Schwingen der Vergangenheit von AbaddonCornix (Wenn sich das Schicksal wiederholt) ================================================================================ Kapitel 10: Erkenntnis - Erwin Smith ------------------------------------ Es gibt niemals eine zweite Chance für den ersten Eindruck. Deswegen musste ich mir genau überlegen, was ich diesen jungen Menschen nachher erzählen wollte. Um den Weg zu kennen sollte man allerdings zuerst den Startpunkt herausfinden. Der junge Eren Yeager, dem ich Freitag begegnet war, hatte mich am Montag gegen 14:00 Uhr angerufen. Zu der Zeit war ich gerade noch bei Levi im Krankenhaus. Levi ging es überhaupt nicht gut. Er schien etwas gesehen zu haben, was kein anderer wahrnahm. Und es machte mir Sorgen, dass nur solch eine groteske Wahnvorstellung seinerseits uns davor bewahren konnte, der Explosion dieses Modegeschäftes erbarmungslos ausgeliefert zu sein. Sie schien für Levi so bizarr gewesen zu sein, dass er sie mir nicht einmal beschreiben konnte. Noch immer befand er sich im Krankenhaus. Heute Abend sollte er entlassen werden – dann wollte ich ihn abholen. Der resolute Student bat mich in unserem Telefonat darum, ihm bei einer Sache zu helfen. Dabei erzählte er mir von kuriosen Vorkommnissen, die ihm und seinem Bekannten Jean – ja dem vom niveaulosen Telefonat - widerfahren waren. Sie waren ähnlich absurd wie die Erlebnisse meinerseits oder Levis Hirngespinste. Diese Tatsache machten sie allerdings wieder beachtlich und denkwürdig. So erklärte ich mich dazu bereit diesem jungen Mann zu helfen – zumindest soweit ich konnte – und wir verabredeten uns für ein Treffen im Stadtpark um 17:00 Uhr. Ein neutraler Boden ist eine angebrachte Atmosphäre für solch ein Gespräch. Warum Eren gerade mich angerufen hatte, wusste ich nicht. Aber anscheinend spürte auch er eine Verbindung – die vergangenen Ereignisse bildeten schließlich auch eine stabile Grundlage für diese Annahme. Hanji und ich hatten den Samstag damit verbracht, meine Tagebucheinträge sowie den Tod Ymirs zu analysieren. Nur ihr vertraute ich vorerst meine Gedanken an, da ich – wie sich später herausstelle auch mit Recht – der Meinung war, dass Levi genug eigene Problem hatte, die ihn belasteten. Nachdem Freitagabend auch noch der schwarzhaarige Herr – dessen Name Berthold Hoover war - offensichtlich die Kontrolle über sich verlor und den blonden, muskulösen Mann – namens Reiner Braun - verletzte, ergab sich ein Bild mit vielen Puzzleteilen, dass zusammengesetzt werden musste. Ich war mir ziemlich sicher, dass all diese Dinge zusammenhingen. Nachdem wir gemeinsam zu später Stunde von der Polizeiwache zurückkehrten, entschied sich Hanji dazu über Nacht zu bleiben, um am darauffolgenden Tag die letzten Tage Revue passieren zu lassen. Wir schafften es eine Liste zu erstellen mit allen Ereignissen, die uns bekannt waren. Ich ordnete sie zeitlich ein, womit sich somit folgendes Bild ergab: Freitag, 23.Oktober ca. 11:30 Uhr – Fahrstuhl Unfall auf Levis Arbeitsstelle ca. 13:00 Uhr – Ymirs Selbstmord (darauf folgte der Ausfall der S-Bahn bis ca. 15:30 Uhr) ca. 14:00 Uhr – Ich machte Mittagspause und las den Tagebucheintrag ca. 15:14 Uhr – Ich traf auf Eren, der um 15:16 Uhr einen Anruf von seinem Bekannten Jean erhielt ca. 20:30 Uhr – Berthold greift Reiner an Inwiefern uns das weiterhalf, war mir noch nicht bekannt, dennoch war eine Übersicht niemals schädlich. Hanji nahm sich vor, zu schauen, ob sie nur ansatzweise herausfinden konnte, was Ymir eigentlich gesehen hatte. Ich versprach, alle Unterlagen zu den Vorkommnissen zu besorgen. Schadensberichte, Zeugenaussagen, Verdächtige, Fotos – wenn jemand etwas finden konnte, dann ich. Den Rest des Wochenendes verbrachte ich damit, die Berichte für den Fall des Pastors zu schreiben. Dies erinnerte mich wieder daran, dass ich keinen einzigen Schritt weitergekommen war. Und nun warf der Tod von Ymir ebenfalls Fragen auf. Hanji zeigte mir dieses äußerst unappetitliche Bild ihrer Leiche, auf der ihre Zähne wie lange, spitze Fangzähne aussahen. Nebenbei erzählte mir Hanji außerdem, dass ihr Reiner ein wenig bekannt vorkam und sie hätte schwören können, ihn schon einmal im Jugendzentrum gesehen zu haben. Obwohl ich oft dort war, hatte ich ihn noch nie gesehen, also war er vermutlich sehr selten dort. Vielleicht sollte ich mich mal mit diesem jungen Mann unterhalten. Nun, gestern hatte ich mich nach der Arbeit mit Mike getroffen. Es war sehr spät, da mein Chef nicht gerade davon begeistert war, dass ich durch den Vorfall mit Levi nicht mehr arbeiten konnte am Montag, da ich erst gegen 16:00 Uhr das Krankenhaus verließ. Bei dem Gespräch mit Mike fand ich heraus, dass er Erens Anwalt war, als ich ihm ebenfalls von meinen Problemen erzählte. Schließlich war er mein Freund und erzählte mir auch alles. Sicherlich beruflich nicht perfekt, menschlich allerdings ehrenwert und nützlich. Er erklärte mir, dass Erens Vater eine Lebensversicherung hatte, die er drei Wochen vor seinem Tod auflöste. Das Geld war unauffindbar. Keine Kontoüberweisung, keine Belege – nichts. Des Weiteren erfuhr ich, dass Berthold am Montag noch bevor Eren seinen Termin hatte bei ihm auftauchte. Er benötigte Hilfe, um nicht in Untersuchungshaft zu kommen. Fluchtgefahr bestand meiner Meinung nach nicht, aber die Beamten sahen das wohl anders. Mike versicherte mir, ihm geholfen zu haben, allerdings machte er sich mehr um die Verhandlung sorgen. Wie wollte der Junge seine Tat erklären? Eigentlich hätte ich mich nicht auch noch in den Fall einmischen sollen, doch ich war mir außerordentlich sicher, dass er etwas mit den Kuriositäten in der letzten Zeit zu tun hatte. Alles hing in irgendeiner Weise zusammen, auch wenn ich noch nicht wusste wie. Deswegen ließ ich mir von Mike die Unterlagen geben. Bis gestern Abend um 22:00 Uhr saßen wir zusammen, tranken ein wenig und genossen die Zeit. So etwas gab es viel zu selten. Erst 10:30 Uhr. Heute wollte die Zeit einfach nicht vergehen. In sechs Stunden und dreißig Minuten traf ich mich mit den Kindern im Stadtpark. Bis dahin musste ich mir überlegt haben, wie ich helfen konnte. Akten über Akten. Der Fall mit dem Pastor warf immer mehr Fragen auf. Dann die Sache mit Ymir. Mein Chef ging von Drogenmissbrauch aus. Er meinte, dass sie wahrscheinlich eine Überdosis nahm, daraufhin unter Halluzinationen litt und schließlich „aus Versehen“ auf die Gleise fiel. Ignoranter Dilettant. Drogen könnte man nachweisen. Zudem wäre es merkwürdig, dass die Wirkung erst an der S-Bahn-Station einsetzte. Manche Menschen redeten sich alles so zurecht wie es ihnen passte. Allerdings - Tatsachen muss man kennen, bevor man sie verdrehen kann. Die Männer der Feuerwehr spülten – nachdem sie an eine Blutprobe gedacht hatten - die Reste der Frau einfach weg, obwohl ihre Zähne dermaßen auffällig waren. Das allein kam mir schon eigenartig vor – hatten sie es nicht gesehen? Oder wollten sie es nicht sehen? Was war mit weiteren Untersuchungen? „Smith!“ Wieder einmal siegte das primitive Verlangen das persönliche Anliegen sofort loszuwerden und unterdrückte bei meinem Arbeitgeber der Höflichkeit entsprechend zu handeln und anzuklopfen. „Ja?“ „Den Pastor-Mord wird jemand anderes übernehmen!“ „Achso? Und warum?“ Ich verzog keine Miene. „Ihre Erkenntnisse sind unvollständig und unbrauchbar – Ihr Kollege wird das übernehmen.“ „Tatsächlich?“ „Ja! Wenn Sie sich andauernd frei nehmen wie am Montag wird das sowieso nichts. Sie sind gänzlich ungeeignet für so etwas! Kümmern Sie sich erstmal um die ganzen kleinen Angelegenheiten – der Raudi von Freitag bekommt übernächste Woche Freitag seine Verhandlung. Bereiten Sie sich vor!“ „Selbstverständlich.“ Ohne die Tür meines Büros zu schließen, verließ er den Raum. Geschäftsmänner waren mächtige Männer. Mit einem einzigen Satz konnten sie die Arbeit hunderter Menschen zu Nichte machen. Diskutieren war sinnlos. Jedoch machte mir das momentan nichts. Mein Wert war nicht an der Anzahl meiner gelösten Fälle messbar. Mich beschäftigte eher die Tatsache, dass ich den Fall mit Berthold übernehmen sollte – nicht dass ich das nicht gern tat, allerdings war Mike sein Anwalt und ich war schon lange nicht mehr im Gerichtssaal auf ihn getroffen. Zweifelsohne wiesen wir beide beruflich ein Mindestmaß an Professionalität auf, weswegen wir natürlich unsere Standpunkte tadellos vorlegen werden können. Doch hinter der Maske war ich mir nicht sicher was ich glauben sollte – steigerte ich mich in eine imaginäre Verschwörung hinein oder war ich dabei eine kommende Bedrohung aufzuklären? Naja, so gesehen – die Unterlagen hatte ich ja schon. Plötzlich eine SMS von Hanji. „Erwin? Hab dir doch gesagt ich informiere dich, wenn was Seltsames passiert. Der Fahrplan im Glaskasten der S-Bahnstation hatte eben die Überschrift >Es folgt Nummer 2< - ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber ich gebe dir lieber Bescheid. LG Hanji “ Seltsam. Was sollte das nun wieder? Ich glaubte langsam, ich musste mir nicht überlegen, was ich den Kindern erzählen wollte, sondern was die mir vielleicht erklären konnten. Hanji sollte mitkommen. Schließlich erging es ihr nicht anders „Danke für die Info – nachher treffe ich mich mit dem jungen Mann, von dem ich dir erzählte – willst du nicht vielleicht mitkommen? Sicherlich wird das interessant. 17:00 Uhr – Stadtpark-Eingang.“ „Ohhh, sehr gerne, dann lerne ich den Kleinen auch mal kennen – ich werde da sein :D“ Mal sehen, ob uns das weiterbringen würde. Ich holte mein Tagebuch aus meiner Tasche. Am Wochenende waren nur meine Einträge vorhanden gewesen. Montag ebenfalls. Nachdem ich in meinem Eintrag von Montag Levis Nervenzusammenbruch schrieb, las ich gestern neben dem Eintrag von Montag den Satz „Es beginnt.“ Den hatte ich zuvor nicht geschrieben. Inzwischen war ich mir sicher, dass Levi nicht dahinter steckte und mein Buch eine Brücke der Kommunikation zwischen mir und demjenigen, der diese Texte verfasste, darstellte. Indes war mir noch nicht bewusst, wie ich eine Unterhaltung aufbauen sollte. Deswegen startete ich gestern einen Versuch. Mein gestriger Eintrag endete mit der Satz: „Ich frage mich, was wohl als nächstes passieren wird.“ Nun wollte ich sehen, ob ich vielleicht heute meine Antwort darauf bekam. Angespannt saß ich an meinem Schreibtisch, ließ den Blick einmal über meine Mappe schweifen, aus der Papiermassen heraushingen, da das dünne Gummiband nicht mehr ausreichte, um diese Menge an Informationen zu bändigen. Links auf dem Tisch lagen Unmengen an Kugelschreibern – kaum benutzt, da das Meiste sowieso auf der weißen, altmodischen Tastatur getippt wurde. Mein Kaffeebecher stand auch noch dort. Ein eiskalter letzter Schluck befand sich noch in der Tasse – dieser Schluck, den man immer noch in der Tasse lässt, um noch etwas zu haben und ihn später doch vergisst, bis man ihn wieder bemerkt und schließlich angewidert herunterwürgt. Der täglichen Prozedur gefolgt, öffnete ich das Tagebuch. Hoffentlich war auch ein Eintrag vorhanden für heute – sonst ginge mein Plan nicht auf. Nichts. Obwohl ich mir doch so sicher war. Kein Eintrag für heute und meiner von gestern blieb ebenfalls unkommentiert. Hatte ich tatsächlich zu viel erwartet? Das Tagebuch wieder geschlossen, widmete ich mich meinen Akten. Meine Konzentration hatte ihren Tiefpunkt erreicht, obwohl der Vormittag sich noch nicht einmal in seiner vollen Pracht entfaltet hatte. Plötzlich erhielt ich einen Anruf auf dem Handy. Während der Arbeitszeit? Ich hasste es, wenn jemand das tat – aber eigentlich machte das nur einer - Levi! Augenblicklich nahm ich ab, meldete mich nicht einmal so wie sonst und fing sofort an zu sprechen. „Levi? Alles in Ordnung?“ „Kannst du mich vorher abholen?“ „Wieso? Ab 20:00 Uhr haben die Ärzte gesagt.“ „Bitte…“ – seine Stimme klang unweigerlich ängstlich; geradezu panisch. Ich wusste zu welchen Zeitpunkten Nachfragen angebracht waren und wann man besser einfach Taten sprechen ließ. Dies war definitiv ein Moment für Taten. „Ich bin gleich da.“ Eigentlich hätte ich mir einen weiteren Tag ohne Arbeit nicht erlauben können – da ich nun aber den Fall mit dem Pastor offiziell los war, sollte ich diese Zeit nachholen können. Außerdem konnte keine Arbeit mich davon abhalten meinem Freund zu helfen. „Herr Steger, ich bin heute früher weg – selbstverständlich werden alle Arbeiten zu morgen erledigt sein.“ „Smith, ist das Ihr Ernst? Sie können nicht einfach kommen und gehen, wann sie wollen. Hat es nicht gereicht, dass ich Ihnen schon einen Fall abnehmen musste?!“ „Anscheinend nicht.“ Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, machte ich mich auf den Weg. Die Treppen des Parkhauses hinabgestiegen, war ich ziemlich schnell bei meinem Wagen. Heute hatte ich für mein hellbraunes Fahrzeug einen guten Parkplatz gefunden. Das Parkhaus verlassen fuhr ich an der Universität vorbei auf die Bundesstraße. Nur stockend vorangekommen, ging es dann durch die Innenstadt. Obwohl der Berufsverkehr eigentlich bereits vorbei war, gab es Stau ohne Ende. Nervös tippte ich mit den Fingern auf das Lenkrad. Ich schaltete das Radio ein. Das momentane Lied wirkte nicht gerade bändigend auf meine Nervosität – es war „Hold the Line“ von Jeanette Biedermann. Obwohl das Lied nicht allzu schlecht war, konnte der Rhythmus mich momentan wirklich stressen – noch mehr stresste mich allerdings die Stille, deswegen ließ ich es an. Mein Blick schweifte umher, beobachtete die Menschen auf der Straße. Objektiv betrachtet ergibt sich immer dasselbe Bild. 25% der Menschen waren jetzt noch auf dem Weg zur Arbeit, 30% Menschen, die auf dem Weg zu Arztterminen, Behördengespräche usw. waren. Dann gab es die älteren Menschen, die ihre täglichen Einkäufe erledigten oder einfach nur an die Luft gingen – diese machten ungefähr 15 % aus. Gruppenausflüge, Menschen von offiziellen Veranstaltungen bildeten ca. 5%, während Schulkinder oder Jugendliche, die eigentlich zur Schule gehen sollten weitere 15% waren. Die restlichen 10% waren die Menschen, die heute tatsächlich frei hatten und sich mit Shoppen, Treffen mit Freunden oder Ähnliches die Zeit vertrieben. 11:45 Uhr – so eine Übergangszeit zwischen Morgen und Mittag, in der einfach viele verschiedene Menschengruppen unterwegs waren. Die Langeweile war mir ins Gesicht geschrieben. Über so etwas dachte ich nur nach, wenn ich Bahn fuhr oder einfach wirklich Langeweile hatte. Was Levi jetzt wohl machte? Ungeahnt entdeckten meine Augen dazwischen etwas Anderes. Es sah aus wie eine junge Frau - vielleicht Anfang 20 – sie stand auf dem Dach eines Parkhauses neben eines Supermarktes. Genauer gesagt – sie stand auf der etwas erhöhten Mauer des Daches. Sie wollte doch nicht…? Dem Hupen und Brüllen anderer Autofahrer ausgesetzt, schlängelte ich meinen hellbraunen VW aus der Schlange, parkte etwas unglücklich am Straßenrand eines Schnellrestaurants und eilte ungebremst zum Parkhaus. Immer zwei bis drei Stufen auf einmal nehmend, kam ich zwei Minuten später auf dem Dach des Parkhauses an. Ich hatte mich wohl nicht getäuscht. Eine kleine, junge Frau starrte in den Abgrund, während der Wind durch ihr blondes Haar wehte. Dieses Mädchen kannte ich doch. Dieselbe Dame, die Freitagabend noch bedroht wurde. Einige Schritte nähergekommen, blieb ich etwa zwei Meter vor ihr stehen. Mein Herz hämmerte unausgesprochen schnell in meiner Brust. „Junge Frau? Bitte tun sie das nicht.“ Es dauerte eine Sekunden bis sie reagierte. Ihre Stimme klang sehr monoton. „Sie rufen mich.“ Irgendwie erinnerte mich das an Ymir. Nein - ich hatte nun wirklich keine Lust, dieselbe Geschichte zu durchleben wie Hanji. „Sie belügen Sie junge Frau – ein Schritt weiter wird sie nicht zu ihnen führen, sondern töten.“ Alles in mir hoffte, dass ich sie, indem ich auf ihre Wahnvorstellungen einging, irgendwie erreichen konnte. Sie antwortete mir nicht. Eine Reaktion bekam ich trotzdem. Mit ihren leeren, blauen Augen schaute sie mich an; drehte den Kopf leicht zu mir. Meine Chance. Anscheinend hatten meine Worte sie doch erreicht. Jedenfalls brachte sie das Gesagte zum Nachdenken. Diese Möglichkeit wollte ich nutzen, um das Schlimmste zu verhindern. Ohne zu zögern machte ich zwei große Schritte in ihre Richtung, packte sie am linken Arm und zog sie von der Erhöhung und drückte sie beruhigend an mich. Wir entfernten uns einige Meter davon und ich bückte mich zu ihr runter, um sie anzusehen. Nun hatte ihr Blick einen anderen Ausdruck. Kalte, leere Augen verwandelten sich in glänzend blaue Saphire. Erleichtert lächelte ich sie an. „Wo bin ich?“ Sie schien etwas orientierungslos. „Sie wollten gerade von diesem Dach springen, junge Dame.“ – damit hatte sie nicht gerechnet. „Annie ist Ihr Name, richtig?“ Nun erkannte sie mich offensichtlich. „Sie sind der Mann von letzter Woche. Was machen Sie hier?“ „Sie am Selbstmord hindern.“ – so deutlich wollte sie es wohl nicht hören. Es war jedoch eine Tatsache. Hätte ich sie nicht aus dem Stau heraus bemerkt, wäre sie wahrscheinlich jetzt tot. „Kommen Sie mit mir, ich wollte sowieso gerade ins Krankenhaus fahren, um einen Freund abzuholen. Sie sollten sich auch durchchecken lassen.“ Ich legte ihr meinen langen grauen Mantel um und nahm sie mit zu meinem Wagen. Da sich die Verkehrslage immer noch nicht beruhigt hatte und ich anfangs Schwierigkeiten hatte aus meiner unglücklichen Parksituation herauszukommen, haben wir weitere 40 Minuten ins Krankenhaus gebraucht. Unterwegs haben wir uns in Maßen unterhalten oder einfach der Musik im Radio zugehört. In diesem Moment war ich nur froh, dass ich sie tatsächlich vom Selbstmord abhalten konnte. Obgleich ich Staatsanwalt war – Leute vom Selbstmord abhalten gehörte noch nicht zu meinen Aufgaben und somit brachte ich keinerlei Erfahrung mit. Aber Erfahrung brachte einem in diesem Punkt wohl nichts – denn wie heißt es bei Goethe: Erfahrung ist eine nützliche Sache. Leider macht man sie immer erst kurz nachdem man sie brauchte. Endlich im Krankenhaus angekommen, übergab ich Annie einer Schwester und machte mich sofort auf dem Weg zu Levi. Der hatte schließlich schon lange genug gewartet. Meine anerzogene Höflichkeit zwang mich trotz geöffneter Tür am Türrahmen kurz zu klopfen, bevor ich einfach ins Zimmer trat. „Levi? Wie geht es dir?“ Seine kleinen, mausgrauen Augen musterten mich und schauten mich etwas perplex an. „Tut mir Leid, dass ich jetzt erst komme. Unterwegs musste ich eine junge Frau am Selbstmord hindern – hättest du mich nicht angerufen, hätte ich das wohl niemals bemerkt und sie wäre tot, da niemand anderes Anstalten machte einzuschreiten. Aber jetzt bin ich ja da.“ Ich hatte das Gefühl, ich wäre ihm eine Erklärung schuldig. Schließlich klang er ziemlich verzweifelt. „Erwin?" „Ja?“ „Ich hab dich gar nicht anrufen…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)