Therapiestunden von KankuroPuppet (( Psychological Affairs )) ================================================================================ Kapitel 4: Neuer Versuch ------------------------ Vierter Teil Die Moralpredigt hatte sich über den gesamten restlichen Tag erstreckt. Sein Onkel hatte noch versucht Kid hinterherzulaufen, doch dieser war wie vom Erdboden verschluckt. Von da an begann jeder Morgen in der Klinik mit einer aufgeschlagenen Tageszeitung, in der akribisch nach Hinweisen gesucht wurde, welche die unvorhersehbaren Folgen von Laws unbedachter, provokanter Frage offenlegen würden. Doch so sehr sein Onkel auch die Artikel durchforstete, alles schien in bester Ordnung zu sein, keine einzige Zeile über einen ehemaligen Jugendstraftäter, der rückfällig geworden war. „Lass es endlich gut sein“, murrte der Neffe genervt, während er eine Tasse auf den Schreibtisch seines Onkels stellte, sodass dieser für einen Moment von der Zeitung aufsah. Es blieben nur noch vier Tage, bis das Praktikum beendet sein würde – Zeit, die Wogen zu glätten. Der Psychiater schüttelte skeptisch den Kopf, nahm den Kaffee schweigend entgegen, trank und verzog kurz den Mund, als die heiße Flüssigkeit seine Zunge verbrannte. „Wie soll ich es gut sein lassen? Ich hätte das niemals zulassen dürfen – ich kenne dich doch!“, stellte er sich selbst in Frage. Die gleichen Worte, seit Tagen… Law seufzte, fuhr sich durch die Haare und nippte an seiner eigenen Tasse. Sein Onkel hatte sich gerade wieder den Nachrichten gewidmet, da öffnete sich unter einem unangenehmen Quietschen die Tür des Sprechzimmers. Eine junge Frau betrat den Raum, sah sich unschlüssig um und verschränkte schlussendlich die Arme vor der Brust, während sie die beiden überraschten Männer skeptisch musterte. „Dr. Trafalgar?“, fragte sie und spielte mit einem Piercing, das an einer überraschend ungewöhnlichen Stelle unter ihrem rechten Auge glitzerte. Der Psychiater sah sie kurz an, blickte daraufhin auf eine Akte neben der Zeitung und lächelte vertrauensvoll. „Bonney, nicht wahr? Kommen Sie nur rein und nehmen Sie Platz.“ Die Frau schnaubte angestrengt, ließ sich aber sodann auf einen der Sessel fallen. „Nur damit Sie es wissen, ich habe keine Essstörung“, beteuerte sie und kaute dabei wild auf einem Kaugummi. „Das habe ich nie gesagt“, bestätigte sie der Psychiater, stand auf und umlief gerade seinen Schreibtisch, als sich die Tür ein weiteres Mal öffnete. Dieses Mal kamen feuerrote Haare zum Vorschein, die den Unruhestifter unmittelbar identifizierten. Während sich Law gespannt zum unerwarteten Gast wandte, riss sein Onkel erschrocken die Augen auf. „Noch einer?“, die junge Frau auf dem Ledersessel hob verwundert eine Braue. „Ich habe gleich gesagt, ich mache keine Grup-…“, erklärte sie lautstark, wurde jedoch von Kid unterbrochen, welcher sie dabei keines Blickes würdigte, stattdessen demonstrativ die Zimmertür laut ins Schloss fallen ließ und sich selbstbewusst vor den Medizinern aufbäumte. „Ich wollte dir noch was sagen, Doc“, setzte er an, sah dabei abwechselnd zwischen seinem Arzt und dessen Neffen hin und her. Law brauchte ihn nicht lange zu mustern, um – zu einem geringen Maß erleichtert und gleichzeitig verblüfft - festzustellen, dass seine fahrlässige Frage keine verheerenden Folgen gehabt haben konnte: Der Junge war genauso ranzig gekleidet wie die Male zuvor, roch nach Rauch und abgestandenem Bier, die Haare ein wildes Durcheinander… Alles wie immer, keine fremden Blutspritzer, keine vom Ruß schwarzen Hände. Zu schade, dachte sich der Student unter einem verzagenden Grinsen. In diesem Praktikum würde wohl rein gar nichts Spannendes passieren. Sein Onkel hatte sich vollkommen grundlos gesorgt. „Wer ist der Kasper?“, murrte die junge Frau, verzog missbilligend den Mund und sah fragend zu Law, der sie jedoch ebenfalls ignorierte. Nur für den Bruchteil einer Sekunde traf sein Blick auf Kids unnatürlich leuchtend grüne Augen und doch reichte die Zeit, um dessen kindlich verspielten Ausdruck wahrzunehmen, der den jungen Mediziner umgehend in seinen Bann zog und brennende Neugierde entfachte. „Es freut mich, dass es dir gut geht, Kid“, erklärte Laws Onkel und in seiner Stimme schwang aufrichtige Erleichterung mit; wenn man genau hinhörte, war sogar ein befreites Ausatmen wahrzunehmen. Das Sorgenkind zuckte dennoch unbeeindruckt mit den Schultern. „Ich hab da über etwas nachgedacht“, begann er, wurde aber durch eine Handbewegung seines Psychiaters aufgefordert, still zu sein. „Die junge Dame ist zuerst an der Reihe, aber du kannst gerne draußen warten. In einer halben Stunde würde ich gerne hören, worüber du nachgedacht hast.“ Law riss ungläubig die Augenbrauen in die Höhe, als sein Onkel den einzigen interessanten Patienten, den seine Kartei zu bieten hatte, vor die Tür schickte. „Warum lässt du sie nicht warten?“, fragte er mit einem abschätzigen Tonfall und deutete auf die vorlaute Frau, die mit ihren Haaren spielte und sich offensichtlich vernachlässigt fühlte: „Hast du Scheiße im Hirn?“, polterte sie und sah wütend zu Law. „Ich habe nen verdammten Termin.“ Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie es ernst meinte, doch ihre vulgäre Art ließ zumindest Kid amüsiert kichern. Mit einem verschmitzten Grinsen trat dieser näher an Law heran, legte einen Arm um dessen Schultern und drückte ihn eng an sich: „Kein Sorge, Hübscher. Du darfst dich gleich ausgiebig um mich kümmern.“ In einer schnellen Bewegung schob sich Kid einen Zeigefinger in den Mund, zog ihn mit geschlossenen Lippen wieder heraus und steckte ihn frech in Laws Ohr. Dieser hatte mit nichts dergleichen gerechnet, zuckte nun angewidert zusammen, als er die von fremder Spucke feuchte Kälte an seiner Ohrmuschel spürte, während seinem Gesicht die Farbe entwich. Es dauerte ewige Sekunden, bis er sich wieder gefangen hatte, doch ließen diese Kid genug Zeit, um schnell zur Tür zu hopsen. „Ich warte draußen“, rief er noch, dann klickte das Schloss und sie waren wieder zu dritt. „Freaks…“, erklärte das Mädchen und rollte die Augen, während der Psychiater leise lachte. Law rieb sich hingegen schweigend sein Ohr. Als das Mädchen kurze Zeit später das Sprechzimmer verließ, hatte sich Kid indes - wie befürchtet – in Nichts aufgelöst. Auch wenn sein Neffe die Begründung nicht verstehen wollte, so erklärte Laws Onkel voller Überzeugung, dass das, was Kid in seinem Leben am meisten brauchte, feste Regeln seien und er deshalb die Entscheidung getroffen hatte, den Jungen – trotz der zeitnahen Vorgeschichte – aus dem Zimmer zu werfen. Doch weil der Medizinstudent nicht auf den einen, ihn faszinierenden Patienten verzichten wollte, nahm er sich daraufhin die Zeit, alle umliegenden Wartezimmer abzuklappern. Als seine Suche erfolglos blieb, weitete er das Gebiet auf sämtliche halbwegs interessanten Räume aus, Belegschaftsräume und Abstellkammern inklusive. Außer der Tatsache, dass sich in dieser Klinik wenige Leute darum scherten, wer durch die Gänge schlich, konnte er jedoch nichts finden, außer grenzenlosem Frust – Warum hatte sein Onkel ihn auch wegschicken müssen? Der Tag schleppte sich nur so dahin, war umrissen von der Hoffnung, der Rotschopf würde noch einmal zurückkehren, doch vergebens. Laws Laune sank mit jeder Stunde weiter in den Keller, bis um kurz vor vier endlich der letzte langweilige Patient das Sprechzimmer verlassen und ihre Arbeit damit als überstanden erklärt hatte. Law konnte gar nicht schnell genug seine schwarze Jacke anziehen, den Hut aufsetzten und den weißen Schal mit den vereinzelten, schwarzen Flecken um seinen Hals wickeln, um endlich diese zermürbende Klinik zu verlassen. „Bis Morgen“, rief ihm sein Onkel zu, doch hatte er die Tür zu hastig geschlossen, als dass sich eine Gegenantwort seinerseits noch gelohnt hätte. Müde schleppte er sich durch die gläserne Drehtür am Ausgang, während ihn die Sonnenstrahlen des fortschreitenden Herbstes blendeten. Es war wärmer geworden, durfte er feststellen und ärgerte sich im selben Moment über die viel zu warme Jacke. Verstimmt zog er an der Tasche, die er sich über seine Schulter geworfen hatte, stapfte über die grauen Pflastersteine und wurde von einem lauten Ruf jäh aus seinen Gedanken gerissen. „Der Hut ist scheiße“, hörte er hinter sich und wollte gerade zu einer passenden Reaktion ansetzten, als er den Sprecher erkannte und sich verwundert umdrehte. Mit einem frechen Grinsen auf den Backen winkte Kid ihm zu, saß auf einer Mauer und ließ verspielt die Beine baumeln. Law sah irritiert zu dem Rotschopf auf, der nun in die Bauchtasche seiner grünen Sweater-Jacke griff, um eine bunte Plastiktüte hervorzuholen und sich eine Zigarette zu drehen. Neben ihm standen drei braune Glasflaschen – Bier, wenn Law es richtig erkennen konnte. Der Student kniff grübelnd seine Augenbrauen zusammen. Hatte der Irre etwa die ganze Zeit hier gewartet? Hatte er das mit ‚draußen‘ gemeint? Das durfte einfach nicht sein Ernst sein… „Du bist scheiße“, erwiderte der Arzt in einem leisen Schmunzeln, woraufhin er seine Lippen zu einem breiten Grinsen verzog und sich dem Jungen auf der Mauer näherte. Dieser ließ seinen Kopf abwägend nach links und rechte baumeln, dann zuckte er mit den Schultern, um deutlich zu machen, dass er Laws Konter nichts entgegensetzen wollte. Konzentriert drehte er Tabak in weißes Papier, rollte es mehrere Male hin und her, bevor er mit einer Seite über seine Zungenspitze strich und sein kleines Werk vollendete. Der Student hatte in dieser Zeit die Distanz zwischen ihnen überwunden und konnte durch einen nachdenklichen Blick nicht leugnen, dass ihn der Anblick auf eine ungewohnte Weise in seinen Bann zog. „Hat ziemlich lange gedauert“, erklärte der Rotschopf, griff abermals in seine Bauchtasche und holte dieses Mal ein Feuerzeug hervor, legte die Zigarette in einen Mundwinkel und zündete sie unter vorgehaltener Hand an. „Ich habe noch nie jemanden getroffen, der blöd genug war, zu denken, mit ‚draußen‘ wäre ‚außerhalb des Gebäudes‘ gemeint“, entgegnete der Student provokant, schob seine Hände tiefer in die Taschen seiner Jacke und beobachtete die kleinen Rauchwolken, die sich aus Kids Mund und Nase stahlen, während dieser eigenartig kicherte. „Und ich dachte, draußen wär nen Ort, an dem der nervige Psycho-Doc nicht is… Ich Spast!“, witzelte er, nahm den glühenden Stängel aus seinem Mund, um eine der Flaschen neben sich in einem letzten Schluck zu leeren. Jetzt hob Law verwundert eine Augenbraue. Sollte das etwa heißen, der Kerl hatte nur auf eine Gelegenheit gewartet, mit ihm zu reden, ohne dass sein Onkel die Unterhaltung überwachte? Für eine Sekunde dachte er zurück an das Gefühl der Fingerspitzen, die schmerzhaft gegen seine Stirn drückten, während sie einen Pistolenlauf imitierten. Ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinunter, doch wollte er sich seine unterschwellige Unsicherheit auf keinen Fall anmerken lassen. „Ich habe keine Zeit, um mich nach der Arbeit um kleine Soziopathen zu kümmern“, beklagte sich Law daher mit einem fiesen Grinsen, denn er war sich sicher, dass er dem vulgären Rotschopf nicht mit kleinen Nettigkeiten kommen konnte. Und wie er es erwartet hatte, entlockte die Beleidigung seinem Gegenüber ein erheitertes Glucksen. „Ja ja… Wichtige Menschen haben immer viel zu tun“, nuschelte Kid vertieft in Gedanken vor sich hin, während er konzentriert die Zigarette zwischen seinen Fingern betrachtete, bevor er sich einen weiteren Zug gönnte. Nun musste Law lächeln und genoss dabei den Anblick des seltsamen Typen in all seiner Absurdität. „Ich verpiss mich jetzt… Willste mitkommen?“, fragte Kid danach, während seine Stimme noch belegt war vom Rauch. Law war überrascht, dachte einen Augenblick über die Frage nach. Es war verlockend, denn tatsächlich wollte er wissen, wie der Kerl wohl lebte. Nachdem sein Onkel damit einverstanden gewesen war, dass er sich um das Projekt „Kid“ während seines Praktikums kümmerte, war es doch nur angebracht, dass er versuchte, ein wenig über dessen Lebensumstände herauszufinden, oder nicht? Andererseits konnte er sich immer noch nicht sicher sein, ob seine gedankenlose Frage tatsächlich ohne Konsequenzen bleiben würde – von der Beule im Whiteboard ganz abgesehen. Natürlich hätte er Kids Angebot hinterfragen sollen, natürlich hätte er ablehnen sollen. Doch die Moralpredigt seines Onkels war schon lange vergessen. Es wäre eine Art medizinische Exkursion, auch wenn Law lediglich mutmaßen konnte, aus welchen Gründen der kleine Psycho ihn dabei haben wollte. Ein letztes Mal dachte er an die abschließende Geste ihrer letzten Begegnung und erschauderte. Doch Neugierde verbreitete sich in seinem Körper wie ein aggressiver Virus – Risiko? „Ich hol‘ meinen Wagen“, erklärte Law schließlich, ohne weiter über mögliche Konsequenzen nachzudenken, was seither eigentlich untypisch für ihn war. Hatten drei Wochen in der Psychiatrie bereits auf seine Persönlichkeit abgefärbt? Er hoffte nicht, wandte sich aber bereits zum Gehen und griff nach den Autoschlüsseln in seiner Tasche, als Kid von der Mauer sprang und ihn aufhielt. „Ich fahr‘ nicht Auto“, erklärte er prompt und ging an der Abgrenzung entlang. Law musterte ihn skeptisch. „Als würde ich einen Irren meinen Wagen fahren…“, er unterbrach seinen Satz, als er verwundert verfolgte, wie der Rotschopf nach einem Fahrrad griff. Der Student verzog abweisend den Mund: „Nie im Leben.“ ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)