The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 24: Wir gehen nach Athamos ---------------------------------- Vane war verschwunden, verschluckt von den Schatten, aus denen dieser Ort gänzlich bestand – in einem Riss zwischen den Welten, weit entfernt von jeder Realität. Es geschah so schnell, dass sie nicht mal mit einer Vorahnung etwas dagegen hätte tun können. Ohne Vane gab es nun auch keine Stütze mehr für Bernadette und so drohte ihr erschöpfter Körper sofort wieder kraftlos zusammenzusacken. Irgendwie gelang es ihr aber, sich so gegen die Wand zu lehnen, dass sie wenigstens vorerst ein wenig Halt hatte und zog geistesgegenwärtig ihre Taschenuhr hervor. Kaum um den Hals gelegt, aktivierte Bernadette sie, woraufhin auch ihre Aura sichtbar wurde. Eine Energie aus verschiedenen Blautönen, die unruhig um sie herum zuckte, und es wirkte fast so, als wollte sie vor ihr fliehen, konnte sich jedoch nicht von ihr lösen. Rasch erschuf sie sich ein Paar durchsichtiger Flügel, dank denen sich ihr Körper leichter anfühlte, da sie mit ihnen der Schwerkraft trotzte, wofür sie nicht mal den Kontakt zum Boden aufgeben musste. Ein Lächeln wollte sich auf ihre Lippen schleichen. Ohne groß darüber nachzudenken, hatte sie ausgerechnet so eine Form gewählt, obwohl sie nicht zwingend nötig gewesen wäre. Im Kindesalter, als kleines Mädchen, wollte sie schon immer mal Flügel haben, so wie ein Engel. „Dabei habe ich sie mir gar nicht verdient“, flüsterte sie sich selbst zu. „Verzeih mir, Vane. Du weißt gar nicht, wie egoistisch ich in Wahrheit bin.“ Erneut hallte ein lauter Schrei von unten herauf und verscheuchte diesen Gedanken spielend, denn für Selbstmitleid und Reue war jetzt keine Zeit. Im Erdgeschoss wartete jemand auf sie, der eindeutig Hilfe brauchte, und sie wollte Ferris nicht im Stich lassen, egal wie geschwächt ihr Zustand derzeitig aussah. Entschlossen setzte sie ihren Weg fort und stieg weiter die gewundene, abstrakte Treppe hinab, während sie dafür betete, dass man Vane nur zurück in die Realität geholt hatte und es ihm dort gut ging. Trotz der Flügel, mit denen sie sich den Abstieg leichter machte, war es furchtbar anstrengend. Noch nie hatte sie sich so ausgelaugt gefühlt, nicht mal nach einem wochenlangen Hausputz. Deutlich konnte sie spüren, wie ihr Geist nur noch auf wackeligen Beinen stand, die jederzeit wie hauchdünne Streichhölzer zusammenbrechen könnten. So weit durfte es nicht kommen, noch nicht, zuerst wollte sie Ferris’ Sicherheit gewährleisten. Jede Treppenstufe, die sie hinter sich ließ, sorgte dafür, dass seine Schreie intensiver zu hören waren. Ihr versetzte es einen zusätzlichen Stich in der Brust, mitbekommen zu müssen, wie der sonst lebhafte und immerzu gut gelaunte Ferris vor Schmerzen schrie. Auch noch in einem solch verzweifelten Ton, wegen dem ihr Innerstes erst recht noch mehr an Gleichgewicht verlor und gefährlich zu wanken begann. Nach einer viel zu langen Zeit erreichte sie schließlich die letzte Treppenstufe und eilte geradewegs durch die Tür in den Zwischenraum, der weiter zur Küche führte, um von dort als nächstes in den Eingangsbereich zu kommen. Dabei ignorierte sie die Veränderungen um sich herum, die ihr allesamt nur verdeutlichten, in einer falschen Welt gelandet zu sein. Sie konnte und wollte sich nicht ansehen, wie ihr geliebtes Heim verunstaltet worden war, also konzentrierte sie sich nur auf Ferris. Und darauf, vorwärts zu kommen. Für ihre Zielstrebigkeit erntete sie glücklicherweise auch eine Belohnung, schon wenig später konnte sie nämlich problemlos durch die Küchentür den Eingangsbereich betreten, den sie kaum wiedererkannte. Weit und breit keine Bücherregale, nur Blöcke, bestehend aus Holztüren, die durch unnatürlich gewaltige Nägel zusammengehalten wurden. Wie sehr sie solcherlei alptraumhafte Welten schon damals gehasst hatte. An einem der Blöcke entdeckte sie Ferris. Er lehnte mit dem Rücken dagegen, umgeben von lauter Nägeln, die sich dicht an seinem Körper ins Holz bohrten. Seine Arme hingen quer über das rostige Metall und er schien nur flach zu atmen, was Bernadette verwunderte. Eigentlich müsste er schwer Luft holen, so viel wie sie ihn zuvor schreien gehört hatte. Kurz nach diesem Gedanken ertönte abermals ein Schrei, wie auf Bestellung, doch Ferris’ Körper regte sich dabei kein Stück. Stattdessen brach dunkelblaue Energie aus ihm hervor und zitterte über ihn hinweg, im Einklang mit dem Schrei. Vermutlich träumte er gerade. In einem Refugium bestand durchaus die Möglichkeit, dass Erlebnisse und Gefühle aus dem Schlaf auf diese Weise nach außen dringen konnten. Gesund hörte sich das nicht an. Auslöser für diese schlechten Träume, die Ferris durchleben musste, waren mit Sicherheit die körperlosen Schattengestalten vor ihm. Einige von ihnen griffen nach dem Jungen und ihre Berührungen ließen ihn bloß Sekunden später derart aufschreien. „Weg von ihm!“, forderte Bernadette lautstark und stürmte auf Ferris zu. Gleichzeitig sorgte sie mit einer Handbewegung dafür, dass unter den Schatten eine Lichtsäule aus dem Boden hervorbrach, woraufhin sie kreischend die Flucht ergriffen und in andere Winkel des Raumes huschten, wo es noch genug Dunkelheit gab. Normalerweise sollte man Alpträume nicht unnötig auf sich aufmerksam machen, bevor man den genauen Schwachpunkt ermittelt hatte, laut Luan, doch sie durfte keinen Augenblick länger zusehen, wie Ferris offensichtlich gequält wurde. Die Lichtsäule verblasste wieder, als sie bei ihm ankam und neben ihm in die Knie sank. Behutsam strich sie ihm einige der langen Haarsträhnen aus der Stirn und prüfte seine Temperatur. Erst fühlte er sich heiß an, aber auch kalt. Beides wechselte sich im Sekundentakt miteinander ab. Ein Gefühl, das Bernadette kaum beschreiben könnte, würde man sie danach fragen. Anhand seines Gesichtsausdrucks war zusätzlich zu sehen, wie schlecht es ihm ging. „Ferris, wach auf!“, rief sie und versuchte, ihn vorsichtig zu schütteln. „Bitte, wach auf. Es ist alles gut, hörst du? Du musst nur aufwachen.“ Leider zeigte er keinerlei Reaktion, sein Geist stieß nur hin und wieder erneut Schreie aus, doch das dunkelblaue Flackern seiner Energie kam nicht gegen die Finsternis an. Gerade, als Bernadette ihn von der Tür lösen und woanders hinlegen wollte, hörte sie wütendes Geflüster, das von allen Seiten her kam und sie aufblicken ließ. Anscheinend waren die Schattengestalten nicht erfreut darüber, bei ihrem Spiel von ihr gestört worden zu sein. Ihre Feindseligkeit lag förmlich in der Luft. „Es ist vorbei, ich lasse euch nicht mehr an ihn ran“, verkündete sie drohend. „Versucht es also besser gar nicht erst.“ Mühsam zog Bernadette sich an einem der Nägel wieder auf die Beine und hob beide Hände in Richtung Dunkelheit, in der sich haufenweise Schatten tummelten, wie ein Ameisenhaufen. Das Ticken ihrer aktivierten Taschenuhr wurde lauter und überall im Raum erstrahlten neue Lichtsäulen, die sich von unten nach oben durch die Decke bohrten. Sämtliche Schatten stießen im Chor nochmal ein Kreischen aus und rauschten panisch hin und her, völlig orientierungslos. Plötzlich unterbrach ein besorgniserregendes Knacken das Ticken ihrer Uhr und ihr stockte der Atem. In ihrer Brust weitete sich noch ein anderer Schmerz aus, wegen dem sie zurück auf den Boden fiel und einige Sekunden lang erfolglos nach Luft schnappte. Noch während sie versuchte zu atmen, griff sie nach ihrer Taschenuhr und betrachtete sie genauer. Der Anblick wollte ihr gar nicht gefallen. Auf dem Ziffernblatt, hinter dem Schutzglas, war ein Riss zu sehen. Den Zeigern gelang es nur mit einem Ruckeln, ihn zu überwinden. „Das ist nicht gut“, musste sie sich eingestehen und bekam langsam wieder Luft. „Also, wenn ich Probleme habe, dann aber auch nur richtig, wie mir scheint.“ Wahrscheinlich lag es an Kian, Luans Geißel, der mit ihrer Taschenuhr nicht gerade zimperlich umgegangen war. Bestimmt hatte er sie einmal zu fest in seiner Hand gedrückt und damit diesen Schaden hinterlassen, der sich erst jetzt bemerkbar machte, weil sie ihre Traumzeit nutzte. Momentan hatte sie kein Glück, vielleicht rächte sich auch nur das Karma. Irgendwann musste sie auch die Quittung dafür kassieren, sich so viel Traumzeit zusammengestohlen zu haben, egal zu welchem Zweck. Dummerweise sorgte diese Wunde in ihrem Herzen auch dafür, dass ihre Schöpfungen schwächer wurden und die Säulen verloren bereits an Leuchtkraft, wodurch die Schattengestalten sich wieder näher an sie heranwagten. Notfalls müsste sie auf ihre Pistole zurückgreifen und versuchen damit etwas zu bewirken. Leicht wollte sie es diesen Kreaturen nicht machen, nochmal an Ferris heranzukommen. Meine Energie hält aber auch nicht ewig ... „Du bist am Ende“, hörte sie auf einmal jemanden sagen, deren Stimme ihrer eigenen verdächtig ähnlich klang. Durch die Menge der Schattengestalten zog sich ein respektvolles Raunen und sie wichen vor der Person zurück, die durch eine Wand hindurch den Raum betrat. Keinen Zweifel, Bernadette wusste auf den ersten Blick, um wen es sich dabei handelte. Hierbei musste doch eindeutig das Schicksal seine Finger im Spiel haben, es sollte wohl so kommen. „So schnell bin ich nicht am Ende, glaub mir“, entgegnete Bernadette und richtete sich etwas auf, eine Hand gegen die Brust gepresst. „Gut, dass du da bist.“ Zweifelnd hob die andere Person eine Augenbraue. „... Wie bitte?“ „Ich wollte sowieso mit dir reden. Hör zu, ich mache dir einen Vorschlag ...“ *** Zu schade, dass ein Refugium keine Tür besaß. Wie gern hätte Luan Verrells Reich mit einem ohrenbetäubenden Knall verlassen, nur um diesem zu zeigen, was er von ihm und seinen Spielchen hielt. Geißeln zählten wahrhaftig zu den arrogantesten Wesen überhaupt. Leider gab es aber keine Tür und somit nichts, woran er seine Wut auslassen könnte, die, trotz notdürftig geflickter Atemhypnose, in ihm überzukochen drohte. Verrell sollte es sich besser nicht wagen, Ferris zu brechen, bevor Luan zurückkam, sonst könnte er endgültig die Nerven verlieren. Ein Leben als Traumbrecher ohne ihn wollte er sich nicht mal vorstellen, geschweige denn was mit Seelen geschah, die zersplitterten. Möglicherweise verloren sie sich einfach im Nichts und bekamen nicht mal die Chance wiedergeboren zu werden. Was das Brechen von Seelen anging, gab es zwar einige Theorien und sogar Aufzeichnungen darüber, absolut sicher konnte sich aber niemand sein, was dann geschah. Wie auch? Bisher war noch kein Gebrochener jemals zurückgekehrt, Ferris durfte das nicht passieren. Niemals. Luan hatte kaum das Refugium verlassen, da holte er auch schon tief Luft, um Vanes Namen zu rufen, der angeblich irgendwo zurück im Haus sein sollte, laut Verrell. Ihm kam aber kein einziger Laut über die Lippen, beim Anblick des Trugmahrs, dessen funkelnde Lichter den gesamten Keller erfüllten. Dank Luans Taschenuhr, die er noch um den Hals trug, konnte er ihn sehen, auch wenn die hellblaue Ebene nach wie vor wie verrückt flimmerte und ihn heftig blinzeln ließ. Unruhig schwebte der Trugmahr vor dem Eingang zu Verrells Reich hin und her, wartend. Zwischen den Klängen seines Glockenspiels mischte sich das Gefühl der Hoffnung. Hielt sich Bernadette etwa im Refugium auf? Am Ende hatte Verrell ihm natürlich doch verschwiegen, wo genau er seine Geiseln festhielt, doch das würde Sinn machen. Mit Sicherheit wartete der Trugmahr sehnsüchtig auf Bernadette. Auf magische Weise gelang es diesem Wesen mit seinem Lied, die Wut in ihm ein bisschen abzukühlen, womit allerdings auch Schuldgefühle in Luan geweckt wurden. Mit bedachten Schritten bewegte er sich ein Stück vorwärts und fand sich schnell inmitten der vielen Lichter wieder. Er kniff die Augen zusammen, um sie etwas vor dem Flimmern zu schonen, das ihm die Sicht auf den Trugmahr erschwerte. „Du bist doch Edge, hab ich recht?“, sprach Luan ihn mit ruhiger Stimme an. „Tut mir leid, sie ist noch in seiner Gewalt.“ Bedrückt sackten die einzelnen Lichtkugeln ab, Richtung Boden, berührten diesen jedoch nicht und blieben wenige Zentimeter davor in der Luft hängen. „Ich weiß, du machst dir Sorgen.“ Er schwieg kurz und dachte nach. „Du hast mitbekommen, dass ich nicht so gut auf sie zu sprechen bin. Trotzdem lasse ich nicht zu, dass sie seine Gefangene bleibt. Ich hole sie da schon raus.“ Immerhin sollte Bernadette fair bestraft werden, von den Führungskräften in Athamos. Ihren Verrat konnte er niemals vergessen, doch auch sie hatte das hier nicht verdient. Außerdem gab es vielleicht noch die eine oder andere Frage, die er ihr stellen wollte. Zum Beispiel warum sie damals allen aktiven Traumbrechern ihre Zeit gestohlen und ihn dafür auch noch missbraucht hatte. Den genauen Grund dafür kannte er bis heute nicht. Weil ich ihr nie zuhören wollte ... „Verlass dich auf mich“, fuhr er fort. „In spätestens drei Tagen komme ich zurück. Hab für mich solange den Eingang im Auge, ja? Pass aber auf, dass dir nichts passiert.“ Es wäre furchtbar, wenn ein reiner Trugmahr wie Edgar vernichtet wurde. In Athamos sollte Luan bei Gelegenheit den Fängern Bescheid geben, damit sie ihn von hier wegbrachten. Oder er wartete damit, bis er Bernadette befreit hatte, sonst tat er dem Trugmahr sicher keinen Gefallen. Mehr Sorgen als jetzt wollte er ihm nicht bereiten. Wenigstens schöpfte Edgar scheinbar noch mehr Hoffnung aus seinen Worten, denn die Kugeln gewannen wieder an Höhe und leuchteten etwas kräftiger. Zufrieden nickte Luan ihm zu und nahm seine Taschenuhr ab, ehe seine Augen noch zu tränen anfingen, und steckte sie zurück in seinen Mantel. „Bis dann, Edge.“ Zügig setzte er seinen Weg fort und rannte die Treppen nach oben, weil er nicht mehr Zeit als nötig verlieren wollte. Zuerst musste er Vane finden und ihn dazu bringen, zu tun, was er sagte, was der schwierigste Teil dieser Mission werden dürfte. Sobald der Arzt erst mal sah, wie ernst es Luan meinte, gab er sich möglicherweise ohne langatmige Diskussionen geschlagen. Darauf baute er. Oben angekommen, rief Luan ohne Zurückhaltung nach ihm. „Vane!“ „Ja?“, erhielt er direkt eine Antwort, gesprochen in einer völlig normalen Tonlage. Nur ein Blick zur Seite genügte und Luan hatte sofort Vane im Blick, der ebenfalls im Raum stand. Beinahe wirkte er etwas verloren, aber davon ließ Luan sich gar nicht erst irritieren und setzte ein selbstbewusstes Gesicht auf, um zu zeigen, dass er sich diesmal nichts mehr von ihm sagen lassen würde, im Gegenteil. „Nur, damit Sie es wissen“, begann er und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie haben es allein mir zu verdanken, dass Sie zurück sind.“ Minimal hob Vane die Augenbrauen, scheinbar überrascht. „Wirklich? Was ist denn genau passiert?“ „Ferris’ Geißel, Verrell, hat euch alle gefangengenommen, um mich zu erpressen.“ Etwas flackerte in Vanes Augen auf, doch für Luan blieb es unmöglich, darin zu lesen und die Stimmung dahinter zu erkennen – einerseits deswegen, weil er das auch nicht wollte. Statt einer Entschuldigung, die mehr als angebracht wäre, bekam er von ihm dann auch noch eine Frage gestellt. „Geht es dir gut?“ „Um mich geht es hier nicht“, lenkte Luan in einem barschen Ton ab. „Sie wissen doch etwas über Geißeln, zumindest haben Sie vor unserem Aufbruch hierher noch so getan. Wissen Sie auch, was sie mit ihrem Wirt anstellen? Dieser Verrell hat vor, Ferris zu brechen, also fragen Sie nicht nach mir, sondern machen Sie sich lieber Gedanken um ihn. Wir werden ihm helfen.“ Wie in Zeitlupe hob Vane einen Arm und legte seine rechte Hand nachdenklich an sein Kinn. „Das klingt verdächtig danach, als hättest du einen Plan?“ „So in etwa. Verrell hat Spielregeln aufgestellt.“ „Spielregeln?“ „Ich durfte übrigens nur einen von euch zurückholen lassen“, betonte er vorwurfsvoll. Anschließend verringerte er das letzte bisschen Distanz zwischen ihnen, indem er einige Schritte auf ihn zukam, bis er genau vor ihm stand. „Und eins sage ich Ihnen, meine Wahl fiel sicher nicht aufgrund von Sympathie auf Sie. Sie haben mich mit Ihrer Prägung an diesen Ort gebunden, ohne Sie hätte ich den Buchladen gar nicht verlassen können.“ Nach diesen Worten fixierte Luan ihn mit einem glühenden Blick, den Vane offenbar richtig zu deuten wusste, seinen zusammengezogenen Augenbrauen nach zu urteilen. Nur die folgende Berührung empfand er als reichlich überflüssig. Vanes Hand löste sich von seinem Kinn und legte sich nun auf Luans Schulter, die er sacht drückte. „Befehl negieren“, sagte er mit seiner Schall-Prägung, womit er die unsichtbaren Fesseln von Luan löste. „Besten Dank“, entgegnete dieser ironisch und wischte Vanes Hand von seiner Schulter. „Gut, gehen wir. Wir müssen nur noch Mara holen.“ „Gehen?“, wiederholte Vane aufmerksam. „Wohin?“ „Zurück nach Hause.“ Bevor er darauf reagieren konnte, sprach Luan bereits weiter. „Ich muss dort etwas erledigen und Sie auch. Sie müssen nämlich die Atemhypnose von mir lösen, auch dafür habe ich Sie zurückgeholt.“ Augenblicklich stieß Vane ein leises Seufzen aus, weil ihm das natürlich nicht in den Kram passte, aber ab jetzt ließ Luan sich nicht mehr von ihm bevormunden oder gar unterdrücken. Nicht, wenn das Wohl von Ferris hier auf dem Spiel stand. „Sie werden es tun, andernfalls riskieren Sie nicht nur Ferris’ Leben, sondern auch, dass ich Sie noch mehr zu hassen lerne. Und ich soll mich doch nicht aufregen.“ „Richtig“, bestätigte Vane, ließ sich aber nicht von seiner Entschlossenheit beeindrucken. „Was hat deine Atemhypnose mit Ferris’ Leben zu tun?“ „Das kann ich Ihnen hier nicht erklären, die Wände könnten Ohren haben.“ In diesem Augenblick könnte Verrell sie belauschen oder sogar beobachten, demnach hatte Luan im Grunde schon viel zu viel verraten. Sie sollten auf der Stelle von hier verschwinden und alles weitere später besprechen, mit einem sicheren Abstand zum Buchladen. Nein, besser erst, wenn sie komplett aus der Stadt heraus waren, also später in Athamos. Noch immer hegte Luan den Verdacht, dass Verrell sich bereits mehrere Refugien geschaffen haben könnte, mit denen er sich durch Limbten bewegte. Deshalb drehte er sich Richtung Treppe, die nach oben in den ersten Stock führte, und ließ ohne weitere Worte die ersten Stufen hinter sich, damit er Maras Zimmer aufsuchen konnte. Unaufgefordert folgte Vane ihm, sicher eher widerwillig und nur, um ihn nicht aus den Augen zu lassen. „Warte, Luan. Bernadette ist noch hier und auch in Gefahr.“ „Schon klar, aber auch ihr können wir jetzt noch nicht helfen.“ „Luan.“ Von hinten griff Vane nach seinem rechten Arm und hinderte ihn so daran weiterzulaufen. „Ich kann das nicht tun.“ Angespannt blickte Luan über die Schulter und musste sich sehr zurückhalten, Vane nicht wütend anzufauchen. In dessen Augen hatte sich etwas verändert, wegen dem Luan den Drang dazu aber sowieso schlagartig verlor. Da war wieder dieser traurige Glanz zu sehen, den Vane ihm schon mal gezeigt hatte, gestern erst. Sorge strömte aus den dunkelbraunen Tiefen seiner Augen hervor und versuchte, ihn in eine Umarmung einzuschließen. Was sollte das? Woher kam diese Seite an Vane? Irgendwie fühlte sie sich seltsam vertraut an. So sehr, dass sich ein schlechtes Gewissen in Luan anbahnen wollte, weil er sich so abweisend ihm gegenüber verhielt. Dabei war Vane doch selbst Schuld, wenn er all diese Dinge tat, ohne ihm etwas zu erklären. „Lassen Sie mich los“, murmelte Luan unwohl. „Ich hasse Körperkontakt.“ „Entschuldige.“ Endlich hatte Vane es mal gesagt. „Ich weiß.“ Er ließ seinen Arm los und fuhr sich nervös durch die Haare. Anscheinend konnte er nicht so kühl und unnahbar wirken, solange er nichts hatte, womit er seine Hände beschäftigen konnte. Oder ihn beunruhige diese gesamte Situation tatsächlich mehr, als Luan glauben wollte. Inzwischen war er nicht mehr sicher, was er überhaupt von Vane denken sollte. Schweigend ging Luan weiter die Treppe hinauf und Vane tat es ihm gleich, ebenso still. So waren sie es voneinander gewohnt, nur erdrückte ihn diese Ruhe gerade mehr, als dass sie ihn entspannte, weshalb er doch etwas sagte. „Wenn Sie es nicht tun, wende ich mich eben an Atanas“, warf er ein. „Er wird mir auf jeden Fall helfen, jemanden zu finden, der die Atemhypnose von mir löst.“ Hinter ihm schien für kurze Zeit ein Knistern in der Luft zu liegen, gefolgt von Vanes Stimme, deren Kälte sich zurück in den Vordergrund drängte. „Nein, das ist nicht nötig. Ich mache es.“ Glück gehabt. Aus irgendeinem Grund war Vane auf Atanas nicht gut zu sprechen, vermutlich weil der Anführer ihn fristlos kündigen würde, sobald der erfuhr, was er als Arzt alles heimlich für Forschungen betrieb. Jedenfalls war Luan erleichtert darüber, ihm so eine Antwort entlockt zu haben. Unbedingt um Hilfe fragen wollte er Atanas nicht, obwohl er mit ihm sprechen musste, was für ihn schon heikel genug war. Der Gedanke, von der Mission abgezogen werden zu können, spukte noch in seinem Kopf herum. „Geht doch“, kam es zufrieden von Luan – innerlich feierte er seinen Triumph ein wenig. Oben angekommen suchten sie Mara in ihrem Zimmer auf. Auch ihr musste er dort im Anschluss nochmal deutlich sagen, dass er körperliche Nähe nicht mochte, weil sie vor lauter Erleichterung förmlich in seine Arme gesprungen war. Ein überraschend menschlicher Zug, was er aber nicht laut erwähnte. Mara entschuldigte ihr Verhalten daraufhin mit der Erklärung, dass sie die ganze Zeit über Angst gehabt hatte, er könnte nochmal einfach abhauen, so wie letztes Mal. Diesmal hatte Luan sie nicht enttäuscht. Schließlich brachte er sie erfolgreich dazu, mit ihnen den Buchladen, in dem es nicht mehr sicher war und sie beobachtet werden könnten, zu verlassen. Verstehend schloss Mara sich ihnen an und verzichtete vorerst auf weitere Fragen, was er sehr begrüßte. Somit fanden sie sich alle drei eine Weile später draußen wieder und folgten blind einer Richtung, hautsächlich um sich erst mal so weit wie möglich von Verrell zu entfernen. „Wo gehen wir jetzt hin?“, erkundigte Mara sich, nachdem sie schon eine gewisse Strecke zurückgelegt und bisher geschwiegen hatten. Luan schielte zur ihr hinüber. „In unser Hauptquartier.“ „Wirklich?“ Ihre Augen wurden größer. „Ich darf dahin mitkommen?“ „Das halte ich eigentlich für keine gute Idee“, mischte Vane sich in die Unterhaltung ein. Sein Blick wanderte von Mara zu ihm. „Sie finden nie etwas von dem gut, was ich mache.“ „Außenstehende dürfen nicht mit ins Hauptquartier gebracht werden“, erinnerte Vane ihn, wobei er beide Hände in die Seitentaschen seines Kittels vergrub. „Nicht ohne Erlaubnis.“ „Sie ist aber nicht irgendeine Außenstehende, sondern ein Sakromahr.“ Damit erzählte er Vane allem Anschein nach nichts Neues, denn der sprach einfach weiter, ohne jegliche Anzeichen von Überraschung oder gar Verwirrung zu zeigen – Bernadette musste es ihm schon verraten haben. „Ein Grund mehr, sie nicht mitzunehmen.“ Ehrlich gesagt verwirrte er mit dieser Aussage nun eher Luan, der auch gleich die Stirn runzelte. Sakromahre mochten unter Traumbrechern zu den Alpträumen zählen, galten aber als heilig. In Athamos käme niemand auf die Idee, Mara etwas anzutun, zumal sie auch absolut harmlos war. „Nimmst du mich nur deswegen mit?“, hauchte sie leise. Da sie stehengeblieben war, hielt auch Luan inne, genau wie Vane. Beide warfen sie den Blick fragend zu Mara, völlig ratlos darüber, wieso sie sich daran störte. „Hättest du mich auch mitgenommen, wenn ich nicht ihr Sakromahr wäre?“, fügte sie hinzu. Jetzt huschte Vanes Blick zu Luan, was ihm nicht gefiel. Gerade er sollte nicht erfahren, wer Mara genau war und was sie für ihn bedeutete. Zumindest nicht solange er ihm noch misstraute, egal wie oft Vane ihm gegenüber auch Gefühle zeigen mochte. Alleine das entlastete ihn noch lange nicht, daher musste er ihn mit etwas ablenken. „Vane, rufen Sie Naola an.“ Fordernd erwiderte Luan kurz dessen Blick. „Sie sollte wissen, was los ist und die Stadt für uns im Auge behalten.“ „Mache ich“, gab Vane erstaunlich schnell nach. "Es heißt übrigens immer noch Doktor Belfond." Während er sein Handy hervorholte und Naolas Nummer wählte, trat Luan näher zu Mara. Dort senkte er etwas seine Stimme, um möglichst ungestört mit ihr reden zu können. Dummerweise wusste er, wie gut Vanes Ohren waren, doch er hoffte darauf, dass ihn ein Telefongespräch ausreichend beschäftigen könnte und ihm die Konzentration dafür nahm, nebenbei auch noch zu lauschen. „Ich dachte, wir wollten noch unser Gespräch fortführen?“ „Ja, schon ...“ Mara drückte das Buch enger an sich, das sie noch bei sich trug und weiterhin wie einen Schatz hütete. „Ich habe nur etwas Angst.“ „Wovor? Hör nicht auf Vane, ich passe schon auf dich auf. Bei uns bist du sicherer aufgehoben als hier.“ Darauf reagierte sie nicht, also lag es an ihm, das zu übernehmen und weiterzusprechen. „Du musst mir doch auch noch etwas von Estera ausrichten, hast du gesagt.“ Und das wollte er unbedingt hören. Der Gedanke, dass Estera womöglich noch irgendwo lebte oder auf andere Weise existierte, war für ihn momentan der einzige Lichtblick in diesem ganzen Chaos, auf den er nicht verzichten konnte. Das musste Mara doch verstehen, besonders als Sakromahr von Estera, sicher trug sie ein paar ihrer Gefühle und Erinnerungen in sich. „Verstehe“, brachte sie mühevoll hervor und ihr Griff um das Buch lockerte sich ein wenig. „Du hast recht. Ich muss tun, wofür ich hier bin.“ „So wie ich ...“, unterstützte Luan diese Aussage. Automatisch glitt sein Blick prüfend zu Vane. Noch brauchte er ihn, aber Luan war davon überzeugt, dass er mit Bernadette zusammenarbeitete und ihr damals vielleicht auch zur Flucht verholfen hatte. Nachdem er endlich diese Atemhypnose endgültig los war, musste er das Atanas melden, damit der sich um Vane kümmerte und weiteres Unheil verhindert wurde. Das war seine Pflicht. Eigentlich würde Luan vorher allerdings viel lieber in Erfahrung bringen, was genau Vane und Bernadette planten, wenn sie unter einer Decke steckten. Am besten überlegte er sich in Athamos genauer, wie er vorgehen sollte. „Was ist mit Bernadette?“, riss Maras Frage ihn aus seinen Gedanken. „Sie wird gerade noch von diesem Typen gefangengehalten, zusammen mit Ferris.“ Besorgt wanderte Maras Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Lag ihr wirklich etwas an Bernadette? Zugegeben, ihre mütterliche Ader hatte auch Luan einst vollkommen eingenommen, bis zu ihrem Verrat. Besser, er ließ Mara in dem Glauben, es mit einer guten Person zu tun zu haben, um sie nicht noch mehr zu belasten. „Wir werden sie beide befreien“, versprach Luan ihr. Zögernd sah sie ihn wieder an. „Das hoffe ich ...“ Nickend unterstrich er nochmal, wie ernst er es meinte, und wartete darauf, bis Vane sein Gespräch mit Naola beendet hatte. Es dauerte nicht lange und er berichtete, dass sie sich sofort melden würde, sobald sich etwas in Limbten tat. Also konnten sie diese Stadt beruhigt hinter sich lassen, für die nächsten drei Tage, doch Luan plante noch vor Ablauf dieser Zeit zurückzukehren. Einige Schritte weiter entdeckten sie zwischen den Häusern eine weitläufige Gasse, in der sie unbeobachtet von hier verschwinden konnten. Dort angekommen, holte Luan seine Taschenuhr erneut hervor und legte sie sich um, woran Vane sich ein Beispiel nahm. Zu seiner Erleichterung flimmerte die hellblaue Sichtebene an diesem Ort nicht mehr, wofür seine Augen überaus dankbar waren. Sensibel auf grelle Lichtspiele zu reagieren konnte nervig sein. „Mara, du musst mir jetzt vertrauen, so wie in der einen Welt“, bat Luan sie. „Dir wird nichts passieren. Gib mir deine Hand.“ Misstrauisch hatte Mara sich in der Gasse umgesehen und fragte sich bestimmt, wie man von hier aus zum Hauptquartier der Traumbrecher gelangen sollte. Dennoch reichte sie Luan ihre Hand, so dass er diese zu seiner Uhr führen könnte, um eine Verbindung zu ihr herzustellen. Für den folgenden Schritt war das zwingend notwendig. Eine der Schutzvorrichtungen hinderten Außenstehende ohne eine eigene Taschenuhr sonst daran, nach Athamos zu gelangen. In Begleitung eines Traumbrechers, der mit so einer Person verbunden war, machte das System aber eine Ausnahme. Atanas erfuhr auf die Weise nur sofort, dass er eine Fremde mit nach Hause brachte. „Lass sie nicht los, bis ich dir das Okay dazu gebe.“ „Bist du dir wirklich sicher, dass du das tun willst, Luan?“, hakte Vane ein letztes Mal nach, dem das alles nach wie vor nicht gefiel. Luan musste ihn enttäuschen. „Ja. Wir gehen nach Athamos.“ Dadurch, dass er den Namen laut ausgesprochen hatte, regte sich etwas in der Atmosphäre. Vor ihnen tanzten scheinbar aus dem Nichts violette Blitze in der Luft herum und verzerrten an der Stelle das Bild der Realität. Kreisförmig zogen Farben und Formen sich zusammen, bis die Spannung zu stark wurde und an der Stelle die Wirklichkeit plötzlich mit einem hellen Klang zersplitterte. Farblose, leere Splitter regneten zu Boden und gaben den Blick auf den Eingang nach Athamos frei: Eine gewöhnliche Bogentür aus dunklem, massivem Holz, verziert mit allerlei kunstvollen Ornamenten. Der Rahmen bestand aus einem weißen, durchsichtigen Gestein, das leicht schimmerte, und an dessen oberen Ende ein großer Rubin zierte. Ein Auge, um genau zu sein, das sich bewegte und sie sogleich prüfend musterte. Kurz darauf öffnete sich die Tür selbstständig nach innen und lud sie dazu ein hereinzukommen. Auf der anderen Seite war von ihrem Standpunkt aus nur ein weißes, strahlendes Licht zu sehen. Anders als sonst blendete es Luan aber nicht, es war vielmehr angenehm. Man verlor sich leicht darin. „Los, gehen wir.“ Gemeinsam mit Mara trat er durch die offene Tür und achtete darauf, dass sie die Hand auch fest um seine Taschenuhr geschlungen hielt. Dicht hinter ihnen folgte Vane. Als alle drei verschwunden waren, fingen die heruntergefallenen Splitter auf dem Boden an zu schwebten und kehrten zurück in die Luft. Stück für Stück, genau wie bei einem Puzzle, setzten sie sich dort zusammen, bis das Bild der Realität unverfälscht wiederhergestellt war. Nichts deutete mehr auf etwas Ungewöhnliches hin. Luan, Vane und Mara hatten Limbten verlassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)