The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 13: Ich hatte keine Ahnung (Teil 3) ------------------------------------------- Plötzlich waren sie weg. Die negativen Emotionen ließen nach, mit nur einem einzigen Wimpernschlag, durch den sich alles verändert hatte. Luan lag mit dem Rücken auf einem festen, harten Untergrund und es existierte keine Spur von Schwerelosigkeit mehr. Schweigend starrte er an die Decke einer Räumlichkeit, statt auf das Netzwerk aus Äderchen in der Schwärze. Verwirrung ersetzte nun das Leid, das sich eben noch durch sein Innerstes gefressen hatte, ausgelöst durch die psychischen Male. Sie wirkte sich ungewohnt wohltuend auf ihn aus und brachte ihn wieder zur Ruhe, kühlte sogar die Hitze effektiv ab. So schnell wie ihn Panik gepackt hatte, war sie jetzt auch wieder verschwunden. Was ist passiert? Langsam richtete Luan sich auf, blieb vorerst aber noch sitzen und machte sich mit den Augen ein Bild von seiner neuen Umgebung. Offenbar befand er sich im Erdgeschoss eines Hauses, das von der Einrichtung her sehr altmodisch wirkte. Auf eine seltsame Art wurde deswegen auf Anhieb ein heimisches Gefühl in ihm geweckt, weil er sich an das Waisenhaus aus seiner Kindheit zurückerinnerte, aber dadurch entkamen zeitgleich auch reichlich unangenehme Dinge aus ihrem Verlies der Vergessenheit. Dinge, an die er eigentlich nie wieder zurückdenken wollte und er konnte sie nur mit viel Mühe noch von sich fernhalten. Hier waren keinerlei Farben präsent, sondern es regierte einzig ein trostloses Grau, unter dessen Führung automatisch eine bedrückte Stimmung aufkam. Kein Wunder, dass er sich so sehr ans Waisenhaus erinnert fühlte, hierbei handelte es sich aber definitiv um ein anderes Gebäude. Eine vage Vermutung hatte Luan auch bereits, nur wollte er sich zunächst weiter umschauen und nahm seine Umgebung noch etwas genauer in Augenschein. Direkt vor ihm führte eine Treppe nach oben in ein anderes Stockwerk, hinter ihm gab es eine Tür, auf der linken Seite blickte er nur gegen eine Wand und rechts präsentierte sich ihm ein Bereich, den er spontan als Wohnzimmer einschätzte, in dem wohl auch gegessen wurde. Dort stand nämlich ein Esstisch, an dem für vier Personen Platz war, aber in diesem Moment war er vollkommen leer. Trotzdem konnte er nicht mehr den Blick von diesem Tisch abwenden und blieb mit seinen Augen förmlich daran hängen, dort gab es jedoch nichts Außergewöhnliches zu sehen. Oder? Sehen konnte er wirklich nichts, dafür glaubte er leise eine Stimme zu hören, kaum dass er den Esstisch mit den Augen erfasst hatte. Klang nach einem Kind. Genau konnte er es nicht einschätzen, denn er musste sich ziemlich konzentrieren, um sie überhaupt wahrnehmen zu können. Instinktiv stand Luan auf und wollte den Abstand zu dem Tisch verringern, indem er ganz normal darauf zuging, nur schien er kein bisschen näher heranzukommen. Er bewegte sich, ohne dass er vorwärts kam, als würde er nur auf einer Stelle laufen. Also doch, dachte er und blieb stehen. Ich weiß, was das hier ist. Über ihm war auf einmal ein Poltern im ersten Stock zu hören, gefolgt von einem Schluchzen und der wütenden Stimme eines Mannes, die Luan schon zuvor in der Schall-Welt gehört hatte und mutmaßte, dass es Cowen war: „Mir reicht es jetzt endgültig damit!“, brüllte er, sein lautes Organ donnerte durch das Haus und ließ die Wände erzittern. „Willst du, dass die anderen über uns reden?! Benimm dich endlich wie ein normales Kind! Höre ich noch einmal, wie du mit ihm redest, bekommst du große Probleme mit mir! Du wirst nicht mehr mit diesem Theeder spielen!“ „Aber er ist immer bei mir“, schluchzte ein Kind daraufhin verängstigt. Ob es wieder Ferris war? „Er wird nicht so einfach weggehen.“ „Dann sieh zu, wie du ihn loswirst! Haben wir uns verstanden?!“ Schwere Schritte folgten und brachten die Treppenstufen zum Knarzen, jemand kam scheinbar nach unten, doch auch jetzt konnte Luan niemanden sehen. Nur hören. Irgendjemand schleppte sich gerade mit viel Wut die Treppen von oben nach unten, ging weiter zur Tür hinter ihm und verließ das Haus, was Luan aus dem Lärm in seinem Rücken schloss, der durch einen Knall verursacht wurde. Wenig später kam noch jemand anderes nach unten, diesmal waren die Schritte aber kaum zu hören, entweder weil die Person sehr leicht war oder absichtlich schlich, um den Stufen keinen weiteren Laut zu entlocken. Anschließend löste sich die Treppe auf, zerfiel zu grauer Asche und trennte sich von einer strahlend weißen Leinwand ab. Ein flüchtiger Blick über die Schulter verriet ihm, dass das gleiche auch mit der Tür geschah, durch die Cowen das Haus verlassen hatte. Auch dort brach dieser Teil des Bildes von dem Haus auseinander, wurde zu Asche und regnete ins bodenlose Nichts herab, das sich unter seinen Füßen ausweitete. Nur das Wohnzimmer blieb vorerst noch bestehen. Ja, es ist wirklich eine. Eine Erinnerung. Die Stimme, mit der er von dem Schall-Alptraum zuletzt angegriffen worden war, musste eine derart persönliche und intime Wunde in Ferris aufgerissen haben, dass es Luan geradewegs in eine Erinnerung von ihm gezogen hatte, fernab von dem aktuellen Traum. Gefühle waren eine besondere Form von Erinnerungen, daher war es nicht verwunderlich, wenn man bei einem Kampf gegen Schall- oder Atem-Alpträume ungewollt in solch einem Zweig aus der Vergangenheit landete. Je nach Fähigkeit, mit der man in eine Erinnerung geschleudert wurde, konnte man von der dann auch nur bestimmte Teile erleben, darum hörte Luan bloß Stimmen. Es war erstaunlich, dass er nebenbei noch ein Bild von dem Ort sehen konnte, in dem sich die Erinnerung abspielte. Jedenfalls erklärte es auch, warum er nicht vorwärts kam, wenn er lief. Der Schall-Alptraum konnte das Bild nicht realistisch genug aufbauen, nur als starren Hintergrund zeigen und selbst das war ungewöhnlich, da er eigentlich nur die Stimmen und Geräusche übertragen können müsste. An der Stelle hätte Luan sich beinahe wieder in die Frage verloren, mit was für einem Alptraum er es wohl dann genau zu tun hatte, aber er konzentrierte sich auf die Erinnerung, wenn er schon mal hier war. Er drehte sich Richtung Esstisch und lauschte. Das Schluchzen war nun klar und deutlich zu hören. Endlich wurde die Stimme am Tisch laut genug, so dass er sie problemlos hören konnte, was wahrscheinlich daran lag, dass der Teil der Erinnerung in der Reihenfolge als nächstes dran war. Zu der einen Kinderstimme, bei der es sich um Ferris handeln musste, kam nun eine zweite hinzu. Im Vergleich zu Ferris klang sie wesentlich älter, war aber jugendlicher Natur und gehörte zu einem Jungen, den er keinem bekannten Gesicht zuordnen konnte. „Hey, Kleiner“, sagte der Junge gut gelaunt, aber er schien besorgt zu sein. „Du lässt dich doch nicht etwa von ihm einschüchtern?“ „Doch“, erwiderte Ferris und schluchzte immer noch. „Ich darf Cowen nicht enttäuschen.“ Zwischen den zwei Stimmen mischte sich noch ein anderes Geräusch hinzu, das Luan sofort erkannte: Ferris zeichnete etwas. Wegen Vane hörte er es inzwischen schnell heraus, sobald ein Kugelschreiber oder andere Stifte über Papier geführt wurden. Wenigstens war es bei Ferris nicht so aufdringlich und störend wie bei Vane, vielmehr unschuldig. Was für ein Bild er wohl zeichnete? Als Reaktion folgte von dem Jungen ein empörter Laut. „Also willst du mich jetzt echt loswerden?“ „Was soll ich denn sonst machen? Du hast doch gesehen, wie wütend er wieder war.“ „Aber wir haben doch immer so viel Spaß zusammen.“ „Ich weiß.“ „Na also. Willst du dir das so leicht wegnehmen lassen?“ „... Ich weiß nicht.“ Aus dem, was Luan bisher zu hören bekommen hatte, schlussfolgerte er, dass es sich bei dem Jungen um diesen Theeder handeln musste, von dem Cowen gesprochen hatte. Wieder ein Name, den er heute zum ersten Mal hörte. Noch ein Fremder. Komischerweise kränkte ihn die Erkenntnis, wie wenig er eigentlich über Ferris‘ Vergangenheit wusste, sehr. Nein, es schmerzte ihn sogar, dabei hätte er ihn oft genug danach fragen können, aber bisher war dafür nie ein guter Grund aufgetaucht. Davon abgesehen bohrte Luan für gewöhnlich nicht gerne in der Vergangenheit von anderen Leuten herum, im Gegenzug erwartete er das auch umgekehrt von seinem Umfeld. Geduldig wartete er die weiteren Ereignisse ab, aber es tat sich nichts mehr. Sollte das etwa schon alles gewesen sein? Wenn ja, dann müsste sich auch das restliche Bild auflösen und eine weiße Leere zurücklassen, in der nur ein Herzstück dieser Erinnerung zurückbleiben dürfte. Genau wie bei einer Schöpfer-Welt würde er darauf eine Energiekugel abfeuern und könnte dieses Szenario hinter sich lassen. Wieso geschah nichts mehr? Störte etwas die Ereignisabfolge und ließ sie einfrieren? So ein Problem konnte Luan nun wirklich nicht gebrauchen. Ich muss hier langsam raus, da draußen wartet noch ein Feind auf mich. Stimmt, da er in eine Erinnerung abseits des aktiven Traumes gestoßen worden war, musste sein Geist von seinem Körper getrennt worden sein und gerade wehrlos dem Schall-Alptraum gegenüberstehen, dessen Welt er zerstört hatte. Getrennt war nicht das richtige Wort, vielmehr war er aus einer real gewordenen Traumwelt in einen anderen Traum geraten. Nachdenklich glitt sein Blick über das Wohnzimmer, wo er nach irgendwelchen Hinweisen suchte und ihm sprang in der Tat etwas ins Auge: Die Ränder, an denen das Foto des Wohnzimmers bereits ins Weiße überging, sahen so aus, als hätte jemand sein künstlerisches Werk auf einer Leinwand mitten beim Zeichnen abgebrochen. „Genau wie in dem Traum, den ich kürzlich hatte“, flüsterte Luan vor sich hin. Den Gedanken konnte er gar nicht erst weiterspinnen, da ihn jemand sofort davon ablenkte und zwar war es die Stimme von Theeder. Diesmal klang sie jedoch um einiges lebhafter und hörte sich nicht so an, als würde sie von einer alten Kassette abgespielt werden. „Jo, Kollege!“ Sogleich schnellte Luans Blick zurück zu dem Esstisch und er verstand nun gar nichts mehr, als er dort jemanden sitzen sah: Einen Jugendlichen mit langen, blonden Haaren, die er zu einem Zopf gebändigt hatte. Ein braunes, leicht rötliches Augenpaar beobachtete amüsiert die Ratlosigkeit, mit der Luan bei diesem Anblick dastand. Zu seiner Kleidung zählten ein braunes Top, eine schwarze, enge Hose sowie abgetragene Schuhe und zwei Armstulpen mit roten Streifen, die er sich bis über die Ellenbogen gezogen hatte. Etwas an seiner Ausstrahlung ähnelte verdächtig der von Ferris, das Auftauchen dieses Fremden machte Luan aber misstrauisch. „Bist du Theeder?“, fragte er nach, da er es nur von der Stimme her vermuten konnte. „Höchstpersönlich“, bestätigte der Junge und grinste verspielt. „Schön, dich mal kennenzulernen, neuer, bester Freund von Ferris.“ Was hatte er hier zu suchen? Allein dass er in Farbe zu sehen war, war ein Beweis dafür, dass er kein Teil der Erinnerung sein konnte. Oder doch? Wieso konnte er dann auf dem Tisch sitzen und Luan dagegen kam nicht mal vom Fleck, weil er nichts weiter als ein starres Abbild um sich hatte? In letzter Zeit waren so viele unerwartete Zwischenfälle eingetreten, dass er sich besser gleich damit abfinden sollte. Langsam aber sicher schwirrten ihm dennoch mehr als genug ungelöste und rätselhafte Fragen im Kopf herum, wegen denen Luan sich unbewusst abweisend zeigte. Statt darüber nachzugrübeln, sprach er Theeder einfach direkt darauf an. „Wer bist du und warum bist du hier?“ „Das sind wahrlich ausgezeichnete Fragen! Ich würde sie dir gern ausführlich beantworten, aber da die Zeit knapp ist, hier eine Kurzform.“ Begeistert sprang er vom Tisch, stemmte eine Hand in die Hüfte und deutete mit dem Daumen der anderen auf sich selbst. „Ich bin ein Sakromahr, also ein Teil davon. Nur ein Fragment, das ich damals eigenständig in den Erinnerungen von Ferris versteckt habe, bevor er mich leider loswerden musste. Sozusagen als kleine Absicherung für meine Existenz.“ „Ein Sakromahr?!“ Jegliche Feindseligkeit fiel schlagartig von Luan ab. Natürlich, das erklärte einiges, was diese Erinnerung hier betraf und warum Cowen wollte, dass Ferris Theeder loswurde. Imaginäre Freunde waren selten gern gesehen und wurden häufig als irgendeine psychische Störung oder etwas dergleichen abgestempelt, dabei war ein Sakromahr durchaus real, konnte aber nur von dessen Erzeuger gesehen werden und entstand in den meisten Fällen aus Tagträumen. Von einem Sakromahr ging keine Gefahr aus, zumindest äußerst selten. Entscheidend war stets der Inhalt des Wunsches, aus dem so ein Alptraum geboren wurde, wobei Luan sie ungern so betrachtete, aber sie wurden leider als solche gezählt. Viel zu lange war es her, seit Luan zuletzt einem begegnet war, dabei wurde er einst wegen einem Sakromahr überhaupt zum Traumbrecher. Aus dem Grund wühlte ihn der Anblick von Theeder auch innerlich auf. Zu gern würde er alles über diese Traumgestalt in Erfahrung bringen, zum Beispiel wieso Ferris ihn erschaffen hatte und wie Theeder zu ihm stand. „Wie ich merke, wurde der gute Ferris von einem Alptraum befallen. Ihm bleibt wirklich nichts erspart, dauernd muss ich mich um den Kleinen sorgen“, meinte Theeder und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, mit der er zuvor auf sich gedeutet hatte. „Wir haben also im Prinzip keine Zeit für ein langes Gespräch. Du musst schnell hier raus und ihm helfen, deine Geißel nimmt da draußen vielleicht schon alles auseinander.“ „Meine Geißel?“ Überrascht neigte Theeder den Kopf zur Seite. „Oh, du weißt noch nicht viel, kann das sein?“ Wie wahr. Viele Jahre lagen hinter ihm, in denen er Erfahrungen und Wissen sammeln konnte, doch seit sie zu dieser Mission aufgebrochen waren schien es so, als wüsste er bei weitem noch nicht alles, höchstens einen Bruchteil von der ganzen Wahrheit. Selbst ein Sakromahr sprach nun von einer Geißel, was Luan nicht gefiel. Ganz und gar nicht. Sollte es in ihm selbst eine geben, hätte er es dann nicht merken müssen? Konnte er diesem Theeder glauben? Konnte er überhaupt noch an etwas von dem glauben, was er gelernt und verinnerlicht hatte? „Hey, Alter! Nicht abdriften!“, holte Theeder ihn aus seinem Schock heraus. „So wie es aussieht, hat deine Geißel die Gelegenheit ausgenutzt und dich hier eingesperrt.“ Luan verstand nichts, aber er versuchte, sich auf das Problem einzulassen. „Wie kommst du darauf?“ „Och, es gibt so ein paar Punkte, die darauf hinweisen.“ Selbstsicher zwinkerte er ihm zu. „Und ich lag bisher nie falsch bei solchen Sachen. Alpträume durchschauen andere Alpträume recht schnell, was Sinn macht, findest du nicht?“ „Ich kann dir nicht folgen“, gab Luan zu und musste schwer seufzen. „Aber ich dachte mir schon, dass hier was nicht stimmt. Die Erinnerung läuft nicht weiter.“ „Äh, also das liegt an mir, weil ich gar nicht hier sein dürfte.“ Es folgte ein Lächeln als Entschuldigung, wie es auch Ferris oft bei ihm nutzte. „Ist aber dein Glück. Mit mir hat deine Geißel sicher nicht gerechnet. Ich werde mich opfern und dich hier rausholen.“ Klang so, als würde Luan sonst so oder so nicht so leicht aus dieser Erinnerung rauskommen können, ob mit oder ohne die Anwesenheit von Theeder, die laut ihm hier alles lahmgelegt hatte. Zweifelnd schüttelte Luan den Kopf. „Und wie willst du das anstellen? Ich meine, ich begreife ehrlich gesagt gar nicht, was hier los ist.“ „Life is complicated~“, kommentierte Theeder, sang es sogar fast vor sich hin. „Tja, wenn man denn eins hat. Ich bin ja nur ein Sakromahr.“ Das stimmte nicht, auch ein Sakromahr hatte ein Leben. Niemand wusste das besser als Luan, deshalb wollte er auch gerade widersprechen, aber Theeder unterbrach ihn. „Sag, kannst du mir einen Gefallen tun?“ „Wie?“ Irritiert sah er ihn an, nickte aber. „Sicher.“ Erleichterung begann in Theeders Augen zu leuchten. „Wenn du da draußen alles erledigt hast, kannst du Ferris sagen, dass er mich wieder freilassen soll?“ „Dich freilassen?“ „Ja, er ist mich so gut losgeworden, dass er mich sogar vergessen hat“, erzählte er weiter und griff hinter sich nach etwas, das auf dem Tisch lag, um es ihm zu zeigen: Eine Kinderzeichnung von Theeder. „Ich mache ihm keinen Vorwurf, war keine leichte Entscheidung für ihn gewesen damals.“ Fragen brannten Luan auf der Zunge. So viele Fragen. Dafür war keine Zeit, das wussten sie beide, also nickte er nur noch einmal entschlossen und Theeder tat es ihm gleich. Schließlich schwand jegliche Emotion aus seiner Mimik, als er die folgenden Worte aussprach: „Gut, und jetzt erschieß mich.“ Das war also mit opfern gemeint. Klar, diese Erinnerung hing eng mit Theeder zusammen, also dürfte sie zerbrechen, wenn er ihn auslöschte. Zwar war er nur ein Fragment, das nicht hier sein dürfte, aber er blieb ein zentraler Punkt und hatte sich im Laufe der Zeit ohne Zweifel mit diesem Erinnerungszweig verbunden. Erst wollte sich Luans Körper dagegen sträuben, einen Sakromahr zu erschießen, doch er dachte an Ferris und daran, dass er für Theeder offenbar auch wichtig war und er ihn in Sicherheit wissen wollte. Je länger Luan zögerte, desto größer die Gefahr, dass es sonst zu spät sein würde. Also öffnete er den Sprungdeckel seiner Taschenuhr. Nahm seine Pistole zur Hand. Zielte. Und drückte ab. Ohne ein Wort. Ohne noch mehr Zeit zu verlieren. *** Mit einem schweren Atemzug kehrte Luan in die Wirklichkeit zurück, seine Lungen füllten sich sofort mit kühler Herbstluft. Vor seinen Augen lösten sich noch die letzten Splitter der Erinnerung auf, ehe er endlich klar sehen konnte. Jetzt musste er schnell die Situation einschätzen und vor allem seinen Gegner ausfindig machen, also huschten seine Augen gleich hastig in sämtliche Richtungen. Sein Herz fing wieder an zu rasen. Er befand sich außerhalb des Hotels, stand auf einer von den rot leuchtenden Klingen, die weit oben in der Wand feststeckte und ihm somit Halt gab. Seine Atem-Prägung war also noch aktiv und jemand musste sie benutzt haben, als er mit dem Geist abwesend gewesen war. Etwa wirklich eine Geißel, wie Theeder sagte? Die Vorstellung behagte ihm nicht, sorgte für Gänsehaut, jedenfalls an den Stellen, wo sich noch keine schwarze Ablagerung über seine Haut gezogen hatte. Einige Meter entfernt klaffte ein großes Loch in der Außenwand des Hotels, sicher lag dort das Zimmer von Ferris und Luan, wo sich zuvor noch ein Alptraum mit seiner Schall-Welt eingenistet hatte. Schäden waren also in jedem Fall schon entstanden, hoffentlich war wenigstens niemand verletzt worden. Nervös jagte sein Blick weiter durch die Gegend, suchte nach mehr Einzelheiten und er fand auch rasch die nächsten: Sämtliche Menschen in der Umgebung schliefen, einige Passanten lagen reglos auf dem Boden herum. Warum er nicht glaubte, dass sie tot waren? Ein Lied war zu hören, das er gut kannte und der Sänger stand am Eingang zum Hotel: Vane. Neben seiner Tätigkeit als Arzt war seine Schall-Prägung auch für andere Dinge nützlich, so zum Beispiel dafür, die Menschen in solchen Situationen aus dem Verkehr zu ziehen und so eine Massenpanik zu verhindern oder kein zu großes Aufsehen durch ihren Kampf zu erregen. Ruhig, eindringlich und friedlich drang es in den Geist ein, das Schlaflied, ein Klang so rein und ungetrübt, wie Luan es nur von Vane her kannte und nicht anders konnte, als es faszinierend zu finden. Den Text verstand er nicht, weil eine fremde Sprache genutzt wurde, aber die Gefühle kamen an. Zu gut sogar, Müdigkeit erfasste ihn und er begann schon bedrohlich zu schwanken, musste aufpassen nicht von der Klinge runterzufallen. Will er mich etwa auch einschlafen lassen? Sonst kann er doch kontrollieren, ob nur Menschen oder Traumbrecher betroffen sein sollen. An Vanes Seite saß Naola, die wieder bei Bewusstsein war und ihrem Vorgesetzten dabei half, sein Lied in der Umgebung zu verteilen, indem sie mit ihrer Schöpfer-Prägung einen Wind schuf, der die Töne mit sich in die Ferne trug. Auch zu ihm, was nicht gut war. Besser er machte auf sich aufmerksam, sonst könnte er bald schon einschlafen und nichts mehr unternehmen, also schrie er so laut er konnte in ihre Richtung. „Vane! Naola!“ Synchron blickten sie zu ihm hoch, sahen merkwürdig misstrauisch und feindselig aus. „Ich schlafe hier gleich ein! Lenkt die Töne woanders hin!“ Erst durchbohrte Vane ihn mit einem prüfenden Blick und ließ sich nicht davon ablenken seelenruhig weiter sein Lied zu singen. Anscheinend sah er dann etwas in Luan oder machte eine Feststellung, durch die er die Klangfarbe seiner Stimme nur minimal änderte, aber das reichte aus, um Luan als Betroffenen auszugrenzen. Augenblicklich verzog sich die Müdigkeit und er war hellwach, so wie es sein sollte. Mehr aus Reflex nickte er Vane dankend zu und suchte erneut mit den Augen die Gegend ab, immerhin hatte er den Feind noch nicht gesichtet. „Luan!“, rief Naola ihm zu, da Vane weitersingen musste. „Über dir!“ „Über mir?!“ Kampfbereit sah Luan nach oben, in einen dunklen, mit Wolken bedeckten Himmel. Kein Feind in Sicht, was nicht heißen musste, dass er nicht da war. Grundlos würde Naola ihn bestimmt nicht auf diese Richtung hinweisen, Wachsamkeit war also angesagt. An seinem Unterarm ruhte nur noch eine Klinge, auf einer weiteren stand er drauf, aber wo waren die anderen vier? Erst da bemerkte er, dass seine Gefühle noch gar nicht mit seiner Prägung in Verbindung standen, dabei war sie momentan aktiv am Arbeiten. Vorsichtig tippte er gegen die einzelne Klinge an seinem Unterarm und sie leuchtete kurz noch kräftiger auf, verkettete sich mit seinem Inneren. Jetzt konnte er es auch wieder spüren, sechs zusätzliche feine Herzschläge in seinem Handgelenk. In seinem Kopf vernetzten sich die Empfindungen sowie Eindrücke der Klingen mit seinen eigenen, wodurch er ihre Positionen mitgeteilt bekam. Nicht mit Bildern oder Stimmen, einzig durch Gefühle. Über ihm spürte er eine Welle aus Hass, ausgehend von vier verschiedenen Punkten und sie wurde stärker, näherte sich ihm. Dann brach er aus der Wolkendecke hervor, wie ein Blitz: Der Alptraum, dicht hinter ihm vier rot leuchtende Klingen, von denen er verfolgt wurde. Er sah genauso aus wie dieser Reinmahr, der sich als eine unbekannte Gattung herausgestellt hatte. Sein gesamter Körper bestand aus schneeweißem Traumsand, der verhärtet war. Wieder besaß er eine menschliche Gestalt, war geschlechtslos und hatte kein Gesicht, in dem sich Emotionen erkennen ließen. Der letzte Alptraum von dieser Sorte war stumm, weil er ein Schöpfer gewesen war, aber dieser hier redete ununterbrochen. Reden war weit hergeholt. Aus ihm kamen unverständliche, schrille Laute heraus, zwischendurch ließ sich jedoch ein bestimmtes Wort heraushören, das er mit viel Leidenschaft zischte: „Geißeeeeeel~! Geißeeeeeel~! Geißeeeeeel~!“ „Na warte“, zischte Luan zurück. „Mit dir mache ich kurzen Prozess.“ Letztes Mal hatte er fast seine ganze Energie dafür verbraucht, um einen Schuss abfeuern zu können, mit dem er den anderen Alptraum dieser Art vernichten konnte. Diesmal würde es anders ablaufen, noch einmal wollte Luan hinterher nicht in einem Krankenwagen oder schlimmstenfalls im Hauptquartier aufwachen. Zügig löste sich die eine Klinge von seinem Unterarm und schwebte nach unten, ein kleines Stück höher neben die andere, die in der Wand steckte, so dass Luan sie wie eine Treppenstufe hinauf steigen konnte. Kaum hatte er einen Fuß von einer Klinge auf die nächste gesetzt, riss sich die aus der Wand los und eilte als nächstes knapp über die andere, bildete eine weitere Treppenstufe für Luan. In einem gleichmäßigen, zeitlich perfekt abgepassten Tempo lösten sich die Klingen auf diese Weise wieder und wieder gegenseitig ab, so halfen sie Luan dabei durch die Luft zu rennen. Weg von dem Gebäude, an dem er weitere Schäden vermeiden wollte. „Geißeeeeeel~!“, kreischte der Alptraum euphorisch und flog im Zickzack durch die Gegend, floh vor seinen vier Verfolgern. „Er ist ganz schön schnell, sie erwischen ihn nicht“, stellte Luan fest, verlor jedoch nichts von seiner Entschlossenheit. „Das lässt sich ändern.“ Als er weit genug von dem Hotel entfernt war, hoch oben in der Luft, blieb er auf einer von den zwei Klingen stehen und winkte die andere zu sich zurück, an ihren Ausgangspunkt an seinem Handgelenk, wo sie sich auch gleich positionierte. Danach streckte er beide Arme gerade nach vorne und breitete sie aus, bis er einen Halbkreis angedeutet hatte. Durch diese Geste streckte sich die Klinge unter seinen Füßen aus, bot ihm mehr Fläche, auf die er sicher stehen konnte und bildete eine große, schwebende Plattform. Jetzt musste er nur noch den Alptraum auf sich aufmerksam machen, von dem er noch nicht entdeckt worden war oder er wurde einfach von ihm ignoriert. Dafür öffnete er den Sprungdeckel seiner Taschenuhr und durch das grelle, weiße Licht, aus dessen Feuer die Pistole erschien, wurde er tatsächlich endlich vom Feind wahrgenommen. Sein Kopf verdrehte sich in Luans Richtung, auf eine unmenschliche Art und Weise, scheinbar um ihn anzuschauen, in Wahrheit reagierte er aber sicher nur auf das Geräusch, das zu hören war, als das weiß leuchtende Feuer zersplitterte. Erst konnte Luan Feindseligkeit spüren, ähnlich wie bei Vane und Naola eben, bis sie sich in Freude umwandelte und der Alptraum mit seiner Stimme förmlich vor Leidenschaft explodierte. „Luaaaaaan~!“ „Was?“ Luan war zwar verwundert, schloss derweil aber den Deckel von seiner Uhr wieder und die Pistole löste sich auf. „Woher kennst du meinen Namen?“ Statt einer anständigen Antwort stieß sein Gegner ihm einen ohrenbetäubenden Schrei entgegen, mitten im Flug, ohne dafür anzuhalten. Dieser Schrei war nicht mehr unsichtbar, wie zuvor in der Schall-Welt, sondern es war ein rot glühender Blitz, der geradewegs auf ihn zuschoss. Trotz seiner Verwunderung riss Luan reaktionsschnell den Arm hoch, an dem sich die Klinge zu einem Schild ausgeweitet hatte, hinter dem er so gerade eben Schutz fand. Hätte er nicht bereits so viele Gefühle absorbiert, könnte er die Klingen nicht einzeln und getrennt voneinander in ihrer Form verändern, so wie er es jetzt tat. Der Blitz schlug mit voller Wucht gegen das Schild und warf ihn einige Schritte nach hinten. Fast wäre er von der Plattform gefallen, denn mit solch einem starken Aufprall hatte er nicht gerechnet. Knapp vor dem Abgrund gewann er den Halt zurück und nahm einen festeren Stand ein, während das Gefühl, das in dem Schrei lebte, von seiner Klinge aufgenommen, nahezu verschlungen wurde. Sein rechter Arm zitterte vor Anstrengung, als der Blitz ihm eine stark konzentrierte Menge an Hass durch den Körper jagte, ehe dieses Gefühl mit seiner Prägung verschmolz und sich die Leuchtkraft ein wenig erhöhte. Völlig planlos nahm der Alptraum Luan mit weiteren Schreien unter Beschuss, realisierte nicht, dass er damit nichts bei ihm ausrichten konnte – andere Angriffsmethoden beherrschte er vermutlich nicht. Von mehreren Stellen im Himmel aus schlugen rote Blitze auf ihn ein, mit einem hohen Tempo brauste der Feind nämlich weiter hin und her, floh vor den vier Klingen in seinem Rücken, die ihn hartnäckig verfolgten. Jeder Einschlag ließ seine Prägung heller und heller leuchten, fütterte sie mit mehr Macht. Dadurch nahm die Geschwindigkeit der Verfolger des Alptraums massiv zu, bis die erste Klinge ihn bald schon überholte und dabei einen sauberen Schnitt auf einer Seite des Körpers hinterließ. Auch die anderen zogen an ihrem Ziel vorbei, bohrten sich mühelos durch den Traumsand hindurch. Vor Schmerz begann der Alptraum zu heulen und musste seine Angriffswelle auf Luan stoppen, verkrampfte sich, konnte nicht mal mehr weiterfliegen. Feuer brach aus den offenen Stellen hervor, genau wie beim letzten Mal. „Pech für dich, dass ich keine Angst vor Feuer habe.“ Die vier Klingen eilten zu ihm zurück, nahmen ihre üblichen Positionen neben der anderen an seinem Unterarm ein und verbündeten sich zu einer Einheit. Auch wenn noch eine fehlte, dürfte die angesammelte Menge an Gefühlen reichen, um dem Alptraum den Rest zu geben. Eigentlich war die Energie aus der Pistole nötig, aber die Gefühle wurden in seiner Atem-Prägung ebenfalls zu einer Form von Macht umgewandelt, so dass sie genauso gut funktionierte. Also gab er einen letzten, gezielten Schuss ab und diesmal war der Schmerz beim Rückstoß so enorm, dass ihm Tränen in Augen schossen. Es sah aus, als würde eine gebündelte Kugel aus Licht wie ein Komet durch die Luft schießen und hinterließ einen feurig roten Schleier auf seiner Flugbahn. Der Himmel ging in Flammen auf, als seine Prägung auf den Alptraum traf und explodierte, ihn in sich einschloss. Das Licht blendete ihn, wie bei der Explosion im Refugium. Schützend legte er einen Arm vor sein Gesicht und schloss die Augen, um hinterher nicht wieder halb blind dazustehen. Er glaubte, den Alptraum noch einmal seinen Namen rufen zu hören, ehe er schließlich für immer verstummte. Unter ihm verblasste das aggressive Rot zu einem neutralen Weiß, die Leuchtkraft nahm innerhalb von Sekunden ab und das kühle, ruhige Hellblau kehrte langsam in die Klinge zurück, aus der sämtliche Gefühle verbraucht worden waren. Auch die Dunkelheit nahm den Himmel wieder in Beschlag, als die Explosion vorbei war und nur die anderen fünf Klingen zum Vorschein kamen, die gemächlich zu ihm zurück schwebten. Der Alptraum war restlos vernichtet worden. „Geschafft“, stellte er fest und atmete durch. „Ich habe es geschafft, ohne Energie zu verbrauchen.“ In Luan wurde eine Begeisterung freigesetzt, an der er sich nicht mal für einen kurzen Moment erfreuen konnte. Nachdem all der Hass, den er absorbiert hatte, mit der Explosion und dem Alptraum verschwunden war, machten sich die psychischen Male bemerkbar, von denen er einige abbekommen hatte. Reue, Angst und Schmerz begannen in seinem Inneren wild zu toben, begleitet von einem letzten, winzigen Funken Hass, der ihm den Atem raubte. Er fing an zu keuchen und versuchte gegen den Sturm anzukämpfen, was unmöglich war, solange die Male auf seiner Haut brannten. Unbewusst suchte sein Blick den von Vane, weil er wusste, dass er sie ohne ärztliche Hilfe nicht loswerden würde, dafür fehlten ihm die nötigen Fähigkeiten. Der hatte sein Lied inzwischen wohl beendet, denn er stand nicht mehr am Eingang, nur Naola saß noch dort und sah ziemlich erschöpft aus. Wo war der Doktor hin? Luan wurde unruhig, Todesangst und Todeswunsch wechselten sich miteinander ab, waren nach wie vor ein fester Bestandteil von der Angst und dem Schmerz. Aus Unruhe wurde schnell Panik, die Male fingen an ihre Wirkung zu entfalten. Plötzlich spürte er dann, wie sich etwas auf seiner Haut bewegte. Erst erstarrte er, glaubte es sich bloß eingebildet zu haben. Hoffte sogar darauf, denn ihn überkam eine böse Vorahnung. Mit zitternden Händen strich er einen Ärmel von seinem schwarzen Mantel hoch und wollte einen Blick auf die schwarze Kruste dort werfen. Sie bewegte sich! Schlängelte sich vorwärts, eroberte noch mehr Fläche von seinem Körper, überall. Er spürte, wie sie sich überall zu regen angefangen hatte. Jetzt erreichte die Panik ihren Höhenpunkt. „Nein, nein! Das ist schon seit Jahren nicht mehr passiert! Ich dachte, sie wächst nicht mehr?!“ Auf einmal setzte die Schwerkraft wieder ein und zog seinen Körper nach unten. Angst war in ihm freigesetzt worden, nur nicht die von den psychischen Malen, es war seine eigene, die erwacht war. Unter dieser Angst konnte er seine Fähigkeiten nicht aufrecht erhalten, seine Prägung hatte sich eigenständig in die Ruhephase begeben, somit konnte er sich nicht mehr in der Luft halten. Unaufhaltsam stürzte er hinab, kam dem harten Asphalt der Straße unter ihm näher und näher. Daran, dass er jeden Moment auf dem Boden einschlagen könnte, dachte er nicht, dafür machten ihn die Bewegungen auf seinem Körper viel zu verrückt. Auch an seinem Hals kroch dieses schwarze Teufelszeug nun empor und er wagte sich kaum noch zu schlucken oder zu atmen. Zum ersten Mal wünschte er sich, dass Vane herausgefunden hätte was es war, um es ihm abzunehmen. Irgendwie hatte er es geschafft zu verdrängen, wie viel Angst es ihm machte, wenn es sich ausbreitete, so wie jetzt. Panische Angst. Wieso?! Wieso jetzt?! Es war doch jahrelang ruhig! Es ist nie was passiert! Er kniff die Augen zusammen und war kurz davor aufzuschlagen, doch dann endete sein Sturz viel weicher, als er erwartet hatte. „Alles in Ordnung?“, fragte ihn jemand. „... Vane?“ Fast traute er sich gar nicht, öffnete die Augen aber dann doch wieder und blickte direkt in das Gesicht des Doktors, lag sogar in seinen Armen. Hatte er ihn etwa aufgefangen? Ja, es musste so sein. Seltsamerweise war Luan kurzzeitig sehr erleichtert darüber, seine Panik und Angst löschten diese angenehme Empfindung aber auf der Stelle aus, eroberten sich ihr Revier zurück. Die Regungen auf seiner Haut wurden immer lebendiger, raubten Luan seinen klaren Verstand. Hilfesuchend klammerte er sich an Vanes Kittel fest. „Vane! Es wächst wieder!“, haspelte er und bemerkte nicht, dass er diese Worte ohne Pause wiederholte. Zunächst ging Vane auf die Knie und legte ihn halb auf seinen Beinen ab, ehe er etwas darauf erwiderte. „Beruhige dich, Luan. Du machst es sonst nur schlimmer.“ Luan konnte sich nicht beruhigen, selbst wenn er gewollt hätte. Ununterbrochen wiederholte er seine Worte, steigerte sich mehr und mehr in Panik und Angst hinein. Jeder hätte erkannt, dass er auf normalem Wege nicht zu beruhigen war, auch Vane wurde das bewusst und die Klangfarbe seiner Stimme veränderte sich, als er auch seine Worte noch einmal wiederholte. „Beruhige dich.“ Die Kälte in seiner tiefen Stimme war anders als sonst, kein bisschen abweisend und distanziert. Vanes Worte richteten sich nicht einfach nur an sein Gehör, sie drangen direkt in seinen Geist ein, wo sie sich an sein Herz richteten. Der klare Klang schien ihn zu reinigen, verbannte sämtliche Misstöne aus seinem Inneren und löste den Sturm auf, sorgte für Windstille. Wie glasklare Eiskristalle im Sonnenlicht, so rein und fesselnd war seine Stimme. Brachte Luan wirklich zur Ruhe. Er verstummte und schloss die Augen, konnte dennoch weiterhin spüren, wie sein Körper von der Ablagerung eingenommen wurde. Ein kleiner Rest von der Angst blieb daher erhalten, als Luan es nochmal aussprach. „Es wächst weiter.“ „Ich weiß.“ „... Helfen Sie mir“, flehte er leise und wagte nicht sich zu bewegen. „Bitte, tun Sie etwas.“ „Schon gut“, entgegnete Vane und drückte Luan an sich. Eine Geste, wie er sie bis jetzt noch nie von diesem Mann erlebt hatte. Wahrscheinlich lag es an seiner Größe, wegen der Luan anfing sich sicher zu fühlen. Oder es waren die folgenden Worte: „Ich bin hier und werde dir helfen. Alles wird gut.“ Erneut fing Vane an zu singen und Luan glaubte, dass dieses Lied diesmal allein für ihn bestimmt war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)