz pochte so sehr, dass es in den Schläfen wehtat. Jeder Muskel war angespannt, zitterte im schieren Willen die Kontrolle über diese lebensbedrohende Situation zurückzuerlangen. Zu seinem Glück hatte Killer nicht mit seinem Angriff gerechnet, fiel zurück und ließ durch den geschickten Schlag gegen sein Handgelenk das Messer fallen. Klirrend fiel das Metall zu Boden, schlitterte über den kalten Beton, bis es von Law gestoppt wurde. Kaum hatte dieser den Griff der Waffe umklammert, ließ er sich mit den Schienbeinen auf Killers Oberkörper fallen, drückte dessen Schultern mit einem Arm zu Boden, während er mit dem anderen das Messer gegen den Hals des Geschädigten drückte. Unter ihm hörte er ein lautes Aufkeuchen, als die Kniescheiben schlagartig die Luft aus den Lungenflügen drückten und dabei Rippen prellten. Laws Bewegung war dabei zu impulsiv gewesen, als dass er hätte rechtzeitig stoppen können, sodass nun auch Killers Hals von einer Spur dunkelroten, warmen Blutes geziert war. Erst jetzt bemerkte der Mediziner den kalten Schweiß, der sich auf seiner Stirn gebildet hatte und auch seinen Rücken und die Innenflächen seiner Hände bedeckte. Die Klinge in seiner Hand zitterte unkontrolliert. Er hustete, zog unter Schmerzen nach Luft, ignorierte das quälende Pochen in seinem Kopf. Er hatte es geschafft. Das vermeintliche Lamm hatte sich als Jäger entpuppt und den bösen Wolf in die Enge getrieben. Kurz hatte Law befürchtet, dass Killer versuchte sich zu befreien. Doch die Unruhe unter ihm war lediglich das Ergebnis eines hingebungsvollen Lachens. „Gut gespielt, Kleiner“, kommentierte die raue Stimme. „Hätte ich dir gar nicht zugetraut.“ Auch wenn ihm sein Stolz nicht gefiel, das Kompliment schmeichelte dem jungen Studenten. Er war eben mehr als nur Papas behütetes Söhnchen. Er wusste sich durchzusetzen. Er wusste, wie man sich wehrte. Er hatte die Oberhand. „Es wäre auch nicht nötig gewesen, wenn du nicht so ein kranker Idiot wärst“, erwiderte er selbstbewusst, drückte die Schulter unter seinem Arm noch weiter in den Boden. Killer stöhnte auf, presste aber die Lippen aufeinander, um einen Laut zu unterdrücken. Dann lächelte er, soweit es sein vernarbtes Gesicht zuließ. „Was ist so witzig?“, zischte Law, beleidigt von der anhaltenden Freude des Mannes, dem er gerade ein scharfes Messer an den Hals hielt. Der Gefragte legte den Kopf schief, zuckte nicht einmal, als die Spitze der glänzenden Klinge in seine Haut schnitt. „Was willst du von Kid?“, fragte er und in seinen Augen glitzerte aufrichtige Neugier: „Was will so ein verwöhntes Blag von Leuten wie uns?“ Angesichts des gerade betonten Kontrasts hob Law verwundert die Augenbrauen. Bis jetzt war er davon ausgegangen, dass es er und seine Freunde von der Uni waren, die nur zu gerne von ‚denen‘ und im Gegensatz dazu von ‚ihnen‘ sprachen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich Killer und demnach wahrscheinlich auch Kid ganz bewusst zu einer ganz anderen Gruppe von Menschen zählten. Und das Wort ‚Blag‘ verriet ihm, dass es hier nicht um psychische Erkrankungen ging. Nein, hier ging es um den Unterschied zwischen denen, die das wahre Gesicht der Welt kannten, ihre Ungerechtigkeit, Schmerz und Wahnsinn und denen, die sich zu fein waren, zu verwöhnt, um ihren Eltern dafür zu danken, dass sie aufwachsen konnten, ohne einmal erlebt zu haben, wie sich wirkliche Einsamkeit, Angst und Verzweiflung anfühlte. Wir und sie. „Ich will es verstehen“, antwortete Law ehrlich, nachdem er nicht abstreiten konnte, dass Wahrheit in dem lag, was Killer gerade andeutete. Dabei hatte Law nicht einmal einen einzigen Hinweis auf Kids Vergangenheit. „Verstehen?“, hakte Killer nach. Der Mann über ihm nickte. „Ich will verstehen, wieso alles so ist, wie es ist. Vor meinem Praktikum… Ich meine, bevor ich Kid traf…“, zum ersten Mal versuchte Law das in Worte zu fassen, was seine Gedanken seit nunmehr drei Wochen nicht loslassen wollte: „Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so denkt, wie er. Jemand, der so unvorhersehb-…“ Der Student brach seinen Satz ab, als das Grinsen auf Killers Gesicht breit genug wurde, um seine Zähne zu entblößen. Law stutzte, drückte das Messer frustriert fester gegen den Hals: „Machst du dich über mich lustig?“ Killer hob sein Kinn, um der Klinge zu entkommen. „Auf jeden Fall“, antwortete er provokant. „Du bist echt ein miserabler Arzt“, feixte er, wobei er sich überraschend erhob, Laws Hand und damit das Messer packte, sich umdrehte, und nun den Mediziner auf den Rücken warf und erneut zum Opfer machte. Law schluckte, als er das Metall erneut auf seinem Hals spürte. Er war beleidigt und besiegt. „Bin ich das?“, fragte er, sich der Situation ergebend. Killer nickte: „Ich kenne keine Person, deren Verhalten leichter vorherzusehen ist, als Kid. Jeden Morgen schläft er bis er aufwacht, isst, was auch immer der Kühlschrank hergibt, geht in den Park und starrt dort Löcher in die Luft, bis er sich schließlich mit mir trifft und wir in dieses verdammte Drecksloch hier gehen. Was meinst du, warum wir uns eben in der Bahn getroffen haben? Zufall? Nein. Es ist immer das gleiche: jeden Tag, jede Woche, jeden beschissenen Monat. Gleiche Zeit, gleicher Ort, gleicher Dreck. Die einzige Ausnahme macht er für seinen inkompetenten Seelenklempner“, spuckte Killer aus und ließ Law augenblicklich verstummen. „Das letzte Mädchen, mit dem ich mich getroffen habe, hat er solange beleidigt, bis es abgehauen ist. Einfach, weil er es nicht ertragen konnte, dass sie etwas änderte“, erklärte er weiter. Der Mediziner schluckte, fragte sich, wer mit diesem Killer zusammen sein würde und auch, ob er die Wahrheit sagte. „Und trotzdem“, schrie der Mann über ihm geradezu aus: „Trotzdem bist du kleine Ratte hier. Trotz allem. Du gehörst hier nicht hin. Du gehörst nicht ins Bild. Du gehörst nicht in den verfickten Ablauf. Also frage ich dich noch einmal: Was willst du von ihm und er von dir?“ Law öffnete erschrocken den Mund, erkannte die Gefahr, die aus der Aufregung des Mannes entstand, er ihm gerade jede Sekunde die Kehle aufschlitzen konnte. Schmerzhaft riss er die Augen auf, umklammerte das Handgelenk mit dem Messer und überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, der Situation zu entfliehen, als der Flur mit einem Mal von lautem Dröhnen erfüllt wurde: Jemand hatte die Tür geöffnet. „Killer! Verdammt!“, schrie eine erleichternd bekannte Stimme, die in Law die Hoffnung auf Rettung weckte. Über sich blickte er in Augen voller Fragen und Wut, doch erkannte er gleichzeitig das zögerliche Zittern von Killers Muskeln. Die Tür fiel ins Schloss, es war wieder leise. Dann hallten Schritte durch den Flur, bis sich Kids verwundertes Gesicht in Laws Blickfeld stahl und mit einem beleidigten Ausdruck auf ihn hinabblickte. „Da drinnen spielt die verschissen beste Band überhaupt und ihr baut hier draußen irgendne Kacke?“, fragte er. Killer ließ Law in diesem Moment ohne weiteren Kommentar los, steckte das Messer zurück, stand auf und verließ die beiden, um schnell den Innenraum der Bar zu betreten. Law rieb sich den Hals und sah ihm schweigend nach. Als sich die Tür ein weiteres Mal schloss, blickte er verwundert zu Kid hoch. Wollte der Rotschopf nichts zu dieser abstrusen Situation sagen? Er schluckte, nahm jedoch die Hand an, die ihm Hilfe beim Aufstehen anbot. Kaum hatte er sich wieder aufgerichtet, stand er Kid direkt gegenüber, sein Kopf ein Stück in den Nacken gelegt, um dem anderen in die Augen schauen zu können. Starr fixierte er die blasse, einstmals zerschnittene Haut, die sich zum Gedenken über das junge Gesicht zog. „Die Narbe. Das war Killer“, stellte Law nüchtern fest, verpackt als eine Aussage, wie es ihr Spiel am Nachmittag gebot. In jedem Detail verfolgte Law nun, wie sich Kids Stirn in überraschte Falten legte und er seine Lippen verwundert voneinander trennte. Keine Worte, stattdessen diese alles enthüllende Mimik. Zwar behielt Law sein Gesicht ausdrucklos, doch innerlich schossen die Endorphine durch seine Adern. Es war der erste Moment, indem er eine tiefgreifende Reaktion in Kid auslösen konnte. Ganz anders als im Park, denn dieses Mal wusste er, dass er Recht hatte – und Kid war sprachlos. Law hatte es geschafft, einen Teil der ansonsten so kontrollierten, trüben Fassade, die nichts als verstörende Überlegenheit kannte, bröckeln zu lassen. Und doch: Nach Ewigkeiten der Bestürzung, verzog sein Gegenüber den Mund zu einem breiten Grinsen, das weiße Zähne blitzen ließ. In angespannter Erwartungshaltung schaute Law zu, wie Kid langsam eine Hand hob, eine Daumenspitze auf seine Lippen legte und mit der Zunge kurz drüber leckte, bevor er seinen Arm langsam ausstreckte. Es war vollends ruhig geworden im Gang, selbst das Dröhnen des Basses schien in eine andere Dimension entglitten zu sein. Sie waren allein. Allein in der Stille; ganz aufgehoben ohne Worte. Die Situation war so abwegig; so gegen alles, was Law aus seinem Leben kannte. Gebannt wollte er sich dem Augenblick hingeben. So zuckte er nicht einmal oder wehrte sich gar, als sein Gegenüber begann, mit seinem Daumen die dünne dunkelrote Schliere Blut von seiner Wange zu wischen. Es war eine vorsichtige Berührung, geradezu zärtlich, während die übrigen Finger sanft unter seinem Kiefer ruhten. Law blieb vollkommen regungslos, wartete geduldig ab, bis Kid mit einem Werk zufrieden war, seine Hand von ihm löste und lächelte. Irgendwie verträumt. Dann – wie ein großer Bruch dieser stillen Begegnung - rieb er sich seine Hand ungalant am Hosenbein ab. „Du solltest ihn besser nicht provozieren“, konstatierte Kid, ging an Law vorbei und zurück in den Innenraum der Bar. Als die Tür sich öffnete, hatte der Mediziner bereits aufgeholt und folgte dem Rotschopf in den dunklen Lärm. „Du solltest mich vielleicht vorwarnen, dass deine Freunde auch alle geisteskrank sind“, rief Law plötzlich aus, auch wenn es wie ein Flüstern klang, dank der Lautstärke, mit der die Band auf der Bühne spielte. Er war wütend. Das Adrenalin pumpte immer noch durch seinen Körper, zusätzlich beflügelt von dem Augenblick, in dem er gespürt hatte, dass er Kid aus der Reserve locken konnte. Beim vorletzten Wort drehte sich der Angesprochene um. Es war dunkel, bunte Lichter huschten über die Menge und die Decke, fingen sich im gesammelten Zigarettenqualm. Trotzdem erkannte Law die Wut, die in den grünen Augen blitzte. Die Brust des Rotschopfes hob und schenkte sich mit einmal Mal so angestrengt, dass es Law äußerlich verfolgen konnte. Die Hände ballte er zu Fäusten. Der Student ging einen Schritt zurück, spürte die geschlossene Tür hinter sich, die ihn nun in die Enge trieb. Er machte sich bereit und hob die Arme, um einen ersten Schlag abzuwehren. Kid war schneller als er dachte und machte Laws Abwehr zu einer Farce. Bevor er reagieren konnte, stand sein Gegner nah genug vor ihm, dass er unfähig war, zu handeln. Entsetzt hielt Law den Atem an, brachte seine Muskeln auf schützende Spannung und leerte seine Lungen schlagartig, als er den Kontakt mit Kids Faust spürte, die seine Leber anvisierte, traf… aber nicht durchzog. Der Hieb wurde gebremst, kurz bevor er Schaden anrichten konnte. Law schluckte trocken; war paralysiert. Er rang nun unregelmäßig nach Luft, spürte dabei Kids warmen Atem auf dem Nacken. Der Terror zuckte immer noch durch seine Glieder, brannte auf den Knochen. „Den hab ich noch gut“, flüsterte eine todernste Stimme in sein Ohr. Die Faust drückte stärker. „Noch gut?“, fragte Law, mehr aus Reflex als aus Kalkulation. Neben seinem Gesicht hallte ein müdes Lachen, allerdings keine Erklärung. Law dachte nach. Dachte an ihre Treffen. An die Dinge, die er gesagt und getan hatte. Dachte an die zweite Begegnung mit Kid im Büro seines Onkels. Dachte an die Frage… An den ersten Fausthieb, den damals allerdings das Whiteboard einsteckte. „Wegen der Frage nach…“, begann er, kaum hatte er verstanden, worauf Kid anspielte. Er vollendete allerdings nicht den Satz, aus Angst, der Schlag könnte doch noch zu Ende ausgeführt werden. Ihre beiden Körper waren sich fast so nah wie auf dem Laubhaufen im Park und auch seine Anspannung war die gleiche. Nur suchte Law dieses Mal eigenständig den Kontakt mit Kids Augen. Bevor er den Kopf jedoch drehen konnte, hielt Kid ihn auf, indem er seine Wange gegen Laws legte. „Nicht wegen der Frage“, entgegnete er, „sondern weil es die verdammte Scheiße einzige Frage ist, die dich an mir wirklich interessiert.“ Law riss überrascht die Augen auf. Dann drückte er sein Gesicht ganz unbewusst fester gegen Kids. Meinte er das ernst? Die Gedanken des angehenden Mediziners vermengten sich zu einem wirren Durcheinander, bis ihm schwindelig wurde. Er wollte begreifen, wie weitreichend das Geständnis war, von dem er in diesem Moment Zeuge werden durfte; versuchte den Tag und die Sitzungen bei seinem Onkel in einem neuen Licht zu sehen. Wenn Law diesen Satz richtig interpretierte, dann müsste er sein Verständnis von Kid noch einmal vollkommen überdenken; dann drehte dieser bei der Frage nicht durch, weil er an den fünf Jahre zurückliegenden Vorfall erinnerte wurde. Nein. Er wurde einzig und allein wütend, weil ihm seither nur diese eine Frage gestellt wurde. Keine andere. Nie. Warum hast du es getan? Es war das einzige, dem die Ärzte und alle anderen auf den Grund gehen wollten. Störte es ihn, dass er von Menschen auf genau diesen Fehler reduziert wurde? Law hatte so viele Fragen im Kopf und hätte sie nur allzu gern gestellt. Doch das war unmöglich. Die Faust hatte den Druck auf seine Leber reduziert, verweilte aber in drohender Nähe, während Kids heißer Atem auf Laws Nacken kitzelte. Umringt von schlechter Luft mischte sich in Laws Sinneseindruck auf einmal ein ganz neuer, fremdartiger Geruch, den er zuvor gar nicht bemerkt hatte. Ein angenehm beruhigender Geruch in dieser einschüchternden Situation. Wieso nahm er ihn jetzt wahr? War es der erste Einblick in Kids labyrinthartiges Seelenleben, der dem Mediziner soeben gestattet worden war? Ergab das Sinn? Law war durcheinander. Für einen Augenblick fragte er sich, ob es daran lag, dass er Kid so erschreckend nah war. Eine Nähe, die ihn geradezu mechanisch antworten ließ: „Willst du, dass ich mich für mehr interessiere?“ Kaum war es ausgesprochen, da löste sich Kid aus ihrer absonderlichen Umarmung, schob verwundert die Augenbrauen zusammen und musterte sein Gegenüber. Ein Mann ging an ihnen vorbei, rempelte Kid provokant an und war auffallend enttäuscht, als der Rotschopf nicht darauf einging. Law verharrte mit dem Rücken zur Wand, spürte aber bereits, dass sich etwas änderte. Immer noch tanzten bunten Lichter um sie herum. Lichter, die den Geist unangenehm vernebelten und auf lange Sicht ermüden würden. Die Band war laut, die Menschen betrunken, der Boden klebte, die Luft war viel zu warm… Law ballte seine Hände zu Fäusten. Er verstand jetzt, was neu war: Es war die Fassade. Vielmehr der bröckelnde Putz, den er nun begann, mit seinen Fingerkuppen in mühseliger Kleinstarbeit abzuschaben. Jede noch so kleine Veränderung in Kids Mimik ließ seine Neugierde selbstbewusster werden. Soweit es sein kleinerer Körper zuließ, bäumte sich Law vor Kid auf. Dieser schaute daraufhin nur noch verwunderter, hob schützend eine Hand und legte sie auf Laws Brust – keine liebevolle Geste, sondern eine Absicherung. Trotzdem ein ganz anderes Zeichen als der Angriff von eben. Der Student genoss das Gefühl der vollen Aufmerksamkeit und der offenkundigen Tatsache, dass es nun Kid war, der keine Ahnung hatte, wie er auf Law reagieren sollte, ohne… Ja, ohne sich und seinem Gegenüber einzugestehen, dass ihm etwas an Law lag – was auch immer es sein mochte. Konnte es ihm nicht egal sein, ob der Student sich für ihn interessierte? Ging es ihm ums Prinzip oder ging es ihm um Law selbst? Der Medizinstudent kam dem Gesicht mit den blassen Lippen immer näher, wobei er selbstsicher in grüne Augen starrte. Entschlossen legte er seine Hand auf Kids, die immer noch auf seiner Brust ruhte, umschloss sie und zog sie von sich weg. Seine Lippen zierte ein erwartungsvolles Grinsen, als er zu den Worten ansetzte, die Kid aus seiner erbauten Festung des Desinteresses und der Gleichgültigkeit, welche ihn so faszinierend und gleichzeitig so wenig greifbar machte, locken sollten. „Du hast aber Recht. Die Antwort auf diese Frage interessiert mich ganz besonders“, gestand Law und war wenig verwundert über die Enttäuschung, die er dadurch in Kid auslöste. Dieser presste die Lippen fest aufeinander, spitzte sie genervt und legte den Kopf schief – Ein Ausdruck der deutlich zeigte, dass er abwägte: Zuschlagen oder laufen lassen? Bevor die Entscheidung zu seinem Nachteil ausfiel, entschied sich Law weiterzusprechen: „Wenn es dir nicht passt… Ich kann auf der Stelle verschwinden.“ Der Student spürte die freudige Erregung der Jagd durch seine Glieder zucken, beobachtete verspielt und gerade blutdurstig die prekäre Lage, in die er den Rotschopf durch einen so simplen Satz gebracht hatte. Ihm war klar geworden, dass Kids Macht über ihn an diesem Tag daher rührte, dass Law ihm wie ein Küken seiner Glucke gefolgt war: Blind hinterhergetapst, in der Hoffnung, er würde die große weite Welt zu sehen bekommen und der Angst, die Mama würde ihn allein lassen. Ein so einfacher Satz, der Kid jedoch mit aller Härte zeigen sollte, dass Law dieses Spiel nicht bis ans Äußerste mitspielen musste. Dass er gehen konnte. Dass die Macht, die Kid über ihn hatte, nicht so groß war, wie es sich der Rotschopf vielleicht erhoffte. Ein unsicheres Spiel mit den Mundwinkeln, das in einem schelmisch ertappten Blick zu Seite endete, machte deutlich, dass Kid augenblicklich verstand, auf welche Schwachstelle im System Law gerade gestoßen war: Er hatte nicht ohne Grund den ganzen Tag vor der Klinik gewartet. „Nein…“, entgegnete Kid schließlich oder zumindest formten seine Lippen das Wort, denn obwohl Law dem blassen Gesicht, das nun im Sekundentakt die Farbe wechselte, unglaublich nah war, konnte er nichts verstehen. So fragte er provokant: „Was?“, und grinste. Kid erwiderte die Mimik, guckte verhalten zur Seite und hatte offenbar verstanden, welches Spiel Law nun mit ihm begonnen hatte. Der Student konnte indes sein Herz beinahe durch seinen gesamten Körper pochen hören, während das Adrenalin sein Blut zu einem unaufhaltsamen Treibstoff machte, der ihn diese kleine Scharade immer weiter treiben lassen wollte. Er war am Zug. Kid lachte, fuhr sich durch die Haare und drehte sich zur Seite, um einem betrunkenen Mädchen die Bierflasche aus der Hand zu nehmen und diese unwiderruflich zu leeren. Das Opfer war ohnehin zu benebelt, um sich zu wehren. Noch einmal schaute der Rotschopf durch den Raum, drehte sich letzten Endes und musterte Law mit einem Blick, der ihn beinahe auszuziehen vermochte. Einen Augenblick spürte der Mediziner vertrautes Unbehagen in sich aufsteigen – doch das würde er nicht zulassen. Nicht jetzt, wo sich die beiden jungen Männer das erste Mal auf Augenhöhe zu begegnen schienen. Und dann… Ohne Vorwarnung und im vielleicht letzten, verzweifelt aufbegehrenden Versuch sich ein Stück seiner Kontrolle durch Unvorhersehbarkeit zurückzuerobern, hatte Kid die letzten Zentimeter zwischen ihnen überwunden und nahm Laws Gesicht in seine Hände. Voll freudiger Erregung sah er ihn an und wiederholte: „Nein!“, dieses Mal in deutlicher Lautstärke. „Bleib“, forderte er oder wünschte es vielmehr, denn nun war es Kid, der eine Bitte an Law richtete. Die intime Berührung im Gesicht war überraschend und stimulierend zugleich. Die grünen Augen so faszinierend, dass sie die Welt um sich herum zu einer unbedeutenden Nebensache werden ließen und dröhnende, vibrierende Bassklänge einsaugten, bis nur noch alles verzehrende Stille zwischen den zwei Menschen lag. Law spürte Kids rechten Fuß, der neben seinem stand; er spürte ihre Hosenbeine, die sich aneinanderdrückten; die warmen Oberkörper, die sich streiften und seine erhitzten Wangen, die von besitzergreifende Handflächen umklammert wurden. In einer anderen Situation hätte er vielleicht den Zigarettenqualm wahrgenommen, der chronisch an Kids Fingern hing. Doch nun, in diesem Augenblick, war alles um ihn abermals erfüllt von diesem hypnotisierenden Geruch. Sein Herz wollte ihm aus der Brust springen, als er nachdenklich verträumt Kids Gesicht in aller Ruhe untersuchte und an dessen schmalen Lippen hängen blieb, die sich erwartungsvoll verzerrten. Doch mit der Ankunft der Stille verließ sie die schützende Atmosphäre der Verwunderung, die sich um Kid gelegt hatte. So schien es, als würde dieser das Gefühl der Kontrolle immer mehr zurückfordern – mit jedem Atemzug, der Laws Reaktion um einen weiteren Augenblick verzögerte. Der Student war am Zug. Er hatte die Antwort gewollt, eher provoziert und nun sah er sich außer Lage adäquat zu kontern. Er wollte weiterhin überraschend sein, fordernd, unvorhersehbar – so wie Kid. So wie das, was ihn seit Wochen faszinierte. Er liebte das Risiko und doch schien es, als hätte er immer noch nicht genug riskiert – trotz lebensmüder Todesfahrten, seltsamen Bekannten und kalten scharfen Klingen. Dieser Ausflug wurde zu einer aufputschenden Droge und er wollte mehr von ihrer süßen Wirkung. Er wollte Abenteuer. Er wollte… In dem Moment, in dem Kid ihm erlaubte, einen kleinen Teil seiner Welt zu verstehen; der Moment, in dem Kid seine absolute Kontrolle aufgegeben hatte: Er schien der Moment zu sein, in dem auch Laws Verstand schlussendlich seine Kontrolle abgegeben und sie stattdessen an seinen Instinkt delegiert hatte. In einem letzten, nicht zu unterdrückenden Wunsch weiterhin die Oberhand in seinem Spiel mit Kid zu behalten, hatte Law die ihn fesselnden Hände weggeschlagen, nun selbst das gegenüberliegende Gesicht ergriffen und es zu sich gezogen. Es war der Moment, in dem jeder der zwei jungen Männer einen Teil ihrer so wichtigen Kontrolle über sich selbst und den anderen aufgaben. Gierige Lippen trafen geradezu erlösend auf ein ebenbürtiges Paar. Beide schmeckten sie die bittere Süße, die nur das Übertreten einer lebensbewahrenden Grenze erschaffen konnte. Law forderte einen Kuss, der ein Siegel auf ihr nahendes Schicksal pressen sollte. ~*~ Hosted by Animexx e.V. 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