The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 30: Hör auf dein wahres Ich (Teil 2) -------------------------------------------- In Luans Zimmer herrschte eine tropische Hitze, passend zu dem unerwartet exotischen Dschungel, der diesen Raum regelrecht für sich beanspruchte. Solch ein Anblick war selbst ihm neu. Als Traumbrecher war Luan eher eine kalte Atmosphäre gewöhnt, deshalb bildete sich schnell Schweiß auf seiner Stirn, und auch das Atmen schien in dieser Umgebung deutlich schwerer zu fallen. Die Luft war furchtbar drückend. Wirklich sehr speziell, diese Geißelsaat ... An der Größe des Zimmers hatte sich nichts verändert, dafür wucherten jedoch überall Pflanzen, es gab kaum noch eine freie Fläche. Das rötliche Gras auf dem Boden verursachte knisternde, beinahe klagende Geräusche, bei jedem seiner Schritte, und die einzelnen langen Halme schienen nach ihm greifen und ihn festhalten zu wollen, wofür ihnen die nötige Kraft fehlte. Sämtliche Dornenranken, die eng miteinander verflochten die Wände verdeckten und an denen ebenfalls viel zu viele Knospen mit Traumsand wuchsen, ignorierten ihn dagegen vollkommen. Immer noch – umso besser für Luan. Wie kam nur diese Hitze zustande? Lag es an dem schnellen Wachstum der Geißelsaat, wodurch in kurzer Zeit eine Menge neuer Energie produziert wurde? Spontan wäre das die einzige Erklärung, die ihm einfiel. Möglicherweise brach deswegen auch Feuer aus ihnen hervor, sobald ihre Körper beschädigt wurden, und es hatte nicht zwingend etwas mit Ferris’ Angst davor zu tun. Egal, seine eigenen Gedanken wollten ihn schon wieder mit Details aufhalten, die er für sein Vorhaben nicht benötigte. Vorsichtig bewegte er sich vorwärts, Richtung Bett, auf dem Mara tatsächlich noch lag. Feine, dünne Äderchen drangen wie ein dichtes Geflecht aus dem hohen Gras hervor und umrankten das Möbelstück komplett, fesselten den Körper von Mara dicht ans Bett, damit sie nicht entkommen, sich nicht mal regen konnte, und sie allein ihnen gehörte. Dabei schnitten sie ihr teilweise sogar ins Fleisch. Am liebsten hätte Luan diese Äderchen gepackt und von ihr losgerissen, aber er musste Ruhe bewahren. Das war allgemein bei Alpträumen wichtig, wie er wusste, und bei Geißelsaat ganz besonders, was Vane mehrmals betont hatte. Also kontrollierte er seine Gefühle, was ihm dank der Atemhypnose noch gut möglich war. Er bückte sich unter den großen, fächerartigen Blättern hindurch, von denen um das Bett herum einige wie ein Vorhang von der Decke hingen. Eine schwarze, Flüssigkeit klebte an diesen blutroten Pflanzen und verbreitete einen stechenden Geruch. Etwas weckte in ihm die Befürchtung, dass diese Substanz entsetzlich auf der Haut brennen könnte. Zu seinem Vorteil war er aber ohnehin bereits von der schwarzen Ablagerung bedeckt. Schließlich stand Luan endlich vor dem Bett und betrachtete das Problem genauer. Gleichmäßig pulsierten die Äderchen und glühten während dieses Prozesses stets matt auf, ähnlich wie in der Schall-Welt des Reinmahrs, der in Wahrheit auch eine Geißelsaat gewesen war. Obwohl die Fesseln sich zu fest um sie schlangen, schlief Mara einfach weiter, wenn auch mit einem leidvollen Gesichtsausdruck. Einige Äderchen klebten ihr zudem an den Schläfen und schienen etwas aus ihr herauszusaugen, wodurch das Pulsieren zustande kam. Wahrscheinlich bediente das Geißel-Ei sich an ihrer Energie, um die Saat weiter zu vermehren. Konnte sie überhaupt als richtiger Alptraum bezeichnet werden? Vermutlich schon, immerhin verursachte sie Chaos und bereitete Mara Schmerzen, nicht zu vergessen den Traumbrechern draußen. Luan musste die Geißelsaat definitiv aufhalten. Langsam hob er die Hand und legte sie auf Maras Stirn, die sich glühend heiß anfühlte. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Laut Vane könnte die Methode, mit der er sie retten wollte, ab einem bestimmten Zeitpunkt keinen Erfolg mehr erzielen. Trotzdem musste Luan es versuchen, wofür er nach seiner Taschenuhr griff, die er inzwischen unter seinem Mantel geschoben hatte, auf Vanes Rat hin. Geißelsaat konnte nämlich intelligenter als gewöhnliche Alpträume handeln, die oft nicht einmal begriffen, dass sich Traumbrecher leicht töten ließen, würden sie nur ihre Herzen zerstören. Leider musste Luan innehalten, als er hinter sich ein Rascheln vernahm. Ruhig drehte er sich ein Stück zur Seite, seine Sinne allesamt auf die Regungen im Raum konzentriert. In seinen Augen flackerte Entschlossenheit, mit der er die Dornenranken anstarrte, die sich von den Wänden gelöst hatten und ihn durch den Vorhang aus Blättern hindurch genauso ins Visier nahmen. Jeder wollte den anderen in Schach halten, nur eine falsche Tat könnte kritische Folgen auslösen. Luan musste in Maras Traum eindringen, um ihr helfen zu können, sofern er nicht davon abgehalten wurde. Noch dazu könnte er seinen Körper nicht mitnehmen, dieser bliebe hier zurück, wie eine leere Hülle. Schutzlos. Genau das Problem hatte Vane ebenso durchdacht und ihm daher ein Hilfsmittel mitgegeben. Nun sollte er darauf vertrauen, dass es funktionierte. Schweigend hob Luan wieder die Hand, in der er noch die roten Samen festhielt, die Vane untersucht hatte. Diesmal ließ er sie einfach zu Boden fallen, in das Gras hinein, wo sie nicht mehr zu sehen waren. Nur wenige Sekunde später war ein Knacken zu hören, was vermuten ließ, dass die Samenkörner aufgeplatzt sein könnten. Plötzlich rieselte weißer Sand nach oben und setzte sich zu neuen Gestalten zusammen. Bedeutete das, aus diesen Samen konnte wirklich immer wieder neue Saat schlüpfen? Das war es jedenfalls, was Vane ihm gesagt hatte – und auch der Grund dafür, weshalb er sie ihm unbedingt abnehmen wollte, um ihn vor dieser unangenehmen Überraschung zu bewahren. Eigentlich sollte Luan unruhig werden, doch Vane hatte ihm versichert, dass er diese beiden Samen in seinem Labor manipulieren konnte. Für Maras Wohl blieb Luan nichts anderes übrig, als daran zu glauben und ohne Anspannung zu beobachten, ob der Arzt wirklich erfolgreich gewesen war oder nicht. Rasch formten sich aus den Mengen an Traumsand, der einzig aus zwei winzigen Körnern stammte, menschliche Figuren. Soweit wirkten sie nicht anders als die restliche Geißelsaat, doch waren diese beiden von einer violetten Aura umgeben, die Luan durch seine Taschenuhr sehen konnte. Violett?, dachte er verwundert. Sonst besaß die Energie von Alpträumen grundsätzlich eine rötliche, aggressive Farbe, bei Traumbrechern zeigte sie sich in einem ruhigen Blau. Rot und Blau, zusammen ergaben sie Violett. Was hatte das zu bedeuten? Vane, was hast du getan? Wütend nahmen die Dornenranken eine Angriffsposition ein und die Knospen an ihnen begannen zu blühen, um neue Geißelsaat zu erschaffen. Schützend bauten die zwei Gestalten mit der violetten Energie sich vor Luan auf, was er als Zeichen dafür nahm, mit seinem Vorhaben fortfahren zu können. Er müsste sich darauf verlassen, dass diese Wesen stark genug waren und ihn so lange wie nötig verteidigen konnten. Angeblich besaß Geißelsaat ein starkes Rudelverhalten, eine weitere Weisheit, die Vane mit ihm geteilt hatte. Dieses Verhalten war nicht immer ersichtlich, aber weil sie allesamt aus demselben Ei stammten, fühlten sie sich wie eine Einheit. Darum hatten sie Luan auch Einlass in dieses Zimmer gewährt, da er zwei von ihnen gefangen hielt. Ausgehend von diesem Wissen war die Möglichkeit groß, dass sie nur mit halber Kraft gegen ihre manipulierten Geschwister kämpfen könnten – und das räumte ihm mehr Zeit ein. Luan wandte sich wieder Mara zu und griff erneut nach seiner Uhr, ohne sich noch einmal dabei unterbrechen zu lassen, trotz der Gefahr, die sich hinter seinem Rücken entwickelte. Äußerst behutsam drehte er an dem Rädchen, mit dem man normalerweise die Zeit einstellen können müsste, bei Traumbrechern löste es jedoch eine andre Funktion aus. Seine Traumzeit war eingefroren, nicht aber der Geist der Taschenuhr. Genau den benötigte er in diesem Augenblick. Ein lebloser Gegenstand alleine könnte niemals Träume auf diese Weise verwalten und nutzen, wie die Uhren der Traumbrecher es vermochten. Es kam auf das Zusammenspiel zwischen allen Komponenten an. Dazu gehörte auch der Geist von Luans Taschenuhr, deren Sprungdeckel automatisch aufsprang und ein grelles Licht verströmte, nur erschien nicht wie sonst die Pistole. Bläuliche, durchsichtige Bänder glitten aus dem leuchtenden Ziffernblatt hervor, ein geheimnisvolles Glitzern begleitete ihre Erscheinung. Elegant und ruhig tanzten sie durch die Luft und machten es sich, nach einer knappen Geste von Luan, zur Aufgabe, sich über Mara zu legen, wie eine Decke. Traumbrecher konnten dank diesen Bändern Verbindung mit einem Opfer aufnehmen, das von einem Alptraum besessen war und noch schlief, auch von der Ferne aus. Sie besaßen eine unendliche Länge und konnten ohne Taschenuhren nicht gesehen werden, was die Arbeit oft um einiges leichter machte. So war es zum Beispiel möglich von einem Dach aus Alpträume unschädlich zu machen und dafür nicht mal in den Alltag eines Menschen eingreifen zu müssen. Während die Bänder versuchten, sich um Maras Kopf zu legen und wie die Äderchen einen Zugang zu ihrem Traum zu schaffen, atmete Luan möglichst entspannt durch. Was sich hinter ihm abspielte, blendete er voll und ganz aus. Erst als die Bänder sich auch um seinen Körper schlangen, schloss er die Augen, um sich von ihnen führen zu lassen. „Verbinden.“ Ein Sog war zu spüren, der ihn, wie bei der verbesserten Sicht außerhalb seines Körpers, aus der materiellen Hülle befreite. Nur rauschte sein Geist in diesem Fall durch die Bänder hindurch, als würde er einem festgelegten Pfad folgen. Sein Körper erschlaffte und wurde von den Bändern gehalten, während er in ein strahlendes Licht hinein flog, in dessen Mitte ein schwarzer Punkt ruhte. Je weiter er kam, desto größer wurde dieser. So groß, bis er in der Ungewissheit verschwand und in Maras Traum hinab stürzte, den es zu beenden galt. Auf keinen Fall wollte er ohne sie wieder aufwachen – aber er müsste auch aufpassen, nicht in ihrem Alptraum für immer verloren zu gehen. *** Luans Flug endete abrupt und die Bänder entließen seinen Geist mitten in Maras Traumwelt, wo er automatisch seine übliche, körperliche Gestalt annahm. Stolpernd landete er auf einem massiven Marmorboden, gewann jedoch schnell sein Gleichgewicht zurück. Die Schwerkraft hier ist so hoch, bemerkte er sofort. Das ist nicht gut. Das könnte bereits ein Zeichen für Maras Zustand sein, der nicht gut aussah. Je leichter einem die Bewegungen in einem Traum fielen, desto friedlicher sah dieser auch aus. Natürlich gab es ab und zu Ausnahmen, aber an diesem Merkmal war es möglich, die Lage schon zu Beginn des Aufenthaltes zügig einzuschätzen. Schwerfällig brachte Luan sich in eine aufrechte Position. Wenigstens musste er sich hier vorerst nicht mehr mit der Hitze herumschlagen, sein Körper außerhalb dieses Traumes blieb dem dennoch ausgesetzt. Sollte er verletzt werden, bekäme Luan das auf unangenehme Weise zu spüren, obwohl sein Geist momentan getrennt von seiner Hülle existierte. Ein leises Flattern in der Ferne verriet ihm, dass die Bänder noch nahe genug bei ihm waren, um ihn jederzeit zurück in die Realität holen zu können, sollte das nötig sein. Sie hielten sich zwischen den Ebenen vor der Dunkelheit versteckt, von der diese Welt durchtränkt war. Nicht von den Lichtverhältnissen her, sondern von den Gefühlen. Hell war es mehr als genug, bei dem grellen Flutlicht, das von oben auf ihn herab schien. Dafür wirkte eine tiefe, dunkle Verzweiflung auf Luan ein. Dunkelheit, die das Herz zu trüben und an seiner Entschlossenheit zu nagen versuchte. Davon durfte er sich nicht beeinflussen lassen, sonst könnte er Mara nicht retten. Gefasst atmete er nochmal durch, was ohne Körper nicht mehr notwendig wäre, doch es tat seinen Zweck und half ihm dabei, konzentriert zu bleiben. Maras Alptraum. So sah er also aus. Massen aus dicken Stahlseilen zogen sich pfeilgerade durch die gesamte Umgebung, wirkten wie ein bedrohliches Netz, das alles unter Kontrolle hielt. Tatsächlich dienten sie scheinbar dazu, unzählige spitz zulaufende Türme, Obelisken, zu halten, die wie zufällig an diesem Ort verteilt in die Höhe ragten, ohne eine bestimmte Funktion zu erfüllen. Ihre dunkelvioletten Oberflächen glänzten aufdringlich im Licht und rötliche Symbole waren darin eingraviert worden, bei denen es sich um die Sprache der Alpträume handelte. Flüsterstimmen drangen von den Obelisken her an Luans Ohren, als wollten sie ihm die Geschichte hinter den einzelnen Texten erzählen, aber er ignorierte sie bewusst. Er durfte dem Feind keinerlei Aufmerksamkeit zukommen lassen, das könnte diesen nur stärken. Nicht nachdenken. Nicht auf die Umgebung einlassen. Einfach weitergehen, befahl er sich selbst. Also lief er vorwärts, um Mara zu suchen. In dieser endlosen Weite und dem lichten Wald aus Obelisken. Die Schwerkraft wollte ihn in die Knie zwingen, doch er kämpfte dagegen an und hielt aufmerksam nach Hinweisen Ausschau. Immer wieder kletterte er auf seinem Weg über Stahlseile oder musste unter ihnen hindurch kriechen, ihre Anwesenheit war wie ein Gesetz. Niemand könnte sie so einfach zerschneiden und sie hatten die Obelisken fest im Griff. So verhielt es sich oft mit Alpträumen. Es gab stets etwas, das Kontrolle ausübte und die Dinge im Griff hielt. Eine emotionale Kette. Solange Luan ihnen folgte, sollte er irgendwann zum Kern dieser Welt gelangen, genau wie in der Schöpfer-Welt im Wald, mit den Händen aus Baumwurzeln. „Luan.“ Widerwillig hielt er inne und sah sich um. Diese Stimme. Sie klang verdächtig nach Mara, nein, mehr nach Estera und doch völlig anders. Ein Gefühl der Vertrautheit ließ ihn glauben, es könnte sich um einen von den beiden handeln, aber diese Stimme war ihm fremd. Rasch wollte er weitergehen, um dem Alptraum keine falschen Signale zu senden, doch Luan erstarrte, als direkt vor ihm plötzlich ein Obelisk stand. Vorhin war der Weg definitiv noch frei gewesen, abgesehen von einigen Stahlseilen. Mühevoll unterdrückte Luan sein Misstrauen und blieb ruhig, wollte einfach um diesen Spitzpfeiler herumgehen. Erneut erklang die Stimme von eben und hielt ihn davon ab. „Luan. Mein Sohn.“ Auf einmal hatte Luan das Gefühl, als müsste er innerlich zerbrechen. Sollte das ein schlechter Scherz sein? Das war alles andere als witzig, für so etwas war keine Zeit. Er hatte keine Eltern und kannte sie auch nicht, demnach sollten Alpträume auch nicht dazu fähig sein, diese Erinnerung gegen ihn zu nutzen. Es gab keine. „Schlechter Versuch“, murmelte er. Als er sich zur Seite drehte, weil er seinen Plan umsetzen und an dem Obelisk vorbeigehen wollte, kam er immer noch nicht vom Fleck. Diesmal waren es Stahlseile, von denen ihm der Weg abgeschnitten wurde. Auch auf allen anderen Seiten, sie hatten ihn eingekreist, mitsamt dem Obelisk. Offenbar hatte er vorhin unbewusst innerlich eine zu emotionale Reaktion gezeigt und es nur selbst nicht wahrgenommen. Verdammt ... Vorsichtshalber ließ Luan mit bedachten Bewegungen seine Pistole erscheinen, für den Fall, dass er einem Kampf doch nicht ausweichen konnte. Inzwischen waren die anderen Obelisken verstummt, einzig jener vor ihm flüsterte ihm ununterbrochen Dinge zu. Seinen Namen. Sehnsuchtsvolle Worte. Absurde Behauptungen. Sein Blick wanderte über die eingravierten Symbole, womit er versuchen wollte, sich von dieser Stimme abzulenken und vielleicht eine Schwachstelle zu finden. Ein paar einzelne Wörter konnte er durchaus herauslesen, unter anderem auch einen Namen. Luna. Ich kenne niemanden, der so heißt. Zögerlich hob er die freie Hand und berührte sachte die glatte Oberfläche – dummerweise ein großer Fehler. Wie in Trance hatte er sich bewegt und als es bereits zu spät war, zeigte der Kontakt zum Obelisk eine Reaktion auf die Umgebung. Innerhalb einer Sekunde verzerrte sich der Ort kurzzeitig zu einem verschwommenen Bild, bis sich die Sicht wieder normalisierte, und es brachte eine Veränderung mit sich. Eine schwarze, klebrige Substanz war erschienen und hatte sich überall ausgebreitet. Sie schien jener auf diesen Pflanzen draußen in der Realität ähnlich zu sein. Wegen dieser Masse wurde es zusätzlich schwierig sich zu bewegen, wie Luan schnell feststellen musste. Seine Schuhe wollten durch sie am Boden haften bleiben, dabei zog sie sich eigentlich nur wie ein feiner Film über den Untergrund. Vielmehr sammelte sich die Substanz über ihm, am Himmel, von wo aus sie einen gigantischen Schatten über die Welt warf und sich wie ein Lebewesen regte. Schwarze Tropfen und ganze Teile dieses Schleimes fielen von diesem klobigen Klumpen herab, fanden jedoch nur selten den Weg bis zum Boden. Vorher blieben die meisten an den Stahlseilen hängen und verhärteten sich dort. Fast wie die Ablagerung auf seiner eigenen Haut, aber damit wollte der Alptraum ihn sicher nur verunsichern. Keine Angst, sagte er sich. Das ist alles nicht real. Luan wollte die Hand von dem Obelisk trennen, aber sie schien dort festzukleben und ließ sich nicht lösen. Unter seiner Handfläche staute sich Hitze an. „Ich habe keine Zeit“, grummelte er für sich. Zu allem Überfluss wollte diese Stimme nicht aufhören zu ihm zu sprechen und verankerte sich in seinem Kopf. Das machte ihn langsam wahnsinnig, wer war diese Frau? Was bezweckte dieser Alptraum damit? Noch während er das dachte, begann der Obelisk unruhig zu beben und sackte ein Stück in sich zusammen, verlor auf einmal seine Härte und wurde zu einer zähen Masse. Unförmige Hügel bildeten sich auf der zuvor glatten Oberfläche. Nun konnte Luan in das Innere dieses ehemaligen Spitzpfeilers hineinblicken, als wäre der Schutzschild verschwunden, der den Inhalt vor seinen Augen verborgen hielt. Wahrscheinlich hatte er es der Verbindung mit der Taschenuhr zu verdanken, dass er den Menschen sehen konnte, der in dem Obelisk eingeschlossen war. Eine Frau. Sie schlief. Instinktiv huschte sein Blick zu den anderen nahegelegen Obelisken, die ebenfalls ihre Form verloren und erkannte auch in ihnen Menschen. Nervosität keimte in ihm auf. Könnte es sein, dass das aus jenen wurde, die von einer schwarzen Ablagerung übersät waren? Nein, woher nahm er auf einmal diese Vermutung? Bevor er die Fassung verlieren konnte, schluckte er die erwachte Unruhe herunter. „Um es mit Ferris’ Worten zu sagen: Scheiß drauf.“ Mit dieser Aussage drückte er den Lauf der Pistole gegen die Masse vor sich, die sich schon bedrohlich um seinen Arm schlängelte, und feuerte einen Schuss ab. Eine Energiekugel, groß genug, um einiges bewirken zu können. Augenblicklich verhärtete sich die Substanz, nur um in der nächsten Sekunde Risse zu bilden, aus denen helles Licht nach außen drang. Der darauf folgende Knall verkündete die Explosion, in der sich auch gleich das Gesamtbild dieser Welt auflöste. Auf den Knall folgte direkt das laute Kreischen von Geißelsaat, die durch diesen Gewaltakt auf ihn aufmerksam gemacht wurden. Rasch machte Luan sich ein Bild von der neuen Lage. Er stand nun inmitten von Trümmern einer antiken, schneeweißen Ruine, keine Obelisken oder Stahlseile waren mehr zu entdecken. Offenbar hatte er eben das Herzstück erwischt. Oder? Die Schwerkraft hat sich ein wenig verändert, notierte er sich gedanklich auch diese Veränderung. Ich fühle mich etwas leichter. Das konnte er auch sofort ausnutzen. Durch einen Rückwärtssalto wich er einem Feind aus, der aus der Ferne angebraust kam und geradewegs dort mit Wucht in den Boden einschlug, wo er gerade eben noch gestanden hatte. In einem Alptraum konnte auch Luan solche sportlichen Vorteile vollends auskosten, immerhin lebte dieser Ort durch Dinge, die in der Realität nicht möglich waren. Nicht so leicht. Durch die Schwerkraft waren solche Sprünge dennoch ziemlich mühsam. „Luaaaaaan~“, schrie die Geißelsaat im Chor, was ihm nur einen empörten Laut entlockte. „Nennt mich gefälligst nicht so freundschaftlich bei meinem Namen!“, beschwerte Luan sich hemmungslos. „Hier geht es nicht um mich, klar?! Wo ist Mara?!“ Was er hier tat, war reichlich dumm. Vane hatte ihm geraten, ruhig zu bleiben und seine Gefühle nicht zu zeigen. Eines der wichtigsten Verhaltensregeln in Alpträumen und Schöpfer-Welten. Allerdings dauerte diese Vorgehensweise zu lange, sie fraß zu viel Zeit. Und er ließ garantiert nicht zu, dass diese Wesen mit ihm spielten, nur weil er sich bemühte kampflos voranzukommen. Ich kann auch ganz anders. Zahlreich flog Geißelsaat aus sämtlichen Richtungen auf ihn zu, getarnt als Sterne im Nachthimmel, der über den Ruinen thronte. Möglicherweise bildete dieser Ort nur eine weitere Welt in diesem Alptraum, den sie geschaffen hatten. Wenn es davon noch mehr gab, könnte es wirklich ewig dauern, bis er zu Mara kam. Es ging nicht anders. Ohne zu zögern startete Luan einen Kugelhagel als Antwort auf diesen Angriff. Seine Energie bohrte sich in die weißen Körper aus Traumsand und ließ die Lichtpunkte hinabfallen, wie Sternschnuppen. Aufgrund der Menge half es ihm nicht weiter, zu zielen, er schoss blind in den Himmel und wich denen aus, die es schafften, ihn zu erreichen. Das Gekreische und die Schüsse dröhnten in den Ohren, verdrängten die Stimme von vorhin. Von Luna. Warum, verstand er nicht, aber etwas an diesem Namen löste Trauer und Wut in ihm aus. Ein Schmerz, den er in dieser Form noch nie zuvor erlebt – oder nur vergessen – hatte. Alles in seinem Kopf ging im Chaos unter, dabei war es so bemüht darum gewesen, genau das zu verhindern. „Verdammt!“, stieß er hervor, als er von einer Geißelsaat gerammt und gegen eine zerstörte Wand geschleudert wurde. Keuchend schoss er weiter Energiekugeln ab. „Ihr seid keine Alpträume! Ihr seid eine verdammte Plage! Nichts weiter als Unkraut von Verrell!“ Auch noch beleidigend zu werden, brachte ihn erst recht nicht weiter. Im Gegenteil, es fachte nur noch mehr den Kampfgeist der Geißelsaat an. Gierig labten sie sich an seinen Gefühlen und zogen dadurch einen tiefroten Schweif hinter sich her. Nach wenigen Minuten konnte Luan nur noch ausweichen und sprang zwischen den Trümmerteilen hin und her. Suchte hinter halben Säulen Schutz oder versuchte die Feinde in die Irre zu führen, was ihm nicht gelang. Dadurch, dass sie von jeder Seite angriffen, wussten sie immer, wo er gerade war. Für ihn war es unmöglich, ihren Blicken zu entkommen. Auch seine Energie reichte bei weitem nicht aus, um jeden Alptraum abzuschießen. Ehrlich gesagt wusste er nicht einmal, welche von ihnen real und welche bloß Trugbilder waren. So hatte er sich diese Rettungsaktion nicht vorgestellt, das hätte nicht passieren dürfen. In seiner Erschöpfung spürte er kaum noch, wie die Geißelsaat sich auf ihn stürzte und ihn in sich einschloss. Wohin er auch sah, nur weiß. So hell, dass es in den Augen schmerzte. Irgendwann wurde es plötzlich still. Nichts regte sich mehr. Er fühlte sich leicht und schwer zugleich. Sein Kopf pochte schmerzhaft. War er ... tot? „Luan.“ Angestrengt hob er den Kopf, als er die Stimme vernahm. Abermals diese Frau, Luna. Einige Meter entfernt stand sie vor ihm, im weißen Nichts. Durch die Helligkeit tränten seine Augen, er konnte sie nicht richtig erkennen. Wer war sie? „Es tut mir so leid, Luan“, entschuldigte sie sich bedrückt. „Das habe ich nicht gewollt. Ich wollte nur, dass es endlich endet.“ Wie zerbrechlich ihre Stimme klang. Warum bemerkte er das erst jetzt? „Wer bist du?“, fragte Luan erschöpft. Nur schemenhaft konnte er erkennen, wie sie den Kopf schüttelte. Anscheinend bekäme er keine Antwort auf diese Frage, aber vielleicht hatte er bei einer anderen mehr Glück. „Wo ist Mara?“ Schweigen. Auch darauf reagierte sie nicht, als hätte sie ihn gar nicht gehört. Müdigkeit überfiel ihn und wollte ihn dazu bringen die Augen zu schließen, doch er ließ es nicht zu. So einfach machte er seinen Feinden die Sache garantiert nicht. Zitternd hob er die Hand, in der er noch die Handfeuerwaffe festhielt, und bemühte sich zu zielen. Schließlich schoss er ohne jede Vorwarnung auf die Frau und löste eine weitere Explosion aus, das Weiß zerbrach zu etlichen Splittern. Danach offenbarte sich mit dem nächsten Atemzug vor ihm plötzlich ein dichter, grüner Wald. Irritiert rieb er sich die Augen, aber sie tränten gar nicht mehr. Auch seine Erschöpfung hielt sich erstaunlicherweise in Grenzen, dafür, dass er im Kampf eben ohne nachzudenken Energiekugeln an seine Feinde verteilt hatte. Bildete er sich das ein oder hatte die Schwerkraft wieder ein winziges Stück nachgelassen? „Was zum ...“ Kampfbereit sah er sich um. Er stand auf einem großen See, in der Lichtung eines Waldes, und versank nicht darin. Wieder Nacht, Sterne funkelten am Himmel. Glühwürmchen schwirrten friedlich herum und leuchteten in bunten Farben, was ein magischer Anblick war. Für Luan blieb das Ganze aber überhaupt nicht schön, sondern gefährlich. Zwar hatte Vane gemeint, das Geißel-Ei dürfte sich ziemlich gut vor Eindringlingen schützen, und doch konnte Luan nicht leugnen, wie überrascht er war. Ein Traum lag in dem anderen verborgen. Eine Kette, die kein Ende zu nehmen schien. Das hier war gar nicht Maras Alptraum, er hatte sich geirrt. Es handelte sich um das Abwehrsystem des Kerns der Geißelsaat, zu dem er wollte. Man führte ihn durch ein Labyrinth. Gab es einen Ausgang? Offenbar besaß jede einzelne Welt ein Herzstück, aber sollte es nur jedes Mal in einen neuen Traum führen, säße Luan fest. Nachdenklich ging er einige Schritte über die Wasseroberfläche, auf der sich keine Wellen bildeten. Wenigstens hatte er es bisher noch nicht mit völlig bizarren Orten zu tun bekommen, darauf könnte er auch verzichten. Kaum war dieser Gedanke beendet, lenkte ein Platschen seine Aufmerksamkeit nach unten, in den tiefen See hinein. Eine rote Flüssigkeit drang vom Grund aus schleichend nach oben und begann das Wasser zu verfärben. Sein Blick galt aber mehr dem Spiegelbild auf der Oberfläche, das ihn selbst zeigte, jedoch auf verstörende Art und Weise. Tiefe Augenringe klafften in seinem bleichen Gesicht, schwarze Flüssigkeit quoll aus seinen Augen und er sah furchtbar abgemagert aus, war nur noch ein dürres Gestell. Wie ein Geist. Das braune Haar ergraute bereits und war zerzaust, auch sein Augenpaar war gänzlich farblos und leer. „Wer bist du?“, krächzte das Spiegelbild heiser, womit er Luans Frage wiederholte, die er eigentlich an Luna gestellt hatte. „Wer ich bin?“ Erst ertappte er sich dabei, wie er darüber nachsinnen wollte, konnte sich jedoch rechtzeitig davon abhalten und sich Vanes Worte in Erinnerung rufen. Einen klaren Kopf behalten. Ruhig bleiben. Außerdem ging es nicht um ihn, wie er schon gesagt hatte. Selbst wenn er darüber nachdenken wollen würde, hatte Mara momentan Vorrang, genau wie Ferris. Also hob er leicht die Pistole an und plante, dieses falsche Spiegelbild einfach genauso zu erschießen wie alles andere, das ihn zu beeinflussen versuchte. Warte ... Luan zögerte. Jeder Traumbrecher wusste, dass es das Herzstück eines Alptraumes zu zerstören galt, um solch eine Welt aufzulösen. Allerdings hing dieser Kern stets eng mit dem Träumenden zusammen, mit dessen Emotionen und Erinnerungen. Da er nicht mehr glaubte, in Maras Alptraum zu sein, sondern in einer Falle des Geißel-Eis festzustecken, das ihn um jeden Preis aufhalten wollte, erkannte er eventuell eine Lösung, um ausbrechen zu können. Alles in diesen Welten war darauf ausgelegt, ihn aufzuhalten. Alles drehte sich um ihn. Alles reagierte auf ihn, trotz der Ruhe, mit der er die erste Welt durchschritten hatte. „Ziemlich clever“, musste Luan zugeben, als er das Ziel änderte und sich den Lauf seiner Pistole an den eigenen Kopf hielt. „Aber ich bin schlauer.“ Das Spiegelbild starrte ihn ungläubig an, als er den Abzug betätigte und sich selbst erschoss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)