Ein Leben in London von Gepo (Fortsetzung von "Eine Nacht in Bangkok" (ABGESCHLOSSEN!)) ================================================================================ Kapitel 13: Realisation ----------------------- „Sie sehen schrecklich aus, Chef“, begrüßte ihn Lydia zum zweiten Kaffee, „sollten Sie wirklich bei der Arbeit sein?“ „Sehe ich so aus als würden Ihre Bedenken mich interessieren?“ Severus warf ihr einen sauren Blick zu. „Machen Sie Ihre Übergabe und verschwinden Sie.“ Sie fasste seine Arbeitslast für heute in drei Sätzen zusammen und flüchtete aus dem Büro. Anscheinend hatte er zumindest nicht verlernt, wie man andere mit einfachen Worten zusammen faltete. Auch wenn das nichts war, auf dass man stolz sein sollte, fühlte er eine vage Zufriedenheit mit sich selbst. Er konnte böse, verletzend und eine wahre Pest sein. Dass er gerade versuchte, noch etwas anderes zu lernen, änderte nichts an seiner Identität. Er hatte einen festen Platz im Leben. Diesen Platz um ein paar neue Eigenschaften zu erweitern, würde ihn nicht verändern. Ein oder zwei Kindern zu helfen, machte ihn nicht zu einem guten Menschen. Er würde exakt das bleiben, was er war. Eins hatte er gerettet, um es jetzt selber zu missbrauchen und das andere … nun, er konnte nicht verneinen, dass in seinem Hinterkopf ein vager Gedanke nach Rache laut geworden war, als ihm klar wurde, wer das Kind war. Malfoy. Das bot ungeahnte Möglichkeiten. Zugegebenermaßen Möglichkeiten, von denen auch er noch keine konkrete Ahnung hatte, aber die würden sich ergeben. Seinen Ex hinter Gittern zu sehen für das, was er anderen antat – seinem Sohn, um Gottes Willen! –, war ein befriedigender Gedanke. Er hatte diesem solch eine Dummheit nicht zugetraut. Andererseits würde Draco vermutlich niemals etwas sagen. Lucius würde seinen Sohn nie freiwillig in so einen Kurs lassen, vermutlich war Draco dort als Bewährungsauflage im Rahmen einer Straftat. Besonders bei Minderjährigen wurde oft Rehabilitation der Strafe vorgezogen. Er musste also eine Straftat begangen haben, die schlimm genug war, dass Sozialstunden nicht ausreichten. Wiederholte schwere Körperverletzung? Körperverletzung mit Todesfolge? In ungefähr der Kategorie müsste er sich befinden. Wenn Draco so weit ging statt zu konfrontieren, was Auslöser dieser Aggressionen war, gab es nicht viel Hoffnung für ihn. Er würde sich nicht gegen Lucius wehren. Dafür hatte der Junge zu viel Angst. Harry war dagegen ein Musterbeispiel an Tugend. Wahrscheinlich hatte er keinen schweren sexuellen Missbrauch erlebt, doch im Bezug auf Angst und Vernachlässigung dürfte er Draco in nicht viel nachstehen. Dennoch war er im Vergleich zutiefst ausgeglichen. Er forderte Aufmerksamkeit ein statt sie mit Gewalt zu erzwingen. Er schien weitaus selbstreflektierter über das, was er wollte und wünschte. Und auch wenn Severus nicht sicher war, ob das, was der Junge sagte zu wollen, wirklich auch das Richtige für ihn war, so verfolgte er zumindest einen klaren Kurs im Leben. Draco schien eher verzweifelt um sich zu schlagen. Nicht viel anders als Severus selbst damals. Seine Idee mit Studium war das einzige, was ihn ohne größere Schwierigkeiten mit dem Gesetz durch seine Jugend gebracht hatte. Ohne diesen Plan hätte er seine Selbstkontrolle wahrscheinlich so weit fahren lassen, dass er mindestens einen Rausschmiss erlebt hätte. Er bezweifelte nicht, dass Harrys Kindheit grässlich gewesen war, auch wenn er die genauen Umstände nicht kannte. Aber Harry nahm das alles nicht so schlimm. Außer dem einen mal, wo er gefragt hatte, warum sein Onkel ihm schlimme Dinge angetan hatte, hatte er stets nach vorne statt zurück geblickt. Vielleicht würde ihn das alles eines Tages einholen, aber zur Zeit schien die Balance gut gehalten. So lange er Harrys Wünschen nach Nähe nachkam, hatte er keine Bedenken, dass der Junge sich gut entwickeln würde. So lange er den Wünschen nachkommen konnte. Severus seufzte. Da lag wohl der harte Kern. Wie lange konnte er Harry küssen, ohne bitter zu werden, nicht mehr tun zu können? Wie lange konnte er ihn im Arm halten, bevor er vor Angst erstarrte, wen Harry in seinem Leben noch halten würde? Er wollte Harry nicht so nah an sich heran lassen. Wie konnte er denn Severus Snape bleiben mit so einem Bündel Optimismus an seiner Seite? Harry würde ihn verändern. Er wusste nicht wie, aber er spürte bereits, wie er anders wurde. Er hätte Draco früher nie im Leben geholfen. Er hätte keinen Gedanken an Charlies Gefühle verschwendet. Er hätte sich vor allem keine Gedanken gemacht, was andere von ihm halten würden. Aber mit Harry an seiner Seite musste er das. Ein Wort, eine Handbewegung, ein Blick, schier alles könnte sie verraten. Und würde sie etwas verraten, würde er Harry verlieren. Er würde aufpassen müssen, wenn sie nach draußen gingen. Er würde Abstand halten müssen. Niemand durfte erfahren … niemand durfte wissen, was er für Harry empfand. „Abend!“, erwiderte Harry seine Begrüßung und kam aus dem Wohnzimmer. Bei Severus Anblick verbreiterte sich das Lächeln auf seinen Lippen und ohne jede Scheu trat er vor und küsste diesen auf die Lippen. „Du weißt sehr genau, was du willst, oder?“ Severus hob halb resigniert, halb amüsiert die Augenbrauen. „Was ich will, kriege ich nicht“ Harry grinste. „Aber ich kann mich hiermit begnügen.“ Severus schnaubte und zog seine Hand hinter dem Rücken vor. „Was ist das?“, fragte Harry und betrachtete die einzelne Blume, die Severus ihm reichte. „Eine Rose. So etwas schenkt man jemandem … so etwas schenkt man der einen Person im Leben“ Severus wandte den Blick ab. „Die eine Person?“ Ein Lächeln und ein ganz komisch sanfter Blick dominierten Harrys Züge. „Die Person, die man liebt?“ „Hast du schon gekocht?“, versuchte Severus das Thema zu wechseln. „Mallorkinische Paella“ Harry roch mit geschlossenen Lidern an der Rose. „Das Rezept war in dem Buch, was du mir geschenkt hast.“ „Es freut mich, dass du die Bücher magst“ Er meinte wahrscheinlich die Kochbücher, die er ihm zusammen mit den englischen Klassikern geschenkt hatte. „Und du kannst sie anscheinend bereits lesen.“ „Es ist nicht so leicht“ Harry drehte sich um und ging in die Küche vor, um zu servieren. Er legte die Rose in die Mitte zwischen die zwei bereits gedeckten Teller. Severus überlegte kurz, ob er eine Vase besaß, bevor er eine Weinkaraffe aus dem Schrank zog und die Rose hinein stellte. „Ich kenne die Worte nicht. Aber ich male sie ab und suche im Supermarkt nach Packungen, auf denen die Worte stehen. Das funktioniert gut. Und Maßeinheiten haben wir schon durchgenommen.“ „Kannst du alles finden, was du suchst?“ „Nicht immer. Aber es gibt eine nette Frau im Supermarkt, die mir beim Suchen hilft. Sie heißt Emma und hat ein nettes Lächeln.“ „Du solltest ihr zum Dank etwas schenken, wenn sie dir öfter hilft“, riet Severus. Trotz seiner miserablen Kindheit ohne jegliche Vorbilder hatte ihm seine Mutter zumindest die Theorie von Höflichkeit eingebläut. „Blumen?“ Harry zeigte auf die Rose. „Vielleicht eher Pralinen“ Minderjährige verschenkten noch keine Blumen. Das würde eher verwirren. „Wir könnten am Wochenende in London welche kaufen“ Und er könnte Harry zu einer heißen Schokolade einladen. Vielleicht in diesem Café, wo er früher seinen Kaffee gekauft hatte, als er noch eine Maschine besaß, die Bohnen malte. Als die kaputt gegangen war, hatte er eine normale Maschine gekauft und normalen Supermarktkaffee getrunken. Ein wenig vermisste er den Geschmack eines guten Röstkaffees. „Gerne“ Harry reichte ihm einen Teller mit gelbem Reis gemischt mit Gemüse und Meeresfrüchten. Es erinnerte mehr an ein asiatisches Gericht als irgendetwas, was er schonmal in Spanien gegessen hatte. Aber er bezweifelte nicht, dass Harry sich streng an das Rezept gehalten hatte. Obwohl viele Zutaten und Zubereitungsarten für ihn neu sein mussten, kochte er außerordentlich gut. Nicht alles war beim ersten mal perfekt, aber es war stets höchst essbar. Er komplimentierte auch dieses Gericht nach wenigen Bissen. Er wusste zwar nicht, wie es schmecken sollte, aber schmecken tat es allemal. Er ließ sich den nächsten Bissen auf der Zunge zergehen und versuchte zu erschmecken, was Harry wohl alles hinein gemischt hatte. Da war Curry und Safran und Pfeffer, so viel schmeckte er leicht. Salz war bestimmt auch dabei und eine Spur Knoblauchpulver ebenso. Der Rest kam wahrscheinlich von den Garnelen und der Paprika, die er im Gemisch erkannte. Es war lange her, dass er Essen genossen hatte. Vor Harry hatte er abends Restaurants aufgesucht oder Fertigessen erwärmt. Meist hatte er nur Brot mit Belag zu sich genommen. Abends warmes, gutes Essen zu haben … das war schon eine Menge wert. Er begann sogar langsam es wertzuschätzen, jemandem abends von seinem Tag zu erzählen. Ganz zu schweigen von den Massagen. Harry bei sich zu haben, war schon in Ordnung so. Er mochte sich verändern, aber er schien grundlegend er selbst zu bleiben. Und was seine Angst betraf, verlassen zu werden, so schien sein Herz ja schon lang gegen seinen Kopf zu arbeiten. Anscheinend war er verrückt genug, das hier zu wagen. Eine Beziehung. Er atmete zittrig aus und betrachtete Harry, der ohne etwas zu bemerken weiter über seinen Tag plapperte. Er war mit diesem Jungen … diesem jungen Mann in einer Beziehung. Severus schluckte. Er war wirklich in einer Beziehung. Einer wahrscheinlich ernsten Beziehung, die nicht darauf beruhte, dass er sich ausnutzen ließ. Er spürte, wie ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zog. Er unterdrückte den Impuls. Er war schließlich immer noch Severus Snape. Da Harry erneut von seiner Lehrerin eingeladen worden war – wirklich, was fand sie an ihm? –, hatten sie sich darauf geeinigt, dass Severus Harry am Samstag nach seinen Sozialverpflichtungen abholen würde. Sollte er keine Migräne haben, würden sie ins Café fahren, sonst würden sie das sonntags tun. Und entgegen Severus Erwartung hatte er nicht einmal den Hauch einer Migräne. Der Gedanke, mit Harry einen freien Nachmittag zu verbringen, ließ ihn seinen Ärger über die Inkompetenz anderer Menschen völlig vergessen. Umso heftiger ließ ihn der Anblick erstarren, der sich ihm bei den Granger-Weasleys bot. Harry saß mit Ginny auf dem Boden, wo sie ein Spiel spielten – so weit in Ordnung. Neben Ginny saß ein junger Mann, den er vorher noch nicht gesehen hatte, der aber fraglos zur Familie gehörte. Was ihn mitten im Türrahmen stehen bleiben ließ, war der Anblick dessen, der neben Harry saß und ihm vertraulich über die Schulter in die Karten sah. Charlie war auch der erste, der ihn bemerkte. Er zuckte, als er aufsah und in Severus Augen blickte. Sein Blick wechselte kurz zwischen Severus und Harry, bevor er sich etwas hektisch erhob. Das zog die Aufmerksamkeit der anderen auf sie. „Severus, ich habe nicht …“ Charlie machte eine vage Handbewegung, die alles mögliche meinen könnte. „Ich …“ „Severus?“ Harry sah fragend zwischen ihnen hin und her. „Ich möchte, dass du von diesem einen Abstand hältst“, erwiderte dieser leise auf Thai, wohl wissend, dass niemand außer Harry ihn verstehen würde. Er kam herein, wandte seinen Blick dabei von Charlie ab und bot Harry eine Hand an. „Ich erkläre es später.“ Harry nickte langsam, klar erkennbar nicht verstehend, bevor er den anderen beiden tschüss sagte. Charlie winkte er, obwohl dieser gerade mal einen Meter entfernt stand, während Severus den zwei Sitzenden höflich einen guten Tag wünschte. Charlie würdigte er nicht einmal eines Blickes. Er verließ das Zimmer, ohne dessen Existenz irgendeine Bestätigung zu geben. Harry schwieg auf dem Weg nach Hause. Im Wohnzimmer zog er seinen Block hervor und schrieb dort »Warum soll ich mich von ihm fernhalten?«. Severus sah einen Moment lang auf den Block, bevor er sich mit einem Seufzen neben Harry setzte. Wenn er es wenigstens erklären könnte … aber da war nur irgendein völlig diffuses Gefühl in ihm. Aber er konnte auch kaum nichts sagen, nicht wahr? Er schloss die Lider und spürte die ersten Schläge einer Migräne gegen die Innenseite eines Schädels. Er bekam Migräne, wann immer er schwieg statt zu sagen, was er sagen wollte. Immer, wenn er diesen Klienten sagen wollte, dass sie dumm wie Stockbrot waren. Dass ihre Essmanieren unter aller Sau waren und er sie nicht ermahnen durfte. Immer, wenn er mit einem Lächeln lügen musste. „Weißt du, was der Unterschied zwischen einem Kind und einem Erwachsenen ist?“ Harry blinzelte verwirrt, wahrscheinlich ob der Tatsache, dass er in normaler Lautstärke sprach. „Erwachsene wissen, was sie wollen. Nicht immer in jedem Detail, aber sie haben eine relativ gute Vorstellung davon, was sie möchten und was nicht, was für sie okay ist und was nicht. Und nicht nur wissen sie das, sie können auch danach handeln. Wenn jemand etwas tut, was sie nicht wollen, bringen sie das zum Ausdruck. Nicht immer wortstark, denn nicht in jeder Situation ist dasselbe angemessen. Aber Erwachsene sind in der Lage, das, was sie möchten, zu spüren und adäquat auszudrücken.“ Er sah Harry einen Moment lang an, ob dieser verstand, was Severus ihm gerade sagen wollte. Das langsame Nicken war nur halbwegs rückversichernd, aber besser als nichts. „Ab der Pubertät beginnen Kinder für sich selbst zu entdecken, was sie wollen. Statt die Ideale ihrer Eltern einfach zu übernehmen, beginnen sie eigene Meinungen zu fassen. Am Anfang bringt das sehr, sehr viel Verletzung mit sich. Man mag die Freunde nicht mehr, die Eltern ausgesucht haben, man will nicht Arzt oder Anwalt mehr werden, man will hinaus ins Leben und entdecken, was man selbst haben will. Und dann stürzen Kinder sich in Gefahren und tun sich weh und lernen dabei. Und mit der Zeit bildet sich eine klare Vorstellung, was man will und was nicht. Und man lernt, dass man für die Dinge, die man haben will, kämpfen muss.“ „Ich will dich haben und ich bin auch bereit, dafür zu kämpfen“, erwiderte Harry mit erstaunlicher Überzeugung in der Stimme. „Und dass du das so klar gesagt hast, ist wahrscheinlich der einzige Grund, warum ich nachgegeben habe“, erwiderte Severus, noch bevor ihm überhaupt klar wurde, was er da sagte. Ein Schock durchfuhr seinen Körper und für einen Moment war es, als würde sein Herz stehen bleiben. Doch im nächsten Moment schluckte er und schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf. Er war kein Kind. Er hatte vor vielen, vielen Jahren gelernt, dass paralysiert inne zu halten nichts verbesserte. Harry hob die Mundwinkel, aber seine Stirn lag in Falten. Severus sah, dass er beide Hände zu Fäusten geballt hatte. Vermutlich, weil sie sonst gezittert hätten. Diese Reaktion kannte er gut. Die Angst seines Gegenübers vor dem, was er sagen würde, sagen könnte. „Ein Kind oder ein Erwachsener zu sein, das ist kein Entweder-Oder“, fuhr er fort, „es ist ein Prozess. Bei vielen ist der Prozess jahrelang und bei einem Teil wird er auch niemals abgeschlossen. Genau genommen schließt niemand ihn je ab, man lernt stets weiter. Und oft verändert man sich auf dem Weg auch“ Severus spürte ein Brennen in seiner Brust. Er griff eine von Harrys Händen, strich darüber, damit sie sich entspannte und nahm sie zwischen seine eigenen. „Das ist in Ordnung so. Nur machen die, die noch am Anfang stehen, immer wieder dumme oder gefährliche Sachen. Wenn man daraus lernt, okay – aber manchmal wird einem auch so sehr weh getan, dass man sich nicht erholt. Darum hat man eigentlich Eltern, die einen zumindest die ersten Jahre noch schützen, damit man nicht zu heftige Fehler begeht.“ „Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte Harry vorsichtig. Seine Stimme zitterte. „Nein“ Severus hob die Hand, die er hielt und küsste Harrys Handrücken. „Wir haben nur die Situation, dass du so jung bist, dass du eigentlich jemanden brauchst, der auf dich aufpasst. Nur ist es schwer, auf dich aufzupassen und dich gleichzeitig als gleichberechtigten Partner zu sehen“ Severus atmete tief durch. Er wusste kaum, was er sagte, aber in seinem Kopf machte es plötzlich vollkommen Sinn. Als hätte er, während er sprach, die Erkenntnis erhalten, was er sagen wollte. „Ich wollte nicht mit dir zusammen sein, weil ich einen gleichberechtigten Partner will. Jemand, auf den ich nicht nur aufpasse sondern jemand, der auf mich aufpassen kann. Der mich stützen kann“ Seine Kehle zog sich zusammen. Wieder wollte sein Körper erstarren und wieder kämpfte er dagegen an. „Und gleichzeitig macht mir der Gedanke Angst. Denn warum sollte jemand, der nicht von mir abhängig ist, bei mir bleiben wollen?“ Harry sah ihn mit großen, erschrockenen Augen an. Severus erwiderte den Blick für mehrere Sekunden, bevor er sich mit einem Seufzen zurück lehnte. Das war es dann wohl. Er hatte es endlich geschafft, zu sagen, was er wollte. Harry würde niemals das sein, was er brauchte. Er war einfach, denn er war vollkommen von ihm abhängig. Aber er war nicht genug. Und er würde auch niemals genug sein in der Machtverteilung, die zwischen ihnen bestand. Eine Hand packte ihn am Kiefer und zog ihn in einen Kuss. Severus Lider weiteten sich überrascht, doch er folgte der Bewegung. Mehr aus Überraschung als alles anderem. Er ergab sich den Kuss, doch beendete ihn mit einem Seufzen. Nein … kein verzweifeltes Flehen würde ihn dazu bringen, sich nochmal umzuentscheiden. „Du brauchst jemanden, der dir sagt, dass du ein Feigling bist und viel zu sehr nachdenkst.“ Severus zuckte zusammen und sah auf. Harry hielt noch immer seinen Kiefer, das Gesicht nur wenige Zentimeter entfernt. Er zog es zurück, damit sie einander zumindest ansehen konnten – Severus Kiefer ließ er nicht los. „Wenn ein Erwachsener zu sein bedeutet, dass man für das einsteht und für das kämpft, was man will, dann mache ich das“ Harry schnaubte. „Du hast mir beigebracht, dass mutig zu sein sich auszahlt. Du hast mir beigebracht, dass ich haben kann, was ich will, wenn ich dafür kämpfe. Vor drei Monaten war ich ein verängstigtes Kind, das stimmt. Aber seitdem habe ich dich beobachtet und von dir gelernt. Und ich werde nicht akzeptieren, dass du mich als Kind abschreibst, weil du Angst hast.“ Severus schluckte. Zwischen Harrys Augenbrauen lagen Falten, die Lider waren verengt, die Lippen fast eine einzige Linie. Er hätte daraus Wut gedeutet, aber er war sich nicht sicher, dass seine Deutung stimmte. Denn sein Eindruck von Harry hätte niemals erlaubt, dass dieser so eine Antwort gab. Schon die Sache oben in der Freiheitsstatue in New York … das entsprach nicht dem verängstigten, leicht zu begeisternden Jungen, den er aufgenommen hatte. Er bemerkte allerdings, dass Harrys Hand zitterte. Sein Blick folgte dem Zittern zurück in Harrys Gesicht. Die vielleicht überzeugend wirkende Miene wurde langsam dadurch zersetzt, dass sich Harrys Augen mit Tränen füllten. Bisher glänzten sie nur, aber Severus kannte das verräterische Schimmern. Harry war bei weitem nicht so selbstüberzeugt wie er sich zu geben versuchte. Severus spürte das kaum noch bändigbare Bedürfnis, einfach aufzustehen und zu gehen. Harry war ein Kind. Schlimmer noch, ein Kind, das Erwachsener spielte. Ein Kind, dessen Angst es in die Rolle eines Erwachsenen drückte, obwohl es tief in sich noch nicht so weit war. Noch weniger als ein Kind wollte er jemanden, der sich für ihn verdrehte, für den jedes Gespräch wie eine Prüfung war, in der er sich beweisen musste. Harry war mutig, sehr mutig sogar, aber er war gerade mal sechzehn. Er versuchte sein Bestes, für Severus selbstüberzeugt zu wirken, aber das war trotzdem nicht, was er brauchte. Er brauchte jemanden, der in sich selbst verankert war. Jemand, der Selbstüberzeugung nicht spielen musste. Und der dabei nicht dazu neigte, seinen Willen anderen aufzuzwingen wie Lucius Malfoy. Severus sah wieder auf und beobachtete, wie Tränen über Harrys Wangen rannen. Die Hand, die seinen Kiefer gehalten hatte, fuhr über seine Haut zu seiner Schulter, bevor Harry mit einem mal praktisch einen Satz nach vorne machte und die Arme um ihn schlang. Kaum eine Sekunde später brach das erste Schluchzen aus ihm. Severus drückte den Jungen an sich und spürte ein Lächeln an seinen Lippen ziehen. Er hatte gesagt, was er wollte. Er hatte endlich geschafft auszudrücken, was er empfand und was er brauchte. Das Lächeln wurde zu einem Grinsen. Er dachte nur kurz daran, wie untypisch diese Bewegung war, bevor er es einfach zuließ. Harry hatte ihn genug gefordert, dass er es geschafft hatte, sich selbst zu dem Thema Beziehungen zu konfrontieren. Er stockte. Harry hatte … er lehnte sich etwas zurück von dem Jungen, der nicht mehr schluchzte. Harry hatte eine Faust auf seine Lippen gepresst. Sein Blick war zu Boden gewandt, die Tränen trocknende Spuren auf seiner Haut. Severus zog die Hand mit sanftem Druck zur Seite und küsste ihn sanft. So sanft wie er noch nie einen Kuss gesetzt hatte. Sanft wie eine Frau, die ihr Neugeborenes das erste mal mit ihren Lippen berührte. So sanft, dass er es im gleichen Moment angemessen und widerwärtig fand. Harrys Blick hob sich mit einem Blinzeln. Sein Mund öffnete und schloss sich, die Stirn dabei in leichte Falten gezogen, bevor er den Kopf zur Seite legte. Severus beugte sich erneut vor und küsste ihn. Sein etwas weniger sanfter Kuss wurde erwidert. Er spürte Harry schlucken, hörte ihn scharf Luft holen während des Kusses, bemerkte die Hand, die ihn vorsichtig vorne am Jackett hielt, das er noch immer trug. „Was?“, murmelte Harry halb benommen, als Severus den Kuss unterbrach. „Du bringst mich dazu, mich Dinge zu trauen, vor denen ich vorher zu viel Angst hatte“ Severus lächelte. Es war befreiend, einfach mal die Wahrheit zu sagen. Und er war sich sicher, dass Harry nicht lachen würde. Er glaubte nicht nur, er war sich sicher. Er glaubte an Harry. Das war ein komisches Gefühl. Und Harry lächelte. Harry lächelte breit und zog ihn wieder in eine Umarmung. Diesen einen Moment lang war die Welt in Ordnung. Diesen einen Moment lang wollte Severus daran glauben, dass das hier funktionieren könnte. Severus blinzelte die Augen auf und erhielt als erste Wahrnehmung, dass etwas erstaunlich schweres auf ihm lag. Er hob den Kopf, wobei ihn ein Schmerz durchzuckte – war er auf dem Sofa eingeschlafen? –, bevor er Harry auf sich liegend entdeckte. Ob der Bewegung blinzelte dieser die Augen auf und sah etwas verschlafen nach oben. Er hatte wohl gedöst. Severus strich ihm ein paar Strähnen aus dem Gesicht, was Harry lächeln ließ. Nach einem Moment hob er die Arme, verschränkte sie auf Severus Brust und legte das Kinn darauf. Wache, grüne Augen sahen auf ihn hinab. „Ich bin wohl eingeschlafen“ Severus hob seinen linken Arm hinter Harry hinauf, um auf seine Uhr zu sehen. „Es ist schon fast Abend.“ „Soll ich etwas kochen?“ Harrys Stimme klang vollkommen entspannt. „Nudeln wären toll. Die mit Käse-Sahne-Sauce, die du vor zwei Wochen gemacht hast.“ „Okay“ Harry drückte sich nach oben, setzte einen kurzen Kuss auf Severus Lippen und erhob sich. „Kommst du mit in die Küche?“ Severus brauchte etwas länger zum Aufstehen, da sein Rücken einem Minenfeld glich. Auf der Couch einzuschlafen war eine selten dumme Idee gewesen. Er streckte sich, bevor er sein Buch nahm und damit in die Küche ging. Harry setzte gerade einen Topf Wasser auf. Als er Severus bemerkte, sagte er: „Du hast immer noch nicht gesagt, warum ich mich von Charlie fernhalten soll.“ Severus seufzte im Stillen, aber fand die Worte in sich erstaunlich einfach: „Ich habe mal mit ihm geschlafen und dann gesagt, dass das aus uns nichts wird. Ich weiß nicht, ob er mir vielleicht böse ist und das an dir auslassen wird. Und ich weiß nicht, ob er nun vielleicht an dir interessiert ist.“ Die Wahrheit zu sagen erwies sich als erstaunlich einfach. Und Harry nickte nur und wandte sich wieder dem Topf zu mit den Worten: „Ich werde darauf achten.“ Severus blinzelte kurz. Das war alles? Keine Eifersucht? Keine Tiraden, dass Harry auf sich selbst aufpassen könnte? Dass Charlie ein guter Mensch war und Severus Gespenster sah? Er dachte ja selber, dass er wahrscheinlich zu paranoid war, aber die Möglichkeit, dass Harry verletzt werden könnte … und vor allem die Möglichkeit, dass Harry Charlie attraktiver als ihn finden könnte … Severus Hände ballten sich zu Fäusten. Vielleicht nahm Harry seine Worte auch nicht ernst? Severus atmete tief durch und schloss die Lider. Sie zuckten in die Höhe, als er eine Hand an seiner spürte. Harry stand vor ihm, sah mit fluchtbereiter Körperhaltung zu ihm auf und fragte: „Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Nein. Severus wollte ihn packen und schütteln. Nein, Harry hatte nichts falsch gemacht. Er hatte nur Angst, ihn zu verlieren. Harry konnte nichts für seine Ängste. Severus hob die Arme, sicher, etwas Gewalttätiges zu tun, doch zwang sich, sie um Harry zu legen. „Severus?“, fragte dieser leise, aber weniger ängstlich. Severus senkte seinen Kopf, drückte seine Wange gegen das schwarze Haar. Harry war in seinen Armen. Harry war hier. Es gab keine Gefahr. Es gab keinen Grund, aus Angst heraus gewalttätig zu werden. „Entschuldige“, murmelte Severus einige Momente später und löste die Umarmung, „ich lerne.“ Ein zaghaftes Lächeln legte sich auf Harrys Lippen, bevor er nickte und zu den Nudeln zurückkehrte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)