Daemon von yazumi-chan (Akte Kriguard) ================================================================================ Kapitel 1 --------- Leise fluchend zog ich meinen nachtblauen Mantel enger und stemmte mich gegen den Schneesturm, der mich auf dem Rückweg vom Bahnhof überrascht hatte. Nach zwei Wochen am anderen Ende des Distrikts wollte ich nur noch einen Wodka und ein heißes Schaumbad. Ich beschleunigte meine Schritte. Die kontinuierlichen Schneewehen machten es schwer, irgendetwas zu sehen. Um mich zu orientieren, streckte ich vorsichtig den Kopf unter der Kapuze hervor und sah mich um. Ich blieb abrupt stehen. Gelbe Spuren, halb verblasst, führten über den Bordstein bis zur Eingangstür eines Wohnhauses. Mein Blick schweifte nach oben. Hinter einem der Fenster stand eine dunkle Gestalt. Ein gelber Schimmer folgte ihr, aber als ich die Augen zusammenkniff, um ihn besser zu sehen, verschwand er. Verdammte Scheiße. Ich musste ins Warme, bevor meine Sicht sich komplett verabschiedete. Wer immer da oben lebte, musste bis morgen warten. Ich war in keinem Zustand, eine Exzision durchzuführen. Vielleicht konnte Rock jemanden vorbeischicken. Ich hatte mich gerade zum Weitergehen durchgerungen, da spürte ich ein bekanntes Vibrieren an meinem Bein. Ich kramte in meiner Manteltasche und zog mein Diensthandy hervor.   Absender: Harry Limes Nachricht: Triff mich in der Lounge. 01:00. Sei pünktlich. H.   Ich stöhnte und überprüfte die Uhrzeit. Es war bereits viertel vor eins. Jetzt musste ich mich wirklich beeilen.     „Coon.“ Rocks dunkle Haut hob sich kaum von der Bar ab, hinter der er auf mich wartete. Mein ältester Freund und Boss war ein Bulle von einem Mann, mit großen Händen und keinem einzigen Haar auf dem Kopf. Ich setzte mich und er schob mir schwungvoll ein Glas mit klarer Flüssigkeit zu. „Willkommen zurück. Ich hatte dich nicht vor morgen früh erwartet.“ Hoffnungsvoll nippte ich an dem Getränk und verzog sofort angewidert das Gesicht. Es war Wasser. „Planänderung“, erwiderte ich. „Oh, und bevor ich’s vergesse, ich habe auf dem Weg Daemonenspuren ausgemacht. Können wir morgen jemanden schicken, der sich das anguckt?“ „Kein Problem.“ „Gut.“ Ich kippte den Kopf zurück, um das Wasser in einem Zug runterzuspülen, bevor ich es zu Rock zurückschlittern ließ. Es kam klirrend vor seinen fleischigen Händen zum Stillstand. „Und diesmal was Richtiges, bitte.“ Rock lachte und klopfte einmal auf den Tresen, während er sich vorlehnte. „Nichts da“, sagte er und warf mir ein breites Grinsen zu, das ich mit kühler Miene erwiderte. „Harry wartet auf dich.“ Ich wog die Möglichkeit ab, schnell noch in meine Wohnung im Dachgeschoss der Hunterbasis zu fliehen und mir wenigstens trockene Sachen anzuziehen, aber Rocks Miene verdüsterte sich bereits, so als könnte er meine Gedanken lesen. Es war wohl etwas Ernstes, was in der Lounge auf mich wartete. Meinetwegen. Ich stand auf und klatschte Rock ein paar Münzen auf die Theke. „Lass mir schon mal das Badewasser ein, wärst du so gut?“ Sofort verschwand das Stirnrunzeln und wurde durch sein schneeweißes Grinsen ersetzt, während er sich Richtung Küche lehnte. „Mary! Badewasser für Coon!“ Ein genervtes Murren wurde laut, bevor eine kleine, kurvige Frau mit pechschwarzen Locken und hakiger Nase aus der Küche stampfte, eine Schürze um die üppige Taille gebunden. Sie trocknete ihre Hände mit einem Handtuch ab, schlug Rock damit gegen den kahlen Hinterkopf und warf es sich anschließend über die Schulter. Wortlos verschwand sie nach oben. Die Lounge schloss sich gleich an die Bar an und war nur für Mitglieder der Organisation zugänglich. Dunkle Dielen und vertäfelte Wände schluckten das schummrige Licht der Wandlampen und die runden Tische waren, bis auf einen, unbesetzt. Unser Head of Security hatte sich in der hintersten linken Ecke eingerichtet, eine Zigarre in der rechten Hand, den Kopf gesenkt. Mit den Fingern trommelte er auf einen Papierstapel, der sich gegen das fettig glänzende Holz abhob. Obwohl Harry eine Handbreit kleiner als ich war, fielen ihm die Frauen zu Füßen. Leicht gewelltes, goldblondes Haar, definierte Gesichtszüge und stahlblaue Augen verliehen ihm das Aussehen eines Engels, doch sie verbargen nicht nur einen düsteren Humor, sondern auch einen eiskalten Geschäftssinn. Harry hatte keine Freunde. Nur Menschen, die ihm von Nutzen waren und solche, die ihm im Weg standen. Von seiner Attraktivität machte er trotzdem Gebrauch; und nicht zu knapp. „Harry“, begrüßte ich ihn und ließ mich gegenüber in einen der kurzbeinigen Sessel sinken. Eiswasser tropfte von meinem Hosensaum auf das Parkett. Mein Enthusiasmus für dieses Gespräch hätte gut in eins von Rocks Shotgläsern gepasst. Harry blies einen Rauchring in meine Richtung und lehnte sich zurück. Das Licht flackerte. „Ich hatte mich schon gewundert, ob du noch auftauchen würdest.“ Ich warf einen Blick auf mein Handy. Es war 1:02 Uhr. „Du hast Glück, dass ich schon zurück bin“, erwiderte ich genervt. Ungewollt lief mir ein Schauer über den Rücken, so wie jedes Mal, wenn ich mit Harry alleine war. Er hatte die Aura eines Raubvogels. „Eigentlich wollte ich erst morgen den Zug nehmen.“ Harry lächelte und zog an seiner Zigarre. „Kein Glück, Raccoon.“ „Was willst du?“, fragte ich und verschränkte die Arme. Mein Mantel war durchnässt, ich war erschöpft und mir war scheißkalt. „Wie lief dein Auftrag?“, fragte er, meine eigene Frage gekonnt ignorierend. „Harry“, sagte ich. „Du hast Leute, die dir sagen, wann ich mein Hotel verlasse, welchen Zug ich nehme und was ich gefrühstückt habe. Wahrscheinlich sogar, welche Unterwäsche ich heute trage.“ Ich sah ihn skeptisch an. „Aber du weißt nicht, wie mein Auftrag gelaufen ist?“ „Natürlich weiß ich, wie er lief.“ Harry beugte sich vor und sah mir in die Augen. „Aber ich will deine Version hören.“ „Glaubst du, ich verheimliche dir etwas?“, fragte ich genervt. „Wenn du mir weiter ausweichst, werde ich das denken. Also erspar mir die Kopfschmerzen und fass deinen Auftrag kurz für mich zusammen, hm?“ Seufzend lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück. „Der Auftraggeber war Kevin Lewis, CEO von SHARD, dieser Waffenfirma an der Grenze zu 17.“ Harry nickte. „Irgendjemand brach jede Nacht in ihr Lager ein. Verschob Kisten, schaltete den Strom an und aus und entwendete einige der Waren. Lewis hat die Polizei kontaktiert, aber die fanden nichts Ungewöhnliches. Also kam er zu Rock.“ „Und Rock kam zu dir.“ „Exakt. Er schickte mich hin und ich verbrachte knapp zwei Wochen damit, den Daemon ausfindig zu machen.“ „Wer war sein Wirt?“ Ich lachte humorlos. „Kevins Frau. Ihr Daemon hat mir ganz schön zu schaffen gemacht. Am Anfang war sie unverdächtig, aber je länger ich da war, umso öfter hat er Fehler gemacht. Danach war es ein Kinderspiel.“ „Hast du den Daemon exzidiert?“ „Nein, ich habe ihn auf ein Date eingeladen.“ Ich sah ihn ausdruckslos an. „Wofür hältst du mich?“ „Entschuldige.“ Er zog ein letztes Mal an der Zigarre, bevor er sie in dem Kristallaschenbecher ausdrückte. „War’s das?“, fragte ich hoffnungsvoll und dachte an die Badewanne, die oben auf mich wartete. „Nicht ganz.“ Harry schwieg einen Moment, dann schob er mir die Dokumente zu. „Was sagen dir diese Namen?“ Misstrauisch überflog ich die Liste. Einige Namen fielen mir sofort ins Auge. Samantha Shackle, meine beste Freundin und ebenfalls Auge. Tom Hines, Joseph Marret und Margret Lopez, einige unserer erfahrensten Hunter und Urgestein der Organisation. Laurence Mines, unser vielversprechendster Neuzugang. Und meine Wenigkeit natürlich. Nur drei Namen sagten mir gar nichts. Caroline Michakov, John Low und Martin Smith. Harrys Spione, ohne Zweifel. „Unsere Leute“, sagte ich vage. „Was soll mit ihnen sein?“ Harry stand auf und nahm mir die Liste wieder ab. „Einer von ihnen ist ein Maulwurf.“ „Mein Name stand auch auf der Liste“, murmelte ich und Harry nickte. „Fühl dich bitte beobachtet. Außerdem …“ Er grinste und wandte sich Richtung Tür. „... steht dunkelblau dir ausgezeichnet. Gute Nacht.“     Als mich am nächsten Morgen ein Klopfen an meiner Tür weckte, war es noch dunkel. Ich stöhnte und rollte mich auf die Seite, entschieden, noch ein paar Stunden zu schlafen. Der scharfe Klang von Knöchel auf Holz wiederholte sich ruppig. Genervt torkelte ich zur Tür und riss sie auf. Mary blieb von meinem halb verrutschten Shirt und abstehenden Haaren völlig unbeeindruckt. „Aufstehen“, sagte sie nur und verschwand so schnell die Treppe hinunter, dass ich einen kurzen Moment zweifelte, ob sie wirklich hier gewesen war. Etwa zwanzig Minuten später saß ich an einem der Tische in Rocks Bar und schlürfte einen schwarzen Kaffee, den Rock wohlweislich vorbereitet hatte. Das Sandwich, das auf einem Teller daneben lag, ignorierte ich wie immer. Essen am frühen Morgen lag mir nicht. Stattdessen nahm ich einen großen Schluck Kaffee, ließ das Koffein durch meinen Körper strömen und verbrannte mir die Zunge. Meine Tasse war gerade leer, da stand Rock bereits neben mir, füllte nach und legte einen gefalteten Brief auf mein Sandwich. Misstrauisch schielte ich von meiner zweiten Tasse zu ihm hoch. „Nicht dein Ernst, Rock“, sagte ich und stellte den Kaffee ab. „Gönn mir ‘ne Pause!“ „Kann ich nicht“, sagte Rock und sah immerhin ansatzweise so aus, als tue es ihm leid. „Wir brauchen einen Profi.“ „Wozu bilden wir überhaupt neue Hunter aus, wenn trotzdem ich alles mache? Wie sollen sie Erfahrung bekommen, wenn du ihnen immer nur die einfachsten Jobs gibst?“ Rock nahm gegenüber Platz, griff nach dem Sandwich und biss hinein, ein Ausdruck größter Zufriedenheit auf seinem Gesicht. „Erstens“, sagte Rock und schluckte, „gibt es ein Mittelding zwischen einfachen Jobs und Missionen, die extrem gefährlich sind.“ „Oh, ich riskiere gern bei jedem Auftrag mein Leben, Rock, gar kein Problem.“ „Zweitens“, fuhr er ungerührt fort, „hat unser Kunde explizit nach dir gefragt. Wenn du den Job nicht übernimmst, fällt der Auftrag ins Wasser.“ „Dann kann es nicht so dringend sein“, murmelte ich und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. „Ist mir egal, wie dringend der Fall ist“, sagte Rock und sein Tonfall wurde eine Spur schärfer. Er beugte sich vor, sein Gesicht nur noch Zentimeter von meinem entfernt. „Der Auftrag bringt eine Menge Geld ein, Geld, das wir derzeit verdammt gut gebrauchen können, wie du genau weißt. Und du bist vertraglich an uns gebunden. Viel Spaß bei der Suche nach einer anderen Organisation, die dir genauso viele Prozente zahlt wie wir.“ Ich verzog das Gesicht. „Fein“, gab ich mich schließlich geschlagen und atmete erleichtert aus, als Rock sich wieder zurücklehnte und dem Sandwich widmete. „Bringen wir es hinter uns.“ Ich nahm den Brief, entfaltete ihn und überflog die Details. „Kriguard?“, fragte ich überrascht und sah auf. „Ist das nicht dieser Zeitungsverleger? Von … wie heißt sie noch gleich, National irgendwas?“ „National News Post“, stimmte Rock zu. „Er gehört zu den einflussreichsten Männern im Distrikt.“ „Und was ist sein Problem, dessen nur ich mich annehmen darf?“, fragte ich brüsk und nahm die letzten paar Schlucke Kaffee. Rock ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Dann sah er mir in die Augen. „Du sollst seine Tochter umbringen.“ Ich prustete und spuckte den Kaffee geradewegs ins Rocks Gesicht, der keine Miene verzog, sondern sich lediglich mit einer Serviette das Gesicht abwischte. „Bitte was?!“, fragte ich, hoffend, mich verhört zu haben. „Er ist fest davon überzeugt, dass seine Tochter von einem Daemon besessen ist. Allerdings hat sie einige Entscheidungen getroffen, die ihm nicht … gefallen.“ „Und jetzt soll ich sie zufällig aus dem Weg räumen?“ „Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Exzision fehlschlägt.“ „Das ist nicht dein Ernst, Rock“, sagte ich und faltete die Hände vor meinen Augen. „Du willst mich nicht wirklich dafür anheuern, ein Mädchen zu töten, nur damit der Ruf ihres Vaters nicht gefährdet wird.“ Rock schwieg. „Bitte sag mir, dass du mich gerade nicht um einen Auftragsmord bittest.“ „Wir brauchen das Geld“, sagte Rock und ich stand wütend auf. „Du kannst dir dein Geld sonst wohin stecken!“, schrie ich ihn an. „Ich mache den Job nicht. Ich exzidiere den Daemon, aber ich werde niemanden töten.“ „Du weißt noch nicht, um welche Geldsumme es geht“, sagte Rock und bedeutete mir, mich hinzusetzen. Ich blieb stehen, die Arme verschränkt. Er seufzte. „Wir sprechen nicht von unserer üblichen Rate, Coon. Hier geht es um das Zehnfache.“ „Macht keinen Unterschied.“ „Hör zu“, sagte Rock und seine Stimme wurde mit einem Mal so leise, dass ich mich wieder hinsetzen musste, um ihn zu verstehen. „Harry hat gestern mit dir gesprochen, ja?“ „Hat er.“ „Hat er dir von unserem Verdacht erzählt?“ „Von dem Maulwurf? Ja, hat er.“ Meine Augen verengten sich. „Wenn du mich jetzt mit Loyalität gegenüber der Organisation erpressen willst, vergiss es. Wenn du mich rausschmeißen willst, tu dir keinen Zwang an, aber glaub nicht, dass ich deswegen nachts schlechter schlafen werde.“ „Wir reden längst nicht mehr von rausschmeißen, Coon“, flüsterte Rock. Die Glocke der Eingangstür klingelte hinter mir, aber ich war weiterhin auf Rock fixiert. „Wenn du jetzt etwas tust, was nur annähernd verdächtigt wirkt, nimmt Harry dich aufs Korn. Er lässt dich umbringen, glaub nicht, dass er es nicht tut.“ „Ich soll lieber meine eigene Haut retten?“, fragte ich spöttisch. „Ja, sollst du.“ Ich seufzte. „Rock. Du bist neben Christopher und Sammy mein engster Freund. Du weißt genau, warum ich den Auftrag nicht machen werde. Ich frage mich nur, wie tief du gesunken bist, sowas überhaupt in Erwägung zu ziehen. Wir sind eine Hunterbasis. Wir sollen Menschen beschützen, nicht aus dem Weg räumen.“ Er lachte bitter und stand auf. „Deine Moralpredigt wird uns nicht vor dem Bankrott retten. Du startest den Fall oder du fliegst raus. Gib mir heute Abend Bescheid, was es sein wird.“ „Ich mache den Auftrag nicht!“, rief ich ihm hinterher, als er zurück zur Theke ging. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. „Gottverdammte Scheiße …“, murmelte ich. Wann war mein freier Tag so aus dem Ruder gelaufen? „Entschuldigung, Miss?“ Ich hob den Kopf und drehte mich um. Ein Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, stand vor mir. Eine Wolke roter Locken umrahmte ihr rundes Gesicht und ihr blauer Pulli troff von geschmolzenem Schnee. Schuhe und Hose waren völlig durchnässt. „Hi“, sagte ich, überrumpelt. Wenn man mich fragte, gehörten Kinder einer anderen Spezies an. Ich war nie gut mit ihnen klargekommen und hier war nun wirklich der letzte Ort, wo ich eines erwartete. „Sind sie Raccoon Thynlee?“, fragte die Kleine. Ihre Augen waren geweitet, als sie zu mir aufschaute. „Die aus der Zeitung?“ „Die bin ich“, erwiderte ich vorsichtig und warf einen schnellen Blick zu Rock, der seinerseits interessiert das Mädchen beobachtete. Als er meinen Blick bemerkte, zuckte er mit den Schultern. Das Mädchen atmet erleichtert auf. „Ich brauche Ihre Hilfe, Miss Thynlee. Bitte!“ „Wobei genau?“, fragte ich misstrauisch. Was wollte ein Kind von mir? „Es ist mein Vater.“ Sie schaute zu Boden. „In letzter Zeit verhält er sich ganz anders. Er bemerkt mich kaum noch!“ Ihre Augen begannen zu glänzen und ich stöhnte innerlich. Ich kam wirklich nicht gut mit Kindern klar. „Erwachsene sind manchmal so“, sagte ich und tätschelte unbeholfen ihre Schulter. „Wie heißt du überhaupt?“ Sie schniefte und sah zu mir hoch. „Ida.“ „Ida.“ Ich nickte. „Deinem Vater geht es bestimmt gut“, beruhigte ich sie. „Er hat sicher nur sehr viel zu tun.“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Das ist es nicht, wirklich!“, fuhr sie lauter fort. „Seine Stimme klingt anders als sonst, tiefer. Und gestern stand er am Fenster und hat hinausgesehen. Und danach hat er sich in sein Arbeitszimmer eingeschlossen und Gegenstände an die Wände geworfen! Und er hat immer wieder dieselben Worte geschrien …“ Dicke Kullertränen liefen ihre Wangen hinunter und ich sah mich hilfesuchend um. „Hey, hey, ganz ruhig“, murmelte ich und wischte ihr die Tränen mit meiner Serviette weg. Hilfesuchend sah ich mich um, aber Rock war verschwunden. Verräter … „Was hat dein Vater denn immer wieder gesagt?“ „Ich kenne sie.“ Ich stutze. „Sonst nichts?“ „Nein.“ Ida schniefte. Mir kam ein Gedanke. Er war so verrückt und aus der Luft gegriffen, dass ich ihn beinahe sofort wieder verworfen hätte. Aber nur beinahe. „Wo wohnst du?“, fragte ich vorsichtshalber und versuchte, mich an die Straße zu erinnern, in der ich gestern die gelben Spuren gesehen hatte. Wenn ich mich nicht täuschte, war es die … „Königsstraße“, sagte Ida leise und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Königsstraße 89.“ „Fuck …“ Ich stöhnte und massierte meine Nasenwurzel. Idas Vater hatte sich einen Daemon eingefangen. Und nicht irgendeinen. Der Daemon kannte mich. Und es gab nur einen Daemon, der mir je entkommen war. Und mit dem war nicht zu spaßen. „Hör mal, Ida“, sagte ich und sah der Kleinen in die Augen. „Vielleicht solltest du vorerst hierbleiben. Bei deinem Vater ist es derzeit … gefährlich.“ „Gefährlich?“ „Gefährlich“, stimmte Rock zu, der in diesem Moment hinter Ida auftauchte und eine dampfende Tasse Kakao vor ihr auf den Tisch stellte. „Magst du heiße Schokolade?“ Ida sah zu Rock hoch, der über ihr in die Höhe ragte, seine schwarzen Gorillaarme vor der breiten Brust verschränkt. Dann sah sie zu der Tasse, hob sie hoch und nahm einen zaghaften Schluck. „Mmhhh …“, gurgelte sie, bevor ihr Gesicht hinter dem Tassenrand verschwand. „Mary!“, rief Rock. Seine Frau tauchte wenige Sekunden später in der Küchentür auf, das Gesicht zu einer genervten Grimasse verzerrt. „Was denn jetzt!“, rief sie und Rock lachte leise, bevor er sich zu ihr umdrehte. „Kannst du dich um Ida hier kümmern?“ „Ida?“, fragte Mary und reckte den Hals. Als sie Ida entdeckte, die ihren Kakao schlürfte und schließlich mit Schokomund und leuchtenden Augen von ihrer Tasse abließ, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig. Sie schlängelte sich an der Bar vorbei, wischte ihre Hände an der Schürze ab und ging vor dem Mädchen in die Hocke. „Hallo, Kleines“, sagte sie und strich Ida liebevoll über den roten Lockenkopf. „Was tust du denn hier bei uns? Komm, ich zeig dir die Küche.“ Ida sah misstrauisch von ihr zu mir. „Werden sie mir helfen, Miss?“ „Natürlich wird sie das“, sagte Mary liebevoll, warf mir einen mörderischen Blick zu und nahm Ida bei der Hand. „Na komm. Coon kümmert sich um alles andere. Auf sie kannst du dich verlassen.“ Als sie mit Ida an der Hand in Richtung Küche verschwand, sah sie mich ein letztes Mal warnend an. Rock kaschierte sein Lachen mit einem gekonnten Hüsteln. Ich starrte Ida hinterher. Eigentlich hatte ich noch nicht zugesagt. „Du hast keine große Wahl mehr, Coon“, sagte Rock und sah seiner Frau wissend hinterher. „Wenn du dem Mädchen nicht hilfst, häutet Mary dich.“ „Ich habe immer eine Wahl, Rock.“ Ich fuhr mich durchs Haar. „Und langsam habe ich’s satt, dass mir jeder vorschreiben will, welche Aufträge ich zu erledigen habe.“ „Du willst ihr nicht helfen?“ „Ehrlich gesagt, nein.“ Das erweckte nun doch Rocks Aufmerksamkeit. „Die große Raccoon Thynlee hat Angst vor einem Daemon?“, fragte er und hob eine Augenbraue. „Dass ich den Tag noch erleben darf.“ „Ich weiß ja nicht, ob das inzwischen jeder hier vergessen hat, aber Daemonen sind gefährlich!“, erwiderte ich hitzig und stand auf, um nicht ganz so sehr zu Rock hochblicken zu müssen. „Und der hier ganz besonders.“ Rocks Augen weiteten sich. „Du kennst den Daemon?“ Ich nickte. „Wenn ich mich nicht irre, ist es der von letztem Jahr.“ Rock schwieg einen Moment. „Mit letztem Jahr meinst du …“ „Ganz genau.“ Mein Blick schweifte in die Ferne. Draußen schneite es ununterbrochen. „Er hat damals Lorene gebissen.“ „Christophers Verlobte?“ Ich schloss die Augen. „Wenn ich nur besser aufgepasst hätte, dann hätte ich die Exzision nicht vermasselt.“ Rock nickte in Gedanken versunken. „Ich erinnere mich. Sie ist zu einem Dae geworden, oder?“ Ich nickte. „Zum Glück hat sie sich aufgelöst, bevor sie zu einem Daemon werden konnte. Aber das macht es nicht besser.“ „Shit“, sagte Rock. „Jedenfalls will ich mich mit diesem Daemon nicht nochmal anlegen, zumindest nicht allein“, fügte ich nach einer kleinen Pause hinzu. „Die Viecher werden mit der Zeit nur stärker.“ „Du willst Idas Vater also im Stich lassen?“, fragte Rock und sah mich lange an. „Das hätte ich nicht erwartet.“ „Fick dich, Rock.“ Ich griff nach meiner Kaffeetasse und schmiss sie nach dem Barbesitzer, der für seine Größe elegant auswich. Das Porzellan zerschellte auf dem dunklen Dielenboden. „Erst kommst du mir mit einem Auftragsmord und jetzt versuchst du, mir ein schlechtes Gewissen zu machen? Willst du mich verarschen?“ „Beruhige dich, Coon.“ „Nein.“ Ich stand auf. „Weißt du was? Ich gehe jetzt meine Sachen packen. Such dir wen anders, der den Auftrag annimmt, ich bin raus hier.“ „Raccoon, jetzt komm schon.“ Rock griff nach meinem Handgelenk, als ich an ihm vorbei Richtung Treppen stapfte. „Lass es dir doch wenigstens bis heute Abend durch den Kopf gehen.“ „Da gibt es nichts zum durch den Kopf gehen lassen.“ Ich riss mich los. „Sag Harry, dass ich ein Attentat gerne vermeiden würde, aber ich mache bei sowas nicht mit.“     Die Hände in meinen Manteltaschen vergraben, lief ich durch den Schnee, der seit letzter Nacht liegen geblieben war. Die Sonne ging gerade auf und versprach einen wärmeren Tag als gestern, aber ich war trotzdem nicht zu hoffnungsvoll. Als ich am gestrigen Abend das Hotel verließ, war auch noch strahlender Sonnenschein gewesen, bevor es wenige Stunden später in einem Blizzard umgeschlagen war. Man konnte sich dieser Tage auf nichts mehr verlassen. Nach meinem Streit mit Rock brauchte ich dringend Abstand und etwas Zeit zum Nachdenken. Meine Sachen standen schon gepackt auf meinem Zimmer und das kleine Mädchen war sicher bei Mary verstaut. Meine rechte Hand zerknüllte den Auftrag, den ich mitgenommen hatte. Ich hatte schon einige Enttäuschungen in meinem Leben einstecken müssen, nicht zuletzt Christophers Verlobung mit einer Frau, die ich noch nie zu Gesicht bekommen hatte, aber Rocks Bitte ließ mein Herz wie einen Stein in meiner Brust liegen. Was dachte er sich dabei? Sicher, das Geld war knapp geworden, aber dass er mich deshalb um einen Mord bitten würde? Er wusste, wie sehr mich Lorenes Tod mitgenommen hatte. Ich war an der Scheiße fast zerbrochen und jetzt das? „Fuck …“, murmelte ich leise und stapfte heftiger als nötig über die Straße. Das zerknitterte Papier stach in meine Haut, aber ich drückte nur noch fester zu. Es dauerte kaum zehn Minuten, bis mein Handy vibrierte und Harrys SMS ankündigte, die ich seit Verlassen der Basis erwartete. Es dauerte nie lange, bis Harry Dinge erfuhr. Ich warf einen kurzen Blick auf den Text, den er mir gesendet hatte.   Absender: Harry Limes Nachricht: Du hast bis heute Abend Zeit. H.   Und da war sie, die Morddrohung. Hatte ja lange genug gedauert. Ich lachte leise und blieb stehen. Nachdenklich kramte ich den Auftragszettel aus meiner Manteltasche und entfaltete ihn. Kriguard. Der Name lag mir im Magen wie Gift. Mieses Schwein. Er hatte mich engagiert, keinen Auftragskiller. Das hatte er nun davon. Ich suchte nach den Details. Der Wirt war seine Tochter, Britta. Zeit, Kriguards Anwesen einen Besuch abzustatten und das arme Mädchen von ihrem Daemon zu befreien. Mir sollte keiner vorwerfen, ich würde meinen Job nicht ernst nehmen. Ich war Raccoon Thynlee. Ich war Das Auge. Ich war einer der zwölf Hunter in Distrikt 16, der Daemonen ohne Sichtlinsen sehen konnte. Und ich war die Einzige, die ihre Spuren sah.     Die Sonne stieg immer höher, während ich zu Fuß zur nächsten U-Bahn-Station ging. Danach trennten mich nur noch etwa zehn Stationen von Kriguards Villa. Ich war schließlich engagiert worden. Niemand würde Grund haben, mich nicht reinzulassen. Ich warf einen Blick auf mein Handy. Die Bahn fuhr in fünf Minuten und wenn ich dem normalen Straßenverlauf folgte, würde ich es nie im Leben rechtzeitig schaffen. Ich sah mich kurz um. Stoppschilder. Ampeln. Ein Kreisel. Wohnblocks. Die schmale Gasse entdeckte ich erst, als meine Augen zum zweiten Mal über die Stelle wanderten. Ein Vorteil in diesem Teil der Stadt war, dass die Straßen durch ein Labyrinth aus dunklen Gassen verbunden waren. Wenn man dem Risiko nicht abgeneigt war, ließ sich jede Strecke verkürzen. Ich zerknüllte den Auftrag wieder und ließ ihn in meiner Manteltasche verschwinden, dann beschleunigte ich meine Schritte und steuerte auf die Gasse zu. Sie war nicht beleuchtet und lag im Dunkeln, aber das störte mich nicht weiter. Es war früher Mittag. Ich hatte nichts zu befürchten. Als ich das andere Ende erreichte, öffnete sie sich zu einer langen, menschenleeren Straße. Zu beiden Seiten waren Absperrungsschilder aufgestellt, auf der linken Seite hatten Maschinen die Straße aufgerissen und bewachten den losen Schotter wie schlafende Wachhunde. Ich pustete eine schwarze Haarsträhne aus meinem Gesicht, die der anschwellende Wind dorthin geblasen hatte und wendete mich mit schnellen Schritten nach rechts. In der Ferne konnte ich schon das metallische Quietschen der U-Bahn hören. Bis zu der Station war es nicht mehr weit. Der Wind schwoll erneut an und jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Wieder wanderten meine Gedanken zu dem Auftrag und ich widerstand dem Drang, mich umzusehen. Zu überprüfen, ob mir jemand folgte. Es war ein dummer Impuls. Harry hatte mir bis heute Abend Zeit gegeben. Wenn ich Besuch von seinen Leuten bekam, dann morgen oder heute Nacht. Als ich das Ende der Straße fast erreicht hatte, blieb ich abrupt stehen. Auf dem Boden vor mir war ein gelber Fußabdruck. Er war so blass, dass ich ihn aus der Ferne übersehen hatte, aber jetzt, da ich direkt darüberstand, gab es keinen Zweifel mehr. Ich ging in die Hocke und kniff die Augen zusammen. Ein Daemon, keine Frage. Der Abdruck war mindestens zwei Tage alt, aber Daemonen pendelten häufig zwischen einigen wenigen Orten. Ein Daemon, der hier war, konnte genauso gut jeden Moment wiederkommen. „Ms. Thynlee!“ Erschrocken fuhr ich herum und entdeckte zu meinem Entsetzen Ida, die schwer atmend auf mich zulief und sich die Seiten hielt. „Was zur Hölle machst du hier?“ fragte ich wütend. „Der Wirt meinte, sie wären gegangen. Also bin ich ihnen gefolgt.“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „War das falsch?“ „Ja, verdammt!“, fuhr ich sie an. „Es ist gefährlich für Kinder, alleine durch die Gegend zu wandern.“ Ich ging vor ihr in die Hocke und nahm sie bei den Schultern. „Du solltest bei Rock bleiben.“ Ida sah mich mit großen Augen an, dann liefen ihr dicke Tränen über die Wangen. „Aber …“ Sie schniefte. „Aber mein Daddy! Werden Sie ihm helfen?“ „Ich habe keine Zeit, mich darum zu kümmern“, erwiderte ich kalt. „Frag Rock, ob er jemand anderen losschicken kann.“ „Bitte …“ Ida schniefte lauter, verschluckte sich und begann haltlos zu schluchzen. „Gottverdammte Scheiße …“ Ich rieb mir die Schläfen. Ich wollte einen Tag in Ruhe gelassen werden. Einen Tag. War das zu viel verlangt? Ich packte Ida bei der Hand und steuerte wieder die Gasse an, aus der ich gekommen war. Ich konnte sie schlecht alleine hierlassen und sie mit zu Kriguard zu nehmen, war keine Option. „Hör zu“, sagte ich, während ich ein ordentliches Tempo vorlegte und Ida halb mitschleifte. „Ich bringe dich zurück zur Basis, du lässt dir von Rock etwas kochen und morgen kümmere ich mich um deinen Vater, was hältst du davon?“ Ida murmelte etwas, das sich nach einem Okay anhörte, also ging ich weiter. Sie musste schließlich nicht wissen, dass ich morgen nicht mehr in der Basis sein würde. Sollte Mary den Daemon doch selbst exzidieren, wenn ihr so viel daran lag. Plötzlich hörte ich ein Zischen, gefolgt von einem heiseren Schrei und dem Gewicht eines Kindes, das bewusstlos an meiner Hand hing. Fuck! Instinktiv ließ ich Ida los und wirbelte herum. Der Daemon war klein. Er war wirtlos. Seine schattenhaften Züge verschwammen am Rand, so als würde er sich auflösen und seine breiten Lefzen waren geöffnet. Spitze, schwarze Zähne glänzten in seinem Maul und seine Augen leuchteten gelb. Sie waren rund, wie Gelatinebälle, die jemand halb in dem unförmigen Körper versenkt hatte. Als er von Idas Körper abließ und zurücksprang, breiteten sich seine kurzen Arme und Beine aus, bevor er einige Meter entfernt wie eine vierbeinige Spinne auf dem Boden landete. Obwohl sein Körper ansatzweise menschlich geformt war, waren seine Bewegungen die eines Tieres. Er machte einen Schritt auf mich zu, den ich mit einem Schritt nach hinten erwiderte. Wo er den Boden berührte, hinterließen seine Füße gelbe Abdrücke, die wie Fluoreszenzfarbe auf dem grauen Asphalt leuchteten. Das Gelb strahlte in unregelmäßigen Schüben von seinem Körper ab. Ich hob beide Arme und streckte dem Daemon meine Handflächen entgegen, die Daumen übereinander und ein dreieckiger Hohlraum zwischen meinen Fingern. Ida wimmerte. „Abire“, sagte ich laut und deutlich und der Daemon blieb stehen. Seine gelben Glubschaugen verengten sich zu Schlitzen und er zischte leise. „Deficere. Decedere.“ Ich spürte, wie sich etwas in mir öffnete. Wie die Schwächungsschlüssel, die ich sprach, in mir widerhallten. Ein Exzisionsmuster war immer auf den Gegner zugeschnitten. Dieses hier war eins der Simpelsten, eine dreiwertig aufsteigende Reihe, aber das würde genügen. Der Daemon machte einen zaghaften Schritt rückwärts. „Abire. Deficere. Decedere.“ Der Daemon fauchte, aber meine Worte zeigten Wirkung. Das Schwarz seines Körpers schwand langsam, während seine Augen immer mehr hervortraten. Er machte einen weiteren Schritt nach hinten, doch dieses Mal folgte ich. Langsam ging ich auf den Daemon zu, die Hände weiterhin erhoben, während die Worte in meinem Inneren vibrierten und immer wieder aus meinem Mund strömten. „Abire. Deficere. Decedere. Abire. Deficere. Decedere. Abir-“ Der Daemon kreischte, dieses Mal lauter und rannte davon. Seine Ränder verschwammen mit der Umgebung und er wurde immer kleiner, je weiter er lief. Ich hob meine Stimme. „Consistere!“ Der Daemon blieb augenblicklich stehen, seine Bewegungen eingefroren, als fessele ihn eine unsichtbare Macht. Ich wiederholte den Befehl, wieder und wieder, bis ich sicher war, dass der Daemon sich keinen Zentimeter mehr rühren konnte. Bevor die Fixierungsschlüssel abklingen konnten, legte ich eine Handfläche auf sein Gesicht, genau zwischen die gelben Augen, die sich mir wie glitschige Kugeln entgegenwölbten. Mein Blick wurde hart. „Nex.“ Bei dem Klang des Exzisionsschlüssels erschauderte die Masse des Daemons. Sein Körper fiel mit einem Schrei in sich zusammen, als würde man ihn von innen aussaugen, bis nur noch seine gelben Augen zu mir hochschauten, die grotesk in entgegengesetzte Richtungen zeigten. Ein knirschendes Geräusch erfüllte die Luft und der Daemon implodierte. Schwarzen Rauch füllte die Luft mit dem Geruch fauler Eier. Ich machte auf der Stelle kehrt und rannte zu Ida zurück, die zittrig auf der Straße lag. Ich sank neben ihr auf die Knie und betastete ihr aschfahles Gesicht. Sie war eiskalt und Schweiß stand in feinen Perlen auf ihrer Stirn. Die Bisswunde an ihrem Hals war schwarz umrandet und Blut blubberte aus dem Kreis kleiner Einkerbungen. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Die Exzision war einfach gewesen, aber sie hatte trotzdem zu lange gedauert. Wenn ich die Wunde sofort hätte aussaugen können, vielleicht— Ida öffnete ein Auge. Es war glasig und schaute direkt durch mich hindurch. „Daddy …“, murmelte sie. Dann sackte ihr Kopf zur Seite.   Kapitel 2 --------- Ein Jahr zuvor …   „Decedere. Occidere. Mori. Decedere. Occidere—“ Der Daemon zischte und schoss auf mich zu, sein gewaltiger Kiefer weit geöffnet, die schwarzen Zähne bedeckt mit gelbem Geifer. Ich presste die Handflächen fester nach vorne. „Haesitare!“ Der Daemon wurde im Sprung zu Boden gerissen und landete nur wenige Meter vor meinen Füßen. Ich widerstand dem Drang, mir den Schweiß von der Stirn zu wischen. Die Exzision dauerte bereits zwanzig Minuten an. Zwanzig Minuten, in denen jeder Atemzug mein letzter sein konnte. „Sidere“, sagte ich, so ruhig ich konnte, aber meine Stimme war schwach geworden. Ich hatte zu viele hochwertige Fixierungsschlüssel verwendet, aber der Daemon ließ sich von keinem Kategorie-2-Schlüssel zurückhalten. Zweimal hatte er sich bereits aus meinem Muster gerissen. „Sidere“, wiederholte ich schwer atmend. Der Daemon kreischte und gelbe Speicheltropfen flogen in meine Richtung. Ich ließ meine Arme ein wenig sinken, um meine Hände genau auf das schwarze Ungetüm vor mir zu richten. Es war groß wie ein Hund und sah mich aus hasserfüllten, gelbglühenden Augen an. „Decedere. Occidere. Mori“, begann ich wieder, jedes Wort schwerer zu formulieren als das vorige. Meine Zunge war taub. Schweiß rann in mein Auge und ich blinzelte. Der Daemon bäumte sich auf und riss ein Bein nach dem anderen von den Terrakottafliesen, auf denen ich ihn fixiert hatte. Gottverdammte Scheiße. Selbst mit Kategorie 5 hatte ich Probleme, ihn festzuhalten. „Haesitare!“ Der Daemon wurde wieder zu Boden gerissen, seine schwarze Form verschwamm an den Rändern und füllte die Luft mit schwarzen Schlieren, die wie Rauch in den klaren Winterhimmel waberten. Ich sah flüchtig zu Christopher, der einige Meter hinter mir kniete, Lorenes bewusstlosen Körper in den Armen, und beruhigende Worte in ihr Ohr hauchte. Wirt zu sein, verlangte einem Menschen viel ab. Sie würde frühestens in ein paar Stunden aufwachen und sich wahrscheinlich an nichts mehr erinnern. „Decedere. Occidere. Mori“, presste ich hervor und fokussierte all meine Willenskraft in die Schwächungsschlüssel. Ich musste den Daemon exzidieren. Ich musste! Meine Schläfe pochte. Ich wiederholte die Worte wie ein Mantra, gespickt mit einem Fixierungsschlüssel, wann immer der Daemon Anstalten machte, sich wiederaufzurichten. Schließlich blieb er zitternd liegen, doch seine Augen blieben wachsam auf mich gerichtet. Vorsichtig wagte ich einen Schritt nach vorne. „Haesitare“, sagte ich laut. Der Daemon zuckte, rührte sich aber nicht von der Stelle. „Decedere. Occidere. Mori.“ Der Daemon hob den Kopf und bleckte die Zähne. „Sidere.“ Er zischte. Schwarzer Rauch stieg von seinem ganzen Körper auf. Seine Masse hatte sich im Laufe der Exzision halbiert. Ich machte noch einen Schritt nach vorne. Noch einen. Ich stand direkt über ihm. „Sidere“, sagte ich, meine Stimme nur noch ein Krächzen. „Sidere. Sidere.“ Ich streckte eine zitternde Hand nach dem Daemon aus, bereit, die Exzision zu beenden. „Mo—“ Der Daemon riss den Kopf hoch und sprang in mein Gesicht. Nur jahrelanger Erfahrung hatte ich es zu verdanken, dass mir der Verteidigungsschlüssel wie von selbst über die Lippen ging. „Protectio!“, schrie ich und die scharfkrallige Pranke des Daemons schrammte wirkungslos über mein Gesicht. Ich spürte die Klauen, aber keinen Schmerz. Mein Herz setzte einen Schlag aus und Galle stieg in meiner Kehle auf. Der Daemon kreischte und biss gegen den dünnen Schild, der meinen ganzen Körper für die nächsten paar Sekunden bedeckte. Als er nicht zu mir durchdrang, stieß er sich von mir ab und hechtete stattdessen über meine Schulter auf Christopher zu. „NEIN!“ Ich riss den Kopf herum. Christopher, alarmiert durch meinen Schrei, hielt die Hände schützend vor sich, doch der Daemon sprang bereits auf sein Gesicht zu. „Haesitare!“, schrie ich, meine Stimme kaum mehr als ein heiseres Zischen. Der Daemon krachte zu Boden, gleich neben Lorene und Christopher, kämpfte sich aber sofort wieder hoch. „Sidere! Mori! Sidere!“ Ich hustete. Blut tropfte mein Kinn herab. Das schwarze Monster drehte den Kopf. Es war nur noch ein schwarzer, schwelender Haufen, aber es warf mir ein gehässiges Grinsen zu, bevor es mit letzter Anstrengung den Kopf hob und seine messerscharfen Zähne in Lorenes Wade versenkte. „LORENE!“ Christopher heulte auf und trat blind nach dem Daemon. Er sah nur die kreisförmige Bisswunde am Bein seiner Verlobten, aber mehr brauchte es nicht. Die Wucht des Tritts schleuderte den Daemon von Lorenes Bein weg, doch er schüttelte sich nur und richtete sich schwankend auf. Er sah zu mir. Ich sah zu ihm. „Hae…“, begann ich, aber ein erneuter Hustenanfall erstickte die Worte und ich beugte mich vornüber, die Hand vor meinen Mund gepresst. Blut tröpfelte durch meine Finger. Der Daemon zitterte, schwarzer Rauch verflüchtigte sich von seinen Gliedmaßen und ließ ihn noch kleiner und geschwächter zurück. Er kniff die gelben Augen zusammen, keifte und rannte in entgegengesetzter Richtung davon. Alles, was er zurückließ, waren leuchtend gelbe Fußspuren. Ich keuchte und ging in die Knie. „Coon! Was— was geschieht mit ihr?!“ Ich hob den Kopf. Schweiß glänzte auf Lorenes ganzem Körper. „Saug … es … aus …“, hauchte ich, aber meine Stimme trug die Worte nicht mehr. Chris starrte mich nur entsetzt an, dann begann er, Lorene zu rütteln. Ich krabbelte zu ihm. „Lorene!“ Tränen stiegen in seine Augen. „Oh Gott, Lorene, bitte, du darfst nicht sterben, nur das nicht, bitte …“ Ich streckte die Hand nach ihrer Wade aus. Sie war eiskalt. „Bitte …“, wimmerte er und wog Lorene in seinen Armen hin und her. „Verlass mich nicht —“ Er brach ab und schluckte eine weitere Woge Tränen hinunter. Ich senkte mein Gesicht und begann, Lorenes Wunde auszusaugen. Sie war ins Bein gebissen worden, nicht in den Hals. Wenn wir Glück hatten, wenn ich schnell war … Chris betastete ihr Gesicht, strich ihr das blonde Haar aus der Stirn. Das blonde Haar, das ich beneidet hatte, weil es ihn angezogen hatte. Jetzt war es stumpf. Ich spuckte schwarzen Glibber aus und legte meinen Mund wieder auf die Wunde. Saugte. Christopher flüsterte nur noch, seine Worte zu leise, um sie zu verstehen. Ich spuckte erneut aus. Setzte mich auf. Fühlte ihren Puls. Nichts. Chris sah zu mir. Ich konnte seinen hoffnungsvollen Blick nicht ertragen. Ich sah zur Seite, schluckte die Tränen hinunter. Schüttelte kaum merklich den Kopf. Sein Aufheulen traf mich wie ein Messer ins Herz. „Wie konntest du nur?!“, schrie er und ich zuckte zusammen. „Du hast sie sterben lassen! Du hast dich selbst gerettet, deshalb ist sie gestorben! Du konntest sie noch nie leiden, seit du sie kennst, warst du eifersüchtig! Du hast sie sterben lassen!“ Er schrie und tobte und schlug sich mit den Fäusten gegen die Schläfen. Ließ seinen Kopf auf ihre Brust sinken. Weinte. Ich hielt meine eigenen Tränen nicht mehr zurück. Stattdessen wischte ich mir das Blut und den schwarzen Glibber von meinen Lippen und stand auf. Chris sah zu mir hoch, das Gesicht verquollen und rot. „Was willst du noch?“ fragte er mit zittriger Stimme. Alles in meinem Inneren zog sich zusammen. Ich wusste, dass er nicht meinte, was er sagte. Aber ihn so hasserfüllt zu sehen, zu wissen, dass dieser Hass mir galt, nahm mir das letzte bisschen Kraftreserven. „Sie wird zu einem Dae werden“, flüsterte ich heiser und schluckte das Blut hinunter, das sich schon wieder in meinem Rachen angesammelt hatte. „Sie kommt zurück?“, fragte Chris, ungläubig. „Ich kann noch einmal mit ihr reden?“ Ich nickte. „Kurz.“ Ein Funke Entschlossenheit leuchtete in Christophers Augen auf. Er nickte. Ich rieb meine Arme, versuchte, die Gänsehaut loszuwerden. Es half nichts. Das Gift des Daemons hatte einen kalten, bitteren Nachgeschmack in meinem Mund hinterlassen. Wir warteten. Sie brauchte nicht lange. Lorenes Körper blieb unbewegt, aber ich sah den grauen Rauch, der von ihrer Wunde aufstieg und sich über ihrem Körper in ein schemenhaftes Abbild ihrer menschlichen Form verdichtete. Ihr Gesicht war definiert, aber wie bei einem Daemon gingen die Ränder ihrer Form in schlierigen Rauch über. Verwirrt sah sie sich um. „Du bist tot“, flüsterte ich und der Dae wandte mir den Kopf zu. Lorenes Formen verblassten, bevor sie wieder stabiler wurden. Sie sah hinab auf ihren Körper. Auf Christopher, der mich mit roten Augen ansah. „Ist sie da?“, fragte er und ich nickte. „Warum kann ich sie nicht sehen?“ Ich tippte mir statt einer Antwort an die Augen. Ohne Sichtlinsen oder natürliche Sicht waren sowohl Daemonen als auch Dae für das menschliche Auge unsichtbar. „Wo ist sie?“, fragte er. Lorene sank ein Stück herab, bis sie knapp über ihrer Leiche schwebte. Ihre hellgraue Form wurde immer transparenter. Das war gut. Dae mit überwiegend negativen Emotionen konnten genauso gut zum Daemon werden—und ich war für keine Exzision mehr zu gebrauchen. „Direkt vor dir“, flüsterte ich und deutete auf die Stelle, an der sie schwebte. „Ich liebe dich, Lorene“, flüsterte Chris mit tränenerstickter Stimme und fuhr mit den Händen suchend durch die Luft. Er musste die kühle Luft spüren, denn mehrmals griff er genau durch sie hindurch. „Ich liebe dich so sehr.“ Lorene verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. >Muss ich gehen? „Es gibt für dich nichts, was dich hier hält“, erwiderte ich leise. „Lass los.“ >Kann ich ihm Lebewohl sagen? „Er hört dich nicht.“ >Sagst du es ihm? Ich nickte und zwang mich zu einem Lächeln. Der Kloß in meiner Kehle brannte. Als ich Lorene das erste Mal kennengelernt hatte, stellte Christopher sie mir als seine Freundin vor. Beim zweiten Mal als seine Verlobte. Ich hasste sie. Nicht, weil sie hassenswert war, sondern weil Christopher sie mir vorzog. Weil er sie liebte und nicht mich. Aber es war schwer, jemanden zu hassen, der so gut zu ihm war. Lorene lächelte wieder dieses traurige, schwache Lächeln. Sie legte ihre Hände auf Christophers Wangen und küsste ihn, ihr Körper nun kaum mehr als ein weißer Dunst. Christopher versteifte sich, als er die Kälte auf seinen Lippen spürte. Lorene löste sich. >Ich liebe dich. Leb wohl. „Sie sagt Lebewohl“, flüstere ich. „Und dass sie dich liebt.“ Christopher fuhr suchend mit den Händen durch die Luft. Der Dae schloss die Augen, bevor sich die letzten Reste seiner Existenz verflüchtigten.     Gegenwart …     Der Dae erschien wenige Momente später. Ich saß auf dem Boden, das Gesicht in den Händen vergraben, meine Atmung zittrig. Als ich seine Anwesenheit spürte, hob ich den Kopf. Ida schwebte über ihrem Körper und sah mich mit großen, verwunderten Augen an. >Was ist passiert? „Du bist gestorben“, sagte ich leise und erwiderte ihren Blick. „Du bist zu einem Dae geworden.“ >Ein Dae? „Eine Vorstufe des Daemons“, erklärte ich und fuhr mir erschöpft durch die Haare. „Wenn ein Mensch von einem Daemon gebissen wird, stirbt er, aber ein Teil des Daemonengifts verschmilzt mit ihm und wird zu einem Dae.“ Sie schaute mich verunsichert an. >Werde ich auch zu einem Daemon werden? Ich betrachtete ihre Form, die sich gleißend weiß vom dunklen Asphalt abhob und sich stetig verdichtete, bis ich nicht mehr durch sie hindurchsehen konnte. „Nein“, sagte ich schließlich und zwang mich zu einem Lächeln. „Aber auflösen wirst du dich auch nicht so schnell.“ >Mein Daddy … Sie müssen ihm helfen, Ms. Thynlee! Ich richtete mich ächzend auf und zog mein Telefon aus meiner Tasche. „Nenn mich Coon“, sagte ich, während ich Rocks Nummer wählte. Er nahm nach dem zweiten Klingeln ab. „Coon, Ida ist verschwunden!“ „Ich weiß. Sie ist hier.“ „Wirklich? Gott sei Dank, Mary hat sich schon Sorgen —“ „Ruf Harry an“, unterbrach ich ihn. „Wir haben eine Leiche.“     Marys Hand traf mich mit voller Wucht. Ihr standen Tränen in den Augen, als sie die Hand erneut hob, aber Rock nahm sie behutsam am Unterarm und zog sie in eine Umarmung. „Warum hast du nicht auf sie aufgepasst?“, fragte sie schluchzend, ihr Gesicht gegen Rocks breite Brust gepresst. „Warum habt ihr nicht dafür gesorgt, dass sie nicht abhaut?“, erwiderte ich gereizt und rieb mir die Wange. Ida schwebte direkt neben mir und betrachtete das Geschehen mit offenkundigem Interesse. >Warum weint Mary? Sie schaute mich verwirrt an. Ich seufzte und rieb mir abwesend über meine Wange. „Weil du tot bist.“ >Oh. „Was?“, fragte Mary schniefend und sah sich verwirrt um. „Mit wem sprichst du, Raccoon?“ „Mit Ida“, sagte ich und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. „Sie ist direkt neben mir.“ „Ich dachte, sie würde sich auflösen“, sagte Rock. Bei seinem Anblick zog sich alles in mir zusammen. Wie konnte er es wagen, mit mir zu reden, als wäre nichts vorgefallen? „Nicht, bevor ich ihren Vater gerettet habe“, murmelte ich und griff nach der Kaffeetasse, die auf dem Tisch stand. „Bis dahin ist sie an mich gebunden.“ Ida nickte, ihre weiße Gestalt war milchig, wie gefrostetes Glas und ihre Formen schärfer als damals Lorenes. Es war fast, als stünde ihr Körper neben mir. >Sag Mary, dass sie nicht traurig sein soll. Mir geht es gut. Ich wiederholte ihre Worte zu Mary, die laut aufschluchzte und in die Küche floh. Rock nahm ein paar Sichtlinsen aus seiner Hosentasche und setzte sich diese vorsichtig ein. Er war kein Hunter, aber als Besitzer der Basis war es unmöglich, ihn einmal ohne die Linsen anzutreffen. Als er sie eingesetzt hatte, fiel sein Blick auf Ida, die neben mir auf und ab schwebte. „Sehen Dae immer so … real aus?“ „Nur, wenn sie einen Anker finden.“ Ich seufzte und nahm einen großen Schluck schwarzen Kaffee. „In diesem Fall wäre das ich.“ „Du hast also keine Wahl mehr, was ihren Vater angeht?“ Ich sah zu Ida, die mich mit großen Augen anschaute. „Nein. Nicht, wenn sie mir nicht bis an mein Lebensende folgen soll.“ „Könnte sie noch zu einem Daemon werden?“ Rock kniff die Augen zusammen. Sichtlinsen beanspruchten die Augen stärker als die angeborene Sicht. Einer der Gründe, weshalb Augen die besten Hunter abgaben. „Jederzeit.“ Ich nahm noch einen Schluck Kaffee. Mein pochender Schädel begrüßte das Koffein wie einen alten Freund. „Deshalb wäre es mir lieber, wenn sie sich auflöst. Aber dafür ist der Wunsch zu stark. Sie kommt nicht eher zur Ruhe, bis ich den Daemon ihres Vaters exzidiert habe. Bis dahin wird sie mir folgen.“ Ich schloss die Augen und lehnte mich gegen die Rückenlehne meines Stuhls. „Hoffentlich bleibt ihre positive Einstellung so lange stabil.“ „Harry wird sich um die Leiche kümmern“, sagte Rock und ließ sich mir gegenüber an den Tisch sinken. „Was werden wir ihrem Vater sagen?“ „Vorerst nichts, er ist immer noch besessen“, erwiderte ich. „Um den Rest soll sich Harry kümmern, das ist schließlich sein Job, nicht meiner.“ Ida schwebte zu mir und setzte sich, zu meinem milden Entsetzen, auf meinen Schoß. Ich starrte den Dae an und Rock schmunzelte. >Wird Daddy traurig sein? Ich verzog das Gesicht. „Natürlich wird er das …“, murmelte ich und griff durch sie hindurch nach meiner Tasse. Ida blieb unbekümmert wenige Zentimeter über mir sitzen. „Angesichts der Umstände kannst du vorerst hierbleiben, Coon“, sagte Rock schließlich und stand auf. Ich schnaubte abfällig. „Zu gütig.“ „Wirst du dir den Auftrag noch einmal durch den Kopf gehen lassen?“ Ich sah ihn lange an. „Reicht ein Toter pro Tag nicht?“, fragte ich bitter. Rock sah betroffen zur Seite. „Ich spreche mit Harry“, sagte er und verschwand hinter der Theke, wo er sein Handy aus der Hosentasche holte und gedankenverloren eine Nummer eintippte. „Komm“, murmelte ich Ida zu, stand auf und ging zur Treppe. In meiner Dachwohnung angekommen ließ ich mich mitsamt Schuhen auf das große Bett fallen und rollte mich zusammen. Ich schloss die Augen und presste sie so fest zu, dass es wehtat. Hätte ich sie retten können? Die Frage brannte in mir wie eine glühende Kohle und ich wurde den Gedanken nicht los, dass ich etwas hätte tun können. Etwas anders machen müssen. Irgendetwas. Warum hatte ich die Wunde nicht sofort ausgesaugt? Warum hatte ich so lange für die Exzision gebraucht? Warum hatte ich meine Augen nicht offengehalten und nach Daemonen Ausschau gehalten, nachdem ich die Spuren entdeckt hatte? Warum? Ich rollte mich noch enger zusammen, die Arme um meine Knie geschlungen. Mein Haar fiel in einem dunklen Schleier über mein Gesicht. Vielleicht war es besser so. Ich war jetzt Idas Ankerpunkt. Ich wollte nicht, dass sie mich weinen sah.     >Ms. Thynlee? „Coon. Einfach Coon.” >Coon? „Was ist?“ Ich lag auf meinem Bett, den Blick auf die Decke fixiert. Ida schwebte in mein Sichtfeld und sah besorgt zu mir hinunter. >Was wird aus meinem Daddy? Ich seufzte. „Ich werde mich darum kümmern, versprochen“, sagte ich und setzte mich vorsichtig auf. „Aber vorher muss ich ein paar Probleme beseitigen.“ Ich stand auf, wuschelte meine Haare zu Recht und ging in die Küche, um mir etwas Toast zu machen. Ida tauchte nur wenige Sekunden später neben mir auf und sah mir interessiert dabei zu. >Was für Probleme? „Ich soll jemanden töten.“ Es so schonungslos zu sagen, tat gut und bestärkte mich in meiner Abneigung gegen den Auftrag, aber Idas Tod hatte die Angelegenheit verkompliziert. Wenn ich den Daemon ihres Vaters exzidieren wollte, brauchte ich Unterstützung von einem anderen Hunter, vorzugsweise einem Erfahrenen. Samantha oder Tom wären ideal. Aber wenn ich Rocks Organisation verließ, hatte ich auf diese Leute keinen Zugriff mehr. Und nicht nur das. Ich wäre vorerst mittellos. Eine neue Organisation zu finden war möglich, nicht zuletzt wegen meiner Erfolgsquote, aber es würde dauern, bis ich sowohl das Vertrauen als auch die Ressourcen erhielt. Nicht zu schweigen von den Prozenten, die drastisch sinken würden. Man konnte Rock viel vorhalten, aber er bezahlte seine Leute fair. Wenn ich mich um Idas Vater kümmern wollte, musste ich zunächst den Kriguard-Fall übernehmen. Britta also während der Exzision umkommen lassen. Ida flimmerte ein wenig durch den Raum und setzte sich schließlich auf die Anrichte. Oder schwebte in Sitzposition darüber, je nachdem. Ich folgte ihrem Beispiel und lehnte mich an die Arbeitsplatte, wo ich mein Abendbrot im Stehen aß. >Töten ist böse. Ich sah zu Ida. Sie sah ernst zurück. Ihre Augen waren von einem intensiveren Weiß als der Rest ihres Körpers, aber es gab keine Lichtreflektion. Keine Pupillen. Nur Weiß. „Das weiß ich“, sagte ich und rieb mir die Augen. „Aber wenn ich den Auftrag nicht annehme, werde ich gefeuert. Und dann kann ich deinen Vater nicht beschützen.“ Ida verzog das Gesicht und ihr Körper wurde eine Schattierung dunkler, bis die Farbe an hellgrau grenzte. Mist. Ich durfte sie nicht zu genau einweihen, sonst würde sie wirklich noch in einen Daemon verwandeln. Je negativer die Emotionen, desto dunkler das Erscheinungsbild eines Dae. Wenn er schwarz erreichte, wurde er zu einem Daemon. Und dunkel wurden Dae leider wesentlich schneller als hell. „Mach dir keine Sorgen“, sagte ich und lächelte sie aufmunternd an. „Mir fällt schon was ein.“ Ida nickte, aber ihre Stirn wies Sorgenfalten auf und der Graustich blieb.     „Ich habe mit Harry gesprochen“, sagte Rock und lehnte sich auf die Theke. „Er will den Fall bis Ende der Woche erledigt haben. Deine Zusage will er noch heute.“ „Schau mal, Rock“, sagte ich und faltete meine Hände. „Selbst wenn wir davon absehen, dass der Auftrag absolut unethisch ist und von Attentaten nichts in meinem Vertrag steht, ergibt diese ganze Sache keinen Sinn.“ „Versuchst du es jetzt also auf die geschäftliche Tour, Coon?“, lachte Rock. „Gut, lass hören. Ich bin gespannt.“ „Diese ganze Affäre wird unserem Ruf schaden. Meinem und dem der ganzen Organisation.“ „Weshalb?“ „Weil es sich um die Tochter einer der bekanntesten Personen im Distrikt handelt“, sagte ich. „Selbst wenn Kriguard die Sache vertuscht, wird trotzdem irgendwas an die Presse gelangen und das wird sich schlecht auf uns auswirken. Speziell auf mich. Ich bin die beste, weil meine Quote einwandfrei ist. Kunden werden für meine Dienste in Zukunft nicht mehr so viel bezahlen, wenn sie wissen, dass ich fehlbar bin. Vielleicht gehen sie sogar zu einer anderen Organisation.“ Rock schüttelte den Kopf. „Das bezweifle ich stark, Coon“, sagte er. „Erstens ist unsere Unfallrate so gering, dass wir selbst mit diesem Fall noch weit über dem Durchschnitt liegen, was Professionalität angeht. Und zweitens ist Kriguard Besitzer der einflussreichsten Zeitung im Distrikt. Wenn jemand die Medien nach der Aktion unter Kontrolle bringen kann, dann er.“ „Immer noch riskant“, gab ich zu Bedenken, ließ das Thema jedoch fallen. „Aber warum ich? Warum nicht irgendeiner der anderen Hunter, wir haben schließlich genug unter Vertrag. Und einer der weniger Erfahrenen würde die Exzision wahrscheinlich sogar unabsichtlich verhauen.“ „Und dabei selbst draufgehen, gut erkannt“, stimmte Rock mir zu. Ich verzog das Gesicht. „Komm schon, Coon, du warst erst vor zwei Jahren Mentorin von diesem Jungen, wie hieß er noch gleich?“ „Cory. Cory Ikans.“ „Cory. Seine Ausbildung war abgeschlossen. Er war ein offizieller Hunter, bei uns unter Vertrag. Wie hat er sich bei seinen ersten Aufträgen angestellt?“ Bei der Erinnerung lief mir ein Schauer über den Rücken. Dass er überlebt hatte, war auch schon alles. „Ganz solide“, log ich. Rock hob eine Augenbraue und ich seufzte. „Mittelmäßig. Okay, er war katastrophal“, gab ich schließlich zu. „Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen, als er mit Kat5 anfing und zwei Minuten später bewusstlos wurde.“ Rock überspielte sein Lachen mit einem Husten, dann sah er mich wieder ernst an. „Siehst du, worauf ich hinauswill?“ „Nicht wirklich“, erwiderte ich. „Er hat sowohl sich als auch den Daemon überschätzt und wäre ohne mich draufgegangen. Aber ich spreche nicht von Huntern frisch aus der Ausbildung, Rock. Wir haben genug Leute, die schon ein oder zwei Jahre im Beruf sind.“ „Und du würdest jedem von ihnen zutrauen, einen Daemon zu schwächen, laufen zu lassen, von dir selbst auf den Wirt zu lenken und ihn dann erfolgreich zu exzidieren?“ Ich schwieg. „Ich weiß, dass du den Job nicht machen willst, Coon und ich kann es dir nicht verübeln. Aber die letzten Berichte von Harry über unsere Einnahmen waren nicht beruhigend. Wir brauchen das Geld, wenn wir die Ausbildung von neuen Huntern finanzieren und unsere Basis behalten wollen. Ich bezahle euch alle überdurchschnittlich gut, vor allem dich, aber dafür müsst ihr manchmal auch tief in die Scheiße greifen.“ „Ich kann das nicht, Rock“, sagte ich leise und starrte auf die Holzmaserung der Bar. „Ich kann nicht so tun, als wäre das Leben dieses Mädchens nichts wert.“ „Coon.“ Rock nahm meine Hand und ich wollte sie instinktiv wegziehen, aber wenn Rock so war wie jetzt, mein Freund, nicht mein Boss, dann brachte ich es nicht übers Herz. „Ich mache dir ein Angebot“, sagte er und ich horchte auf. „Ich rufe Kriguard an. Jetzt auf der Stelle und sage ihm, dass du den Job nicht machen wirst. Ich werde alles daransetzen, ihm einen unserer anderen Hunter anzubieten. Irgendjemand wird den Auftrag übernehmen, das weißt du. Nicht alle haben die Wahl, so wie du. Ich werde den Mord also auf jemanden anderen abwälzen. Auf Samantha, zum Beispiel.“ Er sah mich ernst an. „Kannst du damit leben?“ Ich dachte an Sam. An ihr offenes Lachen und ihre Goldlocken. An die Freude, die sie an ihrer Arbeit hatte. Bisher war keiner ihrer Aufträge schief gegangen. Sie hatte niemanden auf dem Gewissen. Ich schon. Ich sah zu Ida, die neben mir in der Luft schwebte und die ganze Unterhaltung aufmerksam verfolgte. Sie war grauer geworden und ihr unschuldiges Lächeln war von ihrem Gesicht gewichen. Was würde passieren, wenn ich den Auftrag annahm? Würde es genügen, um sie in einen Daemon zu verwandeln? „Sieh es ein, Coon“, sagte Rock und drückte meine Hand. „Wir würden diese Unterhaltung nicht führen, wenn du den Auftrag wirklich nicht übernehmen wolltest. Heute Morgen bist du ohne ein Wort gegangen. Und jetzt bist du wieder hier.“ „Ich habe keine Wahl“, murmelte ich und starrte auf unsere Hände. Auf den Kontrast zwischen dunkelbraun und weiß. „Wegen Ida?“ „Der Daemon ihres Vaters ist zu stark für mich allein. Ohne Hilfe wird es enden wie letztes Mal. Und wenn ich kündige, bin ich von den anderen Huntern abgeschnitten.“ Rock nickte. „Stimmt.“ „Ich kann das nicht, Rock …“, flüsterte ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. „Erst Lorene, dann Ida … Und die beiden waren Unfälle!“ „Ich weiß, Coon.“ Rock stand auf, umrundete die Bar und nahm mich, zu meiner großen Überraschung, in seine breiten Arme. „Aber irgendjemand wird den Job machen. Willst du lieber, dass Samantha dasselbe durchmachen muss wie du? Oder erträgst du einen Toten mehr auf deinem Gewissen?“ Ich atmete tief durch und schloss die Augen.     >Warum hast du Ja gesagt? Ich saß auf dem Dachgiebel, ein Bein auf dem Dach, das andere an die Wand gelehnt und starrte in den nachtschwarzen Himmel. Sterne sah man im Distrikt nur selten. „Stell dir vor, du musst ein Loch buddeln“, sagte ich. „In Erde, die an allem haften bleibt, was sie berührt. Nimmst du deine saubere Schaufel oder die, mit der du schon mal ein ähnliches Loch gebuddelt hast?“ Ich sah zu Ida, die dicht unter der Decke schwebte und mich missmutig ansah. Sie dachte einen Moment lang nach. >Die Dreckige. Ich lächelte freudlos und sah wieder aus dem Fenster.     Bevor ich mich am nächsten Morgen auf den Weg zu Kriguards Anwesen machte, trank ich drei Tassen schwarzen Kaffee. Rock sah mir besorgt dabei zu. Er wusste, je mehr Kaffee ich trank, umso schlechter stand es um meine Laune. Als ich nach einer vierten Tasse verlangte, stellte er mir wortlos ein Glas Wasser auf den Tresen. Ich sah gereizt zu ihm hoch. Er zuckte nicht mal mit der Wimper. Seufzend nahm ich einen Schluck und stand auf. Ich war fast durch die Tür, da rief Rock mir etwas hinterher. Ich blieb einen Moment lang stehen, dann ließ ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen und zog meinen nachtblauen Mantelkragen fester zu. Für seine Entschuldigungen war es jetzt zu spät. Ida schwirrte mit undurchschaubarer Miene neben mir her, ihr Lockenkopf starr trotz des Windes, der uns kalt entgegenblies. Statt der Abkürzung nahm ich dieses Mal die herkömmliche Route. Ich hatte für’s erste genug von dunklen Gassen. Der Wind nahm an Gewalt und Kälte zu und ich musste mich dagegenstemmen, um voranzukommen. Ida blieb unbeeindruckt. Ohne Masse gab es für sie schließlich keinerlei Widerstand. Kurz ertappte ich mich dabei, neidisch zu sein, doch ich biss mir nur wütend auf die Lippe und stapfte resolut weiter. Ich durfte nicht vergessen, dass Ida tot war. Auch wenn sie mit mir sprach und neben mir durch die Luft flog. Sie war tot. Sie würde niemals erwachsen werden. Ihr Leben war zu Ende. Für immer.     Wir erreichten Kriguards Villa etwa eine halbe Stunde später. Das Anwesen lag hinter einer weißen Mauer und sorgsam getrimmten Büschen verborgen und ein schmiedeeisernes Tor blockierte die Einfahrt. Auf der linken Seite war eine Sprechanlage angebracht. Ich nahm den dort befindlichen Hörer ab. „Raccoon Thynlee“, kündigte ich mich an. „Daemonenhunter. Ich wurde von Mr. Kriguard für eine Exzision gebucht.“ „ID?“, erwiderte eine kratzige Stimme. Ich hielt meine Lizenz vor die kleine Kameralinse und wartete. „Willkommen auf dem Kriguard-Anwesen“, sagte die Stimme und das Tor öffnete sich quietschend. „Bitte finden Sie sich in der Eingangshalle ein.“ Ida schwirrte durch die Gitterstäbe des Tores und drehte sich mehrere Male staunend in der Luft, bevor sie wieder zu mir zurückflog. >Es ist riesig! „Stimmt.“ Ich steckte meine ID wieder ein und marschierte los. Der Schnee knirschte unter meinen Boots. Normalerweise mochte ich das Geräusch. Heute klang es wie die Hintergrundkulisse meiner Hinrichtung. Trotzdem folgte ich Idas grau schillernder Gestalt die Auffahrt entlang zur Villa. Als sie den Eingang erreichte, blieb sie plötzlich in der Luft stehen. Blitzschnell schwirrte sie zu mir zurück und blieb dicht hinter mir. >Mir gefällt dieser Ort nicht. „Denkst du, mir?“, fragte ich und drückte eine der breiten Flügeltüren auf. Die Eingangshalle sah genauso aus, wie ich erwartet hatte. Marmorboden, weiße Wände, Kristallkronleuchter, königsblauer Teppich und Familiengemälde an den Wänden. Es gab keine Sitzgelegenheiten, also blieb ich auf halbem Wege stehen und wartete, während Ida durch die Halle flog und sich immer wieder verstört umsah. Schließlich schoss sie zu mir zurück und blieb dicht neben meinem Gesicht in der Luft schweben. >Da kommt jemand. Ich folgte ihrem Blick und entdeckte einen gut gekleideten Mann, der die Treppe am Ende der Halle herabstieg. Sein dunkles Haar war kurz geschnitten und gesprenkelt mit Weiß, sein Bart fein getrimmt. Als er uns erreichte, schüttelte ich seine Hand, wenn auch widerwillig. Ich konnte Männer wie ihn nicht leiden, auch ohne, dass sie mich für den Mord ihrer rebellischen Tochter anheuerten. „Ms. Thynlee, welch eine Ehre, Sie hier zu haben“, sagte er mit tiefer Stimme und ließ meine Hand los. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“ „Das nehme ich an“, erwiderte ich kühl und Kriguard warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er lächelte und sich dann umdrehte. „Folgen Sie mir.“ Kriguard blieb vor einer schmalen Tür hinter der Treppe stehen, die anscheinend in den Keller führte. Er sah mich aus wachen Augen an. „Sie sind über den Inhalt des Auftrags unterrichtet?“, fragte er. Ich nickte. „Darf ich Sie trotzdem bitten, Ihr Vorhaben noch einmal zu überdenken?“, fragte ich. Das war mein letzter Versuch. „Sicher gibt es bessere Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen.“ „Überlassen sie diese Entscheidung bitte mir, Ms. Thynlee“, erwiderte Kriguard, einen Hauch schärfer als zuvor. „Sie sind nicht hier, um mir Ratschläge zu erteilen.“ „Es war nur ein Gedanke.“ „Und das sollte er bleiben“, stimmte Kriguard mir zu. „Seien Sie versichert, dass dies der effizienteste Weg für mich und meinen Geschäftspartner ist. Und ich akzeptiere in diesem Belangen keinen Fehlschlag.“ Ida schwirrte um Kriguard herum und blieb wenige Zentimeter vor seinem Gesicht hängen. Dann streckte sie ihm die Zunge heraus und schoss sofort wieder hinter mich. Kriguard trat zur Seite und öffnete die Tür für mich. Ich würdigte ihn keines weiteren Blickes und stieg die spärlich beleuchteten Treppen hinunter. Hinter mir fiel die Tür ins Schloss, gefolgt von einem deutlichen Klicken. Ida war schneller als ich. Sie schoss zurück und blieb vor dem Türspalt schweben. >Verschlossen. Ich stöhnte und rieb mir die Augen. „Fucker …“, murmelte ich und stieg die Stufen hinunter. Ida tauchte wenige Momente später vor mir auf und sah mich fragend an, während sie rückwärts hinunterschwebte. >Was bedeutet das? „Vergiss es“, sagte ich und ging durch sie hindurch. „Das ist kein Wort für kleine Mädchen.“ >Ich bin tot. Was soll sonst noch passieren? Trotz der makabren Situation musste ich lachen. Dae-Ida gefiel mir von Minute zu Minute besser. Die Treppe mündete in einen eckigen Gang, dessen steinerne Wände Kälte ausstrahlten. Hätte Kriguard hier unten keine Heizung einbauen können? Wir folgten dem Gang, bis wir eine edel wirkende Holztür erreichten. Ich blieb davor stehen und legte ein Ohr an das Holz. Keine Chance, die Tür war zu dick. „Ida?“, sagte ich und Ida nickte, bevor sie durch die Tür hindurchschwirrte. Wenige Sekunden später tauchte sie wieder auf, eine Spur grauer als noch zuvor. >Eine Frau und ein Mann sind angekettet. „Der Daemon?“ >Noch nicht frei. „Gut.“ Ich legte die Hand auf die Türklinke, doch Ida schwebte vor mich und sah mich flehend an. >Tu es nicht, Coon. Bitte. Ich drückte die Klinke hinunter und trat in den dahinterliegenden Raum. Er war kleiner als erwartet, aber groß genug. In den beiden hinteren Ecken waren Stühle aufgestellt, auf jedem eine Person angekettet, so wie Ida berichtet hatte. Ich sah nach oben. Ein Blitzen an der Decke verriet mir die Position der Kamera, die ich bereits erwartet hatte. „Ida, beschütz den Mann“, flüsterte ich, um Idas Präsenz nicht zu verraten. „Wenn ich den Daemon loslasse, könnte er ihn angreifen.“ Sie schwirrte davon, blieb aber auf halber Strecke in der Luft stehen und schoss zu mir zurück. >Was tut er hier? „Gute Frage. Aber er scheint bewusstlos zu sein. Geh.“ Ida flog davon und bezog vor dem Mann Stellung, dessen Kopf auf seine Brust gesackt war. Hände und Füße waren an den Stuhl gekettet. Dasselbe galt für die Frau, Britta. Sie allerdings schien wach zu sein, wenn auch in einem benebelten Zustand. Sie starrte mich ausdruckslos an. Gelbe Fußspuren bedeckten den Boden, an manchen Stellen dichter als an anderen. Es schien einen Kampf gegeben zu haben. Ich kniff die Augen zusammen. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich das gelbe Schimmern um Brittas Körper erkennen, das einen Daemon verriet. Ich machte einige Schritte nach vorne, atmete tief durch und hob meine Hände, Finger schräg überkreuzt, Daumen überlappend, sodass dazwischen ein dreieckiges Loch klaffte. „WARTE!“ Ich drehte den Kopf. Ida schwirrte unsicher um den Kopf des Mannes, der erwacht war und mich entsetzt ansah. „Du bist die Hunterin, oder?“, fragte er und ich nickte. „Bitte! Ich tue alles, was du willst, aber lass Britta am Leben! Bitte!“ Für einen Moment hatte ich Christophers Stimme im Kopf, doch ich verbannte den Gedanken sofort. Das war der schlechteste Zeitpunkt, um an ihn zu denken. „Und du bist?“, fragte ich und ließ die Hände sinken. Der Mann atmete erleichtert aus. „Reagan. Ihr Bruder.“ Ich sah zu der Kamera hinauf. Kriguard beobachtete mich. Ich durfte mich nicht zu lange ablenken lassen. „Klär das mit eurem Vater“, sagte ich. „Ich bin nur für eine Exzision hier, nicht mehr und nicht weniger.“ „Du lügst.“ Reagans Stimme wurde eisig. „Du sollst sie sterben lassen. Ich weiß Bescheid.“ Gottverdammte Scheiße. „Und warum bist du hier?“, fragte ich zurück. „Warum bist du angekettet?“ Ich kniff die Augen erneut zusammen, aber Reagan war sauber. Keine Spur von Gelb an ihm zu entdecken. Reagan sah mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an, dann ließ er den Kopf hängen. Er lachte humorlos. „Als Strafe.“ „Strafe wofür?“ Er antwortete nicht. Ida legte den Kopf schief und flog um ihn herum. Britta knurrte leise und ich hob meine Hände. „Nein, warte!“ Reagans Stimme wurde wieder panisch. „Ich sag dir alles, was du wissen willst, nur bitte, töte sie nicht.“ Ich nickte ihm zu, als Geste, weiterzureden. Reagan schluckte. „Britta war …“ Er verstummte wieder. „Sie hat eine Entscheidung getroffen, die eurem Vater nicht gefiel“, sagte ich. Reagan verzog das Gesicht. „Ja, so könnte man das wohl nennen. Wir haben beide eine schlechte Entscheidung getroffen. Britta soll dafür sterben und ich darf ihr dabei zusehen. Ein Erbe reicht meinem Vater schließlich.“ Seine Stimme klang verbittert. „Also was jetzt?“, fragte ich, ein wenig genervt. „Was habt ihr verbockt?“ Reagan hob den Kopf und sah zu Britta hinüber, die sich in ihren Fesseln wand. „Ich habe sie geliebt.“ „Sie ist deine Schwester. Ist das nicht normal?“ Reagan lachte leise. „Nein. Ich habe sie geliebt. Wir waren … ein Paar.“ Kapitel 3 --------- „Na, das erklärt einiges“, murmelte ich und sah zurück zu der Kamera. Kein Wunder, dass Kriguard das nicht an die Öffentlichkeit gelangen lassen wollte. „Bitte verschon sie“, flehte Reagan mich an und Christophers tränenüberströmtes Gesicht blitzte wieder in meinen Gedanken auf. Konnte ich noch einmal jemanden so viel Schmerz zufügen? „Ich liebe sie. Bitte.“ Seine Stimme brach. Ich sah von ihm zu Ida, die wie ein grauer Geist neben ihm schwebte und mich mit blanken Augen ansah. Ich wandte mich ab und hob die Hände. Es gab keine richtigen Entscheidungen mehr. Ich steckte zu tief in der Scheiße, als dass ich diesen Auftrag, ohne irgendjemanden zu verletzen, hinter mich bringen konnte. „Relictus“, sagte ich mit fester Stimme und ignorierte Reagans Aufheulen, als Britta ihre Augen aufriss und schrie. Ich wiederholte den Austreibungsschlüssel mehrere Male, bis Britta den Kopf nach hinten riss und schwarzer Qualm in einer dichten Säule aus ihrem Mund strömte, der sich sogleich auf dem Kellerboden zu einem Daemon in Säuglingsgröße verdichtete. „Dann mal los …“, murmelte ich, als der Daemon sich schüttelte, seine schwarzen Zähne bleckte und mit staksigen Beinen auf mich zu schlitterte. „Deficere. Decedere. Occidere“, begann ich und wartete die Reaktion des Daemons ab, um seine benötigte Schlüsselkategorie einzuschätzen. Schwarzer Rauch stieg zischend von seinem Rücken und seinen Gliedmaßen auf und er wurde langsamer, bis er schließlich stehen blieb und einige Schritte zurücktänzelte. „Manere.“ Mein Fixierungsschlüssel ließ ihn in der Bewegung verharren, seine gelben Augen huschten durch den Raum. Er suchte einen Ausweg. Mein Mundwinkel zuckte und ich wiederholte den Befehl, bevor ich wieder auf die Schwächungsschlüssel zurückgriff. Innerhalb von einer Minute hatte ich seine Masse halbiert. Der Daemon lag geschwächt und mager am Boden, seine gelben Glubschaugen hasserfüllt auf mich gerichtet. Ich warf einen kurzen Blick zu Ida, verglich ihren Farbton mit dem vollkommenen Schwarz des Daemons. Von seiner Farbe war sie noch weit entfernt, dann wiederum war sie erst gestern Mittag noch schneeweiß gewesen. Die Rate, mit der ihre Dunkelheit zunahm, war beängstigend. Ich musste mich beeilen. „Bitte, bitte, bitte lass sie in Ruhe …“ Reagans Stimme erreichte mich wieder, aber ich wandte mich stattdessen dem Daemon zu. Er war geschwächt genug. Ich konnte ihn auf der Stelle exzidieren oder ihn irgendwie auf Britta hetzen. Da tauchte Ida neben mir auf, ihre graue Gestalt nur wenige Zentimeter neben meinem Gesicht. „Geh zurück zu Reagan“, sagte ich, die Augen auf den Daemon gerichtet und bereit, jeden Moment meinen Verteidigungsschlüssel zu sprechen. >Bitte töte sie nicht. „Ich habe keine Wahl, Ida“, stöhnte ich und warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie sah mich ernst an. „Wie oft müssen wir das noch durchkauen?“ >Ich kann dir helfen, Daddy zu beschützen. Dann brauchst du die Hilfe von Rock nicht. „Und wie willst du mir helfen?“, fragte ich. „Consistere“, fügte ich hinzu, als der Daemon Anstalten machte, aufzustehen. >Ich kann den Daemon ablenken. „Wirklich?“ Ich sah sie skeptisch an. „Und wie willst du das anstellen? Du hast keine Masse, Ida, nicht als Dae.“ >Noch nicht. Aber ich werde dichter, je dunkler ich werde. „Und je dunkler du wirst, desto schneller wirst du zu einem Daemon“, erwiderte ich gereizt. „Das ist das letzte, was ich gebrauchen kann.“ >Ich werde nicht zu einem Daemon. Versprochen. „Du hast keinen Einfluss darauf, ob du ein Daemon wirst oder nicht“, sagte ich und sah zu ihr. Sie war wieder dunkler geworden. Gottverdammte Scheiße. >Vertrau mir. „Mit wem redest du da?“, fragte Reagan und ich warf ihm einen wütenden Blick zu. „Bitte einen Moment die Klappe halten.“ Reagan verstummte. „Ich will dir vertrauen Ida, aber ich bin in Daemonologie ausgebildet. Vertrau mir, wenn ich dir sage, dass du keinen Einfluss darauf hast, ob du zum Daemon wirst oder nicht.“ >Und mit wie vielen Dae hast du bisher zusammengearbeitet? Ich schwieg. >Hat irgendjemand schon Mal mit einem Dae zusammengearbeitet? „Nicht, dass ich wüsste“, gab ich zu. >Dann sei die Erste. Sie sah mich ernst an und für einen Moment glaubte ich ihr. Es waren ihre Emotionen, ihre Gefühle. Vielleicht war sie wirklich in der Lage, die Verwandlung in einen Daemon zu verhindern. >Coon! Ich riss den Kopf herum und entdeckte den Daemon, der meine Ablenkung genutzt und sich aus dem Staub gemacht hatte. Oder es zumindest versuchte, denn außer wegkriechen blieb ihm nicht viel übrig. Inzwischen war er nur noch einen Meter von der bewusstlosen Britta entfernt. „Manere!“, rief ich und der Daemon blieb wie angewurzelt am Boden kleben, eine Klaue erhoben. „Bist du sicher?“ fragte ich und Ida nickte. >Ich kann es schaffen. „Wenn ich den Daemon jetzt exzidiere, werden wir aus der Organisation geworfen. Ich weiß nicht, ob ich deinem Vater dann noch helfen kann.“ >Ich werde dich unterstützen. Und wenn du ihm nicht helfen kannst, ist es meine Schuld, nicht deine. „Also gut. Auf deine Verantwortung.“ Ich ging langsam auf den Daemon zu, der sich panisch umdrehte und winselte, als ich eine Hand nach ihm ausstreckte. Die Tür knarzte. >Ein Mann. Er ist bewaffnet. Ich nickte Ida dankbar zu. Der Daemon war Britta und mir zu nahe, als dass ich mich ablenken lassen durfte. Ein Moment der Unachtsamkeit und er würde einen von uns beiden angreifen. „Ms. Thynlee, ich muss Sie bitten, sich von dem Daemon zu entfernen, bis er Ms. Kriguard gebissen hat. Die Exzision ist Ihnen bis dahin untersagt.“ „Und wenn ich mich weigere?“, fragte ich, ohne mich umzudrehen. Statt einer Antwort hörte ich ein Klicken, als der Mann seine Waffe entsicherte. Ida schwirrte um meinen Kopf, dunkler als noch vor einer Minute. „Werden sie mich erschießen?“, fragte ich trocken und starrte den kleinen Daemon an, der weiterhin in Angriffshaltung erstarrt blieb. Er war so schwach. Ein Fixierungsschlüssel hielt ihn für über eine Minute fest. Lorenes Daemon war eine ganz andere Kategorie gewesen. „Ich muss Sie nicht töten, um Sie handlungsunfähig zu machen“, erwiderte der Mann. Seine Schritte echoten von den steinernen Wänden. „Mario, bitte!“ Reagan riss an seinen Fesseln. „Unterstütz das nicht, ich flehe dich an!“ „Was Sie wünschen, ist nicht von Bedeutung, Mr. Kriguard. Ich unterstehe nur dem Hausherrn.“ Ein Bediensteter also. Vielleicht ein Bodyguard. Ich musste davon ausgehen, dass er mit Waffen umgehen konnte, aber ich konnte den Moment nicht mehr länger herauszögern. Ich legte eine Hand auf die verschwommene Stirn des Daemons. „Suppli—“ Der zischende Knall zerschnitt die Luft, als sich die erste Kugel in den Steinboden bohrte, nur wenige Zentimeter von meinen Füßen entfernt. Meine letzte Warnung. Mit pochendem Herzen streckte ich erneut die Hand nach dem Daemon aus, doch der sah seine Chance gekommen und schnappte nach meiner Hand. Im Bruchteil einer Sekunde war Ida zur Stelle. Rauchgrau und mit verzerrtem Gesicht fauchte sie den Daemon an, der zurücksprang und sich stattdessen auf Britta stürzte. Ida sprang ihm hinterher, ihre Formen nur noch annähernd menschlich. „Haesitare!“, schrie ich und der Daemon klatschte zu Boden. Ich warf einen Blick zu Ida, die sich schützend vor Britta in der Luft aufgebaut hatte. Ihr Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. „Dae“, sagte Mario und Ida hob fauchend den Kopf. „Entferne dich von Ms. Kriguard, oder ich erschieße die Hunterin.“ Ida zischte, rührte sich aber nicht vom Fleck. „Du kannst den Daemon nicht ewig zurückhalten“, fuhr er fort. „Und ohne die Hunterin wird er Britta früher oder später beißen.“ Idas Gesichtszüge verhärteten sich, doch sie nahm eine etwas menschlichere Haltung ein. Sie warf Mario einen letzten, feindseligen Blick zu, bevor sie zu mir zurückschwebte. „Und Sie, Ms. Thynlee, rühren bitte keinen Finger.“ „Ida“, flüsterte ich und ihr dunkles Gesicht wandte sich in meine Richtung. „Verschaff mir eine Sekunde Zeit.“ Sie bleckte die Zähne, schoss an mir vorbei und direkt auf Mario zu. Der nächste Schuss fiel und verfehlte mich um Haaresbreite, aber ich warf mich nach vorne, packte das Gesicht des Daemons und ignorierte den zweiten Schuss, der hinter mir in den Boden knallte. „Supplicium“, schrie ich. Der Daemon kreischte, fiel mit einem lauten Knall in sich zusammen und verdunstete als schwarzer Rauch. Schwer atmend sah ich mich um. Ida umschwirrte weiterhin Mario, der die Pistole in meine Richtung hielt, aber nicht zielen konnte. Linsen zu tragen ermöglichte ihm zwar, den Daemon zu erkennen, aber es machte auch Dae für ihn sichtbar. Und das nutzte Ida gekonnt aus. „Vielen Dank …“ Reagans Worte waren voller Emotionen und ich lächelte. Auch wenn es mich meinen Job kosten konnte, ich wusste, dass ich das Richtige getan hatte. „Das ist also Ihre Entscheidung“, sagte Mario leise. Ich stand auf und drehte mich vorsichtig um. Ida war innerhalb von Sekunden an meiner Seite. „Sie werden mit entsprechenden Konsequenzen rechnen müssen.“ „Richten Sie Mr. Kriguard aus, dass er eine Hunterin engagiert hat, keine Auftragskillerin. Mit diesen Konsequenzen muss er rechnen.“ Mario presste seine Lippen zusammen, dann trat er zur Seite. „Ich muss sie bitten, das Kriguard-Anwesen zu verlassen, Ms. Thynlee.“ Ich zögerte einen kurzen Moment, aber Mario wirkte zerknirscht. Aus irgendeinem Grund hatte man mich engagiert und Britta nicht einfach erschossen. Vielleicht war sie jetzt sicher. „Mit dem größten Vergnügen“, erwiderte ich kühl und stapfte an ihm vorbei. Halb erwartete ich, dass die Tür verschlossen sein würde, doch die Klinke ließ sich problemlos herunterdrücken und schließlich folgten wir wieder dem langen Gang Richtung Treppe. Ida schwebte neben mir her, ihre Farbe wieder etwas heller, aber trotzdem noch bedrohlich dunkel. Immerhin schien sie sich unter Kontrolle zu haben. „Du bist keine schlechte Partnerin“, gab ich zu. Ida sah mich überrascht an. >Findest du? Ich lächelte nur als Antwort. Ich hatte kaum den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, da hörte ich Reagans markerschütternden Schrei und einen Schuss. Erstarrt blieb ich stehen. Biss die Zähne zusammen. Schloss die Augen. >War das … „Mario.“ >Ist sie … tot? „Höchstwahrscheinlich.“ Ich fluchte. Es war naiv gewesen, zu glauben, ich könnte ihr Leben retten. Der Gedanke an Reagans Schrei zerrte an etwas in mir, doch ich ignorierte das Gefühl. Lorene. Ida. Britta. Es war vielleicht nicht die richtige Reaktion, aber ich war erleichtert, dass dieses Mal nicht ich die Verantwortung trug. Ida wurde ein wenig dunkler und ich sah mich besorgt an. „Reiß dich zusammen“, sagte ich. „Lass deine Emotionen nicht die Überhand gewinnen.“ >Ich weiß, es ist nur … Warum musste sie sterben? „Weil ihr Vater ein Schwein ist, deshalb.“ Wir erreichten das Ende der Treppe und ich war erleichtert, die Tür ebenfalls unverschlossen vorzufinden. Kriguard schien es plötzlich egal zu sein, dass ich den Auftrag nicht erfüllt hatte. Eigentlich konnte es mir egal sein, aber ein ungutes Gefühl beschlich mich trotzdem. >Es ist noch nicht vorbei. Ida sah ernst aus, als sie wie ein düsterer Schatten neben mir durch die Halle schwebte. „Vielleicht hast du Recht.“ Als wir die Villa verließen, war der Himmel mit dunklen Wolken bedeckt. Schneeflocken wehten mir ins Gesicht. „Komm.“ Ich zog meinen Mantelkragen nach oben. „Ich muss mit Rock reden.“     Als wir die Basis betraten, war Rock mit einem Gast beschäftigt. „Chris?“, fragte ich, geschockt. Wir hatten uns seit Wochen nicht mehr getroffen. Er hob den Kopf und als er mich sah, breitete er die Arme aus. „Coon, komm her!“ „Hast du getrunken?“, fragte ich misstrauisch, als ich seine Umarmung erwiderte und mich neben ihm auf einem Barhocker niederließ. Christophers braunes Haar fiel ihm in Wellen über die Ohren und eine eckige Brille saß auf seiner prominenten Nase. Ein warmes Lächeln bildete kleine Grübchen in seinen Wangen. „Und nicht zu wenig“, fügte Rock gutmütig hinzu und stellte mir mein Standardgetränk auf den Tresen. Wodka pur. Ich kippte die klare Flüssigkeit meine Kehle hinunter. Ein Schütteln überkam mich, als ich das Glas auf den Tresen sinken ließ. „Wie lief dein Auftrag, Coon?“, fragte Rock schließlich. „Alles okay?“ „Sie ist tot“, sagte ich vage. Das war nicht mal gelogen. Ida schwirrte vorsichtig zu Christopher, der sie nicht sehen konnte. >Wer ist das? Ich antwortete nicht. Christopher wirkte so gut gelaunt wie schon lange nicht mehr. Ich wollte die Stimmung nicht kippen. Seit Lorenes Tod war er nie mehr richtig zu seinem alten Ich zurückgekehrt. Ihn jetzt etwas entspannter und sorgloser zu sehen, machte mir schmerzlich bewusst, wie sehr ich sein ansteckendes Lachen vermisst hatte. „Wollt ihr das mitnehmen?“, fragte Rock und wedelte mit der halbvollen Wodkaflasche in meine Richtung. Ich nahm sie dankend entgegen und stand auf. „Wir gehen hoch, Chris.“ Er folgte mir grinsend in meine Wohnung. Wir waren kaum durch die Eingangstür, da ließ er sich auf mein Bett fallen und schloss die Augen. „Willst du noch was von dem Wodka?“, fragte ich und verschwand in der Küche, um zwei Gläser zu holen. Als ich zurückkam, hatte Chris sich keinen Zentimeter bewegt, aber seine Augen waren auf die Decke fixiert. Idas dunkle Form schwebte unter der Dachschräge. Ich reichte ihm sein Glas und setzte mich zu ihm auf die Bettkante. „Warum bist du hier?“, fragte ich. „Du hättest vorher Bescheid sagen können. Es war viel los die letzten Tage.“ „Rock hat mich angerufen“, erwiderte Chris. Er nahm einen großen Schluck Wodka und stellte das leere Glas auf meinen Nachttisch. „Er sagte, du bräuchtest heute vielleicht etwas Gesellschaft.“ „Ist das so?“, fragte ich, etwas geknickt, dass Chris nicht aus eigenem Antrieb aufgeschlagen war. Aber ich freute mich trotzdem, ihn zu sehen. Ich trank mein eigenes Glas aus und stellte es neben das seine. „Vielleicht wäre ich lieber alleine gewesen“, sagte ich neckend. „Du bist zu oft alleine, Coon.“ Chris lallte ein wenig, aber sein Tonfall war ernst. „Du kannst dich nicht immer in deiner Wohnung vergraben, wenn es dir schlecht geht. Es gibt nicht umsonst so etwas wie Freunde.“ Ich verzog das Gesicht. „Es ist kompliziert“, sagte ich. „Es ist viel passiert, seit ich von dem Lewis-Fall zurück bin. Ich bin noch nicht ganz zu Atem gekommen.“ „Willst du darüber reden?“ Ich schüttelte den Kopf. „Später. Ich hab meinen Pegel noch nicht erreicht.“ Chris lachte und reichte mir die beiden Gläser. „Dann füll lieber nach.“     „Dann haben wir den Schuss gehört“, sagte ich und konzentrierte mich darauf, die richtigen Worte zu finden. Alles drehte sich. „Jetzt ist sie tot und ich frage mich, ob ich ein schlechter Mensch bin, ich meine, ich hätte sie retten können, oder? Aber ich bin nur froh, dass ich es dieses Mal nicht schuld war und das macht mir irgendwie zu schaffen, aber …“ Ich brach ab. Meine Zunge bewegte sich wie von alleine. Was hatte ich gerade gesagt? „Ich versteh dich, Coon, du hast einfach viel durch gemacht die letzten Tage, erst dieses Mädchen, dann das …“ Er runzelte die Stirn. Ich sah zum Fenster. Chris und ich hatten den gesamten Nachmittag damit verbracht, Wodka zu trinken und waren schließlich doch zum Redeteil gekommen. Jetzt wurde es bereits dunkel und Ida schwebte ungeduldig durch meine Wohnung. Chris griff nach meiner Hand und zog mich zu ihm aufs Bett. Unsere Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt, meine Hände neben seinen Kopf gestützt, mein Körper halb über ihn drapiert. Ich sah ihn an. Er reckte seinen Hals und berührte meine Lippen, erst vorsichtig, dann, als ich meinen Kopf nicht zurückzog, drängender. Seine Hand wanderte meine Taille entlang zu meiner Hüfte und presste mich enger gegen ihn, während er mit seiner anderen über meine Wange zu meinem Hals strich. Meine Gedanken wurden blank. Als unsere Münder sich trennten, atmete ich zittrig aus und drückte ich mich hoch, um ihm in die Augen zu schauen. „Was wird das?“, fragte ich heiser. „Ich will dich.“ Chris drückte meinen Po enger gegen seine Hüfte und schob seine Hand dann unter mein Shirt und meinen Rücken hinauf, bis sie meinen BH erreichte. „Du bist betrunken“, sagte ich, aber ich wehrte mich nicht, als seine Finger die zwei Verschlüsse öffneten und zurück zu meinem Po wanderten. „Ich weiß.“ Er zog mich wieder zu sich hinunter und küsste mich, heftiger, leidenschaftlicher. Seine Zunge stieß gegen meine Lippen und ich öffnete meinen Mund einen Spalt. Das war keine gute Idee. Ich wusste es. Ich spürte es in jeder Faser meines Körpers. Aber nie im Leben würde ich jetzt aufhören. Chris zog mich komplett auf sich, packte meine Taille und drehte uns in einer fließenden Bewegung um, bis er auf mir lag. Innerhalb von Sekunden hatten wir uns unsere Oberteile und ich meines BHs entledigt. Chris leckte meinen Hals, mein Schlüsselbein, meine Brüste und ich stöhnte leise, als seine Fingerspitzen meine Seite entlangfuhren und auf meiner Hüfte zur Ruhe kamen. >Was macht ihr da? Ich riss die Augen auf, nur um Ida zu sehen, die mit etwas Abstand in der Luft schwebte und uns mit einer Mischung aus Neugier und Ekel betrachtete. Chris öffnete meine Jeans. „Ida, raus, sofort!“, zischte ich und Idas Blick verdüsterte sich, bevor sie sich abwandte und mit etwas Mühe durch die geschlossene Eingangstür nach draußen schwebte. „Stimmt, da war ja was“, murmelte Chris belustigt und zog meine Jeans nach unten. Ich hob mein Becken, um ihm beim Ausziehen zu helfen, schlang meine Arme um seinen Nacken und zog ihn zu mir nach unten. „Jetzt ist sie weg“, hauchte ich in sein Ohr und er knurrte leise, bevor seine Hände unter meinen Slip wanderten.     Am nächsten Morgen erwachte ich durch Sonnenlicht, das durch das Dachlukenfenster genau in mein Gesicht strömte. „Gottverdammte Scheiße …“, stöhnte ich und zog die Bettdecke über meine Augen. Mein Mund fühlte sich pelzig an und mein Kopf dröhnte. >Bist du wach? Idas Stimme war leise, aber ich hörte sie trotzdem. Ich lugte unter der Decke hervor und entdeckte sie an der gegenüberliegenden Wand auf der Kommode. Sie beäugte mich kritisch. Schmollte sie? Ich drehte mich. Irgendetwas fühlte sich anders an. Ich hob die Decke und starrte auf meine nackte Haut. Die Erinnerungen an letzte Nacht hämmerten von innen gegen meinen Schädel. Langsam sah ich zur Seite. Chris war nicht da. Ich setzte mich ruckartig auf und bereute die Bewegung augenblicklich, als der Schmerz in meinem Kopf sich vervielfachte. „Chris?“, rief ich in meine Wohnung hinein. Vielleicht war er im Bad. Ich lauschte auf den Klang der Dusche, doch das einzige Geräusch war das Flirren der erdrückenden Stille. >Er hat sich vor ein paar Stunden rausgeschlichen. „Das ist nicht sein Ernst“, murmelte ich, riss die Bettdecke zur Seite und stand schwankend auf. Auf meinem Nachttisch entdeckte ich einen abgerissenen Zettel. Meine Kehle wurde trocken, als ich die Nachricht aufhob. Gestern Abend war ein Fehler. Es tut mir leid. —Chris Ich zerknüllte den Zettel in meiner Faust und schmiss ihn gegen die Dachschräge. Das Papier prallte ab und fiel knisternd zu Boden. Ida sah mich besorgt an. „Fucker!“, schrie ich, packte das Glas, aus dem er gestern noch Wodka getrunken hatte und schleuderte es ebenfalls gegen die Wand, wo es klirrend in tausend Stücke zersprang. „Mistkerl!“ Ich griff nach dem nächsten Glas, doch Ida tauchte vor mir auf und berührte meinen Arm mit ihrer kleinen, dunkelgrauen Hand. Ihre Fingerspitzen sanken in meine Haut, griffen ins Leere. >Hör auf, Coon, bitte. Du machst mir Angst. Erschöpft ließ ich das Glas sinken und ging an Ida vorbei ins Bad. Statt eines Schaumbads stellte ich mich in die Wanne und rubbelte meine Haut mit einem Waschlappen und Seife, bis ich überall rot war. Als ich sauber und wundgerieben ins Schlafzimmer zurückkehrte und Klamotten aus meiner Kommode zusammensuchte, tauchte Ida neben mir auf und blieb im Schneidersitz in der Luft schweben. >Warum bist du so aufgebracht? „Das wirst du verstehen, wenn du —“ Ich brach ab, meine Socke immer noch in der Hand. Nein, wird sie nicht. „Er hat mich verletzt“, sagte ich schließlich. „Er hat mir etwas gegeben, was ich schon lange wollte und jetzt ist er ohne ein Wort abgehauen, weil er es bereut.“ >Ich mochte ihn eh nicht. Ich lachte leise, rieb mir mit den Handballen über die Augen und zog mich an.     Die Treppe knarzte, als ich hinunter in den Barraum ging, Ida dicht hinter mir. Rock stand bereits an der Bar, wie jeden Morgen. Als er mich sah, verschwand er wortlos in der Küche und tauchte wenige Sekunden später mit einer dampfenden Tasse Kaffee auf. Ich setzte mich an den Tresen und trank einen großen Schluck. „Bringst du mir ein Wasser?“, fragte ich. Rock stellte mir eins hin, sah mich aber misstrauisch an. „Alles okay bei dir, Coon?“ Ich trank meinen Kaffee aus und nahm einen Schluck Wasser. „Hast du Chris gesehen?“, fragte ich und Rock zuckte leicht zusammen. „Er ist vor ein paar Stunden runtergekommen, hat sich verabschiedet und ist gegangen“, sagte er und sah mich entschuldigend an. „Er hat keine Nachricht hinterlassen.“ „Dachte ich mir schon“, sagte ich und trank den Rest des Wassers aus. ich reichte das Glas wortlos Rock, der es auffüllte und zurückgab. „Habt ihr …“ „Ja.“ Er schwieg. „Es ist nicht deine Schuld, mach dir keine Sorgen, Rock“, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln. „Ich hätte es besser wissen müssen. Wir waren beide betrunken, das ist alles.“ „Ich hätte ihn nicht einfach einladen sollen. Du hast genug durchgemacht mit dem Kriguard-Fall. Ich dachte, du würdest ihn gerne sehen, aber ich hätte nicht gedacht, dass er einfach abhaut.“ „Es ist okay, wirklich“, versicherte ich ihm. „Ich brauche nur ein paar Tage Urlaub, das ist alles.“ „Von mir bekommst du vorerst keine Aufträge, mach dir da keine Sorgen“, sagte Rock und ich nickte dankbar. „Aber wenn du Lust hast, kannst du einen der Hunter wegen Idas Vater anfragen.“ „Wo sind eigentlich alle?“, fragte ich. „Seit ich zurück bin, scheine ich die einzige hier zu sein.“ „Nicht ganz. Margret war ein paar Mal hier, aber nie lange und Laurence hast du einmal knapp verpasst. Die Anderen sind allerdings unterwegs.“ „Aufträge?“ „Einige. Samantha und Tom übernehmen die Prüfungen, deshalb sind sie in unserem Ausbildungscamp. Der Rest ist außerhalb.“ „Wann kommt Joseph zurück?“ „Er ist erst seit ein paar Tagen weg, ich erwarte ihn nicht vor nächster Woche.“ „Dann statte ich Sammy wohl einen Besuch ab“, sagte ich und trank mein Wasserglas aus. „Hast du was zum Mitnehmen?“ „Mary kann dir ein Sandwich fertigmachen, wenn du solange warten willst.“ „Das wäre super.“ Während Rock in der Küche verschwand, um meinen Proviant in Auftrag zu geben, landete Ida vor mir auf dem Tresen und lief durch meine Kaffeetasse, Hände hinter dem Rücken gefaltet. >Wer ist Samantha? „Meine beste Freundin, und eine Hunterin. Sie ist ein Auge, so wie ich, deshalb wird sie dich sehen können“, fügte ich zwinkernd zu. Ida grinste und wurde augenblicklich heller.     Rocks Ausbildungscamp fand in einer alten Lagerhalle am anderen Ende der Stadt statt. Mit der Bahn waren wir eine halbe Stunde unterwegs und danach hatten wir noch einen zwanzigminütigen Marsch durch verlassene Straßen und Fabrikgelände vor uns. Der Gebäudekomplex formte einen grauen Quader, der sich gegen den weißen Winterhimmel abzeichnete. Das Tor war verschlossen. Ich zog meine ID über den dort angebrachten Scanner und wartete, bis ich das Klicken der Entriegelung hörte, dann trat ich ein, Ida dicht auf den Fersen. Das gefrorene Gras knirschte unter meinen Stiefeln und der Wind wehte einige leere Konservendosen über den Platz, begleitet von leeren Bierflaschen und zerrissenen Plastiktüten. Als wir den Eingang erreichten, drückte ich die schweren Eisentüren auf und trat in die kalt beleuchtete Halle dahinter. Sie war gefüllt mit Attrappen, ausklappbaren Wänden, riesigen Containern und anderen Gegenständen, die der Halle das Flair einer Mülllandschaft verliehen. Schwarze Puppen in Daemonengestalt und in unterschiedlichen Größen hingen von der Decke, lagen auf dem Boden oder bewegten sich auf fernsteuerbaren Schienen durch die Halle. Die Rufe von Schlüsseln aller Kategorien echoten an den mit Metall ausgekleideten Wänden und lenkten meine Aufmerksamkeit auf die Hunterazubis, die ihre Reaktionszeit und Exzisionsmuster auf die Probe stellten. Etwas abseits standen eng bekritzelte Whiteboards mit anatomischen Zeichnungen von Daemonen und Auflistungen von Schlüsseln, umringt von Stühlen. An einem der Whiteboards stand Samantha, eine Handvoll Anwärter um sich versammelt. Niemand bemerkte uns. >Können die mich alle sehen? Ida klang begeistert. Sie huschte von einer Seite zur nächsten, die Augen weit aufgerissen. „Nicht alle. Die wenigsten sind Augen und die anderen tragen beim Training keine Linsen“, erwiderte ich. „Komm, da ist Samantha. Lass uns sie überraschen.“ >Oh ja! Wir näherten uns der kleinen Klasse so unauffällig wie möglich. Sam war in ihren Vortrag vertieft und stand halb von uns abgewandt. Eine Mähne blonder Locken umrahmte ihr Gesicht. „Es gibt primäre und sekundäre Schlüsselkategorien“, sagte sie gerade und deutete auf eine Tabelle mit dutzenden Einträgen, die in der Mitte geteilt war. Ich lehnte mich an die Betonwand und verschränkte grinsend die Arme. Vergangen waren die Tage, als wir mit Kaugummipapier nach unseren Mitanwärtern geworfen und einander die Schuld in die Schuhe geschoben hatten. Jetzt hatte Sam das Sagen. „Was zeichnet einen primären Schlüssel aus?“, fragte sie. „Ja, Andrew?“ „Dass sie in aufsteigenden Kategorien existieren.“ „Korrekt. Und was sind die für einen Hunter wichtigsten primären Kategorien? Amy?“ „Schwächung, Verteidigung, Fixierung, Exzision.“ „Hundert Punkte! Vielleicht habt ihr ja ausnahmsweise aufgepasst … Wie sieht es mit Sekundär aus?“ „Nur eine Kategorie existiert“, sagte der Junge namens Andrew, den sie am Anfang dran genommen hatte wie aus der Pistole geschossen. „Die wichtigste Kategorie für einen Hunter ist der Austreibungsschlüssel.“ „Wieder richtig. Auch, wenn du nicht dran warst.“ Ida kicherte. Ein anderes Mädchen hob die Hand. „Warum gibt es so viel mehr Kategorien als wir brauchen?“ Sam lachte. „Nun, weil Schlüssel sich nicht darum scheren, ob sie hilfreich sind oder nicht. Sie existieren einfach. Genauso wie es Schwächungsschlüssel gibt, gibt es auch solche, die Daemonen stärken. Schlüssel die austreiben und solche, die Daemonen in den Wirt ziehen. Alles ist im Gleichgewicht. Aber natürlich sind das keine Schlüssel, die ein Hunter jemals brauchen wird, deshalb sind sie nicht Teil der Prüfung.“ Augenblicklich begann das aufgeregte Getuschel. „Das heißt aber nicht, dass es nicht wertvolles Wissen ist, dass ihr euch aneignen solltet …“ Sam hatte endlich Ida und mich entdeckt. „Zeit für eine Pause, Kiddos. Wir sehen uns in einer halben Stunde bei den Fallattrappen.“ Die Azubis verließen fluchtartig ihre Stühle, alle bis auf Andrew, der sich mit seinen Notizen Zeit ließ. Sam lief unterdessen mit leuchtenden Augen in meine Richtung. „Coon!“, jauchzte sie, kaum dass sie mich erreicht hatte und fiel mir um den Hals. Ihre schulterlangen Locken nahmen mir die Sicht und verfingen sich in meinem Mund. „Du bist schon von deinem Auftrag zurück? Was machst du hier?“ Ihr Blick fiel auf Ida. „Und wer ist das?“ >Ich heiße Ida. Ich bin Coons Dae. „Pff, du bist unfair, Coon.“ Sam zog eine Schnute und stützte die Hände in ihre ausladenden Hüften. „Du kannst Daemonenspuren sehen und jetzt hast du deine eigene Eskorte? Unverschämt.“ „Sie folgt mir seit zwei Tagen“, sagte ich lächelnd. „Als Eskorte würde ich sie nicht bezeichnen.“ „Also Coon, was verschafft uns gemeinem Volk die Ehre?“ Sie grinste frech. „Wie du siehst, sind Tom und ich wahnsinnig beschäftigt damit, einfühlsame und gutmütige Mentoren zu sein.“ „Ich wollte nur mal vorbeischauen“, sagte ich und sah mich um. „Ich war lange nicht mehr beim Training dabei.“ „Stimmt, du hattest viel zu tun.“ Sie nahm meine Hand und zog mich mit zu dem Tisch, über dem sie eben noch gebrütet hatte. „Ich würde auch gerne mal wieder unter Menschen kommen, aber die Prüfungen sind bald, deshalb haben wir den Kids ein Bootcamp angeboten. Wir sind seit einer Woche hier eingepfercht und ernähren uns von Dosenravioli und Chips.“ Sie verzog das Gesicht. „Was man nicht alles für die Zukunft der Organisation tut.“ „Wie lange geht euer Bootcamp noch?“, fragte ich und lehnte mich an den Tisch. „Zwei Tage. Dann sind die Prüfungen und ich kann endlich wieder zu meiner Freundin.“ „Wärst du danach an einer gemeinsamen Exzision interessiert?“ Sams Grinsen wurde breiter. „Das fragst du noch?“ „Es geht um den Daemon, der mir letztes Jahr entwischt ist.“ Ich sah sie vielsagend an. Sams Augenbrauen hoben sich. „Der von Lorene?“ Ich nickte. „Selbst zu zweit wird er nicht leicht zu exzidieren sein.“ „Das macht die Sache doch nur interessanter!“ Sam verschränkte die Arme. „Ich hatte schon lange keine echte Herausforderung mehr.“ „Ms. Shackle?“ Der übereifrige Junge von eben gesellte sich vorsichtig zu uns. Er war schlaksig, mit zerzaustem Haar und einem von Akne zerfurchten Gesicht. „Samantha reicht, Andrew, wie oft noch? Ich bin keine alte Frau!“ „Ja ja, das sagen Sie“, lachte er und wich geschickt aus, als Sam nach seinem Schienbein trat. „Ich bin blutjunge dreiundzwanzig. Was willst du?“ „Ich wollte wegen der Theorieprüfung in Daemonologie nachfragen, aber wenn sie gerade beschäftigt sind …“ Er schweifte ab und sah mich misstrauisch an. „Nein, du störst nicht, keine Sorge“, sagte Sam und deutete in meine Richtung. „Andrew, das ist Raccoon Thynlee. Du kennst sie wahrscheinlich eher unter ihrem Synonym Das Auge. Sie ist unsere Tophunterin und hält die Organisation quasi am Laufen. Und das neben ihr ist ihr Dae Ida. Oh, aber du hast deine Linsen wahrscheinlich nicht an, oder?“ „Sie sind Das Auge?“ Andrews Kiefer klappte auf. Ich schmunzelte. „Hi.“ „Wow!“ Er fasste sich und reichte mir seine Hand. „Es ist mir eine Ehre, Sie kennenlernen zu dürfen.“ „Du hast Recht, Sam, er ist zu förmlich“, sagte ich und Sam lachte herzhaft. „Nicht wahr?“ „Und sie hat einen Dae?“ Andrew sah an mir vorbei auf die Stelle, an der er Ida vermutete. Die schwebte gute zwei Meter auf der anderen Seite. Sam und ich grinsten. „Ich habe meine Linsen dabei, einen Moment bitte.“ „Keine Eile, sie läuft nicht weg“, sagte Sam fröhlich und zwinkerte mir zu. In Sams Gegenwart erschien mir alles in einem positiveren Licht. Es tat gut, einmal von dem Drama wegzukommen. Ich hatte in den letzten Tagen wirklich zu viel erlebt. Andrew fischte die Sichtlinsen aus seiner Hosentasche und setzte sie vorsichtig ein. Sein Blick wanderte zu Ida, die ihm verschämt zuwinkte. „Wow.“ Er sah sie mit offenem Mund an. „Ich habe noch nie einen Dae gesehen. Sind die immer so dunkel?“ „Es kommt ganz auf ihren emotionalen Zustand an“, sagte Sam. „Ida scheint nah an der Grenze zum Daemon zu sein, aber trotzdem wird sie sich nicht sehr bald auflösen.“ Etwas huschte über ihr Gesicht. „Hat die Exzision mit ihr zu tun?“ Ich nickte. „Ich erkläre dir die Details später.“ „Gut, melde dich bei mir.“ Sam wandte sich wieder Andrew zu. „Also, was wolltest du wissen?“     >Samantha ist sehr nett. „Das ist sie.“ Ida und ich waren nur noch wenige Blocks von der Basis entfernt. Wir hatten uns noch eine Weile mit Sam, Andrew und später auch Tom unterhalten, aber die Unterhaltung mit den Azubis hatte mich ausgelaugt und ich wollte nur noch zurück in meine Wohnung. Morgen würde ich mich in meinem Zimmer einschließen und keinen Fuß vor die Tür setzen. Ich dachte an Winterstille, den Krimi, der seit Wochen auf meinem Nachttisch vermoderte. Vielleicht konnte ich ihn endlich zu Ende lesen und mir danach ein ausgiebiges Kräuterbad gönnen. Als wir Rocks schummrige Bar betraten, wuschelte ich mir den Schnee aus dem Haar. „Raccoon.“ Mein Kopf schnellte nach oben. Kein Zweifel. Sein dunkelblauer Nadelstreifenanzug wies keine Falte auf und die Zigarre in seiner rechten Hand war bereits zur Hälfte heruntergeglüht. Harry war wie immer ganz der Business-Typ. „Was machst du hier?“, fragte ich und blieb im Eingang stehen. Mein Blick huschte zu Rock, der hinter dem Tresen stand, die riesige Hand auf eine Zeitung gelegt. „Es gibt ein Problem“, sagte Harry und reichte mir die Zeitung. Ich zögerte kurz, ging aber schließlich auf ihn zu und nahm sie entgegen. Es war die heutige Ausgabe der National News Post. Auf der ersten Seite prangte ein Bild von einer Frau mit langem, schwarzem Haar und einem dunklen Mantel. Eingesunkene Augen blickten mir von dem Papier entgegen. Meine Finger zitterten. >Schau mal. Ida tauchte über meiner Schulter auf und deutete auf die Schlagzeile, die in großen schwarzen Lettern über dem Bild prangte.   Raccoon Thynlee — Die schockierende Wahrheit   Ich ließ mich auf einen Barhocker sinken und starrte die Überschrift lange an. Dann holte ich tief Luft und begann, den Artikel zu lesen.   Raccoon Thynlee, auch bekannt als Das Auge, wurde lange Zeit als beste Hunterin von Distrikt 16 gehandelt. Anonyme Quellen berichten nun, dass der Daemonenhunterin mehr Fehler unterlaufen sind, als ihre Organisation öffentlich zugibt. Gestern, den 24. Januar, wurde Britta Kriguard, die Tochter des Millionärs Edwin Kriguard, nach einer verpatzten Exzision tot aufgefunden. Nur einen Tag zuvor ist unter ihrer Aufsicht die siebenjährige Ida Clark zu Tode gekommen, so wie ein Jahr zuvor Lorene Walters, 29. Bis heute wurde sie für ihre Nachlässigkeit nicht zur Verantwortung gezogen. Quellen bestätigen, dass Thynlee— —scheint, dass die Tage ihrer Karriere gezählt sind. Ihre Unfallquote ist innerhalb des letzten Jahres rapide gestiegen und wir alle fragen uns: Ist sie noch— —arbeitet weiterhin mit ihr zusammen, doch wie lange kann Rock Jordans dem öffentlichen Druck standhalten? Nach internen Angaben steht die Organisation kurz vor dem Bankrott und—   Ich ließ die Zeitung sinken. „Woher wissen die von Lorene?“, fragte ich mit belegter Stimme. „Das war nicht mal ein offizieller Fall. Es gibt keine Akten dazu. Keine schriftlichen Informationen. Gar nichts.“ „Der Maulwurf, ohne Zweifel“, sagte Harry. „Aber das sollte dich nicht weiter kümmern, Raccoon. Du hast ein größeres Problem.“ „Ein größeres Problem?!“, schrie ich ihn an. „Kriguard hat meinen Ruf ruiniert! Ich habe seine Tochter nicht getötet, er hat sie selbst erschießen lassen und jetzt verreißt er mich in der Presse?“ „Das scheint von Anfang an sein Plan gewesen zu sein“, sagte Harry mit ernster Stimme. „Du bist in eine Falle getappt.“ „Das kann nicht sein.“ „Es tut mir leid, Raccoon.“ Harry stand auf. „Rock, du weißt Bescheid.“ Rock nickte und Harry rauschte an mir vorbei und durch die Tür hinaus in die Kälte. Ich zerknüllte den Artikel in meinen Händen und starrte auf das gemaserte Holz der Theke. „Sag es.“ Ich hob den Kopf und erkannte in Rocks schmerzlichen Gesichtsausdruck, dass meine Vermutung richtig war. „Bring es hinter dich.“ Rock sah zu Boden. „Du bist gefeuert.“ Kapitel 4 --------- „Das sollte für’s erste genügen“, sagte ich und ließ mich auf das Hotelbett fallen. Es war eine billige Absteige, aber ich musste sorgsam mit meinem Geld umgehen. Der letzte Check von Rock würde mich eine Weile über Wasser halten, aber ich brauchte dringend einen Job. Und weiterhin als Hunterin zu arbeiten, war in diesem Distrikt nun fast unmöglich. Ida schwebte zu mir und ließ sich neben mir im Schneidersitz in der Luft nieder, eine Handbreit über der Bettdecke. >Warum hat Rock dich gefeuert? „Er hatte keine große Wahl ...“ Ich starrte an die Decke. „Du hast gelesen, was in der NNP stand. Wenn er mich weiterhin beschäftigt, wird sich das negativ auf seine Organisation auswirken.“ >Warum? „Weil wir Daemonenhunter einen harten Job machen“, erwiderte ich leise. „Wir sind wie Chirurgen. Du kannst so viele Leben retten, wie du willst, aber wenn einer deiner Patienten stirbt, kannst du darauf wetten, dass irgendein Arschloch dich verklagt. Du musst nur die falschen Feinde haben. Ein paar Fäden gezogen und deine Karriere ist im Arsch.“ >Aber hat Rock nicht gesagt, dass eure Unfallquote viel geringer ist, als die der anderen Organisationen? Ich warf Ida einen Blick zu. „Keine Hunterbasis kommt ohne Unfälle davon“, erklärte ich und schloss die Augen. „Aber die dafür Verantwortlichen müssen öffentlich gemacht werden, damit Kunden eine bessere Auswahl treffen können. Je schlechter deine Quote als Hunter ist, desto weniger Leute werden für deine Dienste bezahlen und wenn du Pech hast, bringst du deiner Organisation nicht mehr genug Geld ein und wirst gefeuert.“ >Und deine Unfälle sind nicht öffentlich gemacht worden? „Scheiße, nein.“ Ich lachte und schlug die Augen auf. „Lorene war kein offizieller Fall, deshalb hat Rock nichts gesagt. Du warst überhaupt kein Fall und die Sache mit Britta scheint von Anfang an ein Fake gewesen zu sein. Ich verstehe nur nicht, wer etwas davon hat, mich öffentlich zu ruinieren. Mario hätte mich in dem Keller einfach erschießen können.“ >Vielleicht geht es nicht um dich. „Vielleicht.“ Wir schwiegen eine Weile. Schließlich setzte ich mich auf und kramte meinen Laptop aus dem Koffer. Ich verbrachte die folgenden Stunden damit, Zeitungsartikel über mich, Kriguard und alles, was irgendwie mit meinem Beruf in Verbindung stand, zu durchstöbern. Anfangs schaute Ida noch interessiert zu, doch als ich mich von den Bildern und großen Buchstaben entfernte und auf Einkommenstabellen umstieg, schwirrte sie gelangweilt durch das kleine Zimmer, schwebte unter der Decke und zog Grimassen, wenn sie dachte, ich würde nicht hinsehen. „Das macht keinen Sinn“, sagte ich nach einer Weile und Ida, die kopfüber von der Decke hing, ließ sich schwungvoll durch die Luft fallen und schoss an meine Seite. Ich deutete auf eine Tabelle und sie verzog das Gesicht. >Was meinst du? „Rocks Organisation ist die einflussreichste und professionellste im Distrikt“, sagte ich und öffnete ein Fenster mit einigen Artikeln. „Ich wurde als Tophunter gehandelt, ich bekam die profitabelsten und gefährlichsten Aufträge und habe einen großen Teil des Einkommens beigesteuert. Und trotzdem ...“ >… habt ihr immer weniger Geld. Ida sah mich überrascht an. >Warum? „Ich weiß es nicht, aber es ergibt keinen Sinn. National News hat berichtet, dass wir kurz vor dem Bankrott stehen und Rock hat ebenfalls über Geldknappheit geklagt. Wir haben viel in die Nachwuchsausbildung gesteckt, klar, aber so viel kann es nicht gewesen sein. Schau dir diese Zahlen an.“ >Vielleicht war es der Maulwurf. „Das bezweifle ich“, sagte ich. „Maulwürfe sind Spione, die Informationen sammeln. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unserer sich Zugang auf die Bankdaten verschaffen und das ganze über ein Jahr vertuschen konnte. Harry ist ein Arsch, aber er versteht sein Handwerk. Wenn sich jemand bei uns eingeschlichen und so offensichtlich vorgegangen wäre, würde er das bemerken.“ Ich starrte auf den Monitor, der mir grell entgegenleuchtete. Der Schneesturm verdunkelte den Himmel und außer meinem Laptop war keine Lichtquelle in unserem Zimmer aktiv. Als ich zu Ida sah, schaute sie besorgt zurück. „Und da ist noch etwas, das mich stört.“ >Was denn? „Woher hatte Kriguard die Informationen?“ Ich klappte den Laptop zu und saß mit Ida in absoluter Dunkelheit. „Dass er von dir wusste, kaufe ich ihm noch ab, immerhin hat Mario Sichtlinsen getragen, den Rest konnte er sich bestimmt zusammenreimen. Aber woher wusste er, dass du erst seit wenigen Tagen tot bist? Und dann ist da die Sache mit Lorene.“ >Wer ist Lorene? Ihr redet immer über sie, aber du hast nie etwas von ihr erzählt. „Lorene war Christophers Verlobte.“ Ida verzog das Gesicht. „Ich weiß, du magst ihn nicht, aber er ist ... war mein bester Freund. Vor einem Jahr war Lorene von einem Daemon besessen und er bat mich darum, die Exzision zu übernehmen. Aber der Daemon war stärker als alles, was mir bis dahin untergekommen ist und ich habe meine Kräfte falsch eingeteilt. Die Exzision schlug fehl, Lorene wurde gebissen und starb.“ Ich fuhr mir durch mein Haar. >Und Kriguard wusste davon? „Es scheint so, auch wenn ich nicht weiß, warum. Selbst in der Organisation wussten nur wenige ...“ Ich stockte und ließ meine Hand langsam sinken. >Wer wusste davon? Ida schwebte zu mir hinunter und legte eine dunkelgraue Hand auf meinen Arm. „Rock, Sam, Harry und Mary. Es kann sein, dass Rock sich mit einem der anderen Hunter verplappert hat, aber ich weiß nur von diesen Vieren.“ Ida schwieg. „Das ist schlecht.“ Ich stand auf und raufte mir die Haare, während ich neben dem Bett auf und ab ging. „Das ist wirklich schlecht. Fuck, was wenn ... Gottverdammte Scheiße!“ >Coon, was ist? Sie sah mich besorgt an und ich blieb stehen. „Rock hat die Organisation von Anfang an aufgebaut, sie ist wie ein Kind für ihn. Deshalb hat er mich gefeuert, um das Wohl der restlichen Hunter zu gewährleisten. Er würde niemals etwas tun, das dem Ruf unserer Organisation schaden könnte und schon gar nicht seine Haupteinnahmequelle ausschalten. Und Mary mag ruppig und übellaunig sein, aber sie liebt ihn abgöttisch. Sam hat ebenfalls kein Motiv. Ihr Leben läuft super, sie verdient gut, und überhaupt würde sie mir so etwas nie antun, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“ >Bleibt nur noch ... „Harry.“ Der Name hatte etwas finales, als ich ihn aussprach. Ich ließ mich an der Wand heruntersinken und starrte ins Nichts. Ida war in der Dunkelheit fast unsichtbar, aber als sie zu mir herabschwebte, erkannte ich schwach ihre Konturen. >Warum würde er so etwas tun? „Er ist ein Geschäftsmann“, sagte ich langsam. Je länger ich über die Möglichkeit nachdachte, desto einleuchtender schien sie mir. „Er kennt keine Freunde, keine Loyalitäten. Er arbeitet für den, der ihm das meiste Geld bietet. Bisher konnte niemand gegen Rocks Gehalt ankommen, aber vielleicht hat sich das geändert.“ >Aber was ist sein Ziel? „Ich weiß es nicht“, erwiderte ich und schlang die Arme um meine Knie. „Vielleicht wurde er von einem unserer Konkurrenten gekauft. Wenn es um mich ginge, hätte er mich leicht töten können, er hat seine Leute überall. Aber das hat er nicht. Stattdessen tauchen plötzlich Artikel über mich in der Zeitung auf, die Rock dazu zwingen, mich zu feuern.“ >Er arbeitet mit Kriguard zusammen, oder? „Ja. Gott, natürlich, deshalb hat er gesagt: „Seien Sie versichert, dass dies der effizienteste Weg für mich und meinen Geschäftspartner ist.“ Sein Geschäftspartner ist Harry. Die beiden haben zusammengearbeitet, um mich dranzukriegen. Harry hat Druck gemacht, Rock wurde mit dem Geld geködert und als ich den Auftrag nicht selbst ausgeführt habe, hat man nachgeholfen. Wieso habe ich das nicht früher bemerkt?“ >Ist Harry nicht für eure Security zuständig? „Ja. Und er ist der Maulwurf.“ Mir war mit einem Mal sehr, sehr kalt. „Natürlich würde niemand ihn verdächtigen, wenn er selbst nach dem Maulwurf sucht. Wahrscheinlich wusste er, dass er bald einen Sündenbock brauchen würde, deswegen hat er die Tarnung ein wenig gelüftet. Dieser Mistkerl.“ >Dann steckt er bestimmt auch hinter dem Geld. „Ich wette, dass er dafür verantwortlich ist.“ Ich stand auf. „Wir gehen.“ >Wohin? Ich grinste sie an. „Der Konkurrenz einen Besuch abstatten.“     „Pass auf deine süßen Äuglein auf, Thynlee, sonst klaut sie dir noch jemand. Sie sind inzwischen bestimmt mehr wert als du, oder täusche ich mich?“ Paige war so groß wie breit, mit dichten schwarzen Locken und einem runden, herben Gesicht. Sie war einer der wenigen Organisationsköpfe mit natürlicher Sicht und beäugte Ida mit unverhohlenem Interesse. Ida schwebte dicht neben mir und obwohl sie keine Miene verzog, spürte ich ihre Anspannung. „Ich habe einige Fragen, Paige“, sagte ich und ließ mich ihr gegenüber auf dem grünen Sessel nieder. Im Gegensatz zu Rocks Bar war Paiges Basis im Kellergeschoss eines Warenlagers stationiert, wenn auch wesentlicher angenehmer eingerichtet, als die oberen Stockwerke. „Ich hoffe, du hast ein paar Minuten für mich Zeit.“ Sie lächelte ein Lächeln voller Zähne. „Ich habe Besseres zu tun, als mich um deine Herzensangelegenheiten zu kümmern, aber ich gebe zu, dass dein Auftauchen mich sehr interessiert. Ich hoffe nur, du erwartest kein Jobangebot von mir. Dein Ruf ist ein wenig aus dem Ruder gelaufen, wie du vielleicht bemerkt hast. Louis, haben wir eine Zeitung hier liegen?“ „Ich kenne den Artikel, Paige, und ich bin sicher nicht hier, um bei dir um Almosen zu betteln. Also beantworten einfach meine Fragen und ich bin schneller weg, als du dich aus deinem Sessel zwängen kannst.“ „Oh, Witze über mein Gewicht, wie originell.“ Sie beugte sich ächzend nach vorne und hob ihr Martiniglas. „Ich hatte Besseres von dir erwartet, Thynlee, aber sprich dich nur aus. Mehr Zeitverschwendung als unser jetziges Gespräch kann es nicht sein.“ „Kennst du Harry Limes?“ „Den Namen habe ich noch nie gehört.“ Sie sah mich verächtlich an. „Ist das alles?“ „Bist du an einem Coup beteiligt, der Rocks Organisation zerstören soll?“ Sie lachte heiser und steckte sich die Olive ihres Martinis in den Mund. „Du bist ganz schön direkt, weißt du das? Ob du es glaubst oder nicht, ich respektiere Rocks Arbeit. Er hat mir den ein oder anderen netten Job vor der Nase weggeschnappt, aber seine Position hat er sich verdient. Ich bin nur enttäuscht, dass dein Versagen in seinen Untergang führen wird.“ „Wird es nicht“, sagte ich und stand auf. „Danke für deine Zeit.“ „Thynlee.“ Sie stellte ihr Glas ab und sah mich scharf an. „Warum bist du hergekommen? Hat dieser Harry etwas gegen Rock unternommen?“ „Das ist ein internes Problem.“ „Wenn es eins wäre, wärst du nicht hier.“ Ich zögerte. „Jemand versucht, unsere Organisation zu Fall zu bringen. Harry ist daran beteiligt, aber ich weiß nicht, wer sonst.“ „Du gehst von einem der anderen Gründer aus, das klingt vernünftig.“ Sie stand ächzend auf und strich ihr schwarzes Samtkleid glatt. „Ich persönlich rate dir, Joey einen Besuch abzustatten. Er ist ein gieriger Neider, viel zu ehrgeizig für seine bescheidenen Fähigkeiten. Aber du solltest deine Methoden überdenken, Thynlee. Ich möchte ungern eine Todesanzeige von dir in der National sehen.“ Ich wandte mich ab und winkte, während ich mich von mir entfernte. „Danke für den Tipp.“ „Hau schon ab.“ Sie lachte laut und mein Mundwinkel zuckte nach oben, als ich die Treppen aus dem Keller hinauf ins Lager nahm und die feindseligen Blicke der anwesenden Hunter ignorierte. >Ich bin verwirrt. Ida schwirrte rückwärts durch die Luft, immer einen Meter vor mir. >Mag sie dich oder mag sie dich nicht? „Weißt du, Ida“, sagte ich und stopfte meine Hände in meine Manteltaschen, „ich habe keine Ahnung.“     In dieser Nacht schlief ich schlecht. Ida verharrte regungslos am Fenstersims und beobachtete die dicken Flocken, die sanft aus dem Nachthimmel fielen und den Parkplatz vor dem Hotel in einen dichten, weißen Teppich verwandelten. Ich hatte nie darüber nachgedacht, aber während ich mit offenen Augen im Bett lag und an die Decke starrte, wurde mir bewusst, wie lang eine Nacht sein konnte. Und Dae schlafen nicht. „Woran denkst du?“, fragte ich irgendwann in die Stille hinein, die nur durch das Brummen der Heizung unterbrochen wurde. >An meinen Daddy. Ich rollte mich zur Seite und sah zu ihr hinüber. Idas Blick war in die Ferne gerichtet. Wäre sie kein Dae, hätte sie vielleicht geweint. Ich rutschte zur Seite. „Wenn du willst, kannst du dich zu mir legen“, sagte ich leise. Ida drehte den Kopf und ein kleines Lächeln huschte über ihre Züge. Sie schwebte wie ein kalter Luftzug durch den Raum zu mir aufs Bett, wo sie sich neben mir niederließ. Mit ihrer dunkleren Färbung hatte auch ihre Masse zugenommen. Sie war noch nicht wirklich da, aber als ich eine Hand nach ihr austreckte und ihren Kopf streichelte, konnte ich einen schwachen, kalten Widerstand spüren. „Alles wird gut“, flüsterte ich und sah ihr in die blanken Augen. „Ich werde deinen Daddy retten, egal wie. Okay?“ >Okay. Sie lächelte und schloss die Augen.     Paige war nur eine von Rocks Konkurrenten gewesen, aber sie war diejenige, der ich mich unter anderen Umständen hätte anschließen wollen. Von allen Organisationsleitern, die noch auf meiner mentalen Liste standen, war sie mit Abstand die angenehmste. Aber ich hatte keine Wahl. Wenn ich herausfinden wollte, mit wem Harry gemeinsame Sache machte, musste ich tief in die Scheiße greifen. Und das hieß, wie Paige selbst gesagt hatte, Joey. Joeys Basis lag eingequetscht zwischen einer Apotheke und einem Zahnarzt im zweiten Obergeschoss eines Gebäudekomplexes, mitten in der Einkaufsmeile. Das Treppenhaus war schmal und stank nach Rauch, und als ich den kurzen Flur betrat, waren alle Fensterläden zugezogen. Ich ging auf den Türsteher zu, einen Zwei-Meter-Riesen mit mehr Tattoos als echten Zähnen und einem Schlagring. Neben ihm an der Wand lehnte ein Baseballschläger. Wundervoll. „Raccoon Thynlee“, stellte ich mich vor und hob meine Hände, um zu zeigen, dass ich unbewaffnet war. „Ist Joey da?“ Der Schläger begutachtete mich von oben bis unten, bevor er schief grinste. „An die Wand stellen und Beine breit.“ „Oh bitte, ist das nötig?“, fragte ich, noch während ich seinen Anweisungen folgte. „Ich bin Hunter, kein Auftragskiller.“ „Weiß man bei euch nie. Los, Hände an die Wand.“ Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, als seine groben Hände meine Arme, Beine und meinen Brustkorb sorgfältiger als nötig abtasteten, aber schließlich ließ er von mir ab und klopfte an die Tür. „Boss, Raccoon Thynlee ist hier.“ „Lass sie rein.“ Ich ging zur Tür, drehte den Knauf und ging hinein, dicht gefolgt von Ida. Seit sie so dunkel war, fiel ihr das Schweben durch Wände sehr viel schwerer. Als ich eintrat, erhellte schummriges Licht den Raum, der auf der linken Seite mit Bücherregalen ausgekleidet war und auf der rechten zu mehreren angrenzenden Räumen führte. Direkt unter dem mir gegenüberliegenden Fenster saß Joey an einem Massivholzschreibtisch, Zeitungen und Akten überall darauf verstreut. Der volle Aschenbecher glomm leicht auf, als Joey seinen aufgerauchten Zigarettenstummel hineindrückte. „Raccoon“, sagte er und stand auf, um mir die Hand zu schütteln. Ich sah ihn herausfordernd an und er lächelte, bevor er seine Hand sinken ließ und mir den Stuhl ihm gegenüber zuwies. Sein kleiner Finger fehlte. „Bitte, setz dich“, sagte er und zog eine neue Zigarette aus seinem Revier. „Du erlaubst?“ „Interessante Lektüre?“, fragte ich stattdessen und deutete auf die Zeitung, die auf der gestrigen Schlagzeile aufgeschlagen war. Einige Abschnitte waren farbig markiert. „Ja, in der Tat.“ Er zündete die Zigarette mit einem Streichholz an und nahm einen tiefen Zug, bevor er fortfuhr. „Du scheinst nicht mehr ganz die Alte zu sein. Dein Marktwert ist beträchtlich gesunken, wusstest du das?“ „Muss mir irgendwie entgangen sein.“ Ich ließ mich auf dem Stuhl nieder. „Joey, hattest du schon einmal Kontakt zu einem gewissen Harry Limes?“ Ida verschwand von meiner Seite und schwebte zu Joey hinüber. Sie sah ihn von der Seite an, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von dem Seinen entfernt. „Limes? Nie gehört.“ >Er lügt. Ich sah Ida nicht direkt an, aber ich vertraute ihrer Einschätzung. Steckte Joey hinter dem Coup? Ich war nicht sicher. „Interessant“, sagte ich. „Er hat erst vor kurzem von dir gesprochen.“ Joeys Augen verengten sich zu Schlitzen. „Hat er das?“, fragte er, sein Ton rauer. Bedrohlicher. „Denkst du wirklich, Harry lässt seine Dienste einfach abkaufen?“, fragte ich und lehnte mich etwas nach vorne. Ida schwebte zurück an meine Seite, die Augen nun auf die Tür hinter mir gerichtet. „Er ist sofort zu uns gekommen“, sagte ich. „Rock hat solange mitgespielt, um dich in Sicherheit zu wiegen, aber er weiß Bescheid.“ „Du bluffst“, zischte Joey. „Du bist verzweifelt, Raccoon, das verstehe ich. Seit du zurück bist, geht dein Leben den Bach runter. Ein Kind und eine junge Frau auf deinem Gewissen, dein Ruf ruiniert, dein Job Vergangenheit …“ >Der Türsteher kommt. Schlag von oben in drei … „So schlimm ist es nicht“, sagte ich und rutschte etwas auf meinem Sitz nach vorne. >… zwei … „Ich wollte mich schon immer mal selbstständig machen.“ >… eins … „Dann viel Glück dabei“, sagte Joey und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Du wirst es brauchen.“ >JETZT! Ich hechtete zur Seite, gerade rechtzeitig, um dem Türsteher auszuweichen, dessen Baseballschläger nach unten raste und den Stuhl zerschmetterte, auf dem ich eben noch gesessen hatte. „Töte sie!“, schrie Joey, der aufgesprungen war. Der Türsteher starrte verwirrt auf die Stuhltrümmer, dann zu mir. „Ida, gib mir Deckung!“ >Geht klar. Ich rollte zur Seite, stand aus der Bewegung auf und rannte auf die Tür zu. Der Türsteher stand im Weg, er hob den Baseballschläger und holte weit aus. Ida schoss durch ihn hindurch. Ein Ausdruck von Entsetzen bildete sich auf seinem Gesicht, während Ida sich durch seinen breiten Oberkörper zwängte, als wate sie durch zähes Wachs. Ich trat dem Türsteher seitlich in die Kniebeuge und er knickte stöhnend ein, seine Hand krallte sich in den schwarzen Stoff über seinem Herzen und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Ich schoss an ihm vorbei und durch die Tür. „Lass sie nicht entkommen, du Idiot!“, hörte ich Joeys Stimme, während ich die Treppenstufen hinunterraste und an der Biegung halb über das Geländer sprang. Über mir hörte ich Schüsse, als Joey einen Versuch machte, mich noch zu erwischen. Vergeblich. Die Kugeln schlugen mit ohrenbetäubendem Bersten in die Wände ein und Holzsplitter regneten durch das Treppenhaus wie billiges Konfetti, aber ich war bereits zwei Stockwerke unter ihm. Jemand rannte die Stufen hinunter, doch da war ich schon zur Eingangstür raus und mischte mich unter den steten Strom von Menschen, die in der Einkaufsstraße unterwegs waren. Ich schlug meinen Mantelkragen hoch, damit Joey mich nicht so leicht erkennen konnte. Es war reine Vorsicht. Joey konnte sich nicht erlauben, mich mitten auf der Straße zu erschießen. Ich ließ mich von der Menschenmasse mittreiben und atmete langsam und regelmäßig, bis mein Herzschlag sich beruhigte. Es dauerte nicht lange, bis Ida über den Köpfen der Passanten hinwegschoss und mich einholte. „Einwandfrei“, sagte ich grinsend. Ida strahlte mich an.     Auf dem Rückweg zum Hotel sprachen wir wenig. Selbstgespräche fielen in der Bahn zu sehr auf und ich hatte genug damit zu tun, mich hinter einem Schleier aus Haaren und meinem Mantelkragen zu verstecken. Früher hatte man meinen Namen gekannt, aber seit gestern hatte mein Titel ein Gesicht. Ida bemühte sich, den Leuten in der Bahn aus dem Weg zu gehen. Ich wusste nicht, seit wann sie einen so starken Effekt auf Menschen hatte, aber was sie mit dem Bodyguard gemacht hatte, wünschte ich niemandem. An unserer Station angekommen quetschte ich mich zwischen den anderen Passagieren nach draußen und machte mich auf den Weg zurück zum Hotel, das nicht allzu weit von der Haltestelle entfernt war. Ida schwirrte um mich herum, während sie versuchte, den vereinzelt herunterfallenden Schneeflocken auszuweichen. Ohne Erfolg. Ich war kaum durch die Zimmertür, da klingelte mein Diensthandy. Verwirrt zog ich es aus meiner Manteltasche, überprüfte den Bildschirm und legte das Handy an mein Ohr. „Sam, was gibt’s?“ „Was es gibt? Das sollte ich dich fragen. Du wolltest mich doch wegen der Exzision anrufen. Ich will wissen, wo ich morgen auftauchen soll, wenn die Prüfungen durch sind.“ Stimmt, da war ja was. „Hast du zufällig die Zeitung gelesen?“, fragte ich. „Wir sind hier in einem Lagerhaus eingebunkert, was erwartest du?“, kam ihre verächtliche Antwort. „Warum, stand was Interessantes drin?“ „Könnte man so sagen. Kurz gesagt, ich wurde gefeuert.“ Einen Moment herrschte Stille, dann erklang Sams Stimme erneut. Ungläubig. „Bitte was? Du willst mich verarschen!“ „Ich kann deine Hilfe nicht mehr in Anspruch nehmen, tut mir leid. Ich will Rock nicht noch mehr Ärger machen, als ohnehin schon.“ „Also bitte.“ Ich stellte mir Sams tadelnden Blick vor. „Ich habe Urlaub, ich kann tun und lassen, was ich will.“ „Es wäre mir lieber, du würdest Rock etwas von mir ausrichten. Ich kann derzeit schlecht in die Basis zurück.“ „Ich verstehe gar nichts mehr. Ich komme morgen trotzdem, egal was du sagst. Was soll ich Rock ausrichten?“ Ida schwebte näher zu mir, bis ihr Ohr direkt an dem Hörer lag. Ich konnte ihre kühle Präsenz an meiner Wange spüren. „Du weißt von dem Maulwurf?“ „Natürlich.“ Sams Stimme wurde augenblicklich ernst. „Ich hatte Angst, irgendjemanden falsch anzugucken, bei der Ansprache, die Harry gebracht hat.“ „Die Sache ist die …“, sagte ich und begann, Sam in meinen Verdacht einzuweihen. Als ich geendet hatte, herrschte Stille am anderen Ende. „Wenn das stimmt, bist du nicht mehr sicher, Coon“, sagte sie schließlich. „Harry hat dich am Leben gelassen, damit der Effekt auf Rocks Organisation größer ist, aber wenn er erfährt, dass du ihm auf die Schliche gekommen bist …“ „Ich weiß. Er ist bestimmt schon von Joey informiert worden.“ Ich holte tief Luft. „Meine einzige Hoffnung ist, dass Joey die Angelegenheit selbst regeln will, um vor Harry nicht das Gesicht zu verlieren, das verschafft mir aber höchstens ein oder zwei Tage. Wenn Harry erstmal seine Leute auf mich ansetzt, kann ich einpacken.“ „Du musst abhauen.“ Sam klang eindringlich. „Ich meine es ernst. Am besten fliehst du in einen anderen Distrikt. Wenn du außer Reichweite bist, lässt er dich vielleicht in Ruhe.“ „Das habe ich vor“, sagte ich und sah Ida an, die mich schon eine ganze Weile beobachtete. „Aber erst muss ich mich um Idas Vater kümmern.“ „Ich kann das übernehmen, sag mir, wo er wohnt und dann verschwinde von hier. Ich sage Rock wegen Harry Bescheid.“ „Du wirst den Daemon nicht alleine schaffen“, sagte ich. „Ich kann das unmöglich auf dich abwälzen.“ „Unfug.“ „Sam, versprich mir, dass du morgen zu Rock gehst, sobald die Prüfungen vorbei sind und ihm von Harry berichtest. Ich komme schon klar. Ida und ich sind inzwischen ein eingespieltes Team.“ Idas Augen leuchteten auf. „Mach dir keine Sorgen“, fügte ich hinzu. „Fein, aber versprich du mir, dass du gleich danach den Distrikt verlässt.“ „Sobald ich kann.“ „Was soll das nun wieder heißen?“ „Ich weiß es noch nicht. Ich lege jetzt auf, Sam.“ „Hey, war-“ Ich legte auf und warf das Handy auf mein Bett. Nur wenige Sekunden später klingelte es erneut, aber ich drückte Sams Anruf weg und schaltete das Gerät anschließend auf stumm. >Du willst den Distrikt verlassen? Ida schwebte aufs Bett und setzte sich im Schneidersitz in die Luft über der Matratze. Ich folgte ihrem Beispiel und schaltete meinen Laptop ein. „Ich habe keine große Wahl.“ erwiderte ich, während ich darauf wartete, dass mein Desktop erschien. „Hier kann ich nicht bleiben. Ich würde keinen Job mehr bekommen und Harry hat seine Leute überall. In einem anderen Distrikt muss ich meinen Ruf zwar neu aufbauen, aber mit meinen Fähigkeiten sollte das kein Problem sein.“ Ich öffnete das Internet. „Vielleicht mache ich mich wirklich selbstständig, wer weiß.“ Es war schon spät, als ich mich ausreichend über Züge und Wohnungen informiert hatte. Ich putzte mir die Zähne, zog mein Schlafshirt an und ließ mich unter die Bettdecke gleiten. Es dauerte nicht lange, bis Idas Kälte zu mir hinüber driftete, aber ich zog die Decke nur enger um mich. Kälter mochte es sein, aber so lange sie hier war, entkam ich einem Gefühl der Einsamkeit, das mich seit langer Zeit geplagt hatte. Morgen würde sie sich auflösen. Es war unsere letzte gemeinsame Nacht.     >Coon. Coon, wach auf. „Hmmm …“ Ich zwang ein Auge auf und schaute zu Ida, die besorgt über mir schwebte. >Jemand kommt. Augenblicklich war ich hellwach. Ich riss die Bettdecke zur Seite, zog mir schnell meine Jeans von gestern über und packte die nächstbeste Waffe, die ich finden konnte. Eine Glasflasche, halbvoll mit Wasser. Ich hatte nicht erwartet, dass Harrys Leute mich schon heute Nacht aufsuchen würden. Er hatte es wohl eilig. Ich konnte nur hoffen, dass er Sam noch nicht auf dem Radar hatte. Ich stellte mich neben meine Zimmertür und wartete. Wartete. Schließlich hörte ich das Knarzen der Treppe. Schritte im Flur. Es klopfte. Ich packte den Flaschenhals fester. Ida schwebte direkt neben mir. Es klopfte erneut, lauter. Ich stutzte. Warum klopften Harrys Killer? „Coon? Ich bin’s.“ Nein. Gottverdammte Scheiße nein, das war nicht sein Ernst. Ich riss die Tür auf. Da stand er. Ida zischte leise, als sie Christophers Gesicht erkannte. Seine Augen waren dunkel umrandet und sein Haar sah aus, als hätte er es seit unserem letzten Treffen nicht gewaschen. „Was willst du hier?“, fragte ich, die Flasche immer noch in der Hand. Mir war mit einem Mal schmerzlich bewusst, dass ich nur mein labbriges T-Shirt ohne BH und meine Jeans trug. Mein Haar stand vermutlich in alle Richtungen. Egal. Egal, egal, egal. „Wie hast du mich gefunden?“ Christopher sah an mir vorbei in den Raum. „Ist das tote Mädchen noch hier?“ „Ida ist direkt neben mir“, erwiderte ich brüsk. „Wo soll sie sonst sein?“ „Sag ihr, sie soll kurz verschwinden“, flüsterte Chris. Er machte einen Schritt auf mich zu und packte mein Gesicht. Dann küsste er mich. Ich ließ die Flasche fallen und riss mich los. Es klirrte, als das Glas auf dem Fußboden zersprang. „Coon, bitte, es tut mir leid!“ Chris hob die Hände. „Ich habe dich verletzt, ich hätte nicht einfach abhauen sollen, aber als ich aufgewacht bin, musste ich an Lorene denken und mir wurde plötzlich ganz schlecht und —“ Er brach ab, als er mein Zusammenzucken sah. „Oh Gott, so war das nicht gemeint, es ist nur, ich kann sie nicht vergessen und deshalb …“ „Und deshalb fickst du deine beste Freundin?“, fragte ich und dieses Mal war es Christopher, der zusammenzuckte. „Du weißt, was ich für dich empfinde. Und dann sagst du mir am nächsten Morgen per Notizzettel, dass es ein Fehler war, nur um zwei Tage später wieder hier anzukriechen? Hast du sie noch alle?!“ „Coon, es tut mir wirklich, wirklich leid!“ Ein flehender Unterton schlich in seine Stimme. „Seit Lorene tot ist, hat sich mein ganzes Leben verändert. Ich kann keine Frau mehr ansehen, ohne an sie zu denken. Ich liebe sie immer noch, aber ich muss sie loslassen. Du bist die Einzige, die mir noch bleibt!“ Ich ballte meine Fäuste. „Lorene hier, Lorene da, ich kann diesen verdammten Namen nicht mehr hören!“, schrie ich und stieß meinen Zeigefinger gegen Christophers Brust. „Hör auf, mich für alles verantwortlich zu machen, was seitdem passiert ist! Du hast keine Ahnung, wie kaputt es mich gemacht hat, wie kaputt mich alles gemacht hat, was mit ihr zu tun hatte! Sie hat mir dich weggenommen, als sie lebte und als sie starb und selbst jetzt treibt sie einen Keil zwischen uns. Ich kann das nicht mehr, Chris ...“ Ich ließ meinen Finger sinken und atmete tief durch. „Bitte geh. In ein paar Tagen verlasse ich den Distrikt. Ich will dich nie wiedersehen.“ Chris’ Gesichtszüge entgleisten, er packte meine Handgelenke und drängte mich in das Hotelzimmer, während er die Tür hinter sich zutrat. Ich schrie, versuchte, mich loszureißen, aber seine Finger bohrten sich tief in meine Haut. Plötzlich stießen meine Kniekehlen gegen die Bettkante und ich fiel nach hinten. Christopher landete über mir. „Lass mich los!“, schrie ich und trat mit meinen Beinen in alle Richtungen, aber es half nichts. Chris war größer und schwerer als ich und das Bett gab zu leicht nach. Ich konnte ihn nicht wegzudrücken. >LASS COON IN RUHE! In einem Moment hockte Christopher noch mit festem Griff über mir, im nächsten wurde sein Gesicht aschfahl und er ließ mich los. Sein Kopf sackte langsam auf seine Brust, während er nach seinem Herzen tastete. Idas Kopf tauchte aus seinem Brustkorb auf. Sie zwängte sich durch ihn hindurch und als sie seinen Körper halb durchquert hatte, kippte Christopher zur Seite, schwer atmend und schwitzend. „Danke …“, murmelte ich und stand zitternd vom Bett auf. „Das war knapp.“ Ida kämpfte sich das letzte Stück aus Christophers Brust heraus und schüttelte sich angeekelt. >Ich konnte ihn noch nie leiden. „Was … war das …“, keuchte Christopher und rollte sich auf seinen Rücken. Seine Atmung beruhigte sich langsam, aber er sah noch immer leichenblass aus. Mein Mitleid hielt sich in Grenzen, als ich mir die Handgelenke rieb. „Ich dachte, mein Herz würde durch Maschendraht gequetscht.“ „Wäre vielleicht besser gewesen“, sagte ich. Christopher sah zu mir. Scham und Entsetzen mischten sich bei meinem Anblick und er hievte sich hoch. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist“, flüsterte er. „Es tut mir leid.“ „Geh einfach.“ Er stand schwankend auf und verließ mein Zimmer, die Schultern und den Kopf hängend. Ich hatte nie gedacht, dass unsere Freundschaft so enden würde.     >Da ist es. Ida legte einen Zahn zu, als wir uns ihrer Wohnung näherten. Bei Tag wirkte die Straße weit weniger einschüchternd, als noch vor wenigen Tagen, als ich mich in zu dünnen Klamotten durch den nächtlichen Schneesturm gekämpft hatte. Königsstraße 89. Ich vergrub meine Hände tiefer in den Hosentaschen und folgte Ida, die aufgeregt vor ihrer Haustür um eine Person schwirrte. Als die Person den Kopf hob und Ida mit ihrem Blick folgte, stutzte ich. Strohblondes Haar stand in alle Richtungen ab und als der junge Mann mich entdeckte, winkte er. „Andrew?“, fragte ich ungläubig, als ich den Eingangsbereich erreichte und ihn als Sams Azubi von vor zwei Tagen identifizierte. „Was machst du denn hier? Was ist mit deiner Prüfung?“ „Andrew Adams kommt immer als erstes dran“, sagte er grinsend. „Ich habe mit wehenden Fahnen bestanden.“ „Herzlichen Glückwunsch“, erwiderte ich. „Warum bist du hier?“ „Naja, Samantha ist bis heute Abend beschäftigt, deswegen hat sie mich geschickt.“ „Das ist nicht dein Ernst“, sagte ich und starrte Andrew an. Er nickte zufrieden. „Doch, ist es. Ich bin die Verstärkung.“ Kapitel 5 --------- Ich lachte lauthals. „Nein. Nein, tut mir leid“, brachte ich schließlich heraus und holte mein Handy aus meiner Tasche. „Du gehst schön wieder nach Hause.“ Andrew lief rot an. „Wenn du Samantha anrufen willst, ihr Telefon ist aus“, sagte er und ich hielt inne. „Sie steckt mitten in der Prüfung, schon vergessen?“ „Andrew“, sagte ich und sah ihm tief in die Augen. „Du hast keine Ahnung, worauf du dich hier einlässt. Und dass Sam dich geschickt hat, ist mehr ein schlechter Witz als alles andere.“ „Was kann schon passieren?“, fragte er und verschränkte die Arme. „Ich habe die berühmte Raccoon Thynlee an meiner Seite.“ „Diese berühmte Raccoon Thynlee hatte schon einmal mit diesem Daemon zu tun und hat damals kläglich versagt“, erwiderte ich kalt. „Und du bist die grünste Art von Rookie, die es gibt. Du kannst gegen Attrappen kämpfen, wenn man dir vor Beginn einen Countdown gibt. Du kannst klassische Schlüsselmuster auswendig aufsagen. Das hat nichts mit einer echten Exzision zu tun, glaub mir. Das hier ist ein ganz anderes Kaliber.“ „Sie tun so, als wäre ich ein totaler Vollidiot“, murmelte Andrew. Seine gute Laune war verflogen. Gut so. „Ich bezweifle nicht, dass du Potenzial hast“, sagte ich. „Aber lass es dir von einer Veteranin gesagt sein: Die erste Exzision nach der Prüfung endet immer in einer Katastrophe. Dir fehlt die Routine. Dein Mentor kann nur darauf hoffen, dass du dir weder in die Hose machst, noch schreiend davonrennst und alle Beteiligten in Lebensgefahr bringst.“ „Sie übertreiben.“ „Nicht im Geringsten.“ Unsere Blicke trafen sich und wir starrten einander eine geschlagene Minute an, bevor Andrew wegsah. Ich lächelte grimmig. >Wäre es wirklich so schlimm? Ida schwirrte mit gerunzelter Stirn um Andrew herum, der unter ihrem Blick ein wenig zusammenschrumpfte. „Schlimmer“, sagte ich. „Ich will dich wirklich nicht schikanieren, Andrew, aber du bist nur ein Risiko. Wenn ich mich nicht auf den Daemon konzentrieren kann, weil ich nicht sicher bin, ob du deine Schlüssel noch weißt, dann sind wir alle in Rekordzeit tot.“ Er biss sich auf die Lippen. „Ida, wir gehen hoch“, sagte ich und als ich an Andrew vorbeiging, klopfte ich ihm auf die Schulter. „Nimm es nicht so schwer. Wir haben alle klein angefangen.“ Dann klingelte ich wahllos in verschiedenen Wohnungen, bis ein Sirren ertönte. Ich trat ein. Ida schwirrte fünf Treppen hinauf, bis sie vor einer Tür in der Luft schweben blieb. Sie war dunkler geworden. >Hier. „Dann mal los“, murmelte ich und legte ein Ohr an die Tür. Von innen konnte ich langsame Schritte hören. Dielen knarzten. Die Geräusche kamen näher. Ich klopfte. Ida sah mich verwirrt an, aber ich hielt einen Finger an meine Lippen und nickte ihr stumm zu. Sie zog die Stirn kraus, flog jedoch gehorsam auf meine linke Seite. Von innen hörte ich eine Stimme. Sie war heiser. Tief. „Ich bin hier, Daemon“, sagte ich gedehnt, meine Wange an die Tür gelegt. Ein leises Kreischen. Die Schritte kamen wieder näher und ich machte einen Schritt von der Tür weg. Als ich die Augen zusammenkniff, entdeckte ich einige gelbe Spuren um die Tür und auf dem Fußboden. Sie waren so blass, dass ich sie fast übersehen hätte. Idas Vater hatte die Wohnung seit seiner Bewirtung nicht verlassen. Das Schloss klickte und ich hob beide Hände, bereit, meine Schlüssel aufzusagen, aber die Tür öffnete sich nur einen schmalen Spalt. Finger umklammerten die Kante. Verschwanden wieder. Ich nickte Ida zu, die nach vorne schwebte und vorsichtig in die Wohnung lugte. Sie sah zu mir, nickte und verschwand im Inneren. Ich folgte ihr. Der Dielenboden quietschte unter meinen Boots und ich sah mich rasch um. Schmaler Flur, offener Wohnbereich, kleine Küche, zwei verschlossene Türen. Weiße Wände, so dicht mit gelben Spuren bedeckt, dass mir schwindelig wurde. Ida schwebte bereits neben dem Durchgang zum Wohnzimmer. Ihr Blick war starr hinein gerichtet. >Daddy. Ich folgte ihr. Idas Vater war älter als erwartet, sein Haar gesprenkelt vom Grau des Alters und seine rotumrandeten Augen schauten mich aus eingefallenen Höhlen an. Wirt zu sein kostete viel Kraft. Ich bezweifelte, dass der Daemon sich um eine ausgewogene Ernährung gekümmert hatte. „Ich kenne dich ...“, sagte der Mann langsam und deutete mit einem zittrigen Finger auf mich. Dann grinste er breit und für einen Moment leuchteten seine Augen mir in einem grellen Gelb entgegen. „Ida, halt ihn fest“, murmelte ich und hob meine Hände. Ida nickte entschlossen. Ihr Vater machte einen Schritt auf uns zu, streckte einen Arm aus und kreischte. Ida schoss nach vorne und in ihn hinein. Ich erwartete, dass er wie Joeys Türsteher gelähmt zu Boden gehen würde, doch Ida war kaum mit dem Kopf in seiner Brust, da wurde sie aus seinem Körper herausgeschleudert und überschlug sich mehrmals in der Luft, bevor sie sich wieder fing, halb in der Wand hängend. Sie zischte. „Relictus“, sagte ich laut, bevor Idas Vater angreifen konnte. Er schüttelte sich, als hätte ich ihn mit kaltem Wasser nass bespritzt, blieb sonst jedoch völlig unbeeindruckt. Gottverdammte Scheiße. Er war noch stärker als vor einem Jahr. „Ida, du musst ihn verdrängen“, befahl ich. Sie tauchte augenblicklich neben mir auf, schwärzer denn je. „Deine Masse ist geringer als seine, aber wir sind zu zweit. Los!“ Ida fauchte und schoss erneut auf ihren Vater zu, während ich den Austreibungsschlüssel wiederholte, dieses Mal lauter. Meine gekreuzten Handflächen waren direkt auf seine Brust gerichtet. Wieder dauerte es nur wenige Sekunden, bevor Ida an mir vorbeigeschleudert wurde und sich mehrfach überschlug. Entschlossen startete sie einen neuen Versuch. „Relictus!“, rief ich, genau in dem Moment, da Ida ihren Kopf in der Brust ihres Vaters versenkte. Der Daemon ließ einen tiefen, genervten Schrei los, aber wie erwartet konnte er sich nicht vor beiden Angriffen gleichzeitig schützen. Ida verschwand bis zu den Schultern in ihrem Vater und er riss den Kopf nach hinten. Schwarzer Rauch strömte aus seinem weitgeöffneten Mund, wurde im nächsten Moment jedoch wieder gierig aufgesogen. Ida kämpfte gegen den Daemon an, aber sie war zu schwach. Als sie wieder an mir vorbeiflog, biss ich mir auf die Lippen. Wenn es schon so schwierig war, den Daemon von seinem Wirt zu trennen, wollte ich nicht wissen, wie die Exzision laufen würde. Hinter mir knarzten die Flurdielen und ich fluchte leise. Ich hatte vergessen, die Eingangstür zu schließen. „Hunter im Einsatz, bitte verlassen Sie sofort die Wohnung, sonst kann ich nicht für Ihre Sicherheit garantieren!“, rief ich mit lauter Stimme, während Ida sich ein weiteres Mal auf ihren Vater stürzte. Dieses Mal schoss sie mehrmals um ihn herum, bevor sie ihn von hinten attackierte. „Keine Sorge“, ertönte eine Stimme hinter mir und ich stöhnte. „Sie müssen für nichts garantieren. Ich bin freiwillig hier.“ „Andrew. Hau. Sofort. Ab.“ Ida wurde zur Seite katapultiert und flog durch den Bücherschrank hindurch. Sie zischte, als ihre Masse durch das Holz gequetscht wurde. „Sie brauchen meine Hilfe“, sagte Andrew und bezog neben mir Stellung. „Falsch“, sagte ich kalt. „Relictus. Ich brauche erfahrene Hilfe.“ „Ihre Auswahlmöglichkeiten sind leider etwas beschränkt“, erwiderte er und hob seine Arme. „Ich werde dich nicht beschützen“, flüsterte ich bedrohlich, ohne ihn anzusehen. „Wenn er dich angreift, bist du auf dich allein gestellt.“ „Ich bin der Beste aus meinem Jahrgang. Samantha sagt, ich habe das größte Potential, das sie seit Beginn ihrer Karriere gesehen hat.“ „Relictus“, sagte ich laut und der Wirt krümmte sich, dann machte er einen Schritt nach vorne. Ida war sofort zur Stelle. Auch wenn sie es nicht schaffte, den Daemon aus ihrem Vater zu verdrängen, hielt sie ihn immerhin davon ab, uns zu nahe zu kommen. „Dann zeig mal, was du kannst, Superhirn.“ „Relictus“, sagte Andrew laut. Idas Vater sah ihn breit grinsend an. „Relictus.“ seine Stimme wurde panischer, als er keine Reaktion hervorrief. „Ziel nicht auf seinen Kopf“, sagte ich genervt und fügte ein Relictus hinzu. Dieses Mal machte der Daemon einen Schritt nach hinten und zischte. Ich hatte keine Zeit, ihm Nachhilfe zu geben! „Der Daemon sitzt im Brustkorb. Hast du in Daemonologie nicht aufgepasst?“ Andrew wurde rot, passte seine Haltung aber an, sodass seine gekreuzten Hände nun auf den Oberkörper des Wirts zielten. „Relictus.“ Ida zwängte sich aus dem Bücherregal. Sie war schwarz wie die Nacht und ihre Formen begannen bereits, sich aufzulösen. Gottverdammte Scheiße. Trotz ihres Zustands schüttelte Ida sich, schoss an die Decke und preschte von oben auf ihren Vater zu. Im letzten Moment riss sie ihre schlierige Form zur Seite und durchbrach zum ersten Mal die Barriere des Daemons. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte sie sich in ihren Vater gepresst, bis nur noch ihre Beine aus ihm herausragten. Andrew verzog das Gesicht. „Auf drei“, befahl ich. „Eins, zwei, drei!“ „Relictus!“, riefen wir beide gleichzeitig, gerade in dem Moment, da Ida vollends in ihrem Vater verschwand. Sie füllte ihn von innen aus. Der Schrei des Wirts rang in meinen Ohren wieder und ich kniff ein Auge zu. Idas Vater riss den Kopf nach hinten und eine schwarze Rauchsäule brach aus dem weitgeöffneten Mund hervor. Sie war dichter und länger als ich erwartet hatte und als der Daemon sich schließlich vor uns materialisierte, musste ich schlucken. Gelber Geifer tropfte von den schwarzen, fingerlangen Zähnen und ebenfalls gelbe, faustgroße Augen blinzelten mich hasserfüllt an. Der Daemon war groß wie ein Pferd und tänzelte auf allen Vieren hin und her. Wann immer er gelb pulsierte, erfüllte das Licht den gesamten Raum. Idas Vater fiel wie ein nasser Sack zu Boden und blieb bewusstlos neben einem Sessel liegen. Andrew machte einen Schritt zurück und der Daemon riss den kantigen Kopf herum, seine lidlosen Augen auf ihn gerichtet. Er kam auf uns zu. Das Holz der Dielen zerbarst unter seinen Klauen. Der Daemon fauchte, riss das Maul weit auf und machte einen Satz nach vorne. Andrew stand wie erstarrt. „Manere, Haesitare, Sidere!“, schrie ich laut und die Kraft der Worte durchfuhr mich wie ein elektrischer Schock. Als hätte die Schwerkraft mit einem Mal zugenommen, wurde der Daemon zu Boden gerissen und blieb alle Viere von sich gestreckt liegen, bevor er die Zähne bleckte und sich fauchend gegen mein Fixierungsmuster aufbäumte. „Decedere, Occidere, Mori“, fuhr ich mit dem Schwächungsmuster fort. Schweiß tropfte meine Wange hinunter. Schwarzer Rauch stieg von dem Daemon auf und verdichtete sich über ihm. Als der Nebel sich lichtete, entdeckte ich Ida, die wie ein Rachegeist über ihm schwebte, ihre Augen schwarze, blanke Spiegel. „Ida, beschäftige ihn, Andrew, lineares Fixierungsmuster Kategorie 5, ich übernehme die Schwächung. Los!“ >Geht klar. Ich warf Andrew einen flüchtigen Blick zu. Seine Augen waren aufgerissen, seine halbgeöffneten Lippen zitterten. „Andrew!“, schrie ich ihn an und er riss den Kopf herum. Panische Augen starrten mich an. „Entweder du haust ab oder du machst dich verdammt nochmal nützlich!“ Ida stürzte sich auf den Daemon, der den Kopf herumriss und nach ihr schlug, aber sie wich rechtzeitig aus und attackierte ihn von der anderen Seite. „Mori, Occidere, Decedere!“, rief ich und verringerte die Größe des leeren Dreiecks zwischen meinen Händen, um den Fokus meiner Schlüssel zu verstärken. Der Daemon schlitterte über den Boden und verfolgte Ida, seine gelben Glubschaugen weit aufgerissen. Ida schoss durch die Luft, schlug Haken und rammte ihn wieder und wieder. „Occidere, Mori, Occidere“, sagte ich und staffelte damit mein trigonales Schwächungsmuster. Ich warf einen weiteren Blick zu Andrew. Er starrte regungslos auf das Geschehen. Genau deshalb hatte ich ihn weggeschickt! „Mori!“, beendete ich mein Muster und begann von vorne. Während ich einen Schwächungsschlüssel nach dem anderen aufsagte, beobachtete ich den Daemon mit hin und her huschenden Augen. Idas Ablenkungsmanöver war einfach, aber effektiv. Wann immer der Daemon sich mir und Andrew zuwendete, griff sie ihn an oder riss ihn zurück. In manchen Momenten waren sie so dicht ineinander verkeilt, dass ich nicht mehr wusste, wo Ida anfing und der Daemon aufhörte. Das machte das Zielen nicht leicht, aber ich war froh, mich auf die Schwächung konzentrieren zu können. Je weniger Energie ich auf die Fixierung verwenden musste, umso schneller konnte ich den Daemon exzidieren. Ich wusste aus Erfahrung, dass meine Schmerzgrenze bei ungefähr fünfundzwanzig Minuten lag. Vielleicht schaffte ich dreißig. Danach war ich so gut wie tot. Ida flog an mir vorbei und landete mit einem lauten Schrei in der Wand hinter mir. Ich riss den Kopf zu ihr herum. >Pass auf! Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um doppelt so stark weiterzuschlagen, als ich mich hektisch wieder dem Daemon zuwandte. Er raste auf mich zu. „Protectio!“ „Sidere!“ Der Daemon erstarrte mitten in der Bewegung. Mein Verteidigungsschlüssel umhüllte mich wie ein Schleier aus warmem Wasser. Ich drehte den Kopf. Andrews Hände waren erhoben, er keuchte und seine Augen waren weit aufgerissen. Ich nickte ihm zu. „Willkommen zurück.“ sagte ich, dann sah ich wieder zu dem Daemon. „Mori.“ „Sidere.“     Ich sah Gelb. Gelbe Augen, gelbe Fußspuren, die den gesamten Raum bedeckten und gelber Speichel, der auf meinem blauen Mantel klebte. Ich zitterte. Der Daemon hatte sich aufgerichtet und sein schwarzes Gesicht war meinem so nahe, dass ich meine Reflektion in seinen runden Augen erkennen konnte. Meine Kehle war trocken und rau, meine Zunge taub und mein Kopf dröhnte. Die Exzision dauerte seit über fünfzehn Minuten an und ich spürte die Konsequenzen, die sie auf meinen Körper hatte. Meine Arme hingen seitlich von meinem Körper. Mit einem Daemon, der direkt vor mir stand, wagte ich nicht, ihm noch mehr Angriffsfläche zu geben. Idas Arme waren um seinen kurzen Hals geschlungen und sie fauchte und zischte, während sie ihn davon abhielt, mir an die Kehle zu springen, während Andrew versuchte, einen weiteren Fixierungsschlüssel aufzusagen. Stattdessen würgte er und wischte sich das Blut vom Kinn. Er war leichenblass. „Protectio“, sagte ich, meine malträtierte Stimme kaum mehr als ein Flüstern. >Ich kann ihn nicht mehr lange halten. Ich nickte, machte vorsichtig einen Schritt nach hinten. Fünf Sekunden waren um. „Protectio“, wiederholte ich. Ich machte noch einen Schritt nach hinten. Andrew folgte meinem Beispiel und gemeinsam vergrößerten wir den Abstand um einen Meter. Dann trafen unsere Rücken die Wand. Ich hob wieder meine Arme und nickte Andrew zu. „Lass los“, sagte ich zu Ida, die erleichtert ihren Griff löste. „Sidere!“, riefen Andrew und ich gleichzeitig mit brüchiger Stimme und der Daemon wurde mit einem lauten Knall zu Boden gerissen, wo er bebend liegen blieb. Seine gelben Augen leuchteten mir voller Hass entgegen. Andrew hustete und spuckte Blut auf die Holzdielen. „Wie lange hältst du noch durch?“, fragte ich Andrew heiser, bevor ich einen weiteren Fixierungsschlüssel aufsagte. Der Körper des Daemon war nur noch so groß wie eine Dogge, aber er hielt unseren Mustern immer noch stand. Andrew schüttelte den Kopf. Er konnte nicht mehr sprechen. Gottverdammte Scheiße. Ich holte tief Luft. „Ida, halt ihn da unten fest“, wisperte ich. „Ich beende das jetzt.“ >Verlass dich auf mich. Ich positionierte meine Hände neu und öffnete meinen Mund. Ich wusste nicht, ob mein Körper das gestaffelte trigonale Schwächungsmuster verkraften würde, das ich jetzt vorhatte. Die Exzision hatte mir bereits einiges abverlangt. Aber ich wusste eins: Wenn ich den Daemon wieder entkommen ließ, würde er nur noch stärker werden. Noch mehr Menschen würden sterben. Menschen wie Lorene, wie Ida, wie Britta. Denk nicht daran! Ida schoss auf den Daemon hinab und klammerte sich an ihm fest. Ihre Masse war so schwarz wie die ihres Gegners, trotzdem blieb sie ein Dae. Es war bemerkenswert. „Abire, Deficere, Decedere, Occidere, Mori“, begann ich. Meine Stimme brach, aber ich machte einen Schritt nach vorne und machte weiter. Ich konnte jetzt nicht aufgeben. Solange meine Stimme nicht versagte, hatte ich genug Kraft, um zu gewinnen. „Deficere, Decedere, Occidere, Mori. Decedere, Occidere, Mori.“ Der Daemon kreischte und wand sich aus Idas Griff, die sofort fauchte und ihre Zähne in seinem Genick vergrub. Während die Beiden rangelten, machte ich einen weiteren Schritt. „Occidere, Mori. Mori. Mori, Occidere.“ Ich hustete. Das Blut in meinem Mund schmeckte nach alten Münzen. Ich hatte keine Zeit mehr. „Mori, Occidere, Decedere. Mori, Occidere, Decedere, Deficere. Mori, Occidere, Decedere, Defic—“ Ich brach ab und packte meine Kehle. Mein Hals schien in Flammen zu stehen und ich öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Ich beugte mich vornüber, sank auf meine Knie. „De... Defi...“ Es ging nicht. „Deficere, Abire“, beendete Andrew mein Muster mit kaputter Stimme. Der Schrei des Daemons ließ Ida zusammenfahren. Sie ließ ihn los. Statt uns anzugreifen, packte der Daemon seinen Kopf und kreischte, seine Krallen bohrten sich in seine eigene pechschwarze Masse, die gelben Augen traten aus seinem Körper hervor. Schwarzer Rauch stieg von ihm auf, erst von seinen Pranken und Gliedmaßen, dann von seinem Rücken, seinem Gesicht und schließlich sogar aus seinem weit aufgerissenen Maul. Innerhalb von Sekunden war das gesamte Wohnzimmer mit schwarzen, undurchdringlichen Rauchschwaden durchzogen. Ich starrte in die Finsternis. Eine schwarze Klaue schoss auf mein Gesicht zu, aber ich riss den Kopf zur Seite, packte an dem Arm vorbei mitten in den Rauch und als ich ein Glubschauge unter meinen Fingern spürte, packte ich zu. Meine Hand sank ein Stück in die kalte Masse ein und meine Finger wurden taub, aber ich ließ nicht locker. „Supplicium, Obitus, Mors.“ Der Klang meiner Stimme erreichte kaum Andrew, der direkt neben mir saß, aber das Kreischen des Daemons vervielfachte sich, bis die Masse in meinen Händen zerfiel und die schwarzen Rauchschwaden sich so sehr verdichteten, dass ich nach Luft ringen musste. Mehrere Minuten lang saß ich inmitten der Überreste des stärksten Daemons, gegen den ich je gekämpft hatte. Nach und nach verflüchtigte sich der Rauch und ich konnte wieder sehen. Der Daemon war verschwunden, Idas Vater und Andrew lagen bewusstlos auf dem Boden und Ida schwirrte auf mich zu, kaum dass sie mich wiedersehen konnte. Sie war weiß wie frischgefallener Schnee.     >Sollte ich jetzt gehen? Ich sah Ida lange an. Sie war weiß, aber ich konnte noch genauso wenig durch sie hindurchsehen, wie beim ersten Mal. Warum? Ida hatte sich an mich gebunden, weil sie ihren Vater retten wollte. Der Daemon war exzidiert. Trotzdem verschwand sie nicht. Ich öffnete den Mund, aber außer einem heiseren Husten brachte ich keinen Ton hervor. Meine Schädeldecke fühlte sich an, als wäre dort jemand mit einem Schlagbohrer zugange und meine Sicht verschwamm immer wieder. Ich blinzelte. Ida schien zu verstehen, denn sie sank zu mir herab und legte ihre weißen Hände auf meine. >Ich will nicht verschwinden, Coon. Ich will bei dir bleiben. Verständnislos sah ich sie an. >Wenn ich bei dir bin, fühle ich mich lebendig. Ich will nicht sterben. Ich will das nicht verlieren. Ich hab dich lieb, Coon. Bitte schick mich nicht weg. Während ich schwieg, wurde Ida graduell grauer, aber sie hielt meinen Blick. >Ich bin doch dein Partner. Oder nicht? Ich schloss für einen Moment die Augen, dann lächelte ich und sah Ida an. Ihre Züge hellten sich augenblicklich auf. Ich wollte etwas sagen, aber meine Stimme versagte, also breitete ich als Antwort meine Arme aus. Ida ließ sich in meine Umarmung fallen, auch wenn ihre Masse sich völlig verflüchtigt hatte und sie beinahe durch mich hindurchfiel. „Willkommen im Team, Partner ...“, murmelte ich tonlos. Ich war nicht sicher, ob Ida mich gehört hatte, aber es war mir egal.     Es dauerte eine ganze Weile, bis mein Körper sich von dem ersten Exzisionsschock erholt hatte. Meine Stimme kehrte langsam zurück und das Brennen in meiner Kehle wurde durch das Wasser beruhigt, das ich mir aus der Küche genommen und dann neben mich gestellt hatte, während ich regungslos an der Wand lehnte. >Andrew scheint es besser zu gehen. Ida schwirrte um seinen bewusstlosen Körper und stupste seine Wange mit einem hellgrauen Zeh an. „Gut“, sagte ich tonlos. „Sollen wir warten, bis dein Vater aufwacht?“ Sie legte den Kopf schief und dachte einen Moment lang nach, dann schüttelte sie den Kopf. >Ich bin tot. „Vielleicht würde er es besser verkraften, wenn er weiß, dass du noch hier bist.“ >Vielleicht. Aber wir haben keine Zeit. Sie sah mich ernst an. >Harry sucht sicher schon nach dir. „Hoffentlich nicht“, murmelte ich und rieb mir die Augen. Wände und Fußboden des Wohnzimmers waren mit neongelben Spuren übersäht und bereiteten mir Kopfschmerzen. Ida hatte Recht, das wusste ich. Je schneller wir aus dem Distrikt verschwanden, umso sicherer waren wir. „Dann sollten wir jetzt gehen“, sagte ich. „Ich werde Rock sagen, dass er sich um deinen Vater kümmern soll. Er muss zumindest erfahren, was passiert ist.“ Ida nickte, dann sah sie fragend zu Andrew. „Der wacht vorerst nicht auf. Das war seine erste richtige Exzision und er hat—“ Ich brach ab und hustete. „—sich überanstrengt“, beendete ich den Satz und stand auf. Ich fischte das Handy aus meiner Manteltasche und schrieb Sam eine knappe SMS. Ida tauchte hinter mir auf und spähte neugierig über meine Schulter. „Komm“, flüsterte ich. Ich steckte meine Hände in meine Manteltaschen und gemeinsam mit Ida verließ ich ihr ehemaliges Zuhause. Während wir die Treppen hinunterstiegen, beobachtete ich sie genau, aber sie zeigte keine Anzeichen von Bedauern. Ida schwirrte an mir vorbei und begann, rückwärts vor mir herzufliegen, die Hände hinter ihrem Rücken verschränkt. >Was tun wir jetzt? „Wir fahren zurück ins Hotelzimmer, holen—“ Ein weiterer Hustenanfall unterbrach mich, aber er war nicht so schlimm wie der erste. „Dann holen wir meine Sachen und nehmen den nächsten Zug, der uns hier rausbringt.“ >Und dann? „Mal sehen.“ Den Rest des Treppenhauses legten wir schweigend zurück. Als wir das Wohnhaus verließen, wehte mir eine frische Brise ins Gesicht. Es schneite nicht mehr und außer einer dünnen Flockendecke war die Straße frei. Ich wandte mich nach rechts. Die U-Bahn-Station lag nur wenige Minuten von hier entfernt. Die Straßen waren leer, außer uns und einem einsamen Fußgänger war keine Menschenseele unterwegs. Ida schwirrte einige Meter vor mir her, nur um blitzschnell wieder an meine Seite zu schießen und dann ihren Abstand wieder zu vergrößern. Plötzlich blieb sie jedoch in der Luft hängen und bewegte sich keinen Zentimeter mehr. Der Fußgänger war nur noch zwanzig Meter entfernt und sie schaute starr in seine Richtung. >Er kann mich sehen. „Der Mann?“, flüsterte ich zurück. >Seine Augen folgen mir schon die ganze Zeit. „Vielleicht ist er ein Hunter.“ Er war nur noch zehn Meter entfernt. Meine Augen kribbelten und ich blinzelte mehrmals. Dann erkannte ich die Pistole in seinem Hosenbund. Fuck. „Weg hier“, zischte ich und drehte mich blitzschnell um, nur um in den Armen eines weiteren Mannes zu landen, der über mir emporragte und meine Handgelenke mit eisernem Griff packte. Warum konnte nicht einmal alles nach Plan laufen? Ich versuchte, mich loszureißen, aber ich war immer noch geschwächt von der Exzision und selbst unter normalen Umständen hätte ich wahrscheinlich keine Chance gehabt. Sein Partner tauchte hinter mir auf und presste ein getränktes Stofftaschentuch über mein Gesicht. Der stechende Geruch von Chlorophorm füllte meine Nase. Idas Fauchen hallte in meinen Ohren wider, bevor die Welt vor meinen Augen verschwamm.     „Raccoon.“ Mein Kopf lallte von einer Seite zur anderen, während ich versuchte, mein Erwachen zu beschleunigen. „Du bist also wach.“ Harrys kalte, berechnende Stimme war nur wenige Meter von mir entfernt. >Coon! Ich öffnete meine Augen einen Spalt und entdeckte Ida, die schwarz wie Ruß vor meinem Gesicht schwebte. Erleichterung spiegelte sich in ihren Zügen wider, aber auch Angst. Ich versuchte, meine Hände zu bewegen, aber Handschellen hielten mich zurück. Ein Seil schnitt die Blutzufuhr zu meinen Füßen ab, wo es meine Waden an die Stuhlbeine schnürte. Ich sah an Ida vorbei zu Harry, der wie üblich in Anzug und mit Zigarre am anderen Ende des schwach beleuchteten Kellerraums stand. Er sah mich abwägend an. „Du wirst bemerkt haben, dass meine Agenten dich hierhergebracht und bewegungsunfähig gemacht haben. Ich hatte nicht vor, dich zu töten, aber du hast mich enttarnt, bevor mein Auftrag erfüllt war. Du lässt mir keine Wahl. Ich hoffe, du nimmst es nicht persönlich.“ „Fucker“, zischte ich, aber Harry verzog keine Miene. „Diese Welt ist auf Geld gebaut“, sagte er und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarre. „Wer stattdessen auf Vertrauen und Loyalität setzt, muss mit den Konsequenzen rechnen. Ich werde mich nicht rechtfertigen, Raccoon, aber ich muss dir sagen, dass deine Fehler mich sehr amüsiert haben. Deinen Laptop für die Recherche nutzen? Wirklich? Ich hatte dich intelligenter eingeschätzt, das muss ich zugeben.“ Er schüttelte den Kopf. „Wenn ich jemanden im Auge habe, dann meine ich das wörtlich. Deine Wohnung und dein Laptop sind verwanzt. Es war nicht schwer, anhand deiner Chronik deinen gesamten Gedankengang nachzuvollziehen. Vielleicht hätte ich dich sogar einfach fliehen lassen, aber so wie die Dinge stehen, kann ich den Auftrag nicht riskieren.“ Hinter mir klickte es und ich spürte kaltes, rundes Metall, das sich gegen meine Schläfe presste. >Lass sie los! Ida schoss an mir vorbei und ich hörte das Ächzen des Mannes, als sie durch ihn hindurchflog. „Faszinierend“, sagte Harry unbeeindruckt, als das Metall sich von meinem Kopf löste. „Leider ist dein Dae allein.“ Mit diesen Worten tauchte der zweite Mann aus den Schatten auf, ebenfalls eine Pistole mit Schalldämpfer auf mich gerichtet. Ich riss an meinen Fesseln, aber die Handschellen gaben kein Stück nach. Als der zweite Mann seine Waffe entriegelte, stieg Panik in meiner Kehle auf und verzweifelt warf ich mich hin und her. Der erste Schuss fiel, aber ich kippte gerade noch rechtzeitig zur Seite, um der Kugel zu entgehen. Der Mann schnalzte mit der Zunge, dann zielte er neu. Ich lag seitlich auf dem Steinboden. Keine Fluchtmöglichkeiten. Ida schrie und fauchte, während sie an mir vorbeischoss und auf Harrys Spion zuraste. Der Schuss fiel—Holz zersplitterte. Ida hatte seine Sicht verdeckt und den Schuss abgelenkt. Ich atmete lange und tief ein, Gedanken rasten durch meinen Kopf. Ich musste irgendwie abhauen. Es musste einen Weg geben! Der Spion sackte keuchend zusammen, als Ida durch ihn hindurchschoss, aber hinter mir sammelte sich Harrys zweiter Mann bereits. Es war aus. Eine Tür über uns knarzte und ein langer Lichtstrahl erleuchtete die Treppe und Teile der Wände. Ein großer, schwarzer Schatten tauchte im Lichtschein auf und ich verrenkte meinen Kopf, um denjenigen zu sehen, der ihn warf. Ich traute meinen Augen nicht. „Hallo Äuglein“, sagte Paige und ächzte, als sie die Treppe hinunterstieg. Mit einem Arm hielt sie Joeys Hals umklammert, der würgte und nach Luft rang, während ihre freie Hand einen Revolver festhielt. Sie ließ den Blick über alle Anwesenden gleiten und hob die Waffe. Die Kugel schoss an mir vorbei und das Poltern hinter mir bestätigte den Tod des ersten Spions. Den Zweiten hielt weiterhin Ida in der Mangel. „Danke für die Wegbeschreibung“, sagte Paige und stieß Joey von sich weg, der die Stufen hinunter stolperte und schließlich zu Boden stürzte. Die zweite Kugel ihres Revolvers durchbohrte seinen Schädel. Blut spritzte zu Boden und auf Harrys Hosenbeine. Er verzog das Gesicht. „War es schon immer deine Art, dich in Angelegenheiten anderer einzumischen?“, fragte er und zog ein letztes Mal an seiner halb aufgerauchten Zigarre, bevor er sie zu Boden fallen ließ. „Du hast meinen Auftraggeber erschossen. Er schuldet mir noch Geld.“ „Oh, wirklich?“ Paige beugte sich etwas nach vorne, um an ihrem Bauch vorbei auf die Stufen unter sich zu schauen, bevor sie den Treppenabstieg in Angriff nahm. „Mein Fehler.“ „Meinen Anzug hast du auch ruiniert.“ Er seufzte. „Ich dachte, wir könnten diese Angelegenheit zivilisiert lösen. Ich scheine mich geirrt zu haben.“ „Oh, wir können das immer noch zivilisiert regeln. Meinst du nicht auch, Thynlee?“ „Wenn mich jemand losmacht, löse ich die Angelegenheit gerne zivilisiert“, fauchte ich und versuchte, mich loszumachen, aber keine Chance. „Das muss wohl noch warten“, sagte Paige und richtete ihren Revolver auf Harrys zweiten Mann, der von Ida festgehalten wurde. Ihr schwarzer Körper war halb in seinem versunken und Schweiß tropfte sein Kinn herab, während er fieberhaft nach seiner Brust tastete. Der Schuss hallte im Keller wider und Ida schoss an meine Seite, als der Agent tot zu Boden sackte, die Augen weit aufgerissen. Sie zischte leise. >Wird sie Harry auch umbringen? Ich sah zu ihr. „Willst du das?“ >Ich weiß nicht. Aber er will dich töten. Ich nickte. „Das war deine dritte Kugel“, sagte Harry und steckte eine Hand in seine Hosentasche. Ich kniff die Augen zusammen, versuchte zu erkennen, was er tat. „Bleiben noch drei.“ „Ich brauche nur eine.“ „Wirklich?“ Er lächelte. „Das würde ich zu gerne sehen.“ Im Stockwerk über uns klingelte ein Handy. Rufe wurden laut. Polternde Schritte. Paige drehte sich um und ich verrenkte den Kopf, um die Tür am oberen Ende der Treppe erkennen zu können. Einer nach dem anderen strömten Männer und einige Frauen in den Keller, alle in Anzügen und Krawatte gekleidet. Es waren acht. Ich schluckte. >So viele! „Das sieht übel aus“, flüsterte ich zurück. „Paige hat nicht genug Kugeln.“ „Was wirst du jetzt tun?“ fragte Harry, während sich vier der Agenten dicht um ihn scharten, um ihn vor etwaigen Angriffen schützten. „Vergib mir die Vermutung, aber du scheinst nicht für körperliche Konflikte gebaut zu sein.“ „Charmant formuliert, Harry“, erwiderte Paige mit einem steifen Lächeln. „Du darfst mir mal ein Martini ausgeben.“ „Mit dem größten Vergnügen.“ >Coon? Sind das die Bösen? Mein Blick huschte zu Ida zurück. „Warum fragst du?“ >Wenn sie die Bösen sind, darf man sie töten, oder? „Was hast du— Nein, Ida, lass es sein!“ Sie drehte den Kopf und lächelte mich entschuldigend an. Dann verlor sie ihre Konturen und sank auf allen Vieren zu Boden. Licht pulsierte von ihrem Körper und als sie die Augen aufschlug, waren sie groß und genauso gelb wie die eines jeden Daemons. „Nein …“, flüsterte ich. All die Mühe, um Ida vor diesem Schicksal zu bewahren, und jetzt das? Das Grau ihres Körpers war endloser Schwärze gewichen. Sie setzte einen Arm nach vorne, drehte sich langsam zu mir um. Gottverdammte Scheiße, ich musste sie exzidieren. Aber ich konnte meine Hände nicht bewegen. Und ich konnte nicht Ida exzidieren! Unsere Blicke trafen sich. Ich erwartete, die stumpfe Mordlust eines Daemons darin zu sehen, aber ich konnte nur Entschlossenheit erkennen. Ich kniff die Augen zusammen. Ja, da war sie. Ida war noch irgendwo da drin. „Das ist eine überraschende Wendung“, sagte Harry langsam, aber seine Stimme war etwas kühler als zuvor. Also war außer mir kein Hunter anwesend. Vielleicht … „Schnapp sie dir“, sagte ich laut und Ida sprang wie ein Raubtier auf den ihr am nächsten stehenden Agenten zu. Sie bleckte ihre schwarzen Zähne und versenkte sie in seiner ungeschützten Halsbeuge. Blut färbte sein weißes Hemd rot, als sie sich von ihm löste und auf den nächsten Gegner zuschoss. Harrys restliche Leute starrten geschockt umher, unfähig, den Ursprung des um sie greifenden Todes zu erkennen. „Rückzug!“, rief Harry und es dauerte keine Sekunde, bevor die Agenten die Treppe nach oben rannten, Harry in ihrer Mitte. „Ida!“, schrie ich und sie schlitterte über den Boden, als sie abrupt die Richtung änderte und zwischen den Agenten hindurchraste. Sie katapultierte sich hoch in die Luft und landete auf Harrys Rücken, der erstickt keuchte und sich panisch umdrehte. Ida kletterte um seinen Hals herum und verformte sich zu dichtem, schwarzem Rauch, der durch Harrys geöffneten Mund in sein Inneres drang. Harry hielt in seiner Bewegung inne. Seine Augen kippten in ihren Höhlen nach hinten, bis ich nur noch weiß erkennen konnte, dann fokussierten sie sich plötzlich. Ein gelber Schimmer ging von ihm aus. Er hob eine Hand, die ein zittriges Winken vollführte. „Ich hab ihn, Coon.“ Es war Harrys Stimme, nur hallender und dunkler, aber es war Idas Intonation. Es klang so grotesk, dass sich mir alle Haare aufstellten, aber gleichzeitig spürte ich einen inneren Triumph, der mich breit grinsend ließ. „Gute Arbeit, Partner!“, rief ich ihr zu und Harry-Ida lächelte zufrieden. „Das ist … verblüffend“, sagte Paige und ließ ihren Revolver sinken. „Ein bewusster Daemon? Davon habe ich noch nie gehört.“ „Ich auch nicht“, gestand ich. „Aber ich bin verdammt erleichtert. Ida, schau mal nach, ob er die Schlüssel für meine Handschellen hat. Ida nickte und begann, mit Harrys Händen in Harrys Hosentaschen zu suchen, bis sie etwas metallisch Glänzendes zu Tage förderte. Breit grinsend hopste sie zu mir hinüber und ich konnte nicht mehr anders, als laut loslachen. „Das macht Spaß“, gestand Ida, als sie mit Harrys Körper meinen Stuhl aufrichtete und die Handschellen aufschloss. „Kein Wunder, dass Daemonen Menschen bewirten. Ich hatte ganz vergessen, wie sich ein echter Körper anfühlt.“ Das Schloss knackte und ich rieb meine geröteten Handgelenke, bevor ich mich an meinen Fußfesseln zu schaffen machte. „Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte Paige und begutachtete Ida in Harrys Körper mit großem Interesse. „Wenn sie ihn verlässt, rührt er sich die nächsten Stunden nicht. Soll ich ihn erschießen?“ Ich sah Harrys Körper eine Weile an, dann schüttelte ich den Kopf. „Wir lassen Rock entscheiden. Er sollte bald von Sam erfahren, was passiert ist. Du kannst ihm den Rest erklären. Sicher wird er Harry persönlich befragen wollen.“ „Und warum sollte ich das tun, Thynlee?“, fragte Paige. „Was interessiert mich das Ganze.“ „Du bist hier“, erwiderte ich und sie hob ergeben die Hände. „Touché. Und was hast du nun vor, hm?“ „Mein Plan steht weiterhin“, sagte ich. „Ich verlasse den Distrikt.“ „Ist das eine weise Entscheidung?“ „Weise ist mir egal. Aber ich kann hier nicht mehr bleiben.“ Ich sah zur Seite. Christopher, Lorene, Kriguard … Ich wollte all das hinter mir lassen. Sie seufzte. „Wie du möchtest.“ „Ida, du kannst ihn jetzt verlassen.“ Sie sah mich fragend an. „Lass einfach los“, sagte ich, hob meine Hände und zielte auf Harrys Brust. „Relictus.“ Es war angenehm, keinen Widerstand zu spüren. Der Schlüssel hatte kaum meinen Mund verlassen, da kippte Harrys Kopf nach hinten, sein Mund öffnete sich und der schwarze Rauch, der aus seinem Mund stieg, verdichtete sich zu Ida, die als Daemon auf allen Vieren auf dem Boden kauerte. Harry sackte regungslos zu Boden. Sie schüttelte sich, dann richtete sie sich auf ihre Hinterbeine und ich beobachtete mit Faszination, wie das Gelb ihrer Augen sich verflüchtigte und sie wieder ihre menschliche Dae-Form annahm. >Puh. „Willkommen zurück“, sagte ich und hielt ihr meine Hand entgegen. Ida strahlte, hob ihre eigene, immer noch dunkle Hand und schlug in meine ein. Ihre Finger hinterließen ein kühles Echo auf den meinen. Ich lächelte zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)