The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 33: Warum ausgerechnet Limbten? --------------------------------------- Vor Maras Krankenzimmer wartete eine eher unangenehme Überraschung auf Luan: Rowan höchstpersönlich. Er lehnte mit dem Rücken gegen die Wand, direkt neben der Tür, und stand mit verschränkten Armen da, die Muskeln immer noch angespannt. Aufgrund der Kämpfe gegen die unbekannte Geißelsaat sahen seine Haare nun um einiges zerzauster aus, als sie es ohnehin schon gewesen waren. Auch sein Körper hatte eine Menge sichtbarer Blessuren davongetragen, aber Rowan schien sich überhaupt nicht daran zu stören, so wie man es von ihm kannte. Wahrscheinlich bemerkte er sie nicht einmal wirklich, sein Schmerzempfinden musste er abgetötet haben. Luan fror für einen kurzen Moment in seiner Bewegung ein und spürte Nervosität in sich aufleben, weil Rowans Gegenwart sich gerade sogar für ihn ziemlich bedrohlich anfühlte. Dessen Augen versprühten die dreifache Menge an Gift und seine Brauen zogen sich so stark zusammen, dass es schon alleine beim Zuschauen anstrengend wirkte. In einem schnellen Rhythmus hob und senkte sich Rowans Brustkorb deutlich, was bei ihm meistens dafür sprach, dass er sich um die Kontrolle seiner Wut bemühte. Großartig, das hat mir noch gefehlt ... Da es nur unnötig Zeit kostete, wie eine Statue herumzustehen und darauf zu warten, bis Rowan von selbst wieder verschwand, brachte Luan es lieber hinter sich. Wer gegen eine Geißel antreten wollte, sollte vor einem Kollegen erst recht nicht zurückschrecken. Bestimmt wachte Rowan nur über Nevin, der im Zimmer bei Mara sein könnte und sich um sie kümmerte, oder er plante Luan wegen diesem Chaos zur Rede zu stellen – beides zusammen käme auch in Frage. „Hast du mir nicht geschworen, dass dieses Mädel keine Gefahr darstellt?“, knurrte Rowan wie ein wildes Tier, kaum dass Luan bei ihm angekommen war. Geschworen? Besser, Luan ließ das einfach so stehen, denn versichert hatte er es ihm tatsächlich. „Es war auch nicht Maras Schuld“, beteuerte er sofort. „Jemand hat sie als Gefäß missbraucht, sie ist also selbst ein Opfer und fühlt sich trotzdem schuldig. Ich stehe nach wie vor dafür ein, dass sie nicht gefährlich ist.“ Zwar war Luan nervös, sprach jedoch mit fester Stimme, damit seine Überzeugung auch Rowan erreichte. Beschwichtigen könnte er ihn auf diese Weise nicht, doch vielleicht brachte es ihm wenigstens dessen Verständnis ein. „Jemand, hm?“, wiederholte Rowan brummend. „Wer?“ Das giftgrüne Augenpaar fixierte sich auf Luan, eine Antwort fordernd. Offenbar wollte Rowan diese Person zur Rechenschaft ziehen, für das, was sie in Athamos angerichtet hatte. Dieser Drang war nachvollziehbar, denn durch diesen Vorfall war immerhin sein Bruder Nevin in Gefahr geraten, an einem Ort, der eigentlich vor Alpträumen absolut sicher sein sollte. „Ich werde ihn vernichten“, sagte Luan, statt zu antworten. Dadurch schüttete er Öl ins Feuer, Rowans Zähne knirschten hörbar. „Pass auf, ich-“ „Ich weiß, wie du dich fühlst“, unterbrach er ihn – jeder andere hätte Luan an der Stelle für lebensmüde erklärt. „Ich bin selbst wütend wegen dem, was passiert ist, auch wenn man es mir nicht anmerkt. Dieser Jemand hat Menschen gefährdet, die mir wichtig sind. Deshalb will ich mich selbst um ihn kümmern, auch weil er das Ziel meiner Mission ist. Wärst du an meiner Stelle und Nevin darin verwickelt, könntest du doch auch keinem anderen diese Aufgabe überlassen.“ Im Sekundentakt entspannten sich Rowans Gesichtszüge ein wenig nach dieser Ansage. Bestreiten konnte er das nicht, dessen war er sich bewusst. Schließlich stieß er ein genervtes Stöhnen aus. „Na schön, du hast recht. Es passt mir nicht, aber dann überlasse ich es halt dir.“ Erleichtert nickte Luan ihm zu. „Ich werde nicht versagen.“ „Das verbiete ich dir auch!“, warnte Rowan ihn. „Aber du schaffst das schon. Du hast uns ja auch von diesen Alpträumen befreit, wie auch immer du das angestellt hast. Diese Erklärung schuldest du mir noch. Nach deiner Rückkehr.“ So viel Vernunft war ungewöhnlich für Rowan, aber Luan nahm das einfach dankbar an. Zum Glück konnte er in den letzten Jahren Freundschaft mit ihm schließen, sonst hätte dieses Gespräch wahrscheinlich doch etwas anders ausgesehen. Plötzlich fügte Rowan dann noch etwas hinzu: „Solltest du aber im Notfall mal Hilfe brauchen, bin ich auf deiner Seite.“ Überrascht sah Luan ihn an, was den anderen dazu antrieb, eine Erklärung anzuhängen: „Ohne dich wären auch ich und Nevin genauso schnell gebrochen oder von Alpträumen zerfleischt worden wie viele andere Traumbrecher damals. Wir stehen alle tief in deiner Schuld, deswegen wirst du mich immer als Verbündeten haben. Selbst wenn du mal Mist anstellen solltest.“ Sprachlos ließ Luan diese Worte auf sich wirken. Es tat gut, zu wissen, dass er Verbündete hatte, von denen er ernst genommen und nicht als unfähig eingestuft wurde. Nur aus diesem Grund hatte Luan alles alleine schaffen wollen, um sich seinen Platz in Athamos zu sichern. Er könnte den Traumbrechern niemals den Rücken zukehren, sie waren seine Familie. Drängend nickte Rowan Richtung Tür, bevor Luan etwas sagen konnte. „Jetzt hol schon diese Mara und geh endlich los. Ich will dich so bald wie möglich ausquetschen können.“ Obwohl er damit nur eine ausführliche Befragung meinte, klang selbst so etwas aus Rowans Mund beängstigend, aber Luan könnte dem sowieso nicht entkommen. Ohne weitere Worte ging er zügig zur Tür hinüber und öffnete diese, um das Krankenzimmer zu betreten. Drinnen warteten nicht nur Mara und Bernard, sondern auch Nevin, genau wie vermutet. Lächelnd und aufgeschlossen unterhielt er sich mit ihr, wie mit einem gewöhnlichen Menschen. Wie schön für dich, Mara. Irgendwie hatte der schwerfällige, riesige Bernhardiner es geschafft, sich zu ihr auf das Bett zu legen und hechelte zufrieden, während er den beiden aufmerksam lauschte. Beinahe schade, dieses Bild zerstören zu müssen, doch es wurde Zeit. „Ich unterbreche euch nur ungern, aber Vane und ich sind fertig. Mara, wir können los.“ „Ah, Luan“, reagierte Nevin erfreut und drehte sich zu ihm, wobei sein langer, geflochtener Zopf durch die Luft wirbelte. „Eine wirklich süße Freundin hast du da gefunden~.“ „Das war reiner Zufall – und da ist nicht mehr zwischen uns.“ „Luan, schau mal!“, warf Mara aufgeregt ein und hob etwas nach oben. Eine Brille, mit runden Gläsern und einem rotem Gestell. Begeistert setzte Mara sie sich auf und sah gleich ganz anders aus, lebendiger. Sie schien sich über diese Sehhilfe – benötigte sie überhaupt eine? – sehr zu freuen, dabei gab es genug Leute, die so etwas als Makel betrachteten. Moment, dann wollte sie wohl genau deswegen eine haben. „Jetzt bin ich ein richtiger Bücherwurm“, verkündete sie. Fragend wandte Luan sich an Nevin. „Wo kommt die Brille her?“ „Na, von Chander natürlich.“ Chander Farone, ein Schöpfer-Traumbrecher, der immerzu an Nevins Seite war, unsichtbar. Soweit Luan wusste, verband die beiden ein enges, emotionales Band. Von Anfang an waren sie unzertrennlich. Allerdings blieb Chander extrem schüchtern und zeigte sich daher nur ungern, in Rowans Augen galt er wegen dieser Art als Feigling. Für Luan genügte diese Antwort jedenfalls und er bedankte sich für diese nette Geste bei Chander, den er nicht sehen konnte, doch er wusste, dass er da war. Anschließend gab er Mara erneut zu verstehen, losgehen zu wollen. Lange ließ sie sich nicht bitten und umarmte nochmal herzlich den Hund, bevor sie aus dem Bett stieg. „Tschüss, Bernie“, verabschiedete Mara sich von ihm. Der Bernhardiner gab ein leises Brummen von sich und blieb gemütlich liegen. Einen letzten, kurzen Wortwechsel mit Nevin ließ Luan ihr ebenfalls noch, denn niemand könnte sagen, ob sie sich wiedersehen würden. Am besten blieb Mara nach diesem Aufenthalt fern von Athamos, wenn sie wirklich ein normales Leben als richtiger Mensch führen wollte. Da fällt mir ein, ich wollte Nevin noch etwas fragen ... „Denk dran“, sprach dieser Mara gerade gut zu. „Schon die Anwesenheit auf dieser Welt macht jeden von uns besonders. Egal, wer oder was wir sind.“ „Ich werde es mir merken.“ Eilig lief Mara zu Luan, bereit aufzubrechen, jedoch war er diesmal derjenige, der das Ganze doch erneut ins Stocken brachte: „Ah, Nevin, sag mal: Ist es wahr, dass Trugmahre verderben und zu bösartigen Alpträumen einer höheren Stufe heranwachsen können?“ Erst schien Nevin von dieser Frage überrumpelt, antwortete ihm aber darauf, ohne vorher genauer nachzuhaken, warum Luan das auf einmal wissen wollte. „Leider ja“, seufzte Nevin bedrückt. „Trugmahre tragen viele Emotionen in sich. Wie bei uns kann ihre Stimmung unter bestimmten Umständen ins Negative umschlagen, zum Beispiel wenn sie sich ständig bedroht fühlen. Sie können sogar von anderen Alpträumen gefressen werden, so wie Träume.“ Wieso erfuhr Luan so spät davon? Bislang hatte er es nicht erlebt, dass Trugmahre verderben oder gefressen werden konnten. Wie auch? In beiden Fällen verschwand ihre Reinheit und ihre Existenz in dieser Form. Er fragte sich, ob Edgar in dem Buchladen sicher war. Solange Verrell ihn besetzte, garantiert nicht. „Wo bringt ihr die Trugmahre hin, wenn ihr sie eingefangen habt?“ Nevin konnte scheinbar nicht verstehen, warum er auch das wissen wollte, weil die Antwort darauf für ihn offensichtlich war: „Zu Atanas, in die Schatzkammer.“ Nachdenklich bohrte Luan weiter nach: „Und was macht er dort mit ihnen?“ „Ehrlich gesagt ... keine Ahnung.“ Unschuldig hob Nevin die Hände. „Aber hey, du kennst Atanas doch. Er wird den Trugmahren in der Schatzkammer vermutlich sichere Zuflucht gewähren, dort kann ihnen nichts mehr passieren.“ Der Funken Misstrauen, den Verrell bezüglich Atanas in ihm entfacht hatte, begann wieder etwas stärker zu glühen und konkurrierte mit dem Gefühl des Vertrauens, das Luan nicht einfach ablegen konnte. Seine Pflicht wäre es, Nevin von Edgar zu erzählen, damit er in Sicherheit gebracht wurde. Aber ob dieser Trugmahr das wollte? Wenn ich wüsste, was Atanas mit ihnen macht ... Trugmahre konnten verderben, womöglich bis zu Geißeln aufsteigen. Indem Atanas vorher Traumbrecher entsandte, verhinderte er diesen Schritt, und sie kamen stattdessen zu ihm in die Schatzkammer. Laut Verrell pflanzte ihr Anführer den Traumbrechern Geißeln ein ... der folgende Gedankengang gefiel Luan ganz und gar nicht, er schüttelte ihn ab. „Wozu willst du das denn wissen?“, erkundigte Nevin sich. Aber Luan wehrte ab und schritt durch die Tür nach draußen. „Nicht so wichtig. Wir gehen jetzt, bis dann.“ Mara folgte ihm ohne weitere Aufforderungen, was ihn zufrieden stimmte, denn so konnte er sich diesem Gespräch problemlos entziehen. Außerhalb des Krankenzimmers haftete Rowans Blick aufmerksam an ihnen, bis sie aus seinem Sichtfeld verschwanden. Kurz darauf verließen sie bereits die Krankenstation, Vanes Revier, und marschierten schnellen Schrittes Richtung Portalraum, über den sie hierher gekommen waren. Die Zeitbegrenzung von drei Tagen war noch nicht vorbei, aber es kam Luan so vor, als wäre er schon viel zu lange in Athamos. Hoffentlich blieb dieses Gefühl nur eine Täuschung und sie kämen rechtzeitig zurück. Sein Schritttempo erhöhte sich, bis er im Keller, kurz vor den Portalen, plötzlich nochmal stehenblieb, womit er Mara verwirrte. „Was ist los? Ich dachte, wir haben es eilig?“ „Mhm.“ Unsicher starrte Luan auf den Boden. Nevin nichts von einem Trugmahr zu erzählen war eine Sache, anders war es aber, wenn er Befehlen von Atanas nicht Folge leistete. Sein Anführer hatte ihm gesagt, er sollte vor seinem nächsten Aufbruch Mara zu ihm bringen, um sie registrieren zu lassen. Somit wäre sie für immer in Athamos als Sakromahr verzeichnet, nicht frei, sondern unter Beobachtung. Unter solchen Umständen könnte sie kaum ein neues Leben anfangen, geschweige denn zum Menschen werden. Schlimmstenfalls holte Atanas sie eines Tages ebenfalls nach Athamos, sollte er eine zu große Gefahr darin sehen, sie ungeschützt draußen herumwandern zu lassen. Trugmahre wurden zu ihm in die Schatzkammer gebracht, für Sakromahre müsste im Prinzip das Gleiche gelten. Erst recht weil sie wesentlich seltener waren. „Luan, was ist denn?“, fragte Mara ein zweites Mal ratlos. „Hast du was vergessen?“ „Nein.“ Entschlossen schüttelte er den Kopf und ging weiter. „Hab ich nicht.“ Später könnte er aber so tun, als hätte er es einfach vergessen. Bei solch einem Zwischenfall in Athamos wäre das verständlich, oder nicht? Also würde Luan hinterher behaupten, nicht mehr daran gedacht zu haben, mit Mara zu Atanas zu gehen, sobald dieser nach ihr fragte. Es mochte eine Lüge sein, aber kein Verrat. Lange vor Athamos hatte Luan nichts anderes als die Liebe zu Träumen gehabt – darum wollte er sich in diesem Fall zum Wohle von Mara entscheiden. *** Dank eines Portals aus Athamos erschienen Luan und Mara wieder in Limbten, im Hotel Tesha. Zimmer 104, das Ferris für sie gebucht hatte, war vollkommen verlassen und empfing sie mit einer leblosen Stille. Kein Wunder, bisher gab es nicht viel Zeit dafür, sich hier aufzuhalten. Zwischendurch waren offenbar Zimmermädchen hier gewesen und hatten die Betten gemacht, wodurch der Raum erst recht unbewohnt aussah. Dank Vanes Anweisungen beim Telefonat hatte Naola nicht nur vorübergehend den Stand der Dinge im Auge behalten, sondern auch dafür gesorgt, dass sämtliche Rechnungen gezahlt wurden, damit in der Richtung kein zusätzlicher Ärger für sie entstand. Darum dürften Luan und Ferris auch noch dieses Zimmer gehören, auf diese Weise konnten sie unbemerkt hierher zurückkehren. Draußen war selbst in verlassenen Gassen die Möglichkeit zu groß, von jemandem beobachtet zu werden. „Verdammt“, murmelte Luan ernst, als er das Portal verließ und im Zimmer stand. Wie zuvor zeigte Mara sich wieder ratlos: „Hast du doch etwas vergessen?“ Nein, das war es nicht. Etwas anderes bereitete ihm Sorgen. In der Stadt schien sich einiges getan zu haben, die Ablagerung auf seiner Haut reagierte darauf. Es war das altbekannte Kribbeln, ein Zeichen dafür, einem Alptraum nahe zu sein. Diesmal wandelte es sich aber schnell zu einem aufdringlichen Jucken, überall. Beinahe wie ein schmerzhaftes Brennen. Unruhig trat Luan ans Fenster und schob die Vorhänge zur Seite, um nach draußen zu sehen. Dort schien es unerwartet ruhig zu sein, was aber daran liegen musste, dass es noch Tag war. Er wollte nicht wissen, wie es nachts aussah, bei dieser intensiven Reaktion der schwarzen Kruste. Zum ersten Mal erlebte er es in diesem Ausmaß. „Es müssen haufenweise Alpträume hierher gekommen sein“, gab er Mara eine Antwort, wenn auch eher widerwillig. „Ich kann es spüren.“ Zweifellos musste es an Verrell liegen. Seine Anwesenheit in Limbten zog bestimmt andere Alpträume magisch an, weil sie hofften, von seiner Macht in irgendeiner Form profitieren zu können. Wie viele verschiedene Ränge mochten sich hier eingefunden haben? Ein guter Grund mehr, diese Geißel zu vernichten. „Das ist nicht gut“, erkannte Mara richtig. „Aufhalten wird mich das aber nicht. Komm, beeilen wir uns.“ Luan zog die Vorhänge wieder zu und eilte zur Zimmertür. „Wir müssen zu Naola.“ Sie wusste vielleicht einige nützliche Details über die neusten Geschehnisse in der Stadt, aber wahrscheinlich hatte sie die Ankunft der Alpträume noch gar nicht bemerkt. Andernfalls hätte sie sich bei ihnen gemeldet, es sei denn, Vane wollte ihn nicht mit dieser Information beunruhigen. Genau das musste es sein – Vane war ein bisschen zu fürsorglich für Luans Geschmack. „Du wirst bei ihr bleiben“, beschloss Luan, als er auf dem Gang die Tür hinter Mara schloss und sie dabei eindringlich ansah. „Für dich ist es viel zu gefährlich, mir zu folgen.“ Sie konterte mit einem verständnislosen Blick. „Das geht nicht, ich bleibe bei dir.“ „Du musst jetzt nicht mehr deiner Bestimmung folgen“, erinnerte er sie. „Darüber hatten wir doch schon gesprochen.“ „Darum geht es mir auch gar nicht.“ „Worum denn dann?“ Während er weitersprach, ging er bereits zu Naolas Zimmertür hinüber. „Machst du dir Sorgen um Bernadette? Keine Sorge, ich werde sie befreien.“ Plötzlich hielt Mara ihn am Ärmel fest, was ihn automatisch dazu brachte stehenzubleiben und sich ihr zuzuwenden. Aus Gewohnheit verzog er das Gesicht und riss sich vorsichtig von ihr los. Gleichzeitig wollte er sie, zum wiederholten Male, darauf hinweisen, dass er Nähe nicht mochte und sie sich endlich daran halten sollte, aber da griff Mara bereits noch einmal nach seinem Arm. „Ich lasse dich nicht allein“, lauteten die Worte, die Luan sprachlos werden ließen. Behutsam strich sie über seinen Arm. „Du machst mir keine Angst und ich finde dich auch nicht unheimlich, also mach dir keine Gedanken.“ Richtig, das hatte Luan in der Traumwelt, bei dem Geißel-Ei, erkannt und ihr offenbart. Als er sich daran erinnerte, konnte er die Verlegenheit kaum verbergen und blieb stumm, weil er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Jemand anderes nahm ihm dieses Problem dann ungefragt ab: „Awww~“, ertönte Naolas entzückte Stimme. „Das ist so rührend.“ Ihre Zimmertür stand einen kleinen Spalt breit offen, durch den sie die beiden beobachtete, was die gesamte Situation nur noch peinlicher für ihn machte. Sicher hatte sie Luan gehört und wollte ihm entgegen kommen, um Zeit zu sparen – und doch verschwendete sie diese mit solchen unnötigen Kommentaren. Bevor Luan anmerken konnte, dass dies nicht der geeignete Zeitpunkt für so etwas war, huschte Naola schon von selbst hinter der Tür hervor und verließ ihr Zimmer. Augenblicklich löste Ernst die Entzückung ab und sie zeigte sich einsatzbereit: „Ich fahre euch zum Buchladen, keine Widerrede. Unterwegs können wir uns dann genauso gut unterhalten.“ Mit so einem Verhalten kam Luan wesentlich besser zurecht, weshalb er Naola innerlich dafür dankte und dem zustimmte. Emotionen konnte er ein anderes Mal angehen. Daher diskutierte er auch vorerst nicht mehr darüber, dass Mara hierbleiben sollte, sondern akzeptierte ihre Entscheidung. Gemeinsam begaben sie sich also zum Wagen, der vor dem Hotel parkte. Ohne Ferris schien er einiges an Glanz verloren zu haben, es kam Luan inzwischen wie ein fremdes Auto vor. Nicht mehr lange, dann könnte er sich hoffentlich wieder über den schrecklich schlechten Fahrstil von Ferris aufregen. Er vermisste das, egal wie genervt er oft davon gewesen war. Wie schön es wäre, könnte das alles nur ein Traum sein, weil ich mir bei einem Autounfall den Kopf angeschlagen habe. Laut Ferris geschahen solche Wendungen allerdings nur in fiktiven Geschichten, bevorzugt in Filmen. Also blieb dieser Gedanke nur eine Träumerei. Deshalb sollte er sich auf die Realität konzentrieren. Naola setzte den Wagen in Bewegung und fuhr sie, schneller als erlaubt, durch die Stadt zum Ziel. Unterwegs gab sie alles an Luan weiter, was sie in seiner Abwesenheit beobachten konnte. Darunter fiel tatsächlich der Anstieg von Alpträumen in Limbten, der verstärkt in der Nähe des Buchladens Maron zu bemerken war – demnach lag Luan mit seiner These über die Anziehungskraft einer Geißel richtig. Des Weiteren erklärte Naola, dass sie versucht hatte einige Alpträume zu bekämpfen, zumindest die kleineren Kaliber, doch angeblich verschwanden manche von ihnen bei der Verfolgung spurlos und tauchten an einem gänzlich anderen Ort in der Stadt wieder auf. Lag das an all den Refugien von Verrell? Es wäre nicht auszuschließen, dass die Alpträume sie benutzten, so wie Portale. Wie Luan schon feststellen musste, bewegten die Refugien sich sogar, was es schwierig machte, sie überhaupt zu finden, geschweige denn zu öffnen. Egal, sobald er Verrell erledigt hatte, löste dieses Problem sich von selbst in Luft auf – es sei denn, ein Refugium einer Geißel verhielt sich auch in dem Punkt anders. Nachdenklich lenkte Luan den Blick nach draußen, lauschte den letzten Informationen von Naola. Ihre Stimme rückte aber mehr und mehr in den Hintergrund, bis sie gänzlich verhallte. Etwas anderes zog seine Aufmerksamkeit auf sich, wofür er noch näher an die Fensterscheibe rückte und weiterhin die Umgebung betrachtete. Das kann nicht sein. Limbten. Dieser Name. Diese Stadt. Schlagartig kehrte eine Erinnerung zurück, eine erdrückende Erkenntnis. Je mehr Gebäude und Straßen ihm bekannt vorkamen, desto weniger konnte er sich dagegen wehren. Vorher war es ihm nicht aufgefallen. Wegen der Atemhypnose? Konnte eine Verdrängung derart elementare Lebensinhalte einfach auslöschen? „Warum ausgerechnet Limbten?“ Eine Frage, die er sich selbst in seiner Abwesenheit stellte, aber von der Naola sich angesprochen fühlte: „Keine Ahnung. Vielleicht nur purer Zufall. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Alpträume wählerisch bei der Ortsauswahl sind.“ Zögerlich warf Luan den Blick wieder nach vorne. „Ja, da hast du wohl recht.“ Vane hatte Naola nichts von der Geißel erzählt und das wollte er nicht gerade kurz vor einem wichtigen Kampf nachholen, sonst fraß das nur abermals Zeit. Hinterher könnte Luan sie in Ruhe über alles aufklären. Vielmehr beschäftigte ihn, ob es einen besonderen Grund dafür gab, dass sich diese Mission in Limbten abspielte. Dem Ort, wo er aufgewachsen war und sich das Waisenhaus befand, in dem er bis zu seinem 18. Lebensjahr gelebt hatte. Soll das eine Verschwörung sein? Das finde ich nicht witzig. Darüber durfte er nicht nachdenken, sonst lenkte ihn das zu sehr ab. Ob Zufall, Verschwörung oder was auch immer, zuerst musste er Ferris und Bernadette retten. Genau, um Luan ging es hierbei nicht ... oder? Die restliche Fahrt über verbrachte Luan damit, möglichst ruhig zu bleiben und bemühte sich um eine gleichmäßige Atmung. Emotionen zu unterdrücken war schwerer, als er dachte, aber nicht unmöglich. Er bekäme das auch ohne Atemhypnose hin, absolut perfekt hatte selbst die nicht alle Empfindungen und Ausbrüche eindämmen können. Ein bisschen unter dem Einfluss seiner Gefühle zu stehen war demnach normal. Etwas später hielt Naola den Wagen schließlich vor dem Buchladen und ließ den Motor verstummen. Angespannt betrachteten sie das Gebäude, das von außen keinerlei Veränderungen aufwies und harmlos erschien. Auffällig war nur die Abwesenheit von Menschen in der Gegend um den Laden herum, was jedoch für Luan und Naola verständlich war. Wegen den negativen Energien der vielen Alpträume musste den meisten Leuten dieser Teil der Stadt unheimlich geworden sein und das schreckte sie ab. Für Luan war das nichts Neues. „Ich gehe rein“, kündigte Luan an und schnallte sich ab. „Bitte bleibt ihr beiden hier.“ Damit zeigte Mara sich nicht einverstanden: „Du willst wirklich alleine sein? Das glaube ich nicht, lass dich doch wenigstens von Naola begleiten. Sie kann dir helfen.“ Luans Hand ruhte schon auf dem Türöffner des Wagens, aber er blieb noch sitzen und sah nach vorne, wo Mara neben Naola saß. Auch sie wirkte sichtlich besorgt, kannte ihn jedoch gut genug, um zu wissen, dass jeder Einwand an ihm abprallen würde. Seltsamerweise fühlte Luan sich von dieser Fürsorge gestärkt und nicht gestört, wie es bei ihm sonst üblich war. Höchstens die Verlegenheit stufte er als unangenehm ein, ließ sich deswegen aber nicht von der positiven Energie ablenken. Was würde sich noch alles an seiner Wahrnehmung verändern? „Ich brauche euch hier“, entgegnete Luan auf Maras Worte und zog seine Taschenuhr hervor – es war soweit. „Ihr gehört nämlich zu meinem Plan.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)