Diesem Einen will ich #Follow von Virdra-sama (Was macht der Zwergenkönig in meinem Onlinegame?) ================================================================================ Kapitel 101: 101. Wenn Herzen sich wandeln ------------------------------------------ Mit halbwegs guter Stimmung und vollgepackt mit einigen belegten Brötchen, verließen die Zwerge und ich nach einigen Minuten Fußweg die alte Marktstraße. Die Damen in der Bäckerei hatten ganz schön große Augen gemacht, als unsere Gruppe in den Laden gekommen war und meine drei Begleiter postwendend die halbe Auslage leerkaufen wollten. Ich hatte sie gerade noch so davon abhalten können neben den Brötchen zusätzlich auch noch ein ganzes Blech Mandarinen-Käsekuchen einpacken zu lassen. Schließlich wollten wir ja nur eine Kleinigkeit essen. Wobei Kleinigkeit bei Zwergen offenbar wirklich als relativ betrachtet werden konnte. Während diese nämlich jeweils eine schwere volle Tüte auf den Armen trugen und munter schmatzend die Straße entlang gingen, war ich bereits nach Zweien fürs Erste satt. Die kleinen, bärtigen Männer stopften sich unterdessen immer noch eines nach dem anderen in den Mund, bis irgendwann alle aufgebraucht waren. Ich konnte bei dem Anblick nur den Kopf schütteln und murmelte: "Unglaublich. Wo stopft ihr das Zeug nur hin? Soviel kann doch kein Normalsterblicher essen." Die Jungs begannen auf meinen Kommentar hin herzhaft zu lachen. "Daff liegt daran, daff wir keine Normalpfterblichen find, Cuna. Wir pfind Pfwerge", meinte Bofur mit vollgestopften Backen und grinste breit. Das ließ ihn ein bisschen aussehen wie einen Hamster, weshalb ich mir ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen konnte. "Trotzdem wundert es mich, dass ihr trotz eurer Körpergröße so viel futtern könnt. Wenn das jeden Tag so geht, bin ich innerhalb von einer Woche pleite, weil ihr mir die Haare vom Kopf gefressen habt", entgegnete ich gelassen. "Das wäre doch mal ein netter Anblick. Zumindest würdest du immer noch besser aussehen wie Dwalin", meinte Fili und zwinkerte mir frech zu. Ich schnaubte nur und verzog daraufhin beleidigt den Mund. "Besser auszusehen wie Dwalin ist ja wohl kein Kunststück. Das schafft selbst ein Hobbit. Ich meine, stellt euch den mal in Frauenkleidern und mit seinem übelgelaunten Gesichtsausdruck vor. Das wäre wirklich unheimlich", entgegnete ich und schauderte ein wenig, als ich mir dies tatsächlich vorstellte. Es war zum Einen ein wirklich erschreckender, aber zum Anderen auch ein unsagbar witziger Gedanke. Dieser muskelbepackte, kahlköpfige Krieger in einem dieser hautengen flitter-glitzer-schicki-micki-Kleidern, welche viele der Sängerinnen meiner Welt häufig trugen. Gut, zugegeben er würde gewiss einem ganz bestimmten Österreicher gewaltig Konkurrenz machen, der den Nachnamen eines bestimmten Fleischproduktes trug. Vor allem da ich wusste, dass die Zwerge allesamt gut singen konnten. Aber nein, DAS wollte ich mir unter keinen Umständen ausmalen. Dieser vor Kraft strotzende, kleine Kerl, bei einem Gesangswettbewerb, in einem so albernen Kleid. Nein, nein, nein. Das ging unter keinen Umständen. Nicht mal in tausenden von Jahren. Wobei meine drei Begleiter plötzlich bei der Vorstellung, die sie sich wohl davon machten, gleichzeitig grinsen mussten. "Also, so abwegig ist dieser Gedanke von dir gar nicht", meinte Bofur und zupfte sich verträumt am Bart. Leicht irritiert hob ich eine Augenbraue und musterte den Zwerg zu meiner Rechten ungläubig. "Was soll das denn jetzt heißen?", hakte ich daraufhin interessiert nach, weil mich seine Aussage doch irgendwie neugierig gemacht hatte. "Ja, weißt du, es gab da so eine Sache, die..." begann er, doch bevor er weiter sprechen konnte, fiel ihm Fili, der einige Schritte vor uns her ging, mit einem mahnenden Blick über die Schulter hinweg ins Wort.“Sei still! Das soll sie doch nicht wissen!", zische er ihm ein wenig aufgebracht zu. Daraufhin schlug sich Bofur kurz erschrocken mit einer Hand auf den Mund und schüttelte heftig den Kopf. Das Dumme an dieser Aussage war nur, dass meine Neugier damit noch mehr geweckt wurde. Irgendetwas musste im Reich der Götter vorgefallen sein, worüber sie mit mir nicht reden durften, das ganz offensichtlich mit Dwalin und vielleicht sogar mit einem Kleid zu tun hatte. Doch wie ich wusste, würden mir die Drei auf eine direkte Nachfrage hin nichts sagen. So schlussfolgerte ich einfach laut vor mich hin murmelnd herum, in der stillen Hoffnung, dass sie mir dabei auf den Leim gingen und mit der Sprache rausrückten. "Also, Dwalin hat einen geheimen Fetisch für Kleider. Ist ja sehr interessant", meinte ich, wobei ein süffisantes Grinsen meine Lippen umspielte. Und wie zu erwarten schnappte meine kleine Falle zu. Denn nun blieben die Herren kurz stehen und schüttelten mit verwirrten Gesichtern die Köpfe. "Was? Nein. Dwalin würde sich niemals freiwillig wie eine Frau kleiden. Dafür ist er viel zu Stolz", kam es umgehend von Kili. "Dann hat er wohl eine Wette verloren und musste deshalb eines anziehen?", fragte ich ruhig und grinste noch breiter, als sie erneut die Bärte schüttelten. "Nein. Nein, so war das wirklich nicht. Er... nun ja... Es ist jedenfalls nicht so wie du denkst. Vergiss einfach was Bofur gesagt hat und lass uns weiter gehen", meinte Fili und hob hastig beschwichtigend eine Hand. Ich rührte mich jedoch nicht vom Fleck, als die Herren Anstalten machten weiter zu ziehen. Stattdessen tippte ich mir mit einem Finger und gespielt grübelnder Miene ans Kinn, während ich einfach nach oben zum grau bewölktem Himmel schaute. "Hrm... Fassen wir mal zusammen. Dwalin hat ein Kleid angezogen. Aber nicht freiwillig. Hat auch keine Wette verloren. Aber es geht dabei irgendwie um mich, weshalb ihr mir das nicht sagen dürft. Dann hat es vermutlich etwas mit der bevorstehenden Hochzeit von Thorin und mir zu tun", beendete ich meine Schlussfolgerungen und wartete bereit gespannt auf die Reaktionen meiner Begleiter. Diese kam auch prompt, indem sie alle drei gleichzeitig ein leidendes, genervtes Stöhnen von sich gaben und mit den Augen rollten, ehe sie sich mir zuwandten. "Na großartig. Danke Bofur. Jetzt weiß sie es schon!", fuhr Fili den Mützenzwerg ungehalten an, welcher nur unschuldig mit den Schultern zuckte. "Was denn? Was weiß ich?", fragte ich und setzte eine lammfromme, unschuldige Miene auf. Doch ich wurde indessen vollkommen von den Herren ignoriert, da unter ihnen plötzlich ein kleiner Streit losbrach. Bofur ließ es sich nämlich gar nicht gefallen, dass der Jungspund ihn so anfeindete und konterte dementsprechend barsch: "Ich habe nichts gesagt. Sie ist von selbst darauf gekommen." "Du hättest gar nicht erst auf ihre Worte eingehen dürfen! Das sollte ein Geheimnis bleiben! Thorin hat uns wieder und wieder dazu angehalten ihr gegenüber Stillschweigen zu bewahren", warf Kili ebenso aufgebracht ein und fixierte Bofur scharf und wütend mit seinen rehbraunen Augen. Dieser verzog beleidigt den Mund und schnaubte verächtlich. Dass er nun Schuld an etwas haben sollte, was in seinen Augen wohl nur eine kleine Nebensächlichkeit war, schmeckten dem sonst so gut gelauten Zwerg gar nicht. Besonders weil ihn die beiden Brüder derart bedrängten und runter machten. "Ich wollte sie nach den letzten schweren Stunden nur etwas zum Lachen bringen. Ihr habt euch doch auch sehr darüber amüsiert, als ihr davon erfahren habt. Was ist daran denn verwerflich?", fragte er und verschränkte trotzig die Arme vor der breiten Brust. Wieder stöhnten die beiden Brüder genervt, bevor der Ältere auf Bofurs Frage einging. "Darum geht es doch gar nicht. Dass du sie zum Lachen bringen wolltest, ist nicht das Problem. Auch nicht, dass wir es amüsant fanden. Es sollte eine Überraschung für sie werden", raunte Fili seufzend und rollte erneut mit den Augen. "Ihr wolltet mir Dwalin in einem Kleid zur Hochzeit schenken?", warf ich kichernd dazwischen und musste mich schwer zusammen reißen, dass ich bei meiner eigentlich sehr dummen Frage, nicht wirklich noch anfing haltlos drauf los zu lachen. Mein Einwurf ließ sie allerdings kurz ihre Streitigkeiten untereinander vergessen, weshalb sie ihre Blicke wieder auf mir ruhen ließen. Doch zunächst antwortete sie nicht. Sie schienen unschlüssig zu sein, ob sie es mir nun das große Geheimnis verraten sollten oder nicht. Dann beschlossen sie aber doch mit verschwiegenem, aber geschlagenen Nicken zu den jeweils Anderen, dass es keinen Sinn mehr hatte noch länger mit der Wahrheit hinter den Erebor zu halten. So trat Fili mit einem leicht zerknirschten Gesichtsausdruck an mich heran und erklärte mir endlich, weswegen sie so aufgebracht reagiert hatten. "Nun, Cuna. Schwesterchen. Hör zu. Wir sollten es dir eigentlich nicht erzählen, weil Thorin dich damit überraschen wollte. Aber nun hast du es ja beinah erraten und... Dann können wir es dir auch sagen. Also... Nun ja. Es geht um die geplante Vermählung zwischen dir und unserem Onkel. Er... er wollte ein angemessenes Kleid für dich anfertigen lassen, welches du an jenem Tage tragen solltest. Es ist auch bereits fertig. Nur wissen wir eben noch nicht, ob es dir passt", sagte er ruhig und kratzte sich dabei verlegen am Hinterkopf. Ich blinzelte indessen nur ungläubig und leicht verwirrt. Dass Thorin tatsächlich für mich ein Brautkleid hatte anfertigen lassen, konnte ich gerade noch so nachvollziehen. Ich fand es auch wirklich süß von ihm. Und es tat mir nun ein bisschen leid, dass ich seine Neffen und Bofur dazu genötigt hatte, mir von der Sache zu erzählen. Er machte sich solche Mühe, es vor mir geheim zu halten, weil er mich damit überraschen wollte. Allerdings erschloss sich mir immer noch nicht, was das nun alles mit Dwalin zu tun haben sollte. Obwohl ich unterbewusst irgendwie schon so eine Ahnung hatte, was denn geschehen war. Schon allein Bofurs leicht verschmitztes Grinsen deutete an, dass die Suche nach einer geeigneten Person, die für ein solches Kostümchen Modell stehen sollte, nicht gerade leicht gewesen war. Immerhin gab es in Mittelerde keine Kleidung von der Stange, wie in meiner Welt. Dort wurde ja alles noch von Hand hergestellt. Noch dazu befanden sich die Zwerge nicht direkt in Mittelerde, sondern in ihrem Göttereich, wo es hauptsächlich nur von Elben wimmelte. Diese hatten definitiv nicht mal im Ansatz meine Statur und Größe. Noch dazu würde sich keine diese erhabenen Lichtgestalten unter diesen Umständen darum bitten lassen, für das Kleid der Braut des Zwergenkönigs, Modell zu stehen. Gerade die sollten ja nicht einmal erfahren, dass ich überhaupt im Leben des Zwergenkönigs existierte. Gut, das war, inzwischen sowieso hinfällig. Sie waren ja in meine Existenz eingeweiht. Aber von den Elben einmal abgesehen, gab es sonst keine Wesen im Reich der Götter, welche mich angemessen hätten vertreten können. Folglich war Thorin wohl nur zu der einen, für ihn vernünftigen Lösung des Problems gekommen. Einer seiner Männer hatte sich und seinen Stolz opfern müssen, um seinem Wunsch nachzukommen. Und welcher wäre da naheliegender, als der kahlköpfige, breitgebaute Krieger, der alles für seinen König tun würde, wenn dieser es ihm befahl. Doch um ganz sicher zu gehen, dass ich mit meiner Vermutung richtig lag, musste ich mit einem ungemein breitem Grinsen, noch einmal bei den dreien nachhaken. "Hab... Ich euch richtig verstanden? Thorin hat für mich ein Kleid anfertigen lassen und... Und Dwalin musste dafür... Modell stehen?", fragte ich behutsam, woraufhin sie einstimmig nickten. Das Einzige was mir nach ihrer Reaktion aus dem Mund kam war ein überlautes ungläubiges: "Nein!" "Wir haben es mit eigenen Augen gesehen. Du kannst uns glauben, Dwalin sah nicht gerade sehr glücklich dabei aus", meinte Kili, der nun seinerseits anfing sehr breit zu grinsen. Völlig perplex blinzelte ich einen Zwerg nach dem anderen an und klappte den Mund immer wieder auf und zu. Das konnte nicht wahr sein. Sie mussten mich auf den Arm nehmen mit dieser an den Barthaaren herbeigezogenen Geschichte. Denn egal wie nah und treu der kahlköpfige Krieger seinem König stand, DAS hätte er doch niemals mit sich machen lassen. Noch dazu während die Anderen davon Wind bekommen hatten. Unmöglich. Andererseits wusste ich inzwischen, wie Thorin sich die ganze Zeit über im Reich der Götter aufgeführt und verhalten hatte, damit alles seinen Vorstellungen entsprach. Es musste also wirklich so abgelaufen sein, wie es mir die Drei berichteten. Als sich das Ganze dann auch noch zu einem sehr lebhaften Bild in meinem Kopf zusammen setzte, konnte ich nicht mehr an mich halten und brach in schallendes Gelächter aus, sodass mir beinah auch noch Bofurs Mütze vom Kopf fiel. Mein Lachen war wohl unter anderem auch noch so ansteckend, dass meine Begleiter laut und herzlich mit lachten. Es dauerte sogar einige Minuten bis wir uns wieder halbwegs beruhigt hatten und ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln wischen konnte. "Ach... Ach du heiliges Schnitzel! Ich... Ich... Oh Gott. Ich kann nicht mehr! Das ist ja herrlich. Ich glaube ich kann Dwalin von jetzt an nicht mehr ernst ins Gesicht sehen, ohne daran denken zu müssen", murmelte ich kichernd und schüttelte mich immer noch. Dabei musste ich jedoch aufpassen, dass ich nicht von meiner eigenen lebhaften Fantasie übermannt vom Bürgersteig fiel. Zu meinem Glück stand Kili links von mir, weshalb ich bei dem Versuch mich aufrecht hinzustellen, etwas gegen ihn stolperte. "Oh ha. Vorsicht Cuna. Ich hätte fast die Blumen fallen gelassen", meinte er ein wenig erschrocken und klammerte sich fest an seinen Topf mit den Vergissmeinnicht. "Entschuldige. Sind die Blumen noch heil?", fragte ich tief durchatmend und musterte den Zwerg zusammen mit dem Geschenk der Floristin. Dieser schmunzelte mich jedoch sachte an, als ich unsere Blicke kreuzten und nickte kurz, ehe er antwortete: "Ja. Es ist nichts passiert. Achte nur etwas auf deine Schritte. Ich möchte nicht, dass sie kaputt gehen." Ich erwiderte das Nicken mit entschuldigender Miene und schaute anschließend nach Vorne. Als ich aufblickte musste ich feststellen, dass es bis zum Friedhof nicht mehr allzu weit sein konnte. Ich sah bereits von Weitem die steile Querstraße, welche, wie ich wusste, nach oben zum Kirchhofshügel führte. Schlagartig war bei mir die gesamte gute Stimmung wieder dahin. Das fiel auch den Zwergen auf, die mich die ganze Zeit über beobachtet hatten. "Cuna? Was... Was hast du?", fragte Bofur, als dieser meine sich anspannenden Gesichtszüge musterte. "Wir... Wir sind bald da, Jungs", murmelte ich etwas abwesend und deutete mit ausgestrecktem Arm die Straße hinauf. Die Herren folgten meinem Wink und brummten dann unverständliche Worte vor sich hin, bis Fili ruhig und ernst an alle gewandt meinte: "Dann sollten wir weiter gehen." Ich nickte mit einem betretenen Schnaufen und setzte meinen Weg flankiert von den kleinen, bärtigen Männern fort. Das ein einziger Wimpernschlag reichte um sämtliche Glücksgefühle aus meinen Gedanken zu verbannen, war wirklich lästig. Und ich hasste meine verdammten Emotionen dafür, dass sie mir diese Stimmung verdarben. Denn eigentlich hätte ich diese gute Laune zur Abwechslung einmal gebrauchen können. Aber nein. Ich musste mal wieder zu einem dieser Sonderlinge mutieren, die nicht nur sich selbst, sondern auch alle Umstehenden in ihr tiefes Loch mit hinein zogen. Und das auch ganz ohne viele Worte. Da reichte schon meine blpße Anwesenheit. Besonders tat es mir in diesem Moment um meine Begleiter unglaublich leid, weil sie ja zumindest versucht hatten mich so gut sie konnten aufzumuntern und nun mit angespannten Gesichtern neben mir her gingen. Im Endeffekt war also die ganze Aktion, auf gut Deutsch gesagt, für die Katz gewesen. Denn sobald ich mich diesem unliebsamen Ort näherte, überkam mich stets ein bedrückendes und sehr beklemmendes Gefühl. Es war, als würde ich auf etwas Endgültiges und unwiederbringliches zugehen. Eine Sackgasse aus der es für mich kein Entrinnen gab. Und dennoch setzte ich wie gewohnt langsam einen Fuß vor den anderen. Es war wirklich zum Kotzen. Wieso musste ich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt wieder in Depressionen verfallen? Ich hatte doch gar keinen ersichtlichen Grund dafür. Alles hatte sich verändert. Ich hatte eine neue Liebe in mein Leben gelassen. Auch wenn es mit dieser im Augenblick nicht gerade einfach war. Es gab einen anderen Mann in meinem Leben, an dem mein ganzes Herz hing. Warum zum Teufel fühlte ich mich immer noch so schlecht, wenn ich an meinen Verblichenen dachte? Wieso zitterte mein gesamter Körper bei jedem Schritt? Ich hatte doch beschlossen meine Trauer endlich zu begraben. Ich wollte ein neues Leben beginnen. Mich nicht mehr an die Schrecken der Vergangenheit klammern. Und trotzdem verfolgten sie mich weiterhin. Die Bilder, die ich die meiste Zeit über in meinen Hinterkopf verdrängte, kamen erneut hervor. Sie vernebelten meinen Verstand und ließen die Welt um mich herum, wie in einem unheimlichen Horrorfilm ablaufen. Ich konnte nicht wirklich einordnen, was mich langsam versuchte zu übermannen. Aber was es auch war, es engte mich mehr und mehr ein. Nachdem wir an der nächsten Ecke nach rechts abbogen, um den Hügel zum Eingangstor hinauf zu stiefeln, schluckte ich einige Male und senkte den Blick auf den Bürgersteig. Ich brauchte nicht wissen wo ich hin lief. Die Strecke kannte ich in- und auswendig. Obwohl ich für gewöhnlich einen anderen Weg ging. Doch es war im Nachhinein egal welchen ich nahm. Jedes Mal wenn ich die Hälfte des Hügels allein zu Fuß gegangen war, wurden mir irgendwann die Beine schwer wie Blei und in meiner Brust zog sich ein fester Knoten zusammen. So auch an diesem trüben Tag. Es war lange her, dass ich dort gewesen war. Einige Wochen oder um genau zu sein, zuletzt als ich mit Thorin, Gloin, Bifur, Nori und Dwalin die zertrümmerten Überreste des alten Grabmales zusammengesucht hatte. Da ging es mir allerdings wegen anderer Umstände nicht gerade gut. Und ich hoffte, dass ich diesen nicht schon wieder begegnen musste, als ich schweigend mit den Zwergen die Straße überquerte und durch die Pforte schritt. Ich flehte innerlich zu allen möglichen Göttern, dass SIE nicht da waren. Besonders, wo ich wieder in so auffälliger Begleitung unterwegs war. Noch eine Konfrontation zwischen den kleinen Herren und meiner werten Ex-Schwiegermutter, konnte ich gerade an diesem Tag nicht gebrauchen. Wenn sie da oben am Grab wäre und wieder streitlustig über sie herzog, dann würde ich vermutlich endgültig ausrasten. Seit der letzten unliebsamen Begegnung mit ihr, hatte ich nichts mehr von diesen Herrschaften gehört. Woüber ich dementsprechend sehr dankbar war. Es endete sowieso stets damit, dass ich am Ende die Dumme war. Doch wusste ich nicht, ob ich mir ihre Sticheleien auch dieses Mal gefallen lassen konnte, wo ich ohnehin schon ein sehr schwaches Nervenkostüm hatte. Vermutlich würde ich nicht mal die Kraft aufbringen, um die drei Zwerge davon abzuhalten, ihr die Leviten zu lesen, sollte sie tatsächlich am Grab warten. Nein. Ich war mir sicher, dass ich es nicht schaffen konnte. Dafür fühlte ich mich in diesem Moment einfach viel zu schwach und angreifbar. Und auch wenn ich die Männer um mich herum nicht mehr ansah, wusste ich dass sie mich die ganze Zeit über im Auge behielten und mein Verhalten wachsam beobachteten. Ein kühler Wind wehte uns plötzlich um die Ohren und blies dabei vereinzelt das Wasser von den Blättern der noch übrig gebliebenen Bäume auf uns hinunter. Irgendwo in der Ferne konnte ich einige Krähen rufen hören, deren Stimmen nicht gerade zu einer guten Atmosphäre beitrugen. Das äußerte auch Bofur, der ein wenig abwesend vor sich hin murmelte: "Mahal. Hier sieht es aus, wie auf einem Schlachtfeld." Ich hob ganz langsam den Kopf und brummte ihm bestätigend zu, als ich mir einen flüchtigen Überblick der Umgebung verschafft hatte. Nach dem großen Sturm, der rund Dreiviertel der gesamten Bepflanzung eingefordert hatte, wurde immer noch aufgeräumt. Überall standen kleine Bagger und Transporter herum, welche neue Setzlinge geladen hatten. Von den Arbeitern, sah man allerdings nicht das gerinste. Entweder machten sie pause oder kamen wegen dem schlechten Wetter nicht. So oder so würde ihre arbeit nicht viel bewirken können. Bis dieser Ort wieder so aussehen würde wie früher, gingen bestimmt noch einige Jahre ins Land. Auch viele der bereits Jahrhunderte alten Gräber und Mausoleen mussten wieder hergerichtet oder komplett erneuert werden. Das ging natürlich nicht innerhalb von wenigen Wochen. Besonders, da viele wieder werden sollten, wie vor dem Unwetter. Bei den jüngeren Gräbern ging das wesentlich einfacher. Diese bestanden aus weit billigerem Material, welches die Nachkommen und Angehörigen schneller beschaffen konnten. So auch der bereits erneuerte Grabstein meines Mannes, welcher trotz des trüben, grauen Wetters strahlend Weiß in der Ferne zu uns herüber blitzte. Wobei es sich bei näherer Betrachtung nicht direkt um einen Grabstein handelte, sondern vielmehr um einen neuen Sockel, aus dem bereits wieder einige stählerne Vorrichtungen herausragten, die wohl für eine neue Statue bestimmt waren. Hoffentlich nicht wieder so ein lächerlicher Marmorengel, dachte ich leicht verbittert mit einem abfälligen Schnauben. Schwiegermütterchen war wirklich unbelehrbar. Sie wusste doch genau, wie kostspielig solche Sachen waren. Doch anstatt eine Sache einfach mal schlicht zu halten, musste sie immer wieder übertreiben. Natürlich zum Leidwesen ihres Mannes, der für alles aufkommen musste, da sie ja nichts mehr beisteuern konnte. Ein Glück nur, dass sie nicht da war, als wir eintrafen. So löste sich zumindest einer der Knoten in meiner Brust. Dafür zog sich ein anderer wesentlich enger im mein Herz und mein Körper begann erneut heftig zu zittern. Merkwürdig. Sonst war es mir doch nicht so gegangen, wenn ich an diesen Ort gekommen war. Warum spürte ich auf einmal ein so unangenehmes Kribbeln in meinem Nacken? Wieso wurden meine Hände plötzlich ganz klamm und schwitzig? Auch das Atmen fiel mir immer schwerer und meine Beine ließen mich nur noch stolpernd Vorwärts laufen. Mein Pulsschlag hämmerte das Blut rasend schnell durch meine Venen, als wäre ich auf der Flucht vor einem gewaltigen Monster. Mir wurde regelrecht übel davon. In meinem Kopf drehten sich die Gedanken und Fragen, was plötzlich in mich gefahren war. Dann blieb ich mit einem Mal stehen. Einfach so. Ohne ersichtlichen Grund. Und egal wie sehr ich mich dabei innerlich anschrie und anflehte weiter zu gehen, ich konnte es nicht. Ich konnte da nicht hin gehen. Ich konnte den Ort nicht betreten, den ich in der Vergangenheit schon so oft ohne die geringsten Regungen aufgesucht hatte. Himmel, Gesäß und Nähgarn! Das konnte doch nicht mein Ernst sein! Bitte keine Panikattacke! Nicht in diesem Augenblick! Ich hatte es doch immer geschafft. Wieso hielt mich mein Körper davon ab etwas so gewöhnliches zu tun? War es vielleicht, weil ich bereits zu lange damit gewartet hatte wieder herzukommen? Oder lag es an etwas anderem? An etwas, dass mit der Veränderung in meinem Leben zu tun hatte? Wieso hatte ich nur... Wieso... hatte ich... plötzlich diese... "Cuna? Cuna, ist alles in Ordnung mit dir?", hörte ich Filis Stimme besorgt von rechts kommen und spürte wenig später eine kräftige Hand meine Schulter drücken. Ich zuckte erschrocken mit einem kurzen Aufschrei zusammen und riss mich ruckartig von dem blonden Zwerg los. Dieser hob verwirrt eine Augenbraue in die Stirn und musterte mich leicht betreten. Auch die anderen beiden schienen nicht recht zu verstehen, was so unerwartet in mich gefahren war und legten fragend die Köpfe schief. Erst nachdem ich eine Zeit lang tief durchgeatmet und mir mit meinen zitternden Fingern über das Gesicht gewischt hatte, wurde mir wieder bewusst, dass ich ja gar nicht allein auf den Friedhof gegangen war. Ich hatte die Zwerge vollkommen aus meinen Gedanken verbannt und war der festen Überzeugung gewesen, dass ich ganz allein an diesen Ort gekommen war. Ebenso, wie ich es von Früher her kannte. Doch sie waren da. Alle drei. Kili, Fili und Bofur. Und es freute mich zu einem gewissen Teil, dass sie bei mir waren. Vermutlich hätte ich sonst noch Stundenlang auf der Stelle gestanden, ohne einen Schritt weiter zu gehen. Vielleicht wäre ich auch irgendwann einfach gegangen. Das wusste ich nicht. Sicher war nur, dass ich die Herren mit einem Aufschrei wohl ziemlich verstört hatte. "Bei Durins Bart. Was ist mit dir, Schwesterchen? Wieso schreist du, als sei Azog hinter dir her?", fragte Kili nach einigen Minuten vorsichtig und trat näher an mich heran. Ich schüttelte nur knapp den Kopf, um wieder klar denken zu können, ehe ich ihm mit leiser, abwesender Stimme antwortete: "Nichts. Nichts. Alles... Alles gut... Ich... Ich war nur gerade. ähm... nur in Gedanken. Das ist... alles." "Das haben wir gesehen. Aber es scheinen keine besonders schönen gewesen zu sein. Du bist kreidebleich geworden und zitterst seit geraumer Zeit am ganzen Leib", stellte Bofur ruhig fest und beugte sich nach unten, um seine Mütze vom Kiesweg aufzuheben. Diese musste mir wohl bei meiner heftigen Reaktion vom Schädel gerutscht sein. Ich schnaufte noch ein paar Mal und schüttelte ein weiteres Mal erschöpft den Kopf. "Ja... Nein... Ich... Ich weiß nicht genau an was ich gedacht habe... Ich... Ich verstehe es selbst nicht so ganz...", stammelte ich und wischte mir fahrig über das Gesicht. So langsam beruhigte sich mein Herzschlag und meine Atmung wieder. Doch das ungute Gefühl in meiner Brust blieb weiterhin bestehen. Es wurde sogar wieder stärker, als ich mich einen Moment von den Zwergen abwandte und zu dem unfertigen neuen Grabmal herüber sah. Doch nachdem sie mich aus meiner Gedankenwelt herausgeholt hatten, konnte ich dieses endlich bestimmen. Es war Angst. Nur, wovor hatte ich so eine Angst? Bestimmt nicht, dass sich die Toten aus ihren Särgen erhoben. Bis Halloween dauerte es noch einige Wochen und es war helllichter Tag. Eine Neuauflage von 'The Walking Dead' konnte ich daher schon mal als Grund für meine Gefühle ausschließen. Nein. Das konnte es nicht sein. Es war etwas anderes. Vielleicht etwas ganz Simpels. Allerdings kam ich nicht direkt darauf. Es musste einen anderen Zusammenhang geben. Vielleicht hing es an Dingen, die mir erst vor kurzen zugestoßen waren. Da gab es allerdings nicht viel. Ich ging nacheinander alle Ereignisse durch. Angefangen bei den Jüngsten. Der Weg durch die alte Marktstraße, Kilis Gefühlsdrama, mein Ausraster, der Arztbesuch, der Weg zum Arzt, das Erwachen am Morgen. Alles Dinge, die mich an diesem Tag ungemein belastet hatten. Aber daran konnte es nicht liegen. Ich musste weiter suchen. Dann stieß ich unwillkürlich auf ein Ereignis, welches am vergangene Tag stattgefunden hatte und blieb schließlich vollkommen daran hängen. Es war die eine Sache, die dem Ganzen einem Sinn verlieh. Oder vielmehr die Person, weswegen ich mich zu diesem Zeitpunkt so unwohl fühlte. Thorin. Es war schlichtweg und ergreifend Thorin. Oder vielmehr seine Liebeserklärung mir gegenüber. Genau diese war es, die mich plötzlich so blockierte. Sie gab mir das Gefühl, dass ich nicht den Friedhof hätte betreten dürfen. Dass ich gar nicht erst auf die Idee hätte kommen sollen, das Grab eines Mannes aufzusuchen, den ich vor ihm geliebt hatte. Und da war noch mehr außer der angst. Es war schuld. Ich fühlte mich schuldig gegenüber dem Mann, dessen lebloser Körper bereits seit knapp zwei Jahren gut drei Meter unter der Erde lag und langsam in seinem Sarg vor sich hin verweste. Nunja, er war eigentlich gar keine Person mehr, wegen der ich mich hätte schuldig fühlen müssen. Er war, wenn ich es genauer betrachtete, nur noch eine leere, fleischliche Hülle. Ohne Gefühle, ohne Herzschlag, ohne Atmung. Er war... Ja, er war Tod. Wie kam ich nur auf den Gedanken, dass ich immer noch bei ihm den Trost fand, den ich brauchte? Er konnte ihn mich doch gar nicht mehr geben. Und wieso dachte ich auf einmal so abgeklärt und distanziert über ihn? War er mir denn ganz egal geworden? Ich hatte ihn doch geliebt. Genau wie ich nun den Zwergenkönig liebte. Aber war es wirklich genauso? War es das Selbe? Das gleiche Gefühl von Liebe, das ich für sie Beide empfand? Für zwei Männer, von denen einer nicht mehr da war und der andere Wiederauferstanden von den Toten? Ging das überhaupt? Konnte ein Mensch wie ich denn zwei so unterschiedliche Personen, die sich doch irgendwie vom Charakter her glichen, gleichzeitig lieben? Das war, wenn ich es logisch betrachtete, schier unmöglich. Einfach unvereinbar. Und dennoch waren weiterhin solche Empfindungen in meinem Herzen vorhanden. Aber weit schwächer als noch vor über einem Monat. Denn egal wie lange ich versuchte mich an die schönen Erinnerungen mit ihm zu klammern, umso häufiger sah ich Thorin an dessen Stelle treten. Irgendwann kam es mir so vor, als hätten alle vergangenen Ereignisse nicht mit meinem Verblichenen, sondern mit dem Zwergenkönig stattgefunden. Und ein gewisser Ärger sammelte sich plötzlich in meiner Brust. Verdammt noch mal! Was hatte dieser Mistkerl von einem Zwerg nur mit mir gemacht? Hatte er mich etwa heimlich mit einem Zauber belegt, während ich unschuldig in seinen starken Armen ruhte? Oder war ich es vielleicht selbst, die sich nicht traute diese anderen Sache ein für allemal abzuschließen und in guter Erinnerung zu behalten? Ich war doch schließlich nicht nur Thorins Frau. Nein, ich war auch die Frau dieses Toten gewesen. Und ich war es meinem Verblichenen schuldig, dass ich vor sein Grab trat, wo ich mit allem aufräumen konnte, was mich so sehr beschäftigte. Auch wenn ich wusste, dass er es nicht mehr hören und mir gute Ratschläge geben konnte. Einer Sache war ich mir in dem Punkt auf jeden Fall sicher. Er hätte bestimmt nicht gewollt, dass ich weiterhin vor Trauer um ihn verging. Sei es nun wie es sei, dachte ich leicht verbittert und kaute mir auf der Unterlippe herum. Ich konnte den Rest des Tages, nein, sogar den Rest meines verdammten Lebens, nicht damit zubringen von Ferne auf das frische Grabmal zu starren und dabei zu hoffen, dass sich alles von allein in Wohlgefallen auflöste. Ich musste endlich eine Grenze ziehen. Abschließen. Den Frieden zwischen ihm und mir herstellen. Erst dann konnte ich mich zukünftigen Dingen widmen. Mein Leben neu beschreiten. Und zwar mit einem Anderen an meiner Seite. Doch bevor ich mich dem unausweichlichem stellte, drehte ich mich ein weiteres Mal zu meinen Begleiter um, die mich in den ganzen Minuten schweigend beobachtet hatten. "Bleibt hier und wartet auf mich. Ich komme gleich wieder", sagte ich mit fester, aber leicht abwesender Stimme, ehe ich den ersten Schritt auf das Grab zutrat. Doch bevor ich weiter gehen konnte, ergriff mich plötzlich eine raue, warme Hand am Unterarm und hielt mich auf. Ich fuhr unwillkürlich mit dem Kopf herum und sah Kili in die Augen, wo ich deutlich aufrichtige Besorgnis lesen konnte. "Warte, Cuna. Bist du sicher, dass... Dass du das allein schaffst? Sollen wir nicht lieber mit dir gehen?", fragte er und schielte dabei unruhig zu seinem Bruder und Bofur, die mich angespannt musterten. Ich schüttelte jedoch nur den Kopf und versuchte dem dunkelhaarigen Jungen ein knappes, aufmunterndes Lächeln zu schenken, was mir Angesichts dieser Situation schwerer fiel als erwartet. "Kili. Ich... Ich weiß, dass ihr euch sorgen um mich macht. Aber... Aber ich muss das allein machen. Es ist nicht nur wichtig für mich. Sondern auch für die Zukunft mit deinem Onkel. Ich muss ein Ende für meine Trauer finden. Nur dann kann ich vielleicht endlich mit etwas Neuem anfangen. Das ist mein Weg. Versteh das bitte", meinte ich entschlossen und versuchte mich aus seinem eisernen Griff zu befreien. Doch anstatt mich nach meiner Bitte loszulassen, drückte er meinen Arm nur noch fester und machte sogar Anstalten mich zurück zu ziehen. "Cuna. Nein. Ich lass dich da nicht hingehen. Nicht allein. Das schaffst du nicht. Sieh dich doch einmal an. Du zitterst und bist Aschfahl. Es geht dir nicht gut. Du solltest dich nicht überanstrengen. Wir sollten gehen. Sofort", forderte er in einem ungewöhnlich scharfen Befehlston, den ich nur Selten von dem jungen Zwerg gehört hatte. Ich spürte, dass er nicht dort bleiben wollte. Es bereitete ihm deutliches Unbehagen. Er wollte einfach nur weg von diesem Ort, der mir in seinen Augen nicht gut tat. Ich verstand sehr gut, dass er sich so fühlte. Mir ging es ja auch nicht wirklich anders. Aber unverrichteter Dinge abzuziehen, war das Letzte was ich wollte. Dann würde das Chaos in meinem Herzen niemals aufhören. Ich würde nie ganz mit mir ins Reine kommen. Und der Einzige, der es wohl von ihnen nachvollziehen konnte war Bofur, welcher wenig später an Kilis Seite trat und ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter legte. "Lass sie gehen, Kili. Wenn wir sie jetzt von hier wegbringen, war der ganze Weg umsonst. Cuna ist stark. Sie schafft das", murmelte er ihm ruhig und ernst zu. Doch der Bursche wollte sich immer noch nicht von mir lösen. Er hielt mich weiterhin fest und schüttelte heftig seine braune Mähne, bevor er den Mützenzwerg fast schon verzweifelt ansah. "Bofur. Du siehst sie doch auch. Es war genug Aufregung für heute. Und... Und dieser Ort hier macht es noch schlimmer. Ich... Ich kann sie da nicht hingehen lassen. Nicht unter diesen Umständen. Sie wird zusammenbrechen. Ich weiß es. Was wäre ich denn für ein Bruder, wenn ich meine kleine Schwester nicht vor einem solchen Unheil bewahren würde? Sie hat mir doch vorhin auch mit dieser Frau geholfen. Warum darf ich ihr nun nicht im Gegenzug helfen? Warum wollt ihr sie allein dahin gehen lassen? Bedeutet sie euch denn gar nichts?", fuhr er sie ungehalten an und zerrte dabei weiter an mir herum. Nun schritt allerdings sein älterer Bruder ein und ergriff seinerseits energisch den Arm, welcher meinen festhielt. "Kili. Hör auf so etwas zu sagen! Natürlich bedeutet sie uns auch etwas, sonst wären wir nicht mitgekommen. Aber wir haben ihr vorhin noch einmal ein Versprechen gegeben. Dass wir auf sie hören sollen, wenn sie uns etwas sagt. Und wenn sie sich sicher ist, dass sie das allein schafft, dann vertraue ich ihr. Das solltest du auch tun, anstatt sie zu entmutigen, Bruder", raunte Fili ihn barsch und bestimmt an, wobei er mir für einen kurzen Wimpernschlag entschuldigend ins Gesicht schaute. Doch selbst seine Worte ließen den störrischen Jungen nicht von mir ablassen. Auch nicht, als die beiden anfingen an ihm herum zu zerren. Er klammerte sich weiterhin an mir fest und begann nun in seiner Muttersprache auf die Beiden einzureden. Oder zu schimpfen. So genau konnte ich es nicht auseinander halten. Natürlich mit wenig Erfolg. Das Ganze mutierte mehr und mehr zu einer kleinen Rangelei, in die ich mitten hinein gezogen wurde. Ich musste etwas unternehmen, bevor sie sich noch inmitten all der Gräber prügelten und ich vielleicht auch noch etwas abbekam. Außerdem hatte ich sorge, dass dabei zusätzlich Kilis Geschenk zu Boden fiel und der Topf mit den armen Blumen zerbrach. Unter anderem konnte es dazu führen, dass die lauten Schreie und Rufe den Friedhofswärter auf den Plan riefen, den ich partout nicht am Hals haben wollte. So tat ich das einzig Richtige in dieser Situation. Ich erhob meine Stimme über die der Zwerge und brüllte: "HEY! HEY SCHLUSS JETZT! VERDAMMT NOCH MAL! HABT IHR VERGESSEN, WO IHR HIER SEID?! AUFHÖREN! SOFORT!" Und tatsächlich wurden die drei kleinen Männer schlagartig ruhig, wobei sie mir verwirrte, fragende Blicke zuwarfen. Ich atmete indessen erleichtert auf und seufzte anschließend, nachdem ich wieder ihre Aufmerksamkeit hatte. Meine Güte, was hatte ich mir da nur für eine Bande ans Bein gebunden? Ich konnte durchaus verstehen, dass sie sich Sorgen um mich machten. Besonders Kili, da dieser der Jüngste unter ihnen war und mein Verhalten nicht ganz verstand. Doch so ging es einfach nicht. Anscheinend hatte ich wohl keine andere Wahl. Wenn ich wollte, dass sie Ruhe gaben und sich nicht weiter wegen mir und meinem Vorhaben stritten, musste ich sie eben mit ans Grab nehmen. Obwohl es für mich sehr komisch werden würde, bei meinem eigentlich sehr persönlichen Gespräch, Zuschauer zu haben. Aber eine andere Alternative sah ich in diesem Moment nicht. So befreite ich mich endlich von Kilis Griff, welchen er unachtsam gelockert hatte und positionierte mich mit gestrafften Schultern vor ihnen. "Also. Ernsthaft. Ich weiß, ihr fühlt euch auf dem Friedhof nicht wohl. Es ist unheimlich und ihr habt Angst, dass mir etwas passieren könnte, wenn ich allein irgendwo hingehe. Hab ich verstanden. Ist notiert und angekommen. Aber es geht nicht, dass ihr hier so einen Terz deswegen veranstalten und damit womöglich die Totenruhe stört. Wir bekommen riesige Probleme mit dem Wärter, wenn er uns hier raufen hört. Und ich habe keine Lust, dass er mir für die nächste Zeit Platzverbot erteilt, weil ihr euch wegen einer solchen Lappalie geprügelt habt. Von daher habe ich beschlossen, dass ihr mich zum Grab begleiten dürft, damit ich meinen Frieden habe. Seid ihr damit einverstanden oder gibt es noch irgendwelche Einwände?", hakte ich zum Ende meiner Standpauke nach. Zunächst tauschten alle drei nur sehr verblüfft und verwirrt Blicke über meinen Vorschlag aus. Doch stimmten sie recht schnell mit einem einstimmigen, schweigenden, knappen Nicken zu. Erleichtert darüber, dass ich gerade eben noch Schlimmeres verhindert hatte, seufzte ich kurz und führte die Zwerge schließlich vor das unfertige neue Grabmal. Als wir davor standen, wand ich mich noch einmal zu den kleinen Männern um und erläuterte ihnen mein weiteres Vorhaben. Obwohl ich mir immer noch unsicher war, ob ich sie wirklich mit mir hätte nehmen sollten. Aber dafür war es ja nun definitiv zu später. Es hieß nur noch, Augen zu und durch. Vielleicht war es ja gut, dass sie doch bei mir waren. Wenn es half den Frieden an diesem Ort zu wahren, dann konnte es mir nur recht sein. "Also. Ihr bleibt bitte genau hier mit etwas Abstand zu mir stehen. Ich... ähm... werde gleich mit ihm reden und... Und ihm einige Dinge sagen. Es ist zwar etwas sehr persönliches, aber... Nun ja.. es wäre nett, wenn ihr euch nicht dazu äußert. Ich wollte ja eigentlich allein mit ihm reden. Von daher. Wundert euch bitte nicht über meine Worte und mein Verhalten, okay?", erklärte ich ruhig und ein wenig nervös zugleich. Doch ein weiteres zustimmendes Nicken ihrerseits genügte schon um mich etwas zu beruhigen. "Tu, was du tun möchtest. Wir werden dich währenddessen nicht stören", meinte Fili mit eindringlichem Blick und legte mir kurz eine Hand auf die Schulter. Ich atmete tief durch und sah noch einmal Sicherheitshaber zu den anderen beiden. Diese neigten sachte ihre Häupter und schlossen dabei die Augen. Ein gutes Zeichen. Die Zwerge schienen bereit zu sein. Nun lag es allein an mir, nachdem Fili von mir zurück getreten war und es seinen Gefährten gleichtat. Es war schon ein unwirkliches Bild, was die drei vor mir ablieferten. Andächtig. Ruhig. Ganz in sich selbst gekehrt. Sie zollten dem Toten hinter meinem Rücken ihren gesamten Respekt. So wie sie es auch bei einem Mitglied ihres Volkes tun würden. Bofur hielt sogar seine Mütze in den Händen vor sich hinweg. Ich war wirklich tief beeindruckt. Das hatte ich nach dem ganzen Stress und ihrem aufgebrachten Verhalten vorhin nicht mehr zu hoffen gewagt. Was ich auch nicht erwartet hatte war, dass sie mir damit plötzlich wieder Kraft gaben und Mut machten. Da wusste ich, dass es doch die richtige Entscheidung gewesen war sie mit mir zu nehmen. Mit einem derart stummen Halt im Rücken, konnte ich mich langsam umdrehen und endlich das Grabmal genauer in Augenschein nehmen. Es war tatsächlich fast schon wieder so hergerichtet worden, wie es Früher einmal gewesen war. Die Grabplatte war neu und mit frischen Messingbuchstaben beschlagen, wo der Name, das Geburts- und das Todesdatum zu lesen war. Unter dem noch leeren Sockel des Monumentes, war wieder ein neues Bild meines Verblichenen angebracht worden. Darüber waren in goldener Schrift einige Segenssprüche zu erkennen. Das Einzige was allerdings wirklich neu war, war ein Gefäß, wo man einen Blumentopf hätte reinstellen können und eine kleine Blechlaterne, die für ein Grablicht vorgesehen war. Bisher hatte sich darum aber niemand gekümmert. Vermutlich wollten meine werten Ex-Schwiegereltern warten, bis das neue Monument geliefert und aufgestellt worden war. Gut, sollte mir fürs Erste egal sein. Ich hatte ohnehin nichts dabei, womit ich diese Gegenstände füllen konnte. Von daher blieb für mir nur noch eines zu tun. Ich musste mich vor das Grab hocken und ein weiteres Mal tief durchzuatmen. Ich schloss zusätzlich meine Augen und ließ ganz langsam eine Hand zu der frischen, kühlen Grabplatte wandern, um sie darauf abzulegen. Dann begann ich ganz ruhig, wie gewohnt vor mich hin zu reden und versuchte dabei die Zwerge hinter mir auszublenden. Obwohl mir dies, wie erwartet sehr schwer fiel, da ich mir irgendwie lächerlich vorkam. Aber ich machte es eben immer so und würde auch nicht wegen den kleinen, bärtigen Männern damit aufhören. "Hey... Lange nicht gesehen... Ich glaub... ich brauch nicht zu fragen, wie es dir geht... ähm... Also... Es... Es ist sehr viel passiert seitdem... seitdem ich das letzte Mal bei dir war und... Nun ja... Es... Es haben sich einige Dinge in meinem Leben aufgetan, die ich so nicht erwartet hätte... Du bestimmt auch nicht... Und eigentlich weiß ich... gar nicht so recht, wo ich anfangen soll... Am... Am besten wohl gleich mit dem, was nach unserem... Letzten Gespräch alles passiert ist", murmelte ich leise vor mich hin und streichelte dabei behutsam über den nackten Stein. Ich machte eine kurze Pause, in der ich wieder tief Luft holte und etwas angespannt lauschte. Die Blätter der alten Eiche hinter dem Grab rauschten, als eine kühle Brise über den Hügel wehte und mein Gesicht sanft streichelte, wie eine liebevolle Hand. Mir war, als hörte ich dadurch ein leises Flüstern in meinem Ohren, das lediglich von den Krähen aus der Ferne, mit ihren nervtötenden Schreien, unterbrochen wurde. Die schweren Stiefel der Zwerge knarzten kurz hinter mir auf dem steinigen Boden, doch ansonsten blieben die Zwerge stumm. Ich schnaufte einen Moment lang, als ich dachte tatsächlich SEINE Stimme hören zu können. Doch das war lediglich nur Einbildung. Er konnte ja nicht mehr reden. Konnte mich nicht fragen, was ich ihm erzählen sollte. Genauso wenig konnte er wohl meine Stimme hören, die zu ihm sprach. Und doch kam es mir so vor, als wäre er plötzlich allgegenwärtig. Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich und rutschte nervös auf meinen Knien herum. Wagte allerdings nicht aufzuspringen und die Sache abzubrechen. Es war zu wichtig. Das konnte nicht mehr warten. Jetzt oder nie, schossen mir kurz durch den Kopf, als sich meine Lippen langsam und zögerlich wieder öffneten. Danach begann ich dem leblosen, kaltem Stein vor mir mein Herz auszuschütten. Alles. Und damit meinte ich auch alles, was mir auf der Seele lag sprudelte in einem fort aus mir heraus. Dass ich jemandem begegnet war, den es eigentlich nicht geben sollte. Dass dieser Jemand nun mit mir zusammen war und ich ihn sehr liebte. Dabei ließ ich nicht einmal das Detail aus, dass ich mit dieser Person bereits eine wundervolle Nacht verbracht hatte. Nach dieser Erwähnung gab allerdings einer der Zwerge ein kurzes verlegenes Hüsteln von sich. Nur von welchem es kam, konnte ich in diesem Augenblick nicht genau sagen. Was ich aber wusste war, dass meine Stimme mit jedem Wort belegter und abgehackter wurde. Ich begann erneut heftig zu zittern, als ich versuchte die heißen Tränen zurück zu halten, die sich doch irgendwann unter meinen geschlossenen Lidern hervor stahlen und mir feucht über die kalten Wangen liefen. Wieder kam eine kühle Brise auf und wehte dieses Mal sogar einige vereinzelte Regentropfen aus dem grauen Himmel herab. Na großartig. Nun musste es zu allem Überfluss auch noch anfangen zu regnen. Aber das war mir vorerst egal. Ich redete ununterbrochen weiter. Ganz gleich wie sehr der Himmel auch anfing zu weinen. Ich zog die Prozedur bis ganz zum Ende durch. "... Du... du siehst... Ich... Ich hab einiges durchgemacht... Aber... Aber ich will weiterhin stark sein... Und... Und mein Bestes geben... Ich glaube... Das... Das hättest du dir für mich auch gewünscht... Also... Also... machs gut und... Und bis... zum nächsten Mal", sagte ich abschließen und erhob langsam meine inzwischen steifen Glieder vom Boden. Nun rührten sich auch die Zwerge wieder und traten näher an mich heran. Ich wischte mir indessen mit dem Ärmel meiner Jacke die letzten Tränenspuren aus dem Gesicht und öffnete die Augen. Dann wandte ich mich langsam vom Grab meines Verblichenen ab und setzte bereits dazu an, diesen Ort so schnell es ging zu verlassen. Jedoch ließen mich meine drei Begleiter nicht so einfach von Dannen ziehen. Sie ergriffen mich gemeinsam und zogen mich unter ruhigen, tröstenden Worten in ihre Arme. Eigentlich war es mir gar nicht recht, dass sie dies taten. Denn es hatte nur zur Folge, dass bei mir endgültig alle Dämme brachen und ich lauthals anfing zu schluchzen. Ich wusste zunächst nicht einmal an wen ich mich gerade klammerte, als mein Kopf auf einer ihrer kräftigen Schultern lag. Doch das war auch nicht weiter wichtig. Sie waren da. Sie hielten mich fest. Gaben mir halt. Spendeten mir all ihr Mitgefühl und Trost, den sie aufbieten konnten. So verbrachte ich noch einige lange Minuten schützend und warm in ihrer Mitte, bevor es doch irgendwann an der Zeit war aufzubrechen. Und endlich den Ort, an dem ich nun mit mir selbst und meinem Verblichenen Frieden geschlossen hatte, zu verlassen. - 101. Wenn Herzen sich wandeln / ENDE - Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)