Schwingen der Vergangenheit von AbaddonCornix (Wenn sich das Schicksal wiederholt) ================================================================================ Kapitel 8: Kehrseite - Levi --------------------------- Wozu das noch alles? Das ist wohl die Frage, die ich mir in den letzten zwei Tagen am häufigsten gestellt habe. Ich verbrachte das gesamte Wochenende zu Hause. Allein. Jede Spiegelung hatte ich gemieden. Nicht einmal geduscht hatte ich. Ekelhaft. Eigentlich hätte ich mein Spiegelbild nicht meiden müssen. Hätte ich es nicht gehabt, wäre ich schließlich tot. Warum mussten Hannes und die Frauen sterben? Das war die zweithäufigste Frage. Doch wen sollte ich fragen? Mein Spiegelbild? Erwin hatte mir viele Nachrichten geschrieben. Levi, wie geht’s dir? Levi, ich muss dir was erzählen. Levi, warst du beim Zirkus? Levi, was ist los? Warum schreibst du nicht? Levi, brauchst du Hilfe? Auf keine Frage hatte ich geantwortet, da ich wusste, dass er sonst hergekommen wäre. Er machte sich sonst wieder viel zu viele Sorgen. Deswegen schwieg ich – schließlich hatte auch er noch Arbeit zu erledigen. So konnte ich Zeit gewinnen. Doch so konnte es nicht weitergehen. Würde ich denn wollen, dass nach meinem Tod das Leben meiner Freunde und Kollegen still steht? Nein. Es geht weiter. Hannes hatte es nicht verdient – weder den Tod selbst, noch einen weiteren potenziellen Selbstmörder wie mich. Und die beiden anderen Damen ebenfalls nicht. Jeder hinterlässt Spuren im Leben. Auch wenn es nur eine kleine Geste war, die uns in der Erinnerung bleibt, so bleibt dieser Mensch auch für immer in dieser Welt. Vielleicht hatte Hannes mal einer alten Dame beim Tragen ihrer Taschen geholfen. Oder er hat jemanden, der es eilig hatte, an der Kasse vorgelassen. Vielleicht half er früher oft seinen Klassenkameraden in der Schule oder hatte er sogar Familie? Egal was es war, es hielt ihn hier. Auf dieser Welt. In meinem Herzen. Überzeugt davon mein Elend zu beenden und nach vorn zu sehen, begab ich mich mit frischen Sachen ins Badezimmer. Neben meines Unmutes aufgrund meiner getrübten Situation, stieg in mir auch langsam der Ekel vor mir. Es gab sehr wenig Dinge, die ich mehr hasste als Schmutz. Der Tod gehörte dazu. Aber den Tod konnte ich nicht beseitigen – den Schmutz schon. Ich öffnete den Duschvorhang, trat unter die Dusche und genoss wahrlich diese Erfrischung. Einen Blick in den Spiegel vermied ich durch geschlossene Augen. In meinem abartigen Zustand wollte ich mich sowieso nicht sehen. Nach meiner gründlichen Wäsche, schaltete ich das Wasser aus und öffnete erstmals die Augen. Ich blickte auf meinen Arm, beobachtete die kleinen, unterschiedlichen großen Wasserperlen wie sie völlig unkontrolliert und durcheinander über meine Haut rannen. Das Handtuch geschnappt, trat ich aus der Dusche, fest entschlossen in den Spiegel zu blicken. Doch was ich sah, war das Schrecklichste, was ich sehen konnte. Ich sah einfach nur mich. Auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass dieser Mensch dort im Spiegel nicht ich wäre, so war es trotzdem eine Tatsache. Tiefe Augenringe, blasse, von Adern gezeichnete Haut. Unrasiert, schlapp, ausdruckslos. Ein Blick in meine Augen war wie ein Blick in ein Fass ohne Boden. Der junge Mann, mit dem ich am Freitag zusammengestoßen war, hatte mich gefragt, ob es mir gut ginge. Ich fragte mich in diesem Moment, ob ich denn wirklich so gezeichnet aussah. Hier war die Antwort. Was er jetzt wohl machte? So durfte mich Erwin nicht sehen. Er würde doch sofort denken, dass ich wieder Drogen nahm. Aber da der Mann im Spiegel ich war, hatte ich wenigstens die Möglichkeit ihn zu bearbeiten. Stoppelbart entfernt, Feuchtigkeitscreme ins Gesicht, Zähne geputzt. Und dann stand ich tatsächlich da. Fast sah ich aus wie vorher – wie Freitagmorgen. Es stimmte nur eine Sache nicht. Meine Augen. Doch gegen diesen Ausdruck in meinen Augen konnte ich genauso wenig unternehmen wie gegen den Tod. Und was wollte ich nun tun? Zur Arbeit gehen? Vielleicht sollte ich das. Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie lange das gut gehen würde. Zwischen den vielen Nachrichten von Erwin fand ich tatsächlich noch eine Nachricht meines Chefs auf meinem Handy. Er fragte mich, ob ich Montag in der Lage wäre auf der Arbeit zu erscheinen oder nicht. Sollte ich arbeitsfähig sein, darf ich Hannes seinen Auftrag ebenfalls bearbeiten. Falls meine Verfassung noch nicht für einen Arbeitsalltag reichen würde, würde er mir sogar einen Tag Sonderurlaub gewähren. Unbezahlten natürlich. Arschloch. So lass ich mich von diesem geldgeilen Bastard ganz sicher nicht behandeln. Er bettelte ja geradezu darum, mal richtig auf’s Maul zu bekommen. Deswegen bekam er von mir auch eine passende Antwort. „Guten Morgen Herr Heinzmann – ich werde heute nicht auf der Arbeit erscheinen. Und morgen auch nicht. Ich kündige nämlich. Die Unterlagen, sowie den Mitarbeiterausweis schicke ich Ihnen per Post zu.“ Wie leicht alles auf einmal ging. Wenn man sich von Allem ein wenig distanziert, ist man bereit Dinge zu sagen oder zu tun, an die man durch die Fesseln der Vernunft und der Solidarität vorher nicht einmal zu denken wagte. Mein Chef war ein schrecklicher Mann, immer nur auf Profit aus – frustriert durch seinen Misserfolg, kürzte er den sowieso schon zu niedrigen Lohn ständig, umging jegliche Tarifvereinbarungen. Schon oft dachte ich an einen radikalen Schritt, doch ich war noch nicht bereit. Musste wirklich erst jemand sterben, damit ich zu so etwas fähig war? Eine Sache erledigt. Jetzt war da nur noch Erwin. Um ein Gespräch kam ich nicht herum und da ich wusste, wie er es hasste im Büro während der Arbeitszeit auf dem Handy angerufen zu werden, tat ich genau das. Mindestens zwanzig Sekunden vergingen, bis er abnahm. „Levi? Levi, geht’s dir gut?“ Hmm, das kam jetzt überraschend. Ich dachte, er würde sich wenigstens ein bisschen aufregen. „Ja, mir geht es gut.“ „Ich hab dir geschrieben und dich versucht anzurufen. Ich wollte nachher sogar noch vorbeikommen.“ Gott sei Dank kam er es jetzt darauf mich zu besuchen. Jetzt gab es noch die Möglichkeit ihm diese Schnappsidee auszutreiben. Mein Plan, Zeit zu gewinnen, hatte wohl funktioniert. „Brauchst du nicht. Können uns auch so treffen.“ „Na gut, wann passt es dir? Ich bin im Moment im Büro und kann nicht so lange sprechen – bist du auf der Arbeit?“ „Nein.“ „Soll ich doch lieber vorbeikommen?“ „Nein.“ „Dann treffen wir uns in der Mittagspause – sagen wir 11:30 Uhr? Also in zwei Stunden.“ „In Ordnung.“ „Gut, ich warte vor der Staatsanwaltschaft. Bis dann!“ Aufgelegt. Wie er wohl reagieren wird, wenn er erfährt, dass ich nie wieder bei dieser Arbeit sein werde? Vielleicht sollte ich wirklich den Traum als Architekt aufgeben – es gab tausende Architekten und da ist so ein kleiner Arbeiter, der mit Mühe und Not sein Studium schaffte nichts dagegen. Aber was sollte ich dann machen? Ich kann nur eines richtig gut. Naja, ich dachte zumindest immer, ich könnte es… Wenigstens blieb mir so etwas Zeit für das Frühstück. Dieses Mal wollte ich mich aber nicht der Radio-Musik aussetzen und legte stattdessen meine Lieblings-CD in den CD-Player in der Küche. Das erste Lied mochte ich verdammt gerne. „The Misfit Go“ von OLDCODEX. Auch wenn es japanisch war und ich nun wirklich nicht der Sprachbegabteste war – ich konnte lediglich ganz gut Englisch – gefiel mir vor allen Dingen der Refrain des Songs sehr. Es klang einfach so befreiend, emotional, aggressiv und erlösend. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte meine Emotionen auch einfach rauschreien; einfach brüllen, was ich denke, ohne Rücksicht auf irgendjemanden. Den Krach in meiner Seele nach draußen lassen, meine Stimme als Katalysator für meine Emotionen und Sorgen. Worte, die nie gesagt werden könnten, aber in genau diesem Moment die richtigen sind. Einfach mal die Maske für vier Minuten abnehmen. Musik war etwas Großartiges. Ich beneidete die Sänger. Gestärkt mit frischem Obst und eigentlich erträglicher Laune machte ich mich auf den Weg. In der Glastür des Hauses sah ich erneut in die Augen meines Abbilds. Wieder ich. Warum erwartete ich auch etwas anderes? Ich hatte es ja zum Glück wieder nicht weit. So war ich sogar zwanzig Minuten zu früh vor dem Gebäude. Dies ermöglichte mir in der Nähe des Restaurants, in dem Erwin immer zu Mittag aß, einen ziemlich verwirrten Typen zu beobachten. Seine Augen wanderten ständig hin und her, er ging die Straße auf und ab, studierte die Hausnummern und dachte dann nach. Anschließend dasselbe Spielchen nochmal. Der schwarzhaarige Riese suchte wohl jemanden. Naja, nicht mein Problem. 11:25 Uhr. Gleich müsste Erwin kommen. Der Typ war immer noch da. Und jetzt kam der auch noch auf mich zu. Ein Stoßgebet, dass er mich nicht ansprach – vergeblich. „Entschuldigung, ich suche einen Anwalt – Mike Zacharius sein Name. Hab gehört, der muss hier irgendwo sein. Wissen Sie vielleicht wo er seine Kanzlei hat?“ Als er vor mir stand, wurde mir noch bewusster wie groß der Typ eigentlich sein musste – der war ja größer als Erwin. „Da bist du hier falsch Junge – der hat sein Büro zwar in dieser Straße, aber da musst du bis zum Ende laufen. In der Nähe der Kirche.“ – mit dem Finger deutete ich in die beschriebene Richtung. „D-Danke.“ – sein Gesicht machte einen etwas schockierten Eindruck, als ob er über irgendetwas verwundert wäre. Diese Jugend. Ohne weitere Worte zu verlieren, folgte er meinem zuvor beschriebenen Weg. Als auch ich mich wieder umdrehte, konnte ich Erwin die Treppen hinunterkommen sehen. Er war mal wieder top gestylt. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, grüne Krawatte. Alles ordentlich zurechtgelegt, wie alles an ihm, sogar seine Haare. Manchmal fragte ich mich, ob er anstatt mit Wasser mit Kleber duschen würde, damit alles ja perfekt sitzt. „Hallo Levi. Wie geht es dir?“ – in seiner Stimme konnte ich tatsächlich Sorge raushören. Diese Tonlage war so vertraut, dass ich ihm beinahe alles erzählt hätte. Doch ich hielt mich zurück. „Ganz gut. Was wolltest du mir erzählen?“ Ich nahm dabei Bezug auf die SMS, in der mir sagte, dass er mir etwas erzählen müsse. „Lenk' nicht ab. Sag mir lieber, was das Wochenende über mit dir los war? Und wie war es beim Zirkus – und warum bist du nicht auf der Arbeit?“ Wie ein Lehrer, ein Professor oder ein Kapitän. Warum dies, warum jenes. Und antworte ja präzise. Am besten noch bevor ich die Frage gestellte habe. Erwin benahm sich immer wie jemand, der alles unter seiner Kontrolle haben musste. Wenn er etwas nicht steuerte, ging es in seinen Augen schief. Tat es meistens auch, aber erklärt das sein Handeln wirklich? Oder war es nur ein Ausdruck von Sorge? Ich verstand nicht viel von diesem Verhalten. Andererseits: Sprächen die Menschen nur von Dingen, von denen sie etwas verstehen, die Stille wäre unerträglich. „Nichts. War nicht dort. Hab gekündigt.“ Drei Antworten, kurz und präzise. Aber anscheinend nicht zufriedenstellend. „Lüg nicht. Ich weiß, dass etwas los ist. Und warum hast du gekündigt? Bist du des Wahnsinns? Gehst nicht einmal zu der Stelle, die ich dir empfohlen habe und zerstörst dann deine Haupteinnahmequelle!“ Oha. Er schien tatsächlich verärgert. „Erwin, ich wäre heute sowieso nicht bezahlt worden. Mein Chef hätte mir unbezahlten Urlaub gegeben. Zum Zirkus konnte ich nicht mehr gehen. Habe den Abend damit verbracht um meinen Kollegen zu trauern, der bei einem Fahrstuhlabsturz…“ – weiter konnte ich nicht sprechen. Ich hörte wieder diese Schreie, dieses Knacken, Reißen, Brechen, Quietschen. Das Zittern kam zurück; wollte ich doch wieder weglaufen, so wie ich die Treppen runterlief. Nur um unten immer und immer wieder dieses Bild vorzufinden. Ich dachte, ich hätte es überwunden. Zum Glück musste ich auch nicht weitersprechen. Das mochte ich so an Erwin – in den wirklich wichtigen Momenten verstand er ein Schweigen immer genau richtig. Er legte seine starke Hand auf meine Schulter und bückte sich ein wenig runter zu mir. Ich hasste es, wenn er das tat. Hoffentlich kam jetzt was Intelligentes von ihm. „Levi – wie viele Menschen sind gestorben?“ Mir stockte der Atem. Meine sonst immer sehr kleinen, grimmig wirkenden Augen, starrten nun aufgerissen und schockiert in seine kalten Saphire. War das sein verdammter Ernst? So viel zu „in den wirklich wichtigen Moment verstand er ein Schweigen immer genau richtig.“ Mein Schweigen bedeutete ganz sicher nicht, dass ich ihm jetzt Einzelheiten oder gar die Anzahl der Toten am besten mit einer Auflistung der Verletzungen mitteilen wollte. „Waren es drei?“ Woher…wusste er das? War er schon über den Vorfall informiert? Ging man vielleicht sogar von Sabotage aus und er sollte in diesem Fall ermitteln? Oder stand es schon in der Zeitung? Aber dann hätte er mich nicht so ernsthaft besorgt ausgefragt, oder? Meine Verwirrung verdrängte ein wenig den Schock aus meinen Augen. „Also ja. Ist schon gut. Lass uns etwas essen gehen.“ Er stellte sich wieder gerade hin und drückte seine linke Hand etwas gegen meinen Rücken, um mich zum Gehen zu animieren. Das Wetter hatte sich von Freitag ganz schön verändert. Hässliche, graue Wolken verdeckten das schöne Himmelblau. Obwohl es noch nicht einmal zwölf Uhr war, hätte man Glauben können, es bräche die Nacht bald an. Anscheinend war dieses Gespräch noch nicht vorbei. „Levi? Hattest du Freitag zufällig mein Tagebuch in der Hand?“ Bitte?! Welches Tagebuch? Hatte der Spinner jetzt sein Tagebuch verlegt und gab mir die Schuld oder was? Seit wann besaß er überhaupt eines? „Kann es sein, dass du alt wirst, Erwin? Ich wusste nicht einmal, dass du so kitschig veranlagt bist und so etwas tatsächlich besitzt.“ Für diese Aussage bleib ich sogar stehen. Erwin hielt ebenfalls inne und drehte sich direkt zu mir um, sodass wir uns wieder gegenüberstanden. „Wenn du das sagst.“ „Ganz ehrlich, deine behinderten Andeutungen kannst du dir-“ – und wieder wurde ich unterbrochen. Dieses Mal aber nicht von meinen Gedanken, sondern von dem Bild, welches sich mir in der Schaufensterscheibe als Spiegelung offenbarte. Mein Spiegelbild stand wie ich vor Erwin. Allerdings hielt er seine Arme eng umschlungen um Erwins Nacken, stand leicht auf Zehenspitzen und küsste ihn inniglich, während seine linke Hand sich in dem Haar meines Freundes vergrub. Wie vom Blitz getroffen starrte ich auf diese Scheibe. Die Abbildung hörte nicht auf. Immer wieder küsste sie meinen Freund intensiv, streichelte seine Haut. Erwin packte mich an den Schultern, rüttelte leicht an mir und rief meinen Namen. Erst nach einigen Versuchen nahm ich seinen Ausruf wahr. „Levi! Hey! Was ist dort? Findest du das Oberteil so hässlich?“ Panisch wechselte mein Blick schlagartig zu Erwin, dessen blaue Augen mich musterten. Sein Gesicht verzog sonst keinerlei Miene. Man könnte höchstens ein leicht skeptisches Heben der linken Augenbraue erahnen. Ich spürte mein rasendes Herz. Ganz langsam drehte ich den Kopf wieder nach links. Das intensive Küssen hatte er unterlassen. Nun holte er eine Schere aus der Tasche. Ohne zu zögern stach er sie in Erwins Hals, Blut spritze. Die Spritzer spürte ich auf der Haut, obwohl keine da waren. Dann sah er mich an. Grinsend, die blutige Schere in der Hand - durchbohrender, alles vernichtender Blick. Langsam leckte er das Blut von der Schere. Ich fing an zu schreien, zu heulen, zitterte, ging zu Boden, konnte kein einziges Wort mehr sprechen, weil die Angst mir die Kehle zuschnürte. Nur noch verzweifelte Schreie drangen aus meinem bebenden Körper. Die Augen fest verschlossen, die Hände vor dem Gesicht verschränkt; wollte nichts mehr hören, sehen oder spüren. Der bis in meinen Schädel pochende Herzschlag wurde immer schneller, schneller und schneller, bis ich nicht einmal mehr Pausen zwischen den Schlägen vernahm. Der totale Zusammenbruch. Das Ende. Alles aus. Noch nicht ganz. Zwei starke Arme hielten mich, trugen mich weg. Sie legten sich wie Flügel um mich, gaben mir ein irreales Gefühl von Schutz – stark genug, um die Hände von meinem Gesicht zu entfernen und meine Augen zu öffnen. Erwin hatte mich auf eine Parkbank, einige Meter von dem Schaufenster entfernt, abgesetzt und bückte sich vor mich, während er immer noch fest meine Schultern umklammerte. Meine Augen konnten gar keinen festen Punkt mehr fixieren, ich blickte nur regungslos nach vorn. Erwin sprach mit mir, klang verzweifelt, allerdings verstand ich ihn nicht. Ich nahm die Umwelt nicht mehr war, hatte das Gefühl ganz weit weg, irgendwo anders zu sein. Plötzlich ein Knall. Klirren. Schreie. Nun tat Erwin es mir gleich, drehte sich erschrocken um und wir blickten beide auf das Geschäft mit dem Schaufenster. Oder besser gesagt auf das, was davon noch übrig war. Überall lagen Scherben, die Puppen aus der Dekoration wurden einige Meter weit geschleudert. Die meisten verloren Arme oder Beine, manchmal beides. Ein Kopf rollte auf die Straße, wurde vom Winde davon getragen, bis schließlich ein Auto darüber rollte und ihn in tausend Teile springen ließ. Die Autos, die an der Straße parkten, waren zerbeult; teilweise sprangen die Scheiben durch die Druckwelle. Alarmanlagen kreischten, Trümmer donnerten zu Boden. Aus dem Geschäft stiegen Rauch und Flammen hoch, peitschten durch die Lüfte, angetrieben vom erbarmungslosen Wind. Kein einziger Mensch kam aus dem Gebäude herausgelaufen. Das Feuer versperrte jeden Ausgang; war wie ein Zaun des Todes - heiß wie die Hölle. Unfassbar. Vor drei Minuten standen wir genau davor. Nachdem ich diesen Anblick analysiert hatte, bewegte ich meine Augen leicht nach links und sah Erwin mit seinem Handy in der Hand. Ob er die Feuerwehr gerufen hatte? Allem Anschein nach war dem so, denn diese traf einige Minuten später ein. Einer der Männer kam auch zu uns herüber und sprach mit Erwin. Ich schaute zu den beiden und konnte ihn erneut sehen. In der Pfütze neben Erwin, wahrscheinlich durch den großen Wasserschlauch der Feuerwehr entstanden. Sein ernstes, von Tränen bedecktes Gesicht war das Letzte was ich sah… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)