The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 19: Mehr, als nur ein Traum ----------------------------------- Vane versuchte seine Gedanken unter Kontrolle zu halten, indem er ihnen den nötigen Spielraum zur Entfaltung erfolgreich verwehrte und darin war er ausgesprochen gut. Auch ohne jegliches Kopfzerbrechen war ihm klar, dass es keine einfache Lösung aus dieser schwierigen Lage geben konnte, die sich rasch in ein ernsthaftes Problem entwickeln würde, sollten sie nicht bald etwas dagegen unternehmen. Nachdenken alleine brachte ihn hierbei nicht weiter und würde nur seine Sorgen verstärken, von denen er schon mehr als genug vorweisen konnte. Mehr, als ihm lieb war. Sie hatten es eindeutig mit einem gefährlichen Gegner zu tun, das war für ihn keine Frage. Niemand außer ihm kannte sich besser mit dieser vermeintlichen Legende aus, andernfalls hätte er sich gewiss nicht selbst zu dieser Mission eingeladen, obwohl es als Arzt in Athamos mehr als genug zu tun gab. Nicht nur die Geißel stellte eine Bedrohung dar, sondern auch andere Faktoren, deren Existenz nur wenigen bekannt waren. Genau genommen wussten bislang nur Vane und Bernadette davon, vorausgesetzt man ließ den Ursprung allen Übels gänzlich außer Acht. Ja, er war mit der Verräterin verbündet, schon von Anfang an. Ohne die Hilfe von Vane hätte sie damals nach ihren kritischen Regelverstößen sicher nicht so leicht aus Athamos fliehen können, kurz bevor sie ihre Strafe bekommen sollte. Aus einem ihm schleierhaften Grund besaßen ausgerechnet sie beide nämlich Wissen, mit dem sie nicht ausgestattet sein dürften, und über das sie nicht mal mit jemandem reden konnten. Also stellte Bernadette seine einzige Verbündete in diesem Krieg dar, woran er sich inzwischen gewöhnen konnte. Lange Zeit hatte es ihm mehr als missfallen, mit einem Menschen zusammenarbeiten zu müssen, aber auch er stellte letztendlich fest, dass einige von ihnen gar nicht so übel waren. Alleine würden sie es sonst auch gar nicht schaffen, diese Verantwortung zu tragen, die sie durch ihr verbotenes Wissen besaßen. Eine Sache gefiel ihm trotzdem ganz und gar nicht: Warum hatte Bernadette eigenmächtig versucht die Atemhypnose bei Luan zu lösen? Eigentlich sollte sie wissen, dass es für die Sicherheit des Jungen überaus wichtig war, diese Gefühlssperre aufrecht zu erhalten. Davon hing vieles ab, auch das Wohl aller anderen. Eine Antwort auf diese Frage würde er sich persönlich bei ihr abholen müssen, da er von selbst auf keinen nachvollziehbaren Grund stoßen würde. Für ihn blieb ihr Handeln vollkommen unverständlich und das würde er ihr auch so zu verstehen geben. Jetzt gerade schritt er alleine die Treppen zum ersten Stock des Buchladens empor, während Luan nochmal umgedreht war, um nach Ferris zu sehen, der es mal wieder verstand zu trödeln. Mit seiner Schall-Prägung hatte Vane ihm vorher noch den Befehl erteilt, das Haus nicht ohne ihn zu verlassen, damit er Luan nicht aus den Augen verlor. Auf die Art machte er sich zwar nur noch unbeliebter bei dem Jungen, doch das kümmerte Vane nicht weiter, schließlich tat er das nicht aus Spaß oder um ihn zu ärgern. Am liebsten wäre es ihm sogar, wenn Luan die ganze Zeit über an seiner Seite bliebe. Bei einer Geißel als Feind musste man äußerst vorsichtig sein, denn diese Gattung brach einige Regeln, die sonst für Alpträume galten und das machte sie so gefährlich. Das folgende Gespräch mit Bernadette wollte Vane dennoch alleine führen, schon weil es nicht jeder mitbekommen durfte und Luan würde es nur noch wütender machen, von seinem Arzt wie ein Hund an der Leine geführt zu werden. Im Moment brach sein Groll gegen Vane ohnehin schon deutlich genug hervor, da sollte er nicht weiter nachhelfen. Es wäre nicht gut für Luan, sich noch mehr aufzuregen. Darum konnte Vane nur hoffen, dass sie nicht allzu früh von der Geißel hier überrascht wurden, selbst wenn er damit ein großes Risiko einging. Eine Möglichkeit wäre nur, das Gespräch möglichst kurz zu halten, also schritt er zügig nach oben, wo ihn der Weg auf einen dunklen Flur mit vier Türen führte. Auch ohne seine Taschenuhr war es Vane möglich alles problemlos zu sehen, als wäre es bereits Tag. Die Dunkelheit war ihm angenehm vertraut, fast willkommen. Immerhin war er einst dafür geschaffen worden, in ihr zu leben. Instinktiv steuerte er auf eine bestimmte Tür zu, an die er erst anstandshalber klopfte, bevor er sie vorsichtig öffnete. Für ihn war es der erste Besuch in Bernadettes Versteck und doch hatte er auf Anhieb die richtige Wahl getroffen, denn vor ihm offenbarte sich ihr Schlafzimmer, so wie es aussah. Bernadette saß in diesem Raum am Fenster, in einem Schaukelstuhl, wo sie gedankenverloren nach draußen blickte und anscheinend nicht mal das Klopfen gehört hatte. Leise betrat Vane das Zimmer und ließ die Tür hinter sich geräuschlos ins Schloss zurückfallen. Draußen ging die Sonne auf, wie er an dem goldenen Licht erkennen konnte, das langsam den Himmel eroberte, und bald durch das Fenster hereinbrechen dürfte, wodurch der Raum dann viel wärmer wirken würde. Leider lag ein leichter, morgendlicher Nebel in der Luft, der das Sonnenlicht etwas abschwächte und es zogen sich auch hier noch dunkle Schatten über sämtliche Flächen, woran sich Bernadette wohl nicht störte. Womöglich wollte sie es dem Sonnenaufgang überlassen, ihr Zimmer von der Finsternis zu befreien. Diese Frau nach all der Zeit wiederzusehen, war ein komisches Gefühl. Besonders mit diesem Trugmahr an ihrer Seite, der sie schützend umkreiste und sein melancholisches, friedvolles Lied dabei sang, als wolle er Bernadette damit beruhigen. Sogar diesen Alptraum konnte Vane sehen, ohne erst seine Taschenuhr als Hilfsmittel einsetzen zu müssen. Dunkelheit und Alpträume blieben eben für immer ein Teil von ihm, der sich nicht abschütteln ließ. Niemals. Da Bernadette gerade so abwesend wirkte, nahm Vane sich die Zeit, um kurz den Blick durch den Raum schweifen zu lassen. Das obere Stockwerk besaß einen ebenso rustikalen Charme wie das Erdgeschoss, den auch das Schlafzimmer teilte, in dem ein Doppelbett stand. Mit seinen braunroten Farben wirkte es warm, auch ganz ohne Sonnenlicht, und hier ließen sich ebenfalls viele Bücher finden, die nicht mal alle in die dafür vorgesehenen Regale passten, also waren einige zu kleinen Türmen aufgestapelt worden. Auf einem Nachttisch stand ein Fotorahmen mit einem Bild von Edgar Maron, bei dem es sich um Bernadettes Mann handeln musste. Automatisch glitt sein Blick zurück zu dem Trugmahr. Er zählte sofort eins und eins zusammen. Kein Wunder, dass dieser Alptraum so sehr an ihr zu hängen schien. Schließlich erinnerte Vane sich selbst daran, dass die Zeit drängte und er dieses Gespräch lieber schnell hinter sich bringen sollte, also räusperte er sich vernehmlich. „Guten Morgen, Maron.“ Sofort fügte sich Vanes Stimme harmonisch in das Lied des Trugmahrs ein, bildete einen Teil davon, als hätte sie schon immer dazu gehört und wäre endlich nach Hause zurückgekehrt. Nur leicht hob Bernadette den Kopf an und sah noch einen Augenblick lang weiter aus dem Fenster, bis sie doch endlich den Blick in seine Richtung wandte. Im Gegensatz zu Luan erwartete ihn kein Groll oder gar Abscheu, was er beides schon gewohnt war, ausnahmsweise wurde er tatsächlich mit einem Lächeln begrüßt. Eines von der mütterlich fürsorglichen Sorte, wie man es von ihr kannte. „Ah, Vane. Guten Morgen, werter Herr Doktor Belfond“, erwiderte sie überraschend erfreut. „Ich dachte mir, dass du mich sehr bald besuchen kommen würdest, nachdem wir miteinander telefoniert hatten.“ Trotz der langen Zeit, in der er Bernadette nicht mehr gesehen hatte, erkannte er sofort, dass sie erschöpft war. Im Grunde war das bei ihr ein normaler Zustand, da sie harte Arbeit sehr schätzte und oft dazu neigte, sich zu übernehmen, aber etwas an diesem Anblick gefiel ihm nicht. Ihre jetzige Erschöpfung kam ihm besorgniserregend vor, weil ein Gefühl ihm sagte, dass sie auf eine unnatürliche Ursache zurückzuführen sein musste. Er bemühte sich darum den Drang niederzukämpfen, sie gleich untersuchen zu wollen, weil er das von seiner Arbeit her gewohnt war. „Ich weiß nicht, worüber du dich so freust“, reagierte er ernst und in seiner tiefen Stimme wohnte ein Hauch von Kälte. Ein weiterer Teil von ihm, den er wohl niemals vollständig ablegen konnte. „Noch nie was von Wiedersehensfreude gehört?“, versuchte sie, ihm den Grund für ihre Stimmung zu erklären und blickte ihn neugierig an. „Sind deine Krankenwagen immer noch so schön geräumig?“ Warum sie ihn das jedes Mal erneut fragen musste, blieb für ihn ein Rätsel. Was sollte sich während ihrer Abwesenheit an ihren Schöpfungen denn geändert haben? Erst recht weil sie bei ihr von dauerhafter Natur waren, empfand Vane diese Frage als überflüssig und konnte nur vermuten, dass sie stolz darauf war, ihm bei den Räumlichkeiten für den Krankentransport so gute Dienste erwiesen zu haben. Für ihn blieb es eine Frage, auf die er nicht antworten musste und so überging er sie einfach, genau wie die Aussage mit der Wiedersehensfreude. „Du kannst dir sicher denken, warum ich dich aufgesucht habe.“ Ein Nicken von Bernadette genügte, um ihm das zu bestätigen und sie deutete zum Bett rüber. „Setz dich doch erst mal, mein Lieber. Stehen wirkt so furchtbar förmlich und distanziert. Erst recht bei einem so großen Mann wie dir.“ Wie oft er das schon von ihr zu hören bekommen hatte, konnte Vane gar nicht mehr aufzählen. Stehen empfand er für sich selbst stets als angenehmer, aber durch Bernadette hatte er es sich längst auch bei seiner Arbeit angewöhnt möglichst viel zu sitzen, damit seine Patienten sich ein wenig wohler fühlen konnten. Ob das wirklich half oder nicht, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, denn bei den Traumbrechern galt er nach wie vor als unbeliebt. Der Gedanke sorgte dafür, dass er die Augenbrauen zusammenzog und sich lieber hinsetzte, statt sich noch länger in solch unwichtige Tatsachen zu verlieren. Kaum saß er auf dem Bett, das für seinen Geschmack viel zu weich war, blickte er fragend zu Bernadette. „Zufrieden?“ „Nicht ganz“, antwortete sie und musterte ihn eine Weile irritiert, bis ihr etwas auffiel. „Ach, du bist ohne dein Schreibzeug unterwegs. Ungewohnter Anblick bei dir, sonst hast du es doch immer dabei.“ Richtig, normalerweise war Vane ohne Klemmbrett nicht anzutreffen, weil er sich gerne zu allem Notizen machte, aber diesmal hatte er es auf der Krankenstation zurückgelassen, um sich in Ruhe auf die Lage konzentrieren zu können. Dazu gehörte auch, solche Aussagen nicht weiter zu beachten und ohne weitere Umschweife zu dem Thema zu kommen, wegen dem er hier war. Seine Mimik wurde daher noch ernster, nahezu vorwurfsvoll. „Warum hast du versucht, die Atemhypnose bei Luan zu brechen?“ „Du kommst mal wieder gleich zum Punkt“, bemerkte sie bedauernd und schüttelte den Kopf. „Keine Frage danach, wie es mir geht oder was ich so getrieben habe?“ Für Vane war dieser Einwurf nicht nachvollziehbar. „Bei unserem letzten Telefonat warst du auch nicht gerade interessiert daran, wie es mir geht oder was ich so getrieben habe.“ „Guter Einwand“, musste sie gestehen. „Hat dich das etwa gekränkt?“ „Nein.“ Das hatte es wirklich nicht, vielmehr war es störend gewesen, sich von ihr beschimpfen zu lassen und deswegen von seiner Arbeit abgebracht worden zu sein. „Ich wollte damit nur verdeutlichen, dass solche persönlichen Einzelheiten keine Rolle spielen.“ „Verstehe, so fixiert wie eh und je.“ Was hatte sie auch anderes erwartet? Hier stand eine Menge auf dem Spiel und wenn Vane schon in all das verwickelt worden war, wollte er auch verhindern, dass noch mehr Chaos ausbrach. Sein fordernder Blick half dabei, auch Bernadette an den Ernst der Lage zu erinnern, denn ihr Lächeln erlosch. Schwerfällig lehnte sie sich mit einem Seufzen im Schaukelstuhl zurück. „Ich wollte die Atemhypnose bei Luan brechen, weil ich sie nicht mehr als notwendig betrachte und sie eher eine Gefahr darstellt, meiner Meinung nach“, begann sie zu erklären und schloss die Augen dabei. „Wie ich dir am Telefon bereits sagte, war sie sowieso schon zerbrochen und Luans Geißel in Erscheinung getreten.“ „Eben deshalb verstehe ich dein Handeln nicht“, sagte er darauf ratlos. „Wir hatten telefonisch vereinbart, dass ich mich darum kümmere, aber ich bekam nicht mal einen Tag Zeit dafür?“ Stattdessen hatte er später am Tag einen Anruf von Luan bekommen, der ihn wegen Naola um Hilfe bat, weil sie sich im Kampf gegen einen Alptraum verletzt hatte, und da war es schon zu spät gewesen. Kurz nach dem Ende dieses Ereignisses hatte das Wachstum der Ablagerung wieder eingesetzt und seine darauf folgende Untersuchung ergeben, dass jemand zuvor versucht hatte die Atemhypnose bei ihm zu brechen. Besorgt rieb er sich die Stirn. „Das Lied zur Aufhebung der Atemhypnose habe ich dir nicht beigebracht, damit du es ohne meine Erlaubnis anwendest. Ich habe dir vertraut.“ „Gutes Stichwort, ich habe dir nämlich auch vertraut“, konterte sie und warf ihm einen strengen Blick zu. „Du hast mir versichert, dass du Luan im Hauptquartier festhalten würdest, aber daran hast du dich auch nicht gehalten. Als behandelnder Arzt hätte das leicht für dich sein müssen und du hast mich nicht mal darüber informiert, dass unser Sorgenkind wieder in der Jagd tätig ist.“ In der Tat wäre es ein Kinderspiel für Vane, Luan in Athamos festzuhalten, wenn er wollen würde, aber irgendwann hatten mehrere Dinge dagegen gesprochen. Hinzu kam, dass Atanas, Hüter der Schatzkammer und Anführer der Traumbrecher, ihm schon länger mit der Frage im Nacken gesessen hatte, warum Luan so lange im Labor festgehalten worden war. Deswegen dachte der Junge auch, er hätte seine wieder zurückgewonnene Freiheit seinen Arbeitgebern zu verdanken, dabei hatte Vane ihn insgeheim freiwillig ziehen lassen. Damals hatten sie den Plan mit der Atemhypnose entwickelt, weil Luan sich emotional nicht mehr zu stark entfalten durfte. Intensive Gefühlsausbrüche sorgten nur dafür, dass sich die schwarze Kruste, in der seine Geißel eingesperrt und wieder an ihn gebunden worden war, weiter ausbreitete. Sie würde Luan sonst komplett überdecken und in sich verschlingen, wodurch die Geißel doch noch die Überhand gewinnen könnte. Auf keinen Fall durften sie das zulassen. Gefallen hatte es Vane bestimmt nicht, Luans Gefühle wegzusperren und aus ihm einen völlig anderen Menschen zu machen. Vorher war er naiv, verträumt und leicht zu begeistern gewesen, jetzt war er nur noch jemand, der keinen mehr an sich herankommen ließ und oft schlechte Laune aufwies, die aber auf seine Müdigkeit geschoben werden konnte. Aus ihm war jemand geworden, der kaum noch Interesse an etwas zeigte, was ein typischer Nebeneffekt war. Niemand würde Vane gegenwärtig glauben, mal einen guten Kontakt zu Luan besessen zu haben. Vor dieser Mission, zu der Luan mit Ferris geschickt worden war, hatte es keinerlei Gründe gegeben, sich Sorgen machen zu müssen. Die Atemhypnose tat ihr Werk jahrelang einwandfrei, nun machte sie innerhalb weniger Tage so viel Ärger. Irgendetwas musste unterwegs passiert sein, von dem sie noch nichts wussten. Aber ... „Hätte ich Luan weiter bei mir festgehalten, wäre unser Plan noch früher gescheitert“, begründete Vane sein Verhalten. „Trotz Atemhypnose zeigte er einen viel zu starken Willen, gegen Alpträume kämpfen zu wollen und hätte ich ihm das nicht zurückgegeben, wäre er durchgedreht. Diese Technik mag Gefühle eindämmen, macht aber noch lange keine willenlose Puppe aus dem Betroffenen.“ Seltsamerweise wirkte Bernadette mit dieser Erklärung zufrieden. „Ja, das habe ich auch gemerkt.“ Plötzlich bedrückte sie etwas schwer und Vane konnte es nur daran erkennen, wie der Trugmahr auf einmal noch enger um sie herum schwebte, auch sein Lied wurde etwas lauter. Sie hob den Kopf an und lächelte dankbar in die Luft, demnach musste sie spüren können, dass der Alptraum sie aufheitern wollte. „Die Geißel von Luan hat bei unserem Gespräch etwas zu mir gesagt, womit sie recht hat“, fuhr sie fort und legte sich eine Hand an die Brust. „Manche Gefühle lassen sich nicht so einfach unterdrücken oder gar ausschalten, das waren seine Worte. Ich habe gespürt, wie verletzt Luan von meinem Verrat ist und davon hat er eine Narbe zurückbehalten, die sich nicht verdecken lässt. Genau wie sich sein Wille, Alpträume zu bekämpfen, nicht ausschalten lässt.“ Ihm gefiel nicht so ganz, worauf sie hinaus wollte, weshalb er vorwurfsvoll blieb. „Also wolltest du lieber riskieren, dass die Geißel wieder ungehindert weiterwachsen kann?“ „Ich befand mich in einer heiklen Lage“, entschuldigte Bernadette sich. „Das Treffen mit mir hat Luan sehr aufgewühlt und er wollte mich festnehmen. Er hat ernst gemacht, Vane. Seine Wut auf mich wäre übergeschwappt, egal was ich gemacht hätte.“ Angespannt atmete Vane tief durch und senkte verstehend den Blick. Ihrer Erzählung nach hatte sie eine Entscheidung treffen müssen und in dem Fall die Option gewählt, Luan von der Atemhypnose zu befreien. So oder so hätte es einen Gefühlsausbruch gegeben, aber Vane hielt es für den falschen Weg, ihm all seine Emotionen und die damit verbundenen Erinnerungen zurückzugeben. Gefühle waren immer eng mit Erinnerungen verbunden, besonders für Traumbrecher. Schall-Alpträume machten sich das für ihre psychischen Male zu Nutze, was Naola und Luan kürzlich wieder am eigenen Leibe erfahren mussten. Je länger eine Atemhypnose andauerte, desto mehr Nebenwirkungen brachte sie mit sich. Das mangelnde Interesse, wegen dem Luan in der Regel nie nachfragte, was zum Beispiel Untersuchungen ergeben hatten, war eine davon. Hinzu kam, dass nach und nach einige Erinnerungen verblassen konnten, da man nicht mehr dazu in der Lage war, die dafür nötige Emotion zu empfinden. An seine Geißel sollte Luan sich besser nicht erinnern und auch nicht den Kampf, den er sich damals schon mit ihr geliefert hatte, kurz bevor seine letzte Sekunde eingefroren war. Oder daran, was sie ihm offenbart hatte. Mit dieser Wahrheit würde man Luan wirklich keinen Gefallen tun. „Ich weiß genau, worüber du gerade nachdenkst“, warf Bernadette ein und klang dabei seltsam gebrochen. „Findest du aber nicht auch, dass unser Plan mit der Atemhypnose vielleicht falsch war?“ „Überhaupt nicht“, verneinte Vane sofort, hielt den Blick aber gesenkt. „Hieß es nicht, das soll nur eine Notlösung bleiben, als wir uns damals dazu entschlossen hatten?“ Sie gab einen reumütigen Laut von sich. „Es war nie geplant gewesen, Luan dem so lange auszusetzen. Willst du ihn jetzt etwa so lassen, wie er ist?“ Gute Frage. Eine andere Lösung hatten sie bisher noch nicht gefunden und es sah nicht so aus, als würde sich das ändern. Vielleicht musste Luan also so bleiben, wie er geworden war. Beeinflusst von der Atemhypnose, die sein Wesen so durcheinander gebracht hatte. Was sollten sie sonst tun? Ihr Handlungsraum, in dem sie sich bewegen konnten, war geradezu lächerlich beschränkt, so konnten sie auch keine Fortschritte erzielen. „Bitte, breche die Atemhypnose“, fuhr sie mit fester Stimme fort. Alles in Vane sträubte sich dagegen, das konnte er nicht tun. Mit Mühe hatte er sie halbwegs wieder in einen Zustand versetzt, der das endgültige Brechen verhinderte. Nur, weil sie schon instabil genug war, wollte er sie nicht von Luan nehmen, solange sie ihn noch ein bisschen zu schützen wusste. Wäre Bernadette dabei gewesen, als Luan in seinen Armen lag und ihn anflehte, ihm zu helfen, würde sie anders denken. Vane hatte die Angst in seinen Augen gesehen und schuld daran war der Wachstum der Ablagerung gewesen. Davor musste er Luan bewahren, mit allen Mitteln. Abgeneigt schüttelte Vane den Kopf. „Das werde ich nicht tun. Du weißt, dass das viel zu gefährlich ist.“ „Aber-“ „Nein“, unterbrach er sie. „Es mag nicht die ideale Lösung sein, aber sie ist besser für Luan. Ich weiß das.“ Vane rechnete fest damit, dass Bernadette ihm Widerstand leisten würde, was diese Entscheidung anging. Zu seiner Überraschung verfiel sie aber in Schweigen, dabei hätte sie sicher viele Gründe parat, mit denen sie gegen seine Meinung argumentieren könnte. Sonst gab sie nicht so leicht nach, ob das etwas mit ihrer Erschöpfung zu tun hatte? „Also mich schmerzt es, zu sehen, wie sehr Luan mich hasst“, brach Bernadette das Schweigen. „Stört dich das überhaupt nicht?“ „Wie ich schon sagte, spielen persönliche Einzelheiten keine Rolle.“ In Wahrheit hatte er sich daran gewöhnt, von Luan mit Groll überschüttet zu werden und es würde ihn auch nicht stören, wenn er dafür wüsste, dass der Junge nicht in Gefahr war. Im Moment konnte er sich aber vor lauter Sorgen kaum konzentrieren, also war er alles andere als glücklich mit dieser Situation. Auf seine letzten Worte wollte Bernadette wohl nicht eingehen, sie stellte ihm nämlich auf einmal eine andere Frage. „Wieso hast du eigentlich nichts unternommen, als du gemerkt hast, dass Luans Geißel wieder aktiv geworden war?“ „Ich wollte“, entgegnete er und runzelte die Stirn. „Ich hätte ihn am liebsten sofort von der Mission abgezogen, aber er hat mir wieder mal gezeigt, dass er sich nicht von seinem Willen, Alpträume zu jagen, abbringen lassen würde. Dafür habe ich aber Proben von der Ablagerung genommen, nur bin ich mit den Untersuchungen noch nicht weit gekommen.“ „Und das Beruhigungsmittel?“, hakte sie weiter nach. „Luans Geißel erwähnte etwas davon.“ Durch das Telefonat mit Bernadette wusste Vane einige Details von ihrer Begegnung mit der Geißel und dass sie sogar davon gesprochen hatte, überraschte ihn nicht. „Hätte nicht geholfen, dafür war die Geißel schon wieder zu aktiv.“ Worum es sich bei diesem Beruhigungsmittel handelte, behielt er für sich. Gegenwärtig würde es nichts mehr ausrichten können, also stand es auch nicht zur Auswahl und musste somit nicht zwingend gründlicher besprochen werden. Viel wichtiger blieben andere Probleme, über die sie sich auch unterhalten sollten und wenn Bernadette sich schon von sich aus von dem Thema mit der Atemhypnose entfernte, schloss er sich dem nur zu gerne an. „Wir haben es übrigens nicht nur mit einer Geißel zu tun“, brachte Vane ein neues Thema zur Sprache und seine Sorge verstärkte sich augenblicklich, was ihm äußerlich nicht anzusehen war. „Ich bin mir sicher, dass wir es hier auch mit Ferris’ Geißel zu tun haben, die schon erschreckend aktiv unterwegs sein muss.“ Die zwei rötlichen Samenkörner waren ein eindeutiger Beweis dafür und er war froh, sie Luan abgenommen zu haben. Er wollte nicht riskieren, dass er sie bei sich trug, sollten sie nochmal zu blühen anfangen. Jedenfalls bedeutete das, jemandem wurde ein Geißel-Ei eingepflanzt, von dem diese Samen produziert wurden, die man eigentlich Geißelsaat nannte. Also galt es, die Person mit dem Geißel-Ei zu finden, damit diese Gefahrenquelle vorerst beseitigt war. Nur kam Vane nicht dazu, das auch anzusprechen, da Bernadette zuvor etwas einwarf: „Prima, dann haben wir jetzt mit drei Geißeln Probleme. So viel dazu, sie wären nur eine Legende.“ Drei Geißeln? Leicht irritiert hob er eine Augenbraue und fragte sich, wie sie auf diese Zahl kam. Ging sie etwa nicht nur von feindlichen Geißeln aus? Vane wusste zwar, dass er seiner wahren Herkunft nicht entfliehen konnte, nur wunderte er sich doch darüber, ebenfalls als ein Problem bezeichnet zu werden. Hatte er immer noch nicht ausreichend bewiesen, auf der Seite der Menschen zu stehen? Oder war sie doch verstimmt, weil er ihrer Bitte nicht nachkommen wollte, Luan von der Atemhypnose zu befreien? Offenbar gelang es Bernadette irgendwie, seine Verwunderung zu bemerken und dafür genügte ihr nur ein kurzer Blick in seine Augen. „Oh, dich habe ich nicht gemeint. Inzwischen ... mag ich dich~.“ Darüber sollte Vane sich vermutlich freuen, sein Gesichtsausdruck blieb aber von einem distanzierten Ernst befallen, den er so gut wie nie ablegen konnte. Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit war sie recht misstrauisch ihm gegenüber gewesen und als sie erfahren hatte, dass es sich bei ihm selbst um eine Geißel handelte, war ihre Feindseligkeit über einen langen Zeitraum hinweg groß gewesen. „Du hast dich verändert“, meinte sie bewundernd und ihr Blick bekam diese mütterliche Note, für die sie so beliebt in Athamos gewesen war, vor ihrem Verrat. „Ich schäme mich ehrlich gesagt, dass ich nicht früher erkannt habe, wie viel mehr in euch steckt. Ihr seid mehr, als nur eine Ansammlung von negativen Gefühlen. Mehr, als nur ein Traum.“ Jetzt bezeichnete sie ihn sogar als Traum? Wovon sprach sie nur? Schweigend beobachtete er, wie sie eine Hand hob, um blind in der Luft eine leuchtende Kugel von dem Trugmahr anzutippen, der ihr Gesellschaft leistete. „Wie kommst du dann auf drei Geißeln?“, wollte er wissen, ohne auf ihre vorherigen Worte einzugehen, zu denen er auch gar nichts zu sagen wüsste. „Nicht so wichtig“, wehrte sie ab. „Nicht jetzt. Konzentrieren wir uns erst mal auf die Geißeln von Luan und Ferris. Ich bin übrigens davon überzeugt, dass sie zusammenarbeiten.“ Ihm gefiel es nicht, dass Bernadette seine Frage abwehrte, aber sie erweckte mit ihrer letzten Aussage gekonnt sein Interesse, so dass er die Frage nach der dritten Geißel vorerst hinten anstellte. „Wie kommst du darauf?“ „Das haben wir uns zu Nutze gemacht“, lautete ihre Antwort. „Luans Geißel sagte das zu mir, nachdem er meinte, es wäre doch klar, dass Luans Wut auf mich eine heftige Reaktion seiner Gefühle verursachen würde. Er hat von wir gesprochen.“ Und jetzt ging sie davon aus, dass er damit Ferris’ Geißel gemeint hatte? Weit hergeholt war der Gedanke nicht, vielleicht hatten die beiden irgendwie Kontakt zueinander aufgenommen und falls das zutraf, mussten sie umso schneller diese Legende loswerden, die in Ferris herangewachsen war. Auch ohne sie hatten sie schon genug Ärger mit Luans Geißel am Hals. Für weitere Schritte war es dringend notwendig, Bernadette etwas mehr über Geißeln einzuweihen, wofür er sich auch gleich nach vorne lehnte und zu einer längeren Aufklärung ansetzte. *** Weit sollte Vane aber nicht mit seinen Erklärungen kommen, denn der Feind befand sich längst mitten unter ihnen und niemand merkte etwas davon. Amüsant, wie leicht Menschen reinzulegen waren. Die Geißel von Ferris musste sich schon zurückhalten, nicht spöttisch zu lachen, während sie Luan die Treppen nach oben in den ersten Stock folgte. Sein Rücken wollte ihn förmlich dazu einladen, dieses ahnungslose Opfer von hinten zu überraschen. Ferris war wirklich zu bemitleiden, dass nicht mal sein angeblich bester Freund erkannte, wen er in Wahrheit vor sich hatte. Wie leicht es wäre, Luan jetzt sofort an Ort und Stelle aus dem Weg zu räumen, aber er musste sich beherrschen. Sie hatten ganz andere Pläne mit ihm und wenn er erst mal endlich dazu kam, ihm die Spielregeln zu erklären, konnte der Spaß richtig beginnen. Genieß deine großzügige Schonfrist also, solange du noch kannst, Luan. Oben angekommen zeigte er, über was für einen schrecklich simplen Charakter Ferris verfügte und konnte ihn mühelos nachahmen. Er tat so, als wollte er Luans Date mit Mara nicht stören und sagte ihm, dass er ruhig alleine in ihr Zimmer gehen sollte. Genervt von der Behauptung, es würden romantische Gefühle hinter dem bevorstehenden Gespräch stecken, stimmte Luan ohne Widerworte zu. Wahrscheinlich dachte er sich selbst, dass es besser wäre, alleine mit Mara zu sprechen und bat ihn darum, solange hier zu warten. Zur Sicherheit, weil er Vane nicht traute, der sich gerade mit Bernadette unterhielt. Mit einer Verräterin, wie Luan noch dazu betonte. Nachdem er Luan versichert hatte, sich um die beiden zu kümmern, sollte es nötig sein, verschwand dieser in Maras Zimmer. Schon fast lächerlich, wie ihm hier alle Fäden in die Hände fielen, ohne dass er sich ernsthaft darum bemühen musste. War es da nicht ungeheuer großzügig von ihm, ihnen eine faire Chance zu lassen? Diese Chance mochte sich am Ende zwar als böse Überraschung entpuppen, aber insgesamt betrachtet war es nett von ihm, wie behutsam er mit seinen Spielfiguren vorging. Im Flur wurde er gänzlich von Schatten umarmt, was er nur begrüßen konnte. Locker schritt er ohne jeden Laut zu der Tür hinüber, hinter der Bernadettes Zimmer lag und lehnte sich dort mit dem Rücken dagegen. Nur leise drangen die Stimmen von zwei Personen nach außen, dank der Dunkelheit waren sie für ihn aber ganz deutlich zu hören, denn sie war ein Teil von ihm und ruhte überall. Alles, was in diesem Haus geschah, bekam er genau mit. So konnte er gerade noch hören, wie Bernadette ansprach, dass sie eine Zusammenarbeit zwischen den Geißeln vermutete, was ihn schmunzeln ließ. „Dieses wir existiert auch~.“ Lange wartete er nicht ab, sondern drang rückwärts mit seinem Körper durch die Tür hindurch, als wäre er nur ein körperloser Geist. Höchste Zeit, auch die letzten Störenfriede aus dem Weg zu räumen, bevor er sich in Ruhe mit Luan unterhalten konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)