The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 31: Hör auf dein wahres Ich (Teil 3) -------------------------------------------- Jeglicher Schmerz blieb aus, als Luan sich selbst eine Energiekugel in den Kopf jagte. Der Gesichtsausdruck seines Spiegelbildes brannte sich dabei in sein Gedächtnis, obwohl das Nichts ihn schlagartig übermannte. Schwärze, die ihn blind machte und gegen die auch seine Taschenuhr nicht anzukommen vermochte. Stille, die ihm weismachen wollte, er hätte sein Gehör gänzlich verloren. Schwerelosigkeit, die ihm sein Körpergefühl entriss, ohne dass er sich verloren fühlte. Gerüche und Geschmäcker existierten in Traumwelten sowieso nicht und bekamen höchstens durch Einbildung zwischendurch einen Auftritt, aber auch das war ihm nicht vergönnt. Das Bild dieses ungläubigen Starrens seines Spiegelbildes füllte gänzlich seinen Geist aus und bot somit keinen Platz mehr für etwas anderes. In den leeren Augen dieses verloren wirkenden Luans war in der letzten Sekunde ein panischer Funke aufgeblitzt, begleitet von einem schweigsamen Vorwurf, der sich wie ein schweres Gewicht an das Original klammerte, bis auch dieses Gefühl im Nichts verlorenging. So wie alles andere, aber Luan hatte keine Angst. Schließlich riss er die Augen auf, erwachte aus dem Moment des Zerbrechens und atmete sofort instinktiv durch. Sämtliche Sinne, ausgenommen vom Riechen und Hören, nahmen ihre Arbeit wieder auf und zeigten ihm damit, dass es vorbei war. Er hatte es geschafft. Das wahre Herzstück, Luan, konnte zerstört und dieses Labyrinth dadurch aufgelöst werden. Erleichtert entspannte er für einen kurzen Moment seinen Körper. Kaum zu glauben, dass er so etwas erlebt hatte. Ein Traumbrecher, der vom Feind kurzerhand einfach zum Herzstück gemacht wurde. Wer hätte mit solch einer Falle rechnen können? Im Vergleich zu anderen Alpträumen besaß diese Gattung ein höheres Kaliber, eine Geißel selbst musste noch gefährlicher sein. Statt weiter darüber nachzudenken, richtete Luan sich lieber auf, immerhin war seine Mission noch nicht vorbei und der Feind lebendig. Leider war die Schwerkraft nun noch stärker als in der ersten Welt mit den Obelisken, äußerst lästig. Schlimmer war allerdings, dass es bedeutete, Mara musste es ziemlich schlecht gehen. Diesmal lauerte eine dunkle, weite Leere um ihn herum, doch es war nicht vollkommen schwarz. Hier erlaubte es ihm seine Taschenuhr nicht nur wieder, durch die hellblaue Sichtebene gut sehen zu können, aus einer bestimmten Richtung zogen sich zudem eine Menge feine Äderchen durch die Umgebung, bohrten sich knapp hinter ihm in den Boden hinein und glühten in unregelmäßigen Abständen rot auf. Sie pulsierten, genau wie die in seinem Zimmer, die sich um Maras Körper schlangen. Jetzt bin ich auf dem richtigen Weg. Schon bei dem feindseligen Knistern in der Atmosphäre hatte Luan bereits gewusst, nicht nur in einer weiteren Falle gelandet zu sein, sondern genau dort, wo er von Anfang an hin wollte. Mit etwas Mühe gelang es ihm, sich gerade hinzustellen, bemerkte dabei jedoch, dass sich ein paar von diesen roten Strängen auch an seinen Kopf festgesaugt hatten. Zunächst zögerte er, beschloss dann aber, sie besser restlos von sich zu entfernen. Wahrscheinlich hatte er es diesen Dingern zu verdanken, in mehreren Schichten aus Alpträumen gefangen gewesen zu sein. Möglichst vorsichtig zog Luan sich die Äderchen von dem Körper und betrachtete sie genauer. Anscheinend waren sie durch seinen Ausbruch abgestorben, denn sie sahen vertrocknet aus und glühten auch nicht, wie der Rest von ihnen. Achtlos ließ er sie fallen und kontrollierte nochmal, ob er jede einzelne Fessel losgeworden war, bevor er sich weiter umsah. Neben diesen Adern zierten auch zahlreiche glanzlose Glassplitter diesen Ort, indem sie ruhelos in der Luft schwebten. In ihnen spiegelte sich nichts, sie waren einfach nur da und schienen ohne Orientierung herumzuwandern. Etwas an diesem Bild war unbeschreiblich traurig, hoffentlich war das kein schlechtes Omen. Luan unterdrückte den Drang, einen dieser Splitter antippen zu wollen, und folgte zielstrebig den Äderchen in die Richtung, aus der sie kamen. Nach und nach wurden sie immer größer, schwollen zu dicken Schläuchen an, durch die Energie gepumpt wurde, zum Herzen. Zu dem Geißel-Ei, dessen Antlitz sich ihm schließlich zeigte. Endlich stand er diesem Unheil gegenüber. Das Geißel-Ei besaß tatsächlich eine ovale Form und war etwa so groß wie eine ausgewachsene Eiche. Von überall her bohrten sich die Schläuche in die schrumpelige, rote Haut hinein, die keinen Blick in das Innenleben dieses Organs zuließ. Durch jeden neuen Energieschub entstand eine Regung im Ei, wegen der eine Art Druckwelle ausgesandt wurde, begleitet von dem Klang eines kräftigen Herzschlages. Ich muss zugeben, dass ich etwas Eindrucksvolleres als das erwartet habe, dachte Luan. Für Enttäuschung war aber keine Zeit, denn als er den Blick wachsam über den Klumpen aus Fleisch wandern ließ, entdeckte er schließlich Mara. Einsam stand sie direkt vor dem Geißel-Ei, mit dem Rücken zu ihm, und regte sich nicht. Fast wie eine Puppe, deren einzige Aufgabe darin bestand, irgendwo herumzustehen und sonst nichts weiter zu tun. Kein gutes Zeichen, überhaupt nicht. „Mara?“, hallte Luans Stimme in der Leere wider, als er sie ruhig ansprach. „Mara, hörst du mich?“ Leider zeigte sie keinerlei Reaktion, was ihn dazu antrieb, sich ihr langsam zu nähern. Zwar behielt er das Geißel-Ei und die Umgebung im Auge, konzentrierte sich jedoch mehr auf Mara. In seinem Inneren herrschte auf einmal eine natürliche Ruhe, die er sich nicht mehr zwanghaft einreden musste. Vielleicht war das in der ersten Welt ein Fehler gewesen, aber nun war sein Wunsch, ihr zu helfen, stärker als jede Unsicherheit. Nach nur wenigen Schritten erhöhte sich plötzlich die Temperatur immens, wofür das Geißel-Ei verantwortlich sein musste. In dessen Nähe war das Klima derart erhitzt, es fühlte sich um einiges schlimmer an als draußen in der Realität. Glücklicherweise konnte Luan es hier wesentlich besser ignorieren, weil er keinen festen Körper besaß und dieser demnach auch nicht durch so etwas geschwächt werden könnte. Jedenfalls nicht, wenn man es nicht zuließ. Hitze bedeutete allerdings auch, dass Unmengen an Energie sich an diesem Knotenpunkt ansammelten. Energie, gewonnen aus einem reinen Sakromahr. „Bleib weg“, zerschnitt Maras Stimme aus heiterem Himmel die Atmosphäre. „Du magst keine Nähe, also lass auch mich in Ruhe.“ Widerwillig hielt Luan augenblicklich an, sein Blick ruhte auf ihr. Soweit er es sehen konnte, schienen sich keine Äderchen an ihrem Körper zu befinden. Womöglich war das auch nur eine Illusion und nicht ihr richtiger Geist, dennoch musste er versuchen, auf sie einzugehen. Besonders solange er nicht wusste, ob sie es wirklich war oder er nur ausgetrickst wurde. „In Ordnung.“ Unschuldig hob er die Hände, obwohl sie es nicht sehen konnte. „Wenn du willst, bleibe ich hier stehen.“ Erst befürchtete Luan, sie würde nichts mehr sagen, aber nach kurzer Zeit stellte sie ihm eine Frage. „Was willst du?“ „Ich will dich zurückholen“, antwortete er ehrlich. „Mich?“, wiederholte sie betont, ein Hauch der Empörung lag in ihren folgenden Worten. „Als ob es dir jemals um mich gehen würde.“ Statt ihm eine Chance zu lassen, darauf zu reagieren, fuhr sie direkt fort. „Warum hast du dich gewehrt?“ Eigentlich hätte Luan lieber etwas auf ihre vorherige Aussage erwidert, doch er behielt das für einen geeigneten Zeitpunkt im Kopf und beantwortete vorerst ihre Fragen. Mara bewegte sich noch immer nicht, was ihm Sorgen bereitete. Er wollte ihr Gesicht sehen, um einschätzen zu können, wie es ihr ging. „Du klingst, als könntest du das nicht verstehen“, bemerkte er. „Kann ich auch nicht.“ Zeit für eine Gegenfrage: „Warum nicht?“ Während sie miteinander sprachen, wollte Luan aus Gewohnheit den Griff um seine Pistole verstärken, nur hielt er diese nicht mehr in der Hand. Natürlich, er hatte sie auch in einer völlig anderen Ebene in diesem Alptraum beschworen. Egal, momentan benötigte er sie nicht, das hier wollte er wirklich ohne Gewalt regeln. „Du hättest erfahren können, wer oder was du bist“, lautete Maras Erklärung. „Er hätte es dir gezeigt, wenn du es zugelassen hättest.“ „Wen meinst du?“, wollte Luan wissen. Endlich zeigte sie, dass sie nicht nur eine starre Puppe war und hob träge eine Hand, zu dem Geißel-Ei. Kurz davor hielt sie wieder inne, als wollte sie eine direkte Berührung vermeiden. Ihre Handfläche war nur wenige Zentimeter von dem Wesen entfernt, das ihr erbarmungslos die Energie nahm, doch sie wirkte sogar dankbar. „Ich verstehe ...“ Nach wie vor sprach er ruhig zu ihr. „Und du glaubst ihm also?“ „Warum sollte ich nicht? Hast du dich nicht umgeschaut?!“, reagierte sie gereizt und fuhr herum. „Hast du dir nicht mal die Mühe gemacht?!“ Maras Augenfarbe war verblasst und einem trostlosen Grau gewichen. War das etwa ein Merkmal dafür, wenn die Gefühle manipuliert oder beeinflusst wurden? Auch Luans Augen hatten mit der Zeit ihre Farbe verloren, aber er dachte sich niemals ernsthaft etwas dabei, weil es ihm herzlich egal gewesen war. Anfangs vermutete er, es hinge mit der schwarzen Schicht auf seinem Körper zusammen – und diesem Thema war er stets ausgewichen. Nicht nur ihre Augen, allgemein wirkte sie gebrochen. Blass, nahezu schneeweiß. Nichts als Verzweiflung in ihrer Mimik, als kannte sie gar keine anderen Emotionen mehr. Womöglich sollten all die Glassplitter und die Leere dieses Ortes genau diesen Zustand verdeutlichen. Nein ... sie kann nicht gebrochen worden sein. In dem Fall könnte er nichts mehr für sie tun. Selbst wenn sie noch nicht gänzlich gebrochen war, könnte sein Plan somit keinen Erfolg erzielen und Vane hatte ihm davon abgeraten, es trotzdem zu versuchen, sollte sie emotional bereits zu stark zerstört worden sein. „Nichts!“, rief sie heiser und breitete beide Arme aus. „Hier ist gar nichts, so sieht es in mir aus! Das bin ich! Ich bin gar nichts ... jetzt weiß ich es ganz sicher.“ Kaum merklich zog Luan die Augenbrauen zusammen, als ihm etwas auffiel. Vorhin hatte sie sich noch träge bewegt, doch ihre Arme hatte sie recht schnell gehoben. Schon ihre rasche Umdrehung eben galt ebenso als Indiz dafür, dass er sich nicht mit Maras Geist unterhielt, sonst müsste es ihr wegen der Schwerkraft ähnlich ergehen wie ihm. Eine Illusion konnte sie aber auch nicht sein, dafür bewies sie zu viel Emotion in der Stimme. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren, sollte er das richtig deuten. Er hoffte darauf. Luan schüttelte den Kopf. „Du irrst dich.“ „Tue ich nicht!“, widersprach sie lauthals und legte die Hände auf ihr Gesicht. „In mir ist alles leer. Ich bin nur eine Hülle, ein Werkzeug, geschaffen von Estera, um etwas zu erledigen, das sie selbst nicht tun kann.“ Zitternd strich sie sich einige Haarsträhnen aus der Stirn und fuhr sich mit den Fingern weiter über den Kopf. „Alles, was mich ausmacht, sind Erinnerungen von ihr. Dass du heute einen Seitenscheitel trägst, kam durch ihre Idee, weil ihr damals Friseur gespielt habt.“ Wie von selbst berührte Luan sein eigenes Haar und dachte kurz an diesen Moment zurück. Richtig, er hatte seine Frisur Estera zu verdanken. Ein Seitenscheitel sollte artig und gepflegter wirken, so hatten sie die Chance auf eine Adoption erhöhen wollen. Der Plan war fehlgeschlagen, bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr hatte ihn niemand haben wollen. „Das sind so schöne Erinnerungen“, hauchte sie leise und vergrub die Hand in ihren Haaren. „Aber es sind nicht meine. Ich bin nur ein Sakromahr, geschaffen nach ihrem Abbild, und löse mich bestimmt auf, sobald ich dir das erzähle, wofür ich geschickt wurde. Ich habe keine Zukunft.“ Offensichtlich hatte das Geißel-Ei Mara vollkommen in seiner Gewalt und ihr jegliche Hoffnung genommen. Anders als er, konnte sie sich auch bestimmt nicht aus diesen Träumen befreien. Was mochte sie alles durchgemacht und gesehen haben? „Ich bleibe dabei, du irrst dich“, sagte er einfühlsam. Sein Blick schwenkte zu dem Geißel-Ei. „Dieses Ding zeigt uns nicht, wer oder was wir wirklich sind ... sondern wovor wir uns am meisten fürchten.“ Mara löste die Hände von ihrem Gesicht und den Haaren, als sie ihn verwirrt ansah. „Was?“ „Weißt du noch, wie ich dir erklärt habe, dass Alpträume sich von den negativen Gefühlen ihrer Opfer ernähren? Das macht sie stärker, deshalb konfrontiert man uns hier mit unseren Ängsten, damit wir uns darin verlieren und glauben, es gäbe keinen Ausweg mehr.“ Tatsächlich fürchtete Luan sich davor, zu erfahren, wer er war. Das gab er nur ungern zu, aber oft genug ging er allem, was ihn persönlich betraf, aus dem Weg und redete auch nicht darüber. Ob das schon vor der Atemhypnose so gewesen war oder erst dadurch zustande kam, wusste er nicht, doch es blieb Fakt. Allmählich wollte er aber die Wahrheit erfahren, wie er es schon zu Vane sagte. Inzwischen gab es nämlich etwas ganz anderes, wovor seine Angst weitaus größer war. „Glaub diesem Ding also kein Wort“, bat Luan sie eindringlich. „Glaub daran, was ich dir gesagt habe.“ Sie musste überlegen. „Dass ich ... nicht kaputt bin?“ Er nickte. „Dass es mich menschlich macht, träumen zu wollen?“ Wieder ein Nicken. „Sehr menschlich sogar. Dir ist gar nicht bewusst, wie menschlich du schon bist. Du hast es mir auch längst mehrmals bewiesen.“ Die Verzweiflung in ihrer Mimik wurde von Skepsis abgelöst. „Wann soll ich das bewiesen haben?“ Zum Glück hakte sie nach und wehrte nicht ab, er machte Fortschritte. Noch war nichts verloren, er konnte das schaffen. Entsprechend motiviert setzte er das Gespräch auch fort. „Fangen wir damit an, dass du mir in dem Wald vor einigen Tagen gesagt hast, du hättest Angst“, versuchte er, ihr diese Situation in Erinnerung zu rufen. „Du meintest, du hättest keine Angst vor der Dunkelheit, sondern vor etwas anderem. Weißt du das noch?“ „Ich denke schon ...“ „Wovor hattest du Angst?“ „Ich ...“ Durcheinander huschten ihre Augen über den Boden. „Ich habe gespürt, dass etwas Böses in der Luft lag. Das hat mir Angst gemacht.“ „Alpträume haben niemals Angst“, betonte Luan diesen Fakt, fuhr aber direkt mit dem nächsten Punkt fort, ehe sie ihn unterbrechen konnte. „Und denke mal zurück an den Buchladen, wo ich etwas gesehen habe, du aber nicht.“ Er hatte ihre Aufmerksamkeit, wie ihre nächsten Worte bewiesen. „Du hast mir nicht sagen wollen, was du siehst.“ „Entschuldige.“ Sein Tonfall war etwas reumütig. „Das war ein Trugmahr gewesen. Ein Alptraum, den du eigentlich hättest sehen müssen, als Sakromahr.“ „Dann bin ich wohl doch kaputt“, schloss sie gleich eine negative Erklärung daraus. „Nein, du hattest auch dort Angst“, blieb Luan hartnäckig. „Das hebt dich von den Alpträumen ab, weil es dich menschlich macht. Vergiss auch nicht, dass du als Sakromahr sogar von einem Alptraum besessen werden konntest, was nicht möglich sein sollte.“ Gut, das lag vermutlich eher an dem Geißel-Ei, aber er nutzte jedes Detail, mit dem er sie überzeugen könnte. Luan musste sie einfach überzeugen. Trotzdem schien sie noch unsicher zu sein. „Wieso hast du dir das alles gemerkt? Du hast mich dauernd abgewiesen.“ „Nur, weil ich andere nicht in meiner Nähe haben will, heißt das nicht, dass ich niemanden mag oder mir andere völlig egal sind.“ Mit diesen Worten, die ihm wie selbstverständlich über die Lippen gekommen waren, überraschte er sich nun sogar selbst. In seinem Inneren löste sich plötzlich ein Teil der Atemhypnose, als diese Erkenntnis sich zurück in sein Herz kämpfte. Bei dem Gespräch mit Mara im Buchladen hatte sie gesagt, es ginge ihm nicht um sie, und dem konnte er zu dem Zeitpunkt nicht widersprechen, weil er der festen Überzeugung gewesen war, für andere wirklich nichts zu empfinden. Dass ihm jeder egal war, was er dann auf seine versiegelten Gefühle geschoben hatte. Aber das passte nicht zusammen. Warum hätte er sonst weiter Alpträume jagen sollen? Sicher, er arbeitete lieber alleine, wie ein Einzelgänger eben, aber es gab einen guten Grund dafür. Ein schmerzvolles Pochen in seinem Kopf meldete sich, weshalb er eine Hand an die Stirn legte. In Wahrheit ... „Ich weiß es wieder“, brachte er schließlich hervor und blickte Mara unbewusste mit großen Augen an. „Ich wollte nicht, dass du Angst vor mir hast.“ Auch sie war von dieser Erklärung nun erstaunt. „Wie meinst du das?“ „Ich war damals immer alleine, weil jeder Angst vor mir hatte.“ Deswegen hatte ihn auch niemand adoptieren wollen. „Ich habe das völlig vergessen, aber instinktiv vermieden, anderen Leuten weiter Angst einzujagen. Nicht, weil ich Nähe nicht mag, sondern weil ich wegen dieser harten Schicht auf meiner Haut nicht noch unheimlich wirken wollte ...“ Weil er nicht nochmal ganz alleine sein wollte, so wie in seiner Kindheit. Das war seine größte Angst von allen – und ehe er doch noch alles und jeden verlor, wollte er die Wahrheit wissen, bevor er sich vollkommen verschloss. Erschöpft fiel Luan auf die Knie, als der Schmerz im Kopf zunahm und etwas in seiner Brust stach. Auch ohne eine Diagnose von Vane ahnte er, dass die Atemhypnose gerade heftigen Schaden genommen haben musste und das in der Form nicht gesund für ihn war. Mit diesen Schmerzen konnte er nicht mehr klar genug denken, dabei lief bisher alles so gut. Sein Körper wollte der Schwerkraft nachgeben und noch tiefer zu Boden sinken. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Luan? Was hast du?“ Es war Mara, die ihn besorgt musterte. Sie hatte die Distanz zwischen ihnen überwunden und war zu ihm gekommen, um nach ihm zu sehen. Grau überdeckte immer noch das Blau ihrer Augen. Nein, das konnte und wollte er nicht akzeptieren. Hinter Mara begann das Geißel-Ei sich verdächtig zu bewegen, darauf sollte er vorerst nicht achten. Solange er ruhig blieb und seinen guten Absichten folgte, konnte nichts passieren, so hatte Vane es ihm versichert. Also blieb all seine Aufmerksamkeit bei Mara, mit der er das Gespräch unbeirrt fortsetzte. „Hör auf dein wahres Ich“, sagte er mit sämtlicher Überzeugung, die er aufbringen konnte. „Ich dachte bis vor kurzem noch, dass ich genau wüsste, was ich will und was ich tue, aber eigentlich habe ich keine Ahnung, was mit mir los ist. Ich bin völlig durcheinander, nicht wegen dir, sondern weil da etwas ist, das mich verändert hat.“ Zum ersten Mal seit einer langen Zeit brachte Luan ein aufrichtiges Lächeln zustande. „Und doch bin ich immer meinem Gefühl gefolgt. Jeder von uns hat seine eigenen Träume, Wünsche und Überzeugungen, die sich nicht einfach verschließen oder überdecken lassen. Auch du hast sie, das weiß ich.“ Sprachlos starrte sie ihn an, ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen. „I-ich habe ... eigene Träume, Wünsche und Überzeugungen?“ „Ganz bestimmt“, machte Luan ihr Mut, sein Lächeln hielt an. „Erzähl mir davon.“ Während Mara innerlich mit sich und ihren Gefühlen zu kämpfen schien, warf er einen flüchtigen Blick über ihre Schulter. Inzwischen zeigte das Geißel-Ei sein wahres Gesicht und entpuppte sich als Monster. In dem ovalen riesigen Fleischklumpen offenbarte sich ein gigantisches Maul mit krummen, spitzen Zähnen, das weit aufgerissen worden war. Dahinter entdeckte er Mara, ihren wahren Geist, eingeschlossen in einem Kokon aus Äderchen. Schlafend. Knackend wandelten sich die Schläuche um das Geißel-Ei herum zu Beinen, mit denen es zu stehen versuchte. Da es derart aktiv wurde, musste Luan Erfolg haben und mit seinen Worten Mara erreichen. Zudem setzten sich Stück für Stück auch die Glassplitter im Hintergrund unbemerkt zu dem Ganzen zusammen, das sie sein sollten. Nur noch etwas Geduld, keine Panik, dann wurde alles gut. „Ich will träumen können“, begann sie zögerlich. Verstehend nickte Luan ihr zu. „Das tust du schon, indem du dir genau das wünschst. Was noch?“ Unterstützt durch seine spürbare Überzeugung, konnte sie noch mehr aufzählen. „Ich möchte noch viel mehr Bücher lesen, ich mache das so gern.“ „Das hat Estera nie getan“, warf Luan ein. „Wirklich nicht?“ Dank diesem Wissen bekam sie noch mehr Mut, zu versuchen, sich selbst zu finden. „Ich aber! Lesen ist so schön, dabei kann ich gut träumen. Ich finde, für Bücher ist man nie zu alt oder zu jung.“ „Siehst du? Du hast Überzeugungen.“ „Ja~“, stellte auch sie glücklich fest, trotz dem Zittern in ihrer Stimme. „Ich will meinen eigenen Stil finden. Mara sein. Herausfinden, was ich kann und was nicht. Ich will ...“ Ihre Stimme erstickte, als ihr nun die Tränen über die Wangen liefen. „Ich will leben.“ Ein qualvoller Schrei, der durch die Leere dieses Ortes jagte, verriet ihm, dass er es geschafft hatte. Plötzlich schwankte die Schwerkraft hin und her, der Boden fing an zu beben und die Leere drohte zusammenbrechen, besiegt von den Glassplittern, die eine neue Welt bauten. Das Opfer entwickelte menschliche Züge, so konnte sich das Geißel-Ei nicht in diesem Körper halten. Es benötigte einen anderen Alptraum, an dessen Energie es wachsen und sich orientieren konnte, anders konnte es nicht überleben. Genau das war der Plan. Nur so konnte Mara gerettet werden. Geißelsaat zählte wahrlich mehr zu Unkraut als zu den richtigen Alpträumen, ohne die sie nicht mal ihre Existenz aufrecht erhalten konnten. „Das wirst du“, versprach Luan ihr. „Ich helfe dir, du kannst das schaffen. Du vertraust mir doch, richtig?“ „Irgendwie schon.“ Schluchzend musste sie schlucken. „Ich kenne dich eben, durch Estera.“ „Wodurch du dir dein eigenes Bild über mich machen konntest.“ Er legte beide Hände gegen ihre Wangen. „Ich bin wegen dir hier, nicht wegen Estera. Bitte glaube mir. Es ist mein Wunsch, Träume zu beschützen, mein Ich, also wäre ich auf jeden Fall für dich bis hierher gekommen. Egal, was du bist oder wer dich geschickt hat.“ Bedrohlich stampfte das Ungetüm aus einem Fleischklumpen schleichend in ihre Richtung, kaum dass es endlich sein Gleichgewicht gefunden hatte, das Maul stand nach wie vor weit offen. Deshalb bekam Luan auch mit, wie so etwas wie ein elektrischer Schlag über die Äderchen durch Maras Geist fuhr und diesem einen Schrei entlockte – garantiert versuchte das Geißel-Ei, sie erneut durch Alpträume zu jagen und somit zu schwächen. Gleichzeitig schloss Luan sie vor sich behutsam in die Arme und spendete ihr etwas von seiner Ruhe. „Bleib stark, Mara. Du hast es geschafft, dich selbst in Form deiner Gedanken hier draußen bei mir zu zeigen, so stark bist du.“ Darum hatte das Geißel-Ei und dessen Saat keine Chance. Sie würden verlieren. Hier und jetzt. „Ich bin stark“, wiederholte sie. „Weil du Träume hast.“ „Ja.“ „Hier.“ Er löste sich wieder etwas von ihr und schnappte sich aus der Luft einen größeren Splitter, der noch in seiner Nähe schwebte. „Du musst kein Sakromahr bleiben. Keine Kopie von Estera. Du kannst mit kleinen Veränderungen anfangen und dich selbst befreien, tue es jetzt.“ Zunächst verstand Mara nicht, was er von ihr wollte, und wischte sich überfordert die Tränen aus dem Gesicht, während sie diesen Splitter ansah. Derweil erreichte das Geißel-Ei sie nach mehreren schwerfälligen Schritten und beugte sich mühsam zu ihnen herunter, um sie beide auf einmal zu verspeisen, doch Luans Blick blieb auf Mara fixiert – und zu seiner Freude begriff sie endlich, was sie tun sollte. Entschlossen nahm sie ihm den Splitter ab und griff mit der anderen Hand nach ihren Haaren. Selbst als sie zusammen von dem Geißel-Ei verschlungen wurden, hielt Luan sie noch fest, keine Spur von Angst oder Zweifel in seinem Herzen. Im Maul stieg die Hitze ins unermessliche an, sie wurden eingeengt, einfach zerquetscht. Für sie schien es kein Entkommen mehr zu geben. Dann spürte Luan in sich erneut etwas. Keinen Schmerz, ein warmes, überwältigendes Gefühl von Macht, durch das er für den Bruchteil einer Sekunde alles und jeden überflügelte. Anschließend tauchte er in gleißendes Licht hinab und hörte das Flattern der Bänder, die ihn aus diesem Traum zurück in die Wirklichkeit rissen. *** Als Luan in seinen richtigen Körper zurückkehrte und sofort erwachte, fühlten seine Glieder sich anfangs taub an. Schützend hielten die Bänder, der Geist seiner Taschenuhr, ihn nach wie vor in der Luft, damit er nicht zu Boden fiel und dadurch auch keine Störungen während seines Aufenthalts in Maras Alptraum zustande kamen. Statt sich direkt in die Taschenuhr zurückzuziehen, halfen die Bänder Luan noch dabei, sich aufrecht hinzustellen und stützten ihn vorerst, bis die Kraft in seine Gliedmaßen zurückkehrte. Beruhigt stellte er fest, dass die Fesseln um Mara herum abstarben und wie Pflanzen innerhalb von Sekunden verdorrten, zu Asche zerbröckelten. So erging es auch sämtlichen anderen Gewächsen in seinem Zimmer. Suchend blickte er sich nach den beiden Gestalten um, von denen er dank Vanes Arbeit hier draußen beschützt worden war, doch auch sie mussten sich bereits aufgelöst haben. Ebenso wie jede weitere Geißelsaat. Flüchtig erhaschte Luan zwar noch den Blick auf einige weiße Sandkörner, aber sie lösten sich kurz darauf auf und waren nicht mehr zu sehen. Das leise Keuchen von Mara lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu ihr. Tatsächlich öffnete auch sie gerade müde die Augen und wirkte natürlich erschöpft. „Willkommen zurück“, begrüßte Luan sie. „Geht es?“ „Mhm ...“ Kraftlos erhob sie sich und klopfte dabei die Asche von ihrer Kleidung, was kaum etwas brachte. „Ich hatte einen merkwürdigen Traum.“ „Das war nicht nur ein Traum“, wies er sie darauf hin und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Die neue Frisur steht dir.“ „Wie?“ Prüfend tastete sie ihren Nacken entlang, der nun frei lag, weil ihre Haare nicht mehr so lang waren wie vorher. Schwarze Strähnen lagen zwischen der Asche verteilt herum. Noch sah ihre Frisur ziemlich zerschnitten aus, doch rein optisch machte es schon einen neuen Menschen aus ihr. Ja, einen Menschen. „Also ist das wirklich passiert?“ Erstaunt stieß sie einen Seufzer aus. „Ich fühle mich jetzt ... richtig gut, aber auch schwach.“ „Nach dem, was passiert ist, kein Wunder.“ „Was ist überhaupt genau passiert?“ „Ein sogenanntes Geißel-Ei“, klärte er sie auf. „Verrell muss es dir eingepflanzt haben.“ Nachdenklich nickte sie für sich. „Ja, ich glaube, ich erinnere mich daran.“ Bevor sie weitere Worte miteinander austauschen konnten, drehte Luan an dem Rädchen seiner Taschenuhr, um die Bänder vorerst zurück in den Schlaf zu versetzen. Wie zuvor zogen sie sich in das leuchtende Ziffernblatt zurück und er schloss den Deckel sanft, kaum dass sie verschwunden waren. Wirklich sicher stand er noch nicht auf seinen Beinen, aber es musste genügen. „Ich bin froh, dass es dir gut geht“, sagte Luan ehrlich. Ihre Stirn war gerunzelt, als sie ihn misstrauisch ansah, doch sie glättete sich schnell wieder. „Dir scheint es auch besser zu gehen.“ Diese Worte irritierten ihn ein wenig. „Wie kommst du darauf?“ „Wenn du lächelst, wirkst du viel mehr wie du selbst.“ Wenigstens konnte er damit nun sicher sein, dass sie alles, was vorhin im Traum passiert war, noch wusste. Ausnahmsweise störte er sich nicht daran, es beruhigte ihn. Hoffentlich vergaß sie diese Stärke, die sie dem Geißel-Ei gegenüber bewiesen hatte, nicht mehr so leicht, dann könnte so etwas nicht noch einmal geschehen. Mara war in Sicherheit. Als nächstes war Ferris an der Reihe. „Hallo? Alles okay da drinnen?“, drang eine Stimme außerhalb des Zimmers zu ihnen. Bestimmt waren es Traumbrecher. Nachdem sich die Geißelsaat aufgelöst hatte, musste mit ihnen auch die Gefahr vorbei sein und sie konnten alle aufatmen. Sich ihrer Neugier zu stellen, dürfte die nächste größte Gefahr sein, gegen die es anzukommen galt. Zuallererst musste Luan aber einem anderen Termin nachkommen, den er auch dringend nötig hätte. Noch immer spürte er den stechenden Schmerz in seiner Brust. „Alles okay“, bestätigte er seinen Kollegen. „Es ist vorbei. Wir kommen raus.“ Luan reichte Mara seine Hand, ehe er weitersprach. „Komm, ich muss zu unserem Arzt zurück. Du solltest dich auch untersuchen lassen, nur zur Vorsicht.“ Dagegen hatte sie nichts einzuwenden, denn sie nahm seine Hand dankend an und ließ sich von ihm aus dem Bett helfen. Sie gaben sich gegenseitig Halt, auf dem Weg nach draußen, wobei sie die Aschereste der Geißelsaat hinter sich ließen. Ihre Nähe fühlte sich gar nicht mehr unangenehm an, wie Luan gestehen musste. Es tat gut, nicht alleine zu sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)