The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 6: Niemand wird mich davon abhalten ------------------------------------------- Es war jedes Mal das gleiche Gefühl, sobald Luan die Augen wieder öffnete: Für ihn war es so, als hätte er sie bloß kurz geschlossen. Manchmal war es sogar so schlimm, dass er glaubte ganz normal geblinzelt zu haben und deshalb oft ziemlich verwirrt war, wenn er sich plötzlich an einem vollkommen anderen Ort wiederfand. Auch diesmal erging es ihm nicht anders. Gerade eben hatte er noch in das Gesicht von Ferris geblickt und über ihm waren die farbigen Baumkronen des Waldes gewesen, eingehüllt in der nächtlichen Dunkelheit. Jetzt wurde er von einem furchtbar hellen, nahezu penetranten Licht geblendet, das direkt über seinem Kopf ruhte. Von diesem strahlenden Weiß wurde er komplett eingeschlossen und konnte nichts anderes ausmachen, seine Augen reagierten äußerst empfindlich darauf. Sie fingen schnell an zu tränen, was ihn nicht verwunderte, schließlich war er sonst nur die Dunkelheit gewohnt. Er stieß einen genervten Laut aus und wollte zum Schutz seinen Arm heben, aber das gelang ihm nicht. Ihm fehlte jegliche Kraft dazu. Natürlich, er hatte ja auch einen Großteil seiner Energie in einem Schuss verbraucht und die Erinnerung daran war so frisch, als wäre es nicht mal eine Minute her. Gewiss musste er sein Bewusstsein verloren haben. Wie viel Zeit wohl vergangen ist? Das blendende Licht ließ seine Augen mehr und mehr tränen, wodurch sich ihm die Frage aufdrängte, woher es kam und wo er überhaupt war. In ihm wollte sich eine böse Vorahnung anbahnen, doch die verbannte er sofort, noch bevor sie Gestalt annehmen konnte. Zuerst wollte er raus aus diesem Licht, wofür er sich bewegen musste. Leicht würde das nicht werden. Sein gesamter Körper war so geschwächt, dass er kaum einen Muskel rühren konnte und als er es trotzdem nochmal versuchte, verzog sich vor Anstrengung nicht nur sein Gesicht, auch sein Atem wurde gleich schwerer. Trotzdem schaffte er es irgendwie seinen Oberkörper leicht anzuheben, aber dieser Erfolg hielt nicht lange an, weil sich nach nicht mal einem Zentimeter auf einmal eine Hand auf seine Brust legte und er von dieser zurück in die liegende Position gedrückt wurde. „Versuch das nicht zu oft“, warnte ihn eine tiefe, sehr bestimmte Männerstimme. „Du weißt ganz genau, dass ich kein Problem damit hätte, dich an die Liege zu fesseln.“ Schlagartig durchfuhr Luan ein kalter Schauer und seine böse Vorahnung schien sich zu bestätigen, obwohl er sie nicht mal richtig ausgebaut hatte: Diese Stimme kam ihm bekannt vor. Leider konnte er nicht behaupten, sich darüber zu freuen, im Gegenteil. Viele verdrängte Erinnerungen drohten aus ihrem Gefängnis in seinem Inneren zu entkommen und er hatte Mühe, sich die Unruhe nicht anmerken zu lassen, von der er akut heimgesucht wurde. Lass es nicht die Person sein, für die ich ihn halte, betete Luan, in seinen Gedanken. Ihm wollte kein einziges Wort als Erwiderung über die Lippen kommen, denn er hoffte inständig darauf nur zu träumen, dabei wusste er selbst genau wie unwahrscheinlich diese Möglichkeit war. Träume erlebte er schon lange keine mehr, deswegen fand er auch keinen erholsamen Schlaf, sondern fühlte sich stets ausgelaugt und müde. Alles nur, weil seine letzte Sekunde eingefroren war. Luans Schweigen schien die Person, deren Hand noch auf seiner Brust lag, als eine Art stille Zustimmung zu werten. „Gut, du weißt also noch genau, dass ich niemals Scherze mache.“ Als er die Stimme ein zweites Mal hörte, gab es keinen Platz mehr für Zweifel. Die Art, wie ihr Echo noch im Raum tanzte und sich weigerte diesen zu verlassen, war ein Beweis, den man nicht ignorieren konnte. Es handelte sich definitiv um den Mann, bei dem Luan nur zu gerne dessen Existenz aus seinem Gedächtnis strich, zumindest so lange bis er ihm wieder ungewollt begegnete, so wie jetzt. Das brachte ihn auch auf die folgende Frage, die ihn dann doch zu brennend interessierte, als dass er sie für sich behalten konnte: „Vane“, sprach er ihn mit seinem Vornamen an. „Was haben Sie hier verloren?“ „Es heißt immer noch Doktor Belfond, auch für dich, Luan.“ „Howe“, warf er mürrisch ein. „Beantworten Sie meine Frage.“ Endlich nahm Vane die Hand von seiner Brust und es ertönte ein leises Rascheln von der Seite, woraus Luan schloss, dass der Doktor neben ihm gesessen haben musste und nun aufgestanden war. Ein lautes, metallisches Quietschen war zu hören, als Vane die Beleuchtung über ihm etwas verstellte, so dass sie ihm nicht mehr direkt ins Gesicht schien. Weiße Lichtpunkte tummelten sich vor Luans Augen, wodurch es ihm nach wie vor nicht möglich war etwas zu erkennen. Wie von selbst blinzelte er mehrmals, was nur mäßig half. „War es eigentlich nötig, den Strahler direkt auf mein Gesicht zu richten?“, murmelte Luan klagend, dem die Tränen nun schon über die Wange liefen. Auf diese Frage bekam er eine so gnadenlos ehrliche Antwort, wie sie nur von diesem Mann kommen konnte. „Nicht zwingend, aber dafür habe ich darauf verzichtet, dich zu fesseln.“ „Müssen Sie immer so übertreiben?“ „Bei dir schon, ja.“ Ein Geräusch ertönte, das Luan nur zu gut kannte, aber er dachte gar nicht erst darüber nach. Schon allein weil Vane kurz danach fortfuhr. „Letztes Mal bist du ohne meine Erlaubnis aufgestanden und wenig später zusammengebrochen, daher dürfte es verständlich sein, dass ich darüber nachgedacht habe, dich zu fesseln.“ Luan lenkte das Thema lieber wieder auf seine ursprüngliche Frage zurück. „Also, was haben Sie hier verloren?“ Ein Schatten drängte sich zwischen all die leuchtenden Punkte in seinem Sichtfeld und Luan kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Vane hatte sich über ihn gebeugt und ihm fiel dabei sein langes, dunkelbraunes Haar über die linke Schulter, beinahe bis in Luans Gesicht. Der strenge, fast schon unterkühlte Ausdruck in den ebenso dunkelbraunen Augen des Doktors durchbohrte ihn, aber Luan konterte mit einem ähnlich eisigen Blick und ließ sich nicht einschüchtern. Die anfängliche Unruhe in ihm war bereits durch den Groll ersetzt worden, den er Vane gegenüber empfand. „Verloren habe ich hier ganz bestimmt nichts. Haze hat mich angerufen“, antwortete er auf Luans Frage. „Ferris?!“ Ungläubig wollte Luan sich erneut aufrichten, wurde jedoch sofort wieder von Vane mit seiner Hand auf den Rücken gedrückt. „Ferris hat Sie angerufen?!“ „Ja, Haze hat mich angerufen. Sagte ich doch“, bestätigte Vane nochmal und in seine sonst eher eintönige Stimmlage mischte sich abermals der Klang einer Drohung. „Das war jetzt das zweite Mal. Ich weise dich nur darauf hin.“ Den Hinweis nahm er aber schon gar nicht mehr wahr. In diesem Augenblick fühlte Luan sich mehr als verraten von Ferris, der ganz genau wusste wie viel Spannung zwischen ihm und Vane herrschte. Wie oft hatte Luan ihm gesagt, dass er jeden Kontakt zu diesem Mann vermeiden wollte, selbst wenn es ihm nicht so gut ging. Ärger machte sich in ihm breit, was dem Doktor nicht entging und worauf er recht verständnislos reagierte. „Sei froh, dass er besorgt um dich war und mich angerufen hat. Du hast eine sehr hohe Menge an Energie verbraucht, mal wieder. Außerdem hatte ich so die Gelegenheit festzustellen, dass du neben dem Energieverbrauch noch ein anderes, größeres Problem hast.“ Das ließ Luan nervös werden, aber aus einem anderen Grund. „Sie haben die Situation also gleich wieder ausgenutzt.“ „So würde ich das nicht bezeichnen“, meinte Vane und schien sich nicht dazu verpflichtet zu fühlen, ihm mitzuteilen, was für ein Problem er bei ihm festgestellt hatte. Ohne ein weiteres Wort verschwand der Doktor aus seinem Sichtfeld und diesmal war ein langgezogenes Knarzen zu hören, als er sich zurück auf seinen Platz setzte. Allmählich konnte Luan wieder besser sehen, so dass er zögerlich einen Blick zur Seite wagte, um ihn genauer zu mustern. Direkt neben ihm an der Liege stand ein Bürostuhl, auf dem Vane Platz genommen hatte. Seit ihrem letzten Treffen hatte er sich kein bisschen verändert. Wieso sollte er auch? Traumbrecher veränderten sich nicht, jedenfalls äußerlich, immerhin alterten sie auch nicht mehr. Vane Belfond war Siebenunddreißig und sozusagen der oberste Arzt im Hauptquartier, wo er das Sagen auf der dortigen Krankenstation hatte – er war ja auch bisher der einzige, der diesen Posten ausfüllen konnte. Gerade bei Traumbrechern kam es zu Beginn ihrer Arbeitszeit häufig vor, dass sie sich zu viel zumuteten oder in den letzten Phasen der psychische Druck zu hoch wurde. Für solche und andere Fälle gab es die Krankenstation, die Vane nur in seltenen Fällen verließ. Geehrt fühlte Luan sich deshalb aber sicher nicht. Der Doktor setzte seine Brille auf, die bei ihm immerzu vorne an der linken Tasche von seinem Oberteil klemmte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich anschließend auf ein Klemmbrett, wo er sich auf einem Blatt etwas aufschrieb. Da war es auch schon wieder, dieses Geräusch, das Luan nicht ausstehen konnte. Das Geräusch seines Kugelschreibers, wenn er sich Notizen machte. Im Gegensatz zu anderen Leuten kam es Luan ungeheuer laut vor, sobald Vane anfing zu schreiben. Außerdem blinzelte der kein einziges Mal mehr, kaum dass er sich auf sein Klemmbrett konzentrierte, was ihn wie besessen wirken ließ. Ansonsten sah Vane genauso aus wie ein Arzt vermutlich auszusehen hatte. Natürlich trug er einen langen, weißen Kittel und darunter ein ebenso weißes Hemd mit schwarzer Krawatte. Eine auffällige Besonderheit an ihm war jedoch seine beachtliche Körpergröße, mit der er recht einschüchternd auf andere wirken konnte, sogar während er saß. Luan ließ von ihm ab und schwenkte den Blick durch die Umgebung, um herauszufinden wo er war. Er befand sich auf einer Liege in der Mitte eines erstaunlich großen, viereckigen Raumes. In gleichmäßigen Reihen standen überall mehrere solcher mobilen Liegebetten herum, umgeben von fahrbaren Wagen und Geräten, mit denen gewöhnliche Ärzte rein gar nichts anfangen könnten. An den Wänden befanden sich, neben makellos reinen Arbeitsflächen, jede Menge vollgepackte Schränke. Selbstverständlich alles in einem sterilen Weiß gehalten. Wirklich zuordnen konnte Luan den Raum nicht und er bezweifelte auch, dass er bis ins Hauptquartier zurückgebracht worden war. Vielmehr drängte sich ihm aber eine neue Frage auf, als er merkte, dass er mit Vane ganz alleine hier war. „Wo ist Ferris? Geht es ihm gut?“ „Die Frage kommt reichlich spät“, kritisierte Vane und schrieb seelenruhig weiter. „Haze geht es wesentlich besser als dir, also habe ich ihm das Steuer überlassen.“ „Das Steuer?“, wiederholte Luan irritiert und brauchte eine Weile, bis er begriff, in was für einem Raum er sich demnach befand. „Das hier ist ein Krankenwagen?“ Solch eine Reaktion hatte Vane wohl nicht erwartet, denn er hielt beim Schreiben inne und blickte über das Klemmbrett hinweg zu ihm rüber. „Wieso so überrascht? Du bist doch schon mal in einem gefahren.“ „In einem Krankenwagen von unserer Station?“ „Willst du etwa sagen, du erinnerst dich nicht?“, fragte Vane und eine seiner Augenbrauen hob sich minimal, als Luan den Kopf schüttelte. „Hm.“ Schweigend widmete er sich wieder dem Klemmbrett zu, aber nicht um weiterzuschreiben, sondern er blätterte sich gezielt durch die Akten durch. Erst dadurch wurde Luan bewusst, wie viele Papiere Vane eigentlich auf diesem Brett zur Hand hatte. Anhand der nächsten Aussage des Doktors war dann auch klar, dass es sich um Luans Akten handeln musste. „Hier haben wir es. Ah, kein Wunder, dass du dich nicht erinnern kannst. Bei deiner ersten Fahrt warst du nicht gerade zurechnungsfähig.“ Dazu sagte Luan lieber nichts, sondern ließ seinen Blick nochmal durch die Gegend schweifen. Zwar hatte er davon gehört, dass die Räume in einem Krankenwagen vom Hauptquartier übernatürlich groß waren und bei Traumbrechern war das nichts, was einen überraschen sollte, aber es erstaunte ihn, wie ruhig es war. Vor allem weil angeblich Ferris am Steuer saß. Eigentlich wollte Luan sich gar nicht mit Vane unterhalten, doch er konnte nicht anders. „Ist es normal, dass man überhaupt nichts spürt?“ „Meinst du wegen Haze?“ Sorgsam strich Vane die Blätter auf dem Klemmbrett wieder glatt und schrieb weiter. „Mir war seine Fahrweise bekannt, also habe ich ihm gesagt, wenn er nicht anständig fährt, wird er als nächstes auf meinem Untersuchungstisch im Labor landen. Für eine lange Zeit.“ Bei so einer Aussicht war es wirklich kein Wunder, dass sogar Ferris sich zusammenriss und zur Abwechslung ordentlich fuhr. Niemand wollte gern auf der Liste von Vane stehen, wenn es um seine Forschung ging. Dieser Kerl konnte ziemlich fanatisch werden, sobald es etwas gab, das neu und unerforscht war. Aus diesem Grund versuchte Luan auch jeglichen Kontakt zu ihm zu meiden, weil er wusste, dass er in ihm nur ein besonderes Forschungsobjekt sah. Schuld daran war die schwarze Kruste, die sich überall auf seiner Haut befand. Seit damals seine letzte Sekunde eingefroren war, hatte sie sich aus dem Nichts heraus gebildet und wuchs von Jahr zu Jahr, breitete sich auf seinem Körper aus. Schließlich war es so schlimm geworden, dass er keine Haut mehr zeigen konnte, ohne dass auch diese Kruste zum Vorschein kam. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, was das zu bedeuten hatte. Kaum hatte Vane davon Wind bekommen, wurde Luan einst über einen langen Zeitraum hinweg von ihm in den Laboren auf der Krankenstation festgehalten. Daran dachte er höchst ungern zurück. Glücklicherweise waren seine Arbeitgeber der Meinung gewesen, dass er besser im Dienst aufgehoben war, statt sinnlos seine Zeit bei Vane abzusitzen. Bis heute hatte der keine ausreichenden Gründe finden können, um diese Entscheidung rückgängig zu machen, weil er nicht nachweisen konnte, dass das, was sich auf Luans Haut ausbreitete, ernsthaft gefährlich war. Tatsächlich war genau das Gegenteil der Fall. Mittlerweile konnte Luan durch diese Ablagerung, wie Vane sie nannte, Alpträume aufspüren. Sobald einer in der Nähe war, fing die Kruste auf seiner Haut an zu kribbeln und diese Reaktion war bereits seit einigen Jahren sehr zuverlässig. Ausnahmslos alle Gattungen von Alpträumen hatten somit keine Chance, sich vor ihm zu verstecken, nicht mal Reinmahre. Moment, ging es ihm durch den Kopf. Richtig, ich hätte ihn lange vorher spüren müssen! Aus Reflex wollte er sich wieder aufrichten, doch Vane hatte abermals erstaunlich schnell seine Hand auf Luans Brust gelegt und drückte ihn, diesmal etwas fester, runter, ehe er ansatzweise hoch kam. In der anderen hielt er das Klemmbrett samt Kugelschreiber fest und wie zuvor schlich sich der drohende Unterton in seine monotone Stimme. „Das war das dritte Mal. Länger schaue ich mir das nicht mehr an, also bleib jetzt liegen.“ Aufgeregt wollte Luan mit einem Aber ansetzen, doch Vane schüttelte nur den Kopf und schien ihn bereits mit seinem Blick an die Liege fesseln zu wollen. „In erster Linie musst du dich erholen, alles andere kann und muss warten.“ „Okay“, brummte Luan, dem das ganz und gar nicht passte. „Und wie lange muss ich noch liegenbleiben?“ Die Hand auf seiner Brust zog sich zurück und schwenkte rüber zu einer metallischen Maschine, direkt am Kopfende seiner Liege. Dort klopfte Vane zwei Mal sacht dagegen. „Solange wie die hier arbeiten muss, das müsstest du aber langsam wissen. Sobald sie Lärm macht, ist sie fertig, dann darfst du wieder aufstehen.“ Auf den ersten Blick sah diese Maschine aus wie ein runder, klobiger Kaminofen aus Metall, aber durch die Scheibe sah man kein Feuer. Im Inneren befand sich stark konzentrierte, silbern schimmernde Energie, die als neutral galt und ähnlich wie Blut einem Traumbrecher zugeführt wurde, sollte bei ihm ein zu großer Mangel herrschen. Während der Übertragung arbeitete das Gerät absolut geräuschlos, nur am Ende fing es an einen höllischen Lärm zu machen, weil dann keine Energie mehr übrig war, die es weiterleiten konnte. Viele werteten es einfach nur als einen übertrieben lauten Signalton, Luan hingegen glaubte, dass die Maschine, so verrückt es auch klang, etwas damit ausdrücken wollte. Wieso sollte sich dieser Signalton sonst wie ein Schrei anhören? Durch mehrere, dünne Schläuche wurde die, künstlich hergestellte, Energie aus der Maschine herausgepumpt. Nun bemerkte Luan auch, dass Vane ihm den Mantel ausgezogen und den Oberkörper frei gemacht hatte, für die Schläuche, mit denen er an einigen bestimmten Punkten seines Körpers verbunden war. Widerwillig ergab er sich und ließ den Kopf auf die Liege sinken, den Blick nach oben an die Decke gerichtet. Entspannung fand er jedoch nicht, besonders weil Vane wieder unbeirrt anfing weiterzuschreiben. Das Geräusch machte ihn wahnsinnig. „Müssten Sie nicht längst alle Daten über mich zusammen haben, die man sammeln kann?“, kam es missbilligend von Luan, ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen und starrte lieber die Decke an. „Was notieren Sie sich da die ganze Zeit?“ „Das braucht dich nicht zu interessieren“, wies Vane die Frage ab und schrieb konzentriert weiter. „Und bei dir findet sich immer etwas Neues, das noch nicht in deinen Akten steht.“ „Richtig, das sind doch meine Akten? Dann darf ich ja wohl auch wissen, was dort drinsteht.“ In dem Punkt blieb Vane eisern. „Das Thema hatten wir in der Vergangenheit schon oft genug, Luan. Die Antwort bleibt nein.“ So leicht gab aber auch er nicht nach. „Hat es was mit diesem Problem zu tun, das Sie festgestellt haben und mir nicht mitteilen? Genauso wie Sie mir den Inhalt meiner eigenen Akte nicht mitteilen möchten?“ Plötzlich verstummte das nervtötende Geräusch und Luan war sich nicht sicher, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Er konnte deutlich Vanes Blick auf sich spüren und das brachte ihn dazu, nun erst recht weiterhin nach oben an die Decke zu starren. Ein angespanntes Schweigen setzte zwischen ihnen ein, bis der Doktor sich irgendwann dazu erbarmte, es zu brechen. „Möchtest du erfahren, was für ein Problem ich bei dir festgestellt habe?“, wollte Vane wissen. Seine Stimme hatte eine ungewohnt sanfte Note, als er das sagte, fast schon sorgsam. Dieses Bild wollte überhaupt nicht zu dem absolut sachlichen und unnahbaren Mann passen, daher zog Luan es ernsthaft in Erwägung, sich das nur eingebildet zu haben. Die Versuchung war groß den Blick von der Decke zu lösen und ihn wieder auf Vane zu richten, nur um sicherzugehen, dass sein Gesicht so ausdruckslos war wie eh und je, aber er traute sich nicht. „Nein“, presste Luan schließlich hervor. „Ich will einfach nur, dass Sie aufhören zu schreiben.“ Erst herrschte wieder Schweigen, doch dann ging Vane unerwartet auf seine Bitte ein. „In Ordnung.“ Jetzt war die Neugier zu groß geworden, also drehte Luan den Kopf ein Stück zur Seite, um einen kurzen Blick zu riskieren. Vorsichtig legte Vane das Klemmbrett samt Kugelschreiber auf einem von den fahrbaren Wagen ab, der in seiner Nähe stand. Also ging er Luans Wunsch tatsächlich nach, so hatte er ihn noch nie erlebt. Positiver machte es das Gesamtbild von Vane trotzdem nicht, denn dieses Verhalten ließ Luan eher misstrauisch werden. Dieser Typ tat nie etwas, ohne einen Hintergedanken dabei zu verfolgen. Rasch wandte Luan den Kopf wieder nach vorne, bevor sich ihre Blicke kreuzen konnten. Abermals kehrte Schweigen ein, das diesmal länger anhielt als vorher und die Spannung zwischen ihnen weiter in die Höhe trieb. Statt zu schreiben musterte Vane ihn nun eindringlich, was Luan genau spürte, aber besser als seine Schreiberei war dieses beklemmende Gefühl allemal. Nochmals war es der Doktor, der nach einer Weile dieser Stille ein Ende bereitete. „Wie ist es diesmal dazu gekommen, dass du so viel Energie verbraucht hast?“ „Ein Alptraum“, seufzte Luan. Mit Vane wollte er nicht darüber reden, was genau vorgefallen war, also sparte er sich jedes weitere Detail. „So weit war ich auch schon. Hat er dich in die Enge getrieben?“ Auf ein ewiges hin und her konnte er getrost verzichten, darum zeigte er sich abweisend. „Der Alptraum ist vernichtet und nicht mehr wichtig, also lassen Sie mich damit in Ruhe.“ „Luan, sind wir ehrlich“, begann Vane und der Ernst, den er mit seinen folgenden Sätzen ausstrahlte, erdrückte Luan. „Wir wissen beide, dass es für jemanden wie dich gefährlich ist, Alpträume zu jagen. Du kannst dich nicht so verteidigen und kämpfen wie andere Traumbrecher, sondern musst dich auf deine Erfahrung und deinen Instinkt verlassen oder eine Menge Energie verbrauchen, was auf Dauer keine gute Lösung ist.“ „Worauf wollen Sie hinaus?“ „Ich frage mich nur immer wieder, sobald du als Patient bei mir endest, wann du anfängst ehrlich mit dir selbst zu sein und einsiehst, dass du nicht jagen gehen solltest.“ Das war für Luan wie ein Schlag ins Gesicht. Es war nicht so, als hätten sie dieses Thema noch nie in einer Unterhaltung behandelt, nein, denn es war sogar schon sehr oft von Vane zur Sprache gebracht worden. Außer dass Luan dadurch eine ungeheure Wut ihm gegenüber verspürte, hatte er noch nie etwas anderes bei ihm erreicht und das würde diesem Mann auch niemals gelingen. Zumal es offensichtlich war, wieso Vane ihn unbedingt von der Jagd abbringen wollte. Angespannt vergrub Luan die Hände in dem dünnen Stoffüberzug der Liege. „Sie suchen doch nur nach einem Grund, um mich von der Arbeit abziehen und Ihre Forschung weiterführen zu können.“ „So würde ich das nicht ausdrücken“, widersprach Vane. „Aber wenn ich könnte, würde ich dich in der Tat sofort von dieser Mission abziehen und zurück nach Hause schicken. Falls hier wirklich ein Alptraum mit im Spiel war, den ihr keiner Gattung zuordnen konntet, sollte sich jemand anderes darum kümmern.“ Von Ferris waren ihm also scheinbar längst alle Einzelheiten zugespielt worden. Wozu hatte er Luan dann noch vorhin gefragt, wie es zu seinem Energieverlust gekommen sei? Wollte Vane etwa aus seinem eigenen Mund hören, dass er sich dem nicht mehr gewachsen fühlte? Darauf konnte er lange warten, jetzt würde Luan sich erst recht persönlich um diese Mission kümmern und sie ordnungsgemäß zu einem Ende führen. Vor lauter Wut schoss sein Puls in die Höhe und es hielt ihn nicht länger auf der Liege. Aufgebracht fuhr er hoch, trotz der Erschöpfung, die seinen ganzen Körper zittern ließ. „Vergessen Sie es, das ist meine Mission! So ein schwerer Rückschlag war mein letzter Kampf auch wieder nicht, da habe ich schon schlimmere hinter mir. Ich kann mich genauso gut darum kümmern wie jeder andere Traumbrecher auch. Niemand wird mich davon abhalten.“ „Na schön.“ Vane fuhr ebenfalls von seinem Platz hoch. „Sei in Zukunft vorsichtig. Finde ich nur einen Grund, sorge ich dafür, dass du das Hauptquartier nie wieder verlassen wirst.“ Luans Blick verfinsterte sich. „Ich werde Ihnen bestimmt keinen Grund dazu liefern.“ Grob drückte Vane ihn mit beiden Händen zurück auf die Liege, wogegen er sich nicht wehren konnte, da er noch zu geschwächt war. „Das war für dich das letzte Mal.“ *** Limbten. Ferris hatte sie mit dem Krankenwagen bis nach Limbten gefahren, ohne weitere Vorkommnisse, wo sie gegen Mittag ankamen. Mehrere Tage konnte Luan also nicht bewusstlos gewesen sein, höchstens einige Stunden. Weit entfernt von ihrem Unfallort mit dem Auto war die Stadt nämlich nicht mehr entfernt gewesen, durch diesen Zwischenfall mit dem Alptraum war dennoch viel Zeit verloren gegangen. Die frische, kühle Herbstluft war ungemein wohltuend und Luan nahm sich einen Moment Zeit, um sie richtig genießen zu können, indem er inne hielt und die Augen schloss. Endlich konnte er diese unwillkommene Begegnung mit dem Doktor hinter sich lassen. Am Schluss hatte Vane seine Drohung wahrgemacht und ihn wirklich für die restliche Fahrt über an die Liege gefesselt. Nicht nur das, auch was das Schreiben anging war er nochmal sehr fleißig gewesen. Hatte buchstäblich einen riesigen Roman niedergeschrieben, in dem es weder Punkte noch Kommata zu geben schien. Keiner von beiden hatte mehr ein Wort verloren, was ihm herzlich egal war. Abgeneigt warf Luan einen letzten Blick auf den Krankenwagen hinter sich, aus dem er gerade ausgestiegen war. Auf der Seite dekorierte ein blauer Halbmond, aus dessen oberer Spitze ein Flügel herauswuchs, einen Schriftzug. Normale Menschen konnten diesen nicht lesen, weil er in einer, für sie, unbekannten Sprache geschrieben war. Eine Sprache, die eher einer Abfolge von Symbolen glich. Die Bedeutung lautete zwar Krankenwagen, nur sah das Gefährt von außen den üblichen Modellen von Rettungsfahrzeugen nicht sehr ähnlich. Dieses hier ließ sich am ehesten mit einem pechschwarz lackierten Lieferwagen vergleichen. Vorsichtshalber kontrollierte Luan nochmal alle Taschen seines Mantels, aber es fehlte nichts. Alles war noch da, wo es sein sollte. Sogar dieser Samen, den er anstelle einer schlafenden Person gefunden und eingesteckt hatte, bevor er auf einen Baum geklettert war. Dieser warf immer noch einige Rätsel auf, die es zu lösen galt, daher sorgte er dafür, dass dieses Beweisstück auch weiterhin sicher in seiner Innentasche verwahrt blieb. Bei der Gelegenheit nahm er auch endlich die Taschenuhr ab, die noch um seinen Hals hing, um sie wieder im Mantel zu verstauen. Anschließend setzte er sich in Bewegung und öffnete die Tür des Hotels Tesha, vor dem Ferris den Krankenwagen geparkt und angeblich schon vor ihrer Abfahrt beim Hauptquartier ein Zimmer für sie reserviert hatte. Von Limbten selbst hatte Luan so gut wie nichts gesehen, aber dafür würde sich früher oder später noch die passende Gelegenheit ergeben. Durch den Stil dieses Gebäudes ließ sich jedoch schon mal erahnen, dass diese Stadt eine gesunde Mischung aus modernen Elementen und rustikalem Flair besaß. Im Inneren herrschte eine ähnliche Kälte wie draußen und nach einem prüfenden Blick durch die Eingangshalle war ihm schnell bewusst, dass es sich hier um kein Luxushotel handelte, sondern sich alles eher in einem praktischen und bescheidenen Rahmen hielt. So war es ihm ohnehin viel lieber, vielleicht war diese Unterkunft dann auch nicht zu überfüllt mit Gästen. An der Rezeption brachte er in Erfahrung, wo das Zimmer lag, das Ferris gebucht hatte und begab sich auf direktem Wege dorthin. Bereits auf der anderen Seite der Zimmertür konnte er Ferris beschwingt reden hören, der jemandem einen Anmachspruch nach dem anderen vorsetzte. Richtig, Mara musste auch da sein. Jedenfalls konnte er sich nicht vorstellen, dass sie zurückgelassen wurde. Schon weil sie ihm zu verstehen gegeben hatte, ihn nicht mehr aus den Augen lassen zu können, was auch immer sie damit gemeint hatte. Danach könnte er sie ja jetzt fragen. Dann mal los, forderte er sich selbst auf und drückte die Klinke runter. Nicht nur mit Ferris hatte er ein ernstes Gespräch zu führen, auch Mara musste er dringend genauer unter die Lupe nehmen. Sollte sie irgendetwas mit diesem einen Alptraum oder gar ihrem Auftrag zu tun haben, musste er das herausfinden. Nichts und niemand konnte ihn davon abhalten, diese Mission abzuschließen, egal wer oder was sich ihm dabei noch in den Weg stellen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)