The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 34: Du musst keine Angst haben -------------------------------------- Stille, die schwer auf der Seele lastete. Kälte, die jegliche Hoffnung zersplittern ließ. Verrells Refugium. Luan war zurück. Schon das dritte Mal, wurde ihm bewusst. Das soll mein letzter Besuch hier sein. Obwohl ihm dieser Ort inzwischen bekannt sein sollte, veränderte sich die Umgebung wieder und wieder, somit blieb sie ihm fremd. Diesmal streckte sich direkt vor ihm ein zweiflügeliges Gittertor in die Höhe, ähnlich wie bei der Einfahrt zu einem prunkvollen Anwesen. Dementsprechend edel und mächtig sah es aus. Das Metall glühte bedrohlich, als wäre es stark erhitzt, aber Luan spürte keinerlei Hitze, nur die übliche Kälte. Kurz bevor er das Refugium betreten hatte, konnte ihm das Treffen mit Edgar vor dem Eingang dabei helfen mehr Ruhe zu finden. Anscheinend war der Trugmahr wirklich die ganze Zeit über im Keller geblieben und bewachte den Zugang. Zum Glück war ihm dabei nichts zugestoßen, an diesen Wesen zeigte Verrell also kein Interesse. Umso besser für Edgar, immerhin gehörte er zu Bernadette. Kaum hatte Luan anschließend das Refugium betreten, fand er sich vor diesem Tor wieder, das einsam in der Schwärze herumstand, ohne eine dazugehörige Mauer. Verrell musste Langeweile gehabt haben. Was brächte es ihm andernfalls, nochmal alles umzugestalten? Geräuschlos glitten die beiden Türen nach diesem Gedanken selbstständig nach innen auf und offenbarten dahinter eine lange Glastreppe. Sie war in dieser Dunkelheit kaum auszumachen, doch dank der Taschenuhr leuchtete sie für Luan gut sichtbar. Schon draußen war die schwarze Kruste äußerst aktiv gewesen und nachdem das Tor sich geöffnet hatte, schien es noch schlimmer zu werden. Zwar wurde das Brennen von der kühlen Atmosphäre des Refugiums erstickt, dafür nahm das Kribbeln und Jucken zu, sie entwickelten sich allmählich zu einem Stechen. So musste es sich anfühlen, wenn tausende feine Nadelspitzen überall in die Haut stachen, was nicht schmerzvoll war, jedoch auch nicht angenehm. Wie viele Alpträume mochten sich hier aufhalten? Mühevoll unterdrückte Luan ein genervtes Seufzen und nahm ohne weiter zu zögern diesen unnötigen Anstieg in Kauf, der sicherlich nur dazu diente, Verrell zu amüsieren. Nicht mehr lange. Endlich, schoss es Luan durch den Kopf, aber nicht wegen Verrell. Dieses Tor hat mich ans Waisenhaus erinnert. Unseres sah fast genauso aus. Dadurch entstand zusätzliches Unbehagen in ihm, davon ließ er sich jedoch nicht aufhalten. Jede Treppenstufe, die Luan berührte, gab einen musikalischen Ton von sich, vergleichbar mit einem Klavier. Je höher er kam, desto mehr wandelten sich die Geräusche. Zu Stimmen. Anfangs schluchzten sie leise, bis zu einem lauten Weinen, das sich zu einem Schreien auszuweiten drohte. Allerdings erzeugte nicht direkt die Glastreppe diesen Chor, denn um sie herum lauerten zahlreiche Alpträume im Schutze der Dunkelheit, wo sie nicht zu sehen waren und mit dem Schwarz verschmolzen. Als Traumbrecher bemerkte Luan sie trotzdem. Anscheinend warteten sie auf etwas, sie beobachteten ihn nur und regten sich nicht. Entweder spielte die Wahrnehmung ihm einen Streich oder das Starren der Alpträume war wirklich so erwartungsvoll, wie es wirkte. Nahezu hoffend. Wahrscheinlicher war aber, dass ihn die Reaktionen der Ablagerung und die Erinnerung ans Waisenhaus beeinflussten. Vor derart vielen Alpträume wollte Luan ungern die Fassung verlieren und Schwäche zeigen. Darum erwiderte er deren Blicke und versicherte ihnen auf diese Weise stumm, kampfbereit zu sein. Bevor es so weit kommen konnte, erreichte Luan aber, zu seiner Erleichterung, das obere Ende der Treppe. „Du bist ganz schön schnell zurückgekommen“, erklang Verrells Stimme, deren kühler Ausdruck die Atmosphäre noch mehr gefrieren ließ. An seiner Erscheinung hatte sich nichts verändert, außer, dass er gerade keine Zigarette rauchte. Selbstsicher stand er im Nichts, umgeben von den Spiegeln, die schwebend um ihn herum kreisten. Sofort huschte Luans Blick suchend über jeden einzelnen, leider konnte er aber momentan nichts in ihnen sehen. Ferris und Bernadette waren hoffentlich noch hier, lebendig. „Bist du sicher, dass du schon fertig bist?“, sprach die Geißel zweifelnd weiter und beugte dabei den Oberkörper etwas in seine Richtung. „Du weißt ja: Bei diesem Spiel geht es um deinen Freund und die Verräterin. Du willst doch nicht, dass ihnen etwas zustößt?“ „Ich habe nicht vergessen, worum es geht“, versicherte Luan gefasst, den Blick wieder auf Verrell fixiert. Dieser klatschte in die Hände und tat so, als hätte er eine Erkenntnis: „Ah, jetzt weiß ich, was los ist: Du hast mich vermisst~.“ „Möglich, aber nicht, weil ich dich mag.“ „Sondern weil du mir den Kopf abreißen und mein Herz zerquetschen willst, schon klar.“ So etwas sollte man nicht derart unbeschwert sagen, wie Verrell es eben getan hatte, aber das machte nur nochmal deutlich, was er für ein bösartiges Geschöpf war. „Ich bezweifle, dass du ein Herz hast“, sagte Luan verächtlich. Geschockt griff Verrell sich an die Brust, sein Schauspiel war absichtlich schlecht. „Wie gemein. Du magst an meinem Herzen zweifeln, aber Gefühle trage ich auf jeden Fall in mir. Ärger. Abscheu. Wut. Hass. Das darf man nicht unterschätzen.“ Verrells Gefühlswelt war Luan herzlich egal, er hatte sich die Chancen auf Sympathie und Verständnis schon lange verspielt und bekäme auch keine mehr. Dieser Zug war abgefahren. „Genug mit diesem lächerlichen Small-Talk“, beendete Luan das Ganze und ging einige Schritte näher auf ihn zu, blieb jedoch auf Abstand. „Ich will immer noch wissen, wo Ferris und Bernadette sind.“ Statt endlich darauf zu antworten, betrachtete Verrell ihn schweigend. Prüfend suchte er in Luans Augen nach etwas, wovon nur er wissen konnte. Ein kaum sichtbarer Funke der Enttäuschung huschte schließlich über Verrells Gesicht und er gab sich auch keine Mühe dabei, seine Unzufriedenheit zu verbergen. „Ich hatte eine andere Reaktion erwartet“, gab er zu. „Immer noch so feindselig?“ „Wie sollte sich sonst sein?“ „Kooperativer.“ Ohne die Füße oder Beine zu bewegen, kam Verrell näher, glitt einfach über den Boden hinweg. Anfangs langsam, doch mit dem nächsten Wimpernschlag stand er dann plötzlich dicht vor Luan, der Mühe hatte, nicht sofort zurückzuweichen. „Sag“, hauchte Verrell und bohrte seinen Blick in ihn hinein, „hast du meine Bedingungen erfüllt? Weißt du Bescheid?“ Es war eindeutig, dass er mehr von Luan wollte, als dieser erahnen konnte. Er wollte nicht vorzeitig offenlegen, wie die Dinge standen und damit möglicherweise den Plan gefährden, also schwieg er einfach. Eine Zeitspanne verstrich, in der sie beide sich gegenseitig anstarrten und jeder auf den kleinsten Hinweis dafür wartete, welche Handlung als nächstes angebracht wäre. Solch eine Anspannung war mehr als anstrengend. Letztendlich musste jemand wieder etwas sagen und derjenige war Verrell: „Hm, wie schade. Ich hätte nicht gedacht, dass du noch so feindselig bist, sobald du alles weißt.“ Luan beschloss vorerst weiterhin zu schweigen, um nichts Falsches zu sagen und gleichzeitig die größte Schwäche dieser Geißel auszunutzen, die er bei ihrem ersten Kampf erkannt hatte. Mit Erfolg, es dauerte nicht lange und Verrell, der immer noch viel zu dicht vor ihm stand, sprach weiter. Scheinbar war ihm wirklich nicht bewusst, dass er seinen Schwachpunkt mit diesem Verhalten mehr und mehr bestätigte. „Ich wollte, dass du auf die Wahrheit stößt“, fuhr er ungehemmt fort. „Nur darum solltest du herausfinden, wie du mich besiegen kannst. Leider war das der einzige Weg, bei dem du diese Wahrheit nicht bestreiten kannst, das Diarium Fortunae lügt nämlich nicht. Du wirst sicher darauf gekommen sein, nur darin die richtige Antwort auf die Frage zu finden, wie man Geißeln vernichtet. Dumm bist du ja nicht.“ Beinahe brüderlich tätschelte er Luans Kopf. „Und doch bist du noch gegen uns? Du solltest jetzt eigentlich auf der Seite der Alpträume stehen.“ Was? Hatte Luan das richtig verstanden oder verabschiedete sich sein Verstand? Warum glaubte die Geißel so etwas? Alpträume blieben Luans Feinde, egal was geschah. Trugmahre und Sakromahre bildeten die einzigen Ausnahmen, sie mussten beschützt werden. Nichts und niemand könnte Luan jemals dazu bringen, sich mit den Alpträumen zu verbünden. Zu gern hätte er das Verrell laut gesagt und seiner Empörung freien Lauf gelassen, aber er sollte noch eine Weile mitspielen. „Du hast Mara ein Geißel-Ei eingepflanzt“, war das einzige, das Luan zum Gespräch beitrug. „Ach so, darum geht es dir also? Du bist sauer deswegen?“ „Und wie.“ Schmunzelnd trat Verrell einen Schritt zurück und löste dabei auch die Hand von seinem Kopf. „Natürlich habe ich das. Muss ich dir etwa echt erklären, wieso?“ „Das wäre besser für dich.“ „Huh, du bist echt verrückt nach Sakromahren“, machte Verrell sich ungeniert über ihn lustig und winkte über seine eigene Schulter. „Du bleibst eben doch leicht zu lesen. Ich wusste, du würdest sie mit nach Athamos nehmen.“ Kurz hielt er inne, wartete und seufzte anschließend. „Schade, es wäre so praktisch, wenn sich auch für uns sofort überall ein Portal öffnen würde.“ „Sprich weiter“, verlangte Luan. Offenbar sah Verrell noch eine Chance darin, sein Ziel zu erreichen, indem er ihm diese gewünschte Erklärung bot, was Luan gelegen kam. Die Geißel plauderte amüsiert weiter: „Sakromahre sind heilig und werden nicht so schnell einfach vernichtet, eine ziemlich gute Geheimwaffe also.“ „Die Geißelsaat hat auch mich angegriffen.“ Darauf ging Verrell aber nicht ein und verschränkte die Arme, ehe er weitersprach: „Mit dieser Geheimwaffe und dank deiner Hilfe wollte ich Athamos und Atanas in den Untergang treiben, dummerweise funktionierte dieser Plan wohl nicht, dabei wäre das der leichteste und schnellste Weg gewesen. Versuchen wollte ich es mal. Aber ... Menschen sind anscheinend gern Betrüger. Nicht wahr, Luan?“ Ein schrilles Klirren durchbrach das weite Nichts aus Dunkelheit. In der Umgebung bohrten sich aus dem Boden mehrere Metallnägel, so groß wie Hochhäuser, hervor, die ebenso glühten wie das Tor am Eingang des Refugiums. Mit rasender Geschwindigkeit wuchsen innerhalb von Sekunden so viele, dass sie bald eine Armee aus Hunderten waren. Ihre Hitze sorgte für etwas Licht, doch die Schwärze schien es einfach in sich zu verschlingen. Umkreist von diesem dichten Wald aus Metall, gab es kaum noch Bewegungsfreiheit. Einige Spiegel waren von den Nägeln aufgespießt worden, wodurch sich das klirrende Geräusch erklären ließ. Hoffentlich hatte das keine schweren Folgen für Ferris und Bernadette. Zusammen mit Verrell stand Luan noch in dieser einzigen Lichtung und biss unruhig die Zähne zusammen. Hatte die Geißel etwa doch erkannt, dass Luan keine Ahnung hatte, von welcher Wahrheit die Rede war und somit die Spielregeln brach? Am besten sollte er schnellstmöglich handeln und das endlich beenden, bevor es zu spät dafür war. „Du solltest nicht so herablassend über Menschen sprechen“, riet Luan, womit er ihn zu provozieren versuchte. „Süß, du bist dieser Rasse sehr verfallen, was?“ Lachend wandte Verrell sich ab und drehte ihm den Rücken zu – Jackpot. „Denk doch mal nur an Bernadette. Sie hat alle verraten und das größte Tabu in der Geschichte der Traumbrecher begangen, nur um ihre eigenen, egoistischen Ziele zu erreichen. Menschen sind widerliche Kreaturen.“ Luan musste es sich verkneifen, darauf etwas zu erwidern. Stattdessen ballte er die rechte Hand zur Faust und die sechs unsichtbaren Klingen erwachten aus ihrem Schlaf. Geschwind folgten sie seinen Anweisungen, wofür er weder sprechen noch denken musste, und schlossen sich zusammen. Zu einer einzigen, großen Klinge, die seinen Arm als eine Art Schwertgriff nutzte und fest damit verbunden blieb. Mühelos gelang es dem hellblauen Leuchten seiner Prägung gegen die gierige Dunkelheit anzukämpfen und erhellte die Umgebung. Jeder Metallnagel, der von diesem Licht berührt wurde, verblasste abrupt, wurde pechschwarz und zerbröckelte leicht. Noch bevor Verrell sich über die entstehende Wärme oder gar die veränderten Lichtverhältnisse wundern konnte, rammte Luan ihm bereits von hinten seine Klinge in den Rücken, geradewegs durch die Brust hindurch. Überrascht schnappte Verrell nach Luft, hielt jedoch kurz danach den Atem an und verkrampfte. Zwar packte Luan ihn mit der freien Hand an Arm, um ihn daran zu hindern zu fliehen, doch sicher würde Verrell jetzt keine unbedachten Schritte wagen, solange diese Klinge in ihm steckte – und sie stellte eine Gefahr für ihn dar. „Wie ironisch, dass du so schlecht über Menschen redest“, machte Luan sich endlich Luft. „Dabei verhältst du dich selbst ziemlich menschlich.“ Mit seiner Ungeduld und dieser Überheblichkeit, dem hohen Maß an Selbstsicherheit, bot er viele Möglichkeiten, ihn anzugreifen. Wer zu überzeugt von sich und seinen Fähigkeiten war, musste früher oder später lernen, dass jemand diese Schwächen ausnutzen würde. Vermutlich hatte Verrell diesen Hauch von Menschlichkeit, wenn auch die negative Seite, in Ferris ungewollt von diesem erlernt. Außerdem hatte Luan beim letzten Mal deutlich bemerkt, dass Verrell Respekt vor seiner Atem-Prägung besaß. Da er auch von dieser Atemhypnose wusste, musste er deswegen keine Sorgen vor diesen Klingen gehabt haben. Wie das jetzige Gespräch ergeben hatte, war Verrell außerdem davon ausgegangen, Luan von nun an sowieso auf seiner Seite zu haben und sich auch zukünftig nicht vor diesen Fähigkeiten fürchten zu müssen. Falsch gedacht. „Idiot!“, zischte Verrell warnend. „Du hast das Diarium Fortunae also wirklich nicht gelesen.“ „Wenn das deine einzige Sorge ist: Stirb.“ Durch die Verschmelzung aller Klingen zu einer, hatten sich auch die Energien gebündelt. Ebenso war es mit den Gefühlen von Verrell, die absorbiert wurden und das Hellblau rot verfärbten. Purer Hass rauschte durch die Klinge und drohte auf Luan überzugehen, so stark war diese Emotion, doch er nutzte sie gegen Verrell. Sämtlicher Hass zog sich an einem Punkt in der Klinge zusammen, ehe er förmlich explodierte und in die Geißel zurückgeschleudert wurde. Das helle Licht blendete stark und brannte in den Augen. Zum ersten Mal hörte Luan Verrell vor Schmerzen aufschreien, aber auch Ärger lag in diesem Laut. Alles schien nur eine Sekunde lang anzudauern. Sein eigener Hass kehrte zu ihm zurück und zerfraß ihn wie heiße Lava von innen, löste eine Explosion aus, die seinen Körper zerriss. Da stimmt was nicht, dachte Luan beunruhigt. Es war normal, dass Atem-Traumbrecher die Gefühle derer durchleben mussten, von denen sie diese absorbierten, aber das dauerte für gewöhnlich nicht lange an. In dem Fall wollten sie nicht nachlassen. So viel Hass. Mehr als vor wenigen Tagen. Wie konnte ein einziges Wesen solch eine Intensität dieses negativen Gefühls nur aushalten? Woher nahm Verrell das? Keuchend kniff Luan die Augen zusammen. Auch in seinem Körper brannte der Hass wie Lava. Zwar verletzte ihn das nicht so wie Verrell, aber es war kaum zu ertragen. Er wollte einfach nur, dass es aufhörte, egal wie. Sein Verstand drohte davon ertränkt zu werden und belebte etwas in ihm. Etwas, das in seinen Ohren laut wie ein Herz pulsierte. Plötzlich stand die Welt still. Die Zeit. Das Leben. Eine weitere Explosion, verursacht von seiner Klinge, schleuderte Luan anschließend gewaltsam zurück. Im nächsten Augenblick lag er schon auf dem Boden und atmete tief durch, sein rechter Arm zitterte heftig. Nur schleichend wich das aggressive Rot aus seiner Klinge, die noch aktiviert war. Lange blieb Luan nicht liegen, sondern richtete sich rasch wieder auf und kam stolpernd auf die Beine. Verrell stand ebenfalls noch, wenn auch mit einem riesigen Loch in seinem Körper. Brennende Funken schwebten zu Boden und zerfielen zu Asche, der klägliche Rest dessen, was die Klinge hatte vernichten können. Wenigstens keuchte Verrell genauso schwer wie er, es hatte ihm eindeutig geschadet. „Du bist zu bemitleiden“, gab er angeschlagen von sich und torkelte sichtlich. „Denkst du, dass du so leicht durchschauen könntest, wie Geißeln zu bezwingen sind?“ Luan musste mehrmals blinzeln, behielt den Feind jedoch aufmerksam im Auge. Sein rechter Arm zitterte noch immer und fühlte sich steinhart an. „Versuch gar nicht erst, mich zu verunsichern“, entgegnete Luan. „Ich bin nicht blind, du bist erledigt.“ Daraufhin versuchte Verrell zu lachen, bekam aber nur ein röchelndes Husten zustande und fluchte wütend. „Wie du willst. Dann also die harte Tour, ja? Verabschiede dich von Ferris und Bernadette.“ „Wage es ja nicht, ihnen etwas anzutun!“ Aufgrund des Hasses, den Luan über die Prägung in sich aufgenommen hatte und der erst noch nachlassen musste, konnte er bei dieser Drohung nicht ruhig bleiben. In der Ferne war ein leises Flattern zu hören, das sich vermehrte und näherkam. Die Alpträume. Sie kamen in Bewegung. Folgten sie Luans negativem Ausbruch oder eilten sie Verrell als Verstärkung zur Hilfe? „Wo sind sie?!“, schrie Luan aufgebracht und stürmte der Geißel entgegen, für einen neuen Angriff. Mit dieser Verletzung dürfte es Verrell schwerfallen, sich zu teleportieren oder das Refugium anderweitig als Waffe gegen Luan zu nutzen. Tatsächlich wich er diesmal aus, mit einem kräftigen Sprung zur Seite, mitten in den Metallwald aus Nägeln hinein. „Du gehst mir echt auf den Sack! Weißt du eigentlich, wem deine Freunde diese Probleme zu verdanken haben? Ganz alleine dir!“ Verrells Stimme hallte wie ein böses Omen zwischen den Nägeln hervor und klang verzerrt. „Lügner!“ Zielstrebig hastete Luan ihm nach. Leider war das Licht seiner Klinge nicht mehr rein genug, um diese bizarre Struktur des Refugiums einfach zerfallen zu lassen. Also nutzte Luan sie dazu, sich den Weg freizuräumen und zerschnitt sämtliche Metallnägel, die ihn dabei störten, wie Butter. Die abgetrennten Teile zerfielen dann wieder zu Asche. „Wärst du meinen Anweisungen gefolgt, wüsstest du, dass ich nicht lüge!“ „Gib dir keine Mühe, ich vernichte dich, egal was du sagst!“ Als Luan die nächsten Metallnägel zerschnitt, tauchte Verrells Gestalt dahinter auf, doch er rannte sofort weiter und floh in den nächsten Bereich des Waldes. Hinter ihm verglühten weitere Funken seines Körpers, anscheinend fiel er durch die Bewegung allmählich auseinander. Lange könnte er dieses Spiel also nicht treiben. Nicht, wenn Luan alles niedermähte und ihm somit jede Möglichkeit nahm, sich vor ihm zu verstecken. Daher verfolgte er Verrell weiter und vollführte einen Hieb nach dem anderen. „Ha, klar, das dachte ich mir. Darum haben wir es dir nicht selbst gesagt, weil du uns sowieso nicht glauben würdest.“ „Hör auf, ständig über mich zu reden!“, befahl Luan. „Hier geht es nicht um mich!“ „Doch, das tut es. Es geht ganz allein um dich. Alles passiert nur wegen dir.“ Zwischen den Nägeln sprangen unterdessen Alpträume hervor, die ebenfalls in diesen Wald vordrangen. Es waren abscheuliche Gestalten, auf die Luan jeweils nur flüchtig einen Blick erhaschen konnte, so schnell zerschnitt er sie zusammen mit dem Metall. Wie sie genau aussahen, interessierte ihn momentan ohnehin nicht. „Soll ich es dir verraten?“ „Nein!“ Davon ließ Verrell sich nicht abhalten, natürlich tat er es trotzdem: „Über uns Geißeln existiert noch ein höherer Rang, den nur ein einziger Alptraum trägt. Das Wort Zerstörung dürfte bei dir diesbezüglich doch einiges triggern, nehme ich an.“ Schlagartig erschlafften Luans Glieder und verloren ihre Kraft, er musste stehenbleiben. Ja, dieses Wort löste eine Reaktion in ihm aus. Eine, die er nicht benennen konnte. Schon als Rowan es in einem Satz erwähnt hatte, war dieses Gefühl aufgekommen. Ihm fehlte die Konzentration, sich darauf überhaupt einzulassen, zumal Luan erst im Stillstand bemerkte, dass die Ablagerung wieder zu wachsen angefangen hatte. Ihre Hitze raubte ihm die Luft zum Atmen, vor seinen Augen flimmerte alles. Seltsamerweise blieben die Alpträume in der Nähe genauso reglos wie er und griffen nicht weiter an, sondern beobachteten ihn fasziniert. Er konnte nach wie vor ihre Gestalt nicht genau erkennen, doch er glaubte halbwegs entstellte, tierische Figuren auszumachen. Unter ihnen befand sich auch Verrell, er wirkte zwischen diesen Wesen beinahe wie eine engelsgleiche Schönheit. „Ja, du solltest dich nicht so aufregen“, riet Verrell, mit einer Mischung aus Spott und Verständnis. „Sonst bist du bald erledigt. Das, was da auf deinem Körper wächst, ist nämlich ein Fluch.“ Ein Fluch? Warum hatte Vane niemals sagen können, was es war, Verrell jedoch schon? Beide waren Geißeln. Log letzterer nur oder gehörte diese Antwort zu den Fakten, vor denen Vane ihn schützen wollte? Leises Getuschel entstand unter den Alpträumen, sie schienen aufgeregt zu sein. „Eine Schutzfunktion sozusagen“, erklärte Verrell unaufgefordert weiter. „Sobald die Gefahr besteht, dass du außer Kontrolle gerätst, weitet der Fluch sich aus, bis er dich komplett in einem ausbruchsicheren Gefängnis eingeschlossen hat, aus dem du mit eigenen Kräften nicht mehr herauskommen kannst. So wirst du unschädlich gemacht.“ Erschöpft stand Luan da, unfähig sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Automatisch kamen ihm die Bilder dieser Obelisken aus einer Ebene der Traumwelt in den Sinn, durch die er in Athamos gewandert war, um das Geißel-Ei und Mara zu suchen. Bestand zwischen Luan und diesen Türmen also wirklich eine Verbindung? Zumindest hatte alles in diesen Ebenen dazu gedient, seine Ängste zu nähren, so viel wusste er. „Du solltest lernen, mit dem Wahnsinn richtig umzugehen.“ Einladend breitete Verrell die Arme aus. „Wer könnte das besser, als wir Alpträume? Wir können dir helfen.“ „Woher ... kommt dieser Fluch?“, brachte Luan heiser hervor. „Das ist eine etwas längere Geschichte, aber in gewisser Weise von dir selbst. Von ihm.“ Von wem? Etwa diesem Kian? Verrell wusste die Antwort, warum sagte er es ihm nicht? Vielleicht könnte Luan ihm glauben und hätte Ruhe vor dieser Ungewissheit. Genau, Ruhe. Alles, was er jemals wollte, war ein ruhiges und friedliches Leben mit einer Familie. Allerdings stand er hier, im Alltag eines Traumbrechers und voller Verwirrung. Sein Kopf schmerzte. Derweil ging Verrell einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Beruhige dich jetzt und komm. Ich gebe dir alle Antworten, die du willst. Dann kann dein Leid ein Ende haben.“ Unsicher blickte Luan nach vorne. Seine Sicht war noch etwas verschwommen, doch dank der hellblauen Sichtebene der Taschenuhr hielt sich das einigermaßen in Grenzen. So konnte er auch die rötliche Aura sehen, die von Verrell ausging. Sah man genauer hin, könnte man annehmen, er stehe in Flammen. Wild zuckten sie empor und vereinten sich mit der Dunkelheit, verdichteten sie noch mehr. Ein trauriger, trostloser Ort, wo selbst die Hoffnung verloren scheint. Genau wie im Waisenhaus damals. Nein. Ohne Vorwarnung schwang er Verrell erneut die Atem-Klinge entgegen, statt seine Hand zu ergreifen. So leicht machte er es der Geißel nicht. Diesmal reagierte Verrell schnell, als hätte er diese Handlung vorhergesehen, und fing den Angriff mit beiden Händen ab, wenn auch sichtlich entkräftet, durch die schwere Verletzung. Wieder floss Röte in die Klinge hinein und berauschte Luan mit Hass. „Willst du dich wirklich selbst vernichten?“ „Wenn das hilft, dich auszulöschen, stört mich das nicht. Du bist das reine Böse“, urteilte Luan überzeugt. „Ich lasse dich nicht entkommen.“ „Ich bin der Böse, ja?“, betonte Verrell eingeschnappt, den Schmerz unterdrückend. Wegen der direkten Berührung zu der Klinge begannen seine Hände zu verkohlen, wie zuvor bei seiner Brust. „Wer von uns hat denn mit einer Energiekugel auf die gute Bernadette geschossen? Weißt du eigentlich, was du damit angerichtet hast? Du hast sie quasi auf dem Gewissen. Dank deinem Schuss hast du die Geißel in ihr entfesselt, Bernadette wird schon längst gebrochen sein.“ Ungläubig schüttelte Luan den Kopf. „Was?“ „Ganz recht, mein Guter.“ Boshaft grinste Verrell ihn an. „Dein Schuss hat sie getötet. Und weißt du, was mit den Seelen von gebrochenen Menschen passiert? Sie irren entweder orientierungslos auf ewig zwischen den Welten umher oder wandeln als Trugmahre herum.“ Ruckartig riss Luan die Klinge aus Verrells Händen. Während dieser dadurch um sein Gleichgewicht kämpfte, rammte Luan ihm seine Waffe gezielt zwischen die Schlüsselbeine. Sein eigener Körper begann innerlich zu beben und wurde gänzlich vom Hass verschüttet, wodurch das Wachstum der Ablagerung, dieser angebliche Fluch, weiter angekurbelt wurde. Er fühlte sich immer schwerer und steifer, jedoch verschleierte der Hass die Angst davor. Du redest zu viel, dachte Luan genervt. Stirb endlich! Röchelnd hing Verrell in der Klinge, zeigte aber keine Furcht vor dem Tod, sondern starrte ihn gefühllos an. „Idiot. Wenn ich nicht für Zerstörung sorge, dann wirst du es eh selbst tun, Weltenbrecher.“ „Weltenbrecher?“, wiederholte er wie hypnotisiert In Luans Kopf hallte eine Stimme wider und stimmte dieser Aussage zu: So ist es. Egal, wie sehr du dich anstrengst, du wirst verlieren. Es war ein Satz, den er schon einmal gehört hatte. Vor langer Zeit. Ein verwüstetes Schlachtfeld tauchte vor seinem inneren Auge auf, begleitet von etlichen Momentaufnahmen eines Kampfes. Die Bilder überlagerten sich und rauschten viel zu schnell vorbei, als dass er sie erfassen könnte. Allerdings war Bernadette ebenfalls dort und neben Luan selbst eine weitere Person. Sie sah aus wie sein Zwilling, nur mit stechend roten Augen und der Ausstrahlung eines Dämons. Kian. Bislang hatte Luan ihn nur einmal im Traum gesehen. Ich halte das nicht aus. Luan war mit alldem überfordert. Zu viele verschiedene Eindrücke wirkten auf ihn ein. Zu viele Regungen herrschten in seinem Körper. Zu viele Emotionen brachten ihn durcheinander. Zu viel. Er hatte sich wirklich zu viel zugemutet. Warum war er ganz alleine hierher gekommen? Dann breche doch einfach, schlug das Wesen namens Kian vor, das in ihm lebte. Ruck Zuck hast du für immer Ruhe und stehst nicht mehr im Weg. Bevor Luan tatsächlich aufzugeben gedenkte, erklang eine andere, wesentlich gutmütigere und vertraute Stimme in seinem Geist: Mara. Du musst keine Angst haben, beruhigte sie ihn. Du bist nicht allein. Wir sind bei dir. Ihre Worte schafften Frieden in dem Chaos, das ihn heimgesucht hatte. Aus der Ferne sandte Mara ihm positive Gedanken und stand ihm bei. Im Wagen hatte Luan sich über die Taschenuhr mit ihr und Naola verbunden, um zusätzliche Energiequellen und somit eine Absicherung zu haben, falls etwas schieflaufen sollte. Sonst wären Ferris und Bernadette verloren. Komm schon, Luan! Du kannst es schaffen, feuerte Naola ihn an. Hol Precious da raus! Heilsam breiteten sich die Gefühle der beiden in ihm aus und konnten von seiner Atem-Prägung in Energie umgewandelt werden. Jeglicher Hass schwächte ab, wurde von Hoffnung und Vertrauen überflügelt. Das Hellblau kehrte zurück und strahlte kräftiger als je zuvor, es kleidete das Refugium allmählich in Weiß ein und erhellte die Dunkelheit. Luan dankte Mara und Naola im Geiste. Sein Verstand war wieder klar genug, um dem ein Ende zu setzen. Anscheinend war er irgendwann nach hinten geschwankt und gefallen, denn er lag wieder auf dem Boden, wie er feststellte, mit der Klinge an seinem Arm. Sofort sorgte er dafür, dass er auf die Beine kam und suchte mit seinem Blick nach Verrell. In der Zwischenzeit musste er etwas getan haben, zumindest stand er nicht mehr vor Luan und auch die Alpträume waren verschwunden. Vor ihm lagen nur noch die Metallnägel und warfen durch das Licht seiner Prägung lange, schmale Schatten. „Einfach lächerlich“, hörte er Verrell sagen. Feiner Traumsand rieselte von oben hinab. Luans Blick folgte der Stimme und entdeckte die Geißel über sich auf einem der Metallnägel, von der sich die Spitze blütenartig aufgespalten hatte und für ihren Erschaffer einen Standplatz bot. Missbilligend runzelte Luan die Stirn, irgendwie konnte Verrell seinen Körper halbwegs regenerieren und sah nicht mehr allzu verletzt aus. „Hast du die Alpträume verschlungen?“, vermutete Luan. „Du bist ein kluges und aufmerksames Kerlchen“, lobte Verrell ihn halbherzig. Es mochte ein Rückschlag für Luan sein, doch half der Geißel diese Regeneration dennoch nicht. Schweigend hob er den rechten Arm in die Luft und bat Mara und Naola um noch mehr Energie. In Sekundenschnelle erhöhte sich die Strahlkraft und war kaum noch mit offenen Augen auszuhalten. Allein mit ihrem Licht sorgte die Klinge dafür, dass das Refugium Risse bildete und Stück für Stück zerbrach. Auch auf Verrells Haut bildete sich Bräune, so dass sein Körper sich bald einfach mitsamt diesem Höllenloch auflösen sollte. Trotzdem blieb er überraschend siegessicher. „So kannst du mich nicht besiegen“, behauptete Verrell und zuckte mit den Schultern. „Selbst Schuld, du hättest es ganz leicht herausfinden können. Ah, übrigens: Du solltest das Refugium nicht einfach zerstören, wenn du deine beiden Lieblinge noch retten willst.“ Hörte dieser Kerl irgendwann mal auf zu reden? Andauernd kam er mit neuen Offenbarungen und Behauptungen um die Ecke, darauf hatte Luan keine Lust mehr. Unbeirrt machte er weiter und ließ sich nicht nochmal in ein Gespräch verwickeln, was Verrell äußerst entzückend zu finden schien. „Plötzlich wieder so entschlossen? Putzig.“ Schwungvoll hob er einen Arm und beobachtete wie dieser langsam zu Asche zerbröckelte. „Ich bin fairer, als du annimmst. Ich habe Ferris und Bernadette längst in diese Ebene geholt. Es könnte ihrer Seele ernsthaft schaden, wenn du sie so plötzlich aus ihrer Trance reißt. Tja, bei Bernadette ist es ja schon zu spät, wegen dir.“ Widerwillig hielt Luan nun doch inne. Wann sollte Verrell sie hierher geholt haben? Etwa als die Spiegel durch das Auftauchen der Metallnägel zersplittert waren? Immerhin konnte er Ferris und Bernadette sie zuletzt darin sehen, also beinhalteten sie vielleicht eigene Räume des Refugiums, in die Verrell sie eingesperrt hatte. Ohne Luans Zutuns löste sich die Atem-Klinge von seinem Arm, spaltete sich in die ursprünglichen sechs Teile und schoss auf Verrell zu, was ihn dazu zwang sich zu bewegen, wenn er nicht nochmal durchbohrt werden wollte. Verwundert sah Luan zu, wie die Geißel damit beschäftigt war auszuweichen, doch er bekam kurz darauf eine Erklärung für dieses Verhalten seiner Prägung: Wir werden uns um ihn kümmern, versicherte Mara ihm. Wir passen auf, dass er nicht flieht. Geh und suche nach Ferris und Bernadette. Dagegen hatte Luan nichts einzuwenden und nickte sich selbst zu. Während er herumfuhr und loszog, um die beiden Gefangenen zu finden und zu befreien, öffnete er den Deckel seiner Taschenuhr. Sollte Verrell recht haben und das Refugium durfte nicht zerstört werden, solange die anderen noch in Trance waren, musste vorerst die Pistole zur Verteidigung genügen, mit der physischer Schaden vermieden wurde. Was, wenn für Bernadette wirklich jede Hilfe zu spät kam? Er durfte sich von diesen Sorgen nicht wieder einnehmen und unterkriegen lassen, aber er konnte es auch nicht ignorieren. Wie sollte er das Mara beibringen? Hatte sie es bereits mitbekommen? Das Ganze schrie nach einer neuen Falle von Verrell. Trotzdem ... Bernadette ... bitte, sei am Leben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)