Rot, rot, rot von Ixtli ================================================================================ Ouvertüre : Leave Home ---------------------- Das Rotkäppchen macht sich auf den Weg zu seiner Großmutter Der Wolf zeigt dem Rotkäppchen die schönsten Blumen des Waldes Die Großmutter wartet Es begann immer ganz unschuldig, mit einer wie nebenher gestellten Frage. Aber genau diese Frage war eigentlich viel mehr. Sie war schon beantwortet, obwohl sie gar nicht beantwortet werden sollte. Und das wirklich schizophrene daran war, dass die Fragestellerin schon vorher wusste, wie die Antwort lauten würde und die Frage trotzdem stellte. Vermutlich aus reiner Gehässigkeit, damit er sich noch ein bisschen schuldiger fühlen konnte, denn die Hoffnung, dass die Frage eines Tages mal bejaht werden würde, musste seine Mutter schon längst aufgegeben haben. Und auch heute stellte sie, sie – diese Frage, die immer die gleiche war: "Warst du schon mit dem Hund draußen?" Tim versuchte, die vorwurfsvollen Blicke seiner Mutter zu ignorieren, die ihm gegenüber am Esstisch saß und ihre Suppe kalt werden ließ, für die sie angeblich zwei Stunden in der Küche gestanden hatte. Und alles nur, um ihm diese überaus wichtige Frage nach dem dämlichen Köter zu stellen, der sabbernd unter dem Tisch darauf wartete, dass er was vom Essen abbekam. "Keine Zeit", murmelte Tim. Schnell lenkte er seine Aufmerksamkeit auf das Essen vor sich und schob mit dem Löffel die schlabberigen Bohnen, die anstelle ihres gesunden Grün ein verkochtes Grünbraun angenommen hatten, zwischen den widerlich dick aufgequollenen Graupen durch die Brühe, auf der mehr Fettaugen schwammen, als ihr Dorf Einwohner hatte. Und das waren immerhin ganze 3.471 – außer, es war gerade wieder jemand verstorben. Aber das würde er dann hoffentlich bald erfahren, sobald Marek da war – am besten noch, bevor der Sturm losging, der sich im Kopf seiner Mutter zusammenzubrauen begann. Tims Hoffnung war vergeblich. Die Schlabberbohne stieß gerade gegen eine blassorange Wabbelmöhre, als das Unwetter auch schon losbrach. "Ja", murmelte Tim, ohne etwas von den ganzen Vorwürfen verstanden zu haben, die da auf ihn hinabrauschten. Es war vermutlich das gleiche, wie sonst auch. Und: "Ich weiß." Noch schnell ein "Sorry", dazu. War es nun gut? Na? Es war mit einem Mal so still. Tim hob vorsichtig den Kopf und war kurz über den sprachlos offenstehenden Mund seiner Mutter irritiert. "Was heißt 'Sorry'?" "Entschuldigung", erklärte Tim. Er blinzelte sie unschuldig an, aber heute schien das nicht zu funktionieren. Ein Tsunami wirbelte das arme Gemüse durch die Suppe, als seine Mutter die Fäusten neben ihrem Teller auf die Tischplatte niedersausen ließ. "Kannst du dich nicht normal entschuldigen?", ereiferte sich seine Mutter mit roten Wangen. "Oder in wenigstens verständlich? Das wäre ja schon mal ein Anfang." Möglichst ohne ein Geräusch zu verursachen legte Tim seinen Löffel auf dem Tisch ab. "Soll ich jetzt noch mit dem Köter raus?", fragte er behutsam nach. "Nein, lass sein, ich gehe selbst mit ihm raus!" Mann, wie vorwurfsvoll und aufopfernd sie jedes mal klingen konnte. Die große Märtyrerin mit dem halben Hund... Tim nahm seinen Teller und goss die Suppe, von der er noch keinen einzigen Bissen gegessen hatte, in den Fressnapf der kleinen Ratte, die seine Mutter als Hund bezeichnete. Warum sollte er mit dem Gassi gehen? Für den reichte doch ein Katzenklo. Oder ein Blumentopf. "Du sollst ihm doch nichts vom Tisch geben!" "Habe ich vergessen", log Tim. Er nahm den Fressnapf und schüttete die Suppe darin wieder zurück in seinen Teller und stellte ihn auf den Tisch. "Spinnst du?", schrie seine Mutter entsetzt. Angeekelt sah sie die verschmähte Suppe an. Die Ratte stand schwanzwedelnd neben Tim und blinzelte ihn mit diesen hässlichen, wässrigen Riesenaugen an. "Pech gehabt", sagte Tim nicht ohne Genugtuung zu dem kläffenden Winzling, der vor Freude über das bisschen gezwungene Aufmerksamkeit, die er von Tim bekam, fast am Durchdrehen war. Dieses hirnlose überzüchtete Vieh. "War sonst noch was?" Tim hoffte, dass er damit endlich entlassen war. "In der Küche steht Kuchen. Den bringst du noch zu Oma." Tim seufzte schwer. "Muss das heute sein? Ich habe keine Zeit? Morgen ist der Kuchen doch sicher auch noch gut. Und Oma merkt es doch sowieso nicht, ob heute heute ist, oder ob morgen erst heute ist." Seine Mutter warf Tim einen so dermaßen eiskalten Blick zu, dass er eigentlich sofort in der Erde versinken müsste. "Was kann denn wichtiger sein als deine Oma?" Tim öffnete gerade den Mund, um zu antworten, als draußen vor dem Haus ein Auto hupte. "Ach so", sagte seine Mutter und in ihrer Stimme lag eine Erkenntnis, wie sie gruseliger nicht hätte klingen können. Artig nahm Tim seinen Teller und machte sich auf den Weg in die Küche. Er schnappte sich die Tasche mit dem Kuchen, die an der Stuhllehne hing, und hastete auf die Wohnungstür zu, mit dem größtmöglichen Abstand zu seiner Mutter, die mit pikiertem Gesichtsausdruck ihre kalte Suppe löffelte. Die Tasche in seiner Hand fröhlich umherschlenkernd ging Tim auf den dunklen Kombi zu, der in ihrer Einfahrt parkte. Die hinteren Seitenscheiben und die Heckscheibe waren mit blickdichtem Stoff verdunkelt und auf jeder dieser Scheiben prangte das Bild einer liegenden Feder. Offensichtlich hatten sich die Nachbarn an den Leichenwagen gewöhnt, mit dem Tim mehrmals in der Woche abgeholt wurde. Die Vorhänge an den Fenstern der Häuser links und rechts blieben jedenfalls seit neuestem geschlossen, wie er mit schnellem Rundumblick feststellte. Der junge Mann am Steuer winkte Tim gutgelaunt zu. "Du hast mir das Leben gerettet", begrüßte Tim den Fahrer, und ließ sich erleichtert auf den Beifahrersitz sinken. "Wie nett, das bekomme ich normalerweise nie zu hören", witzelte der junge Mann und wartete artig auf den Kuss, auf dessen Dringlichkeit er noch einmal hinwies, indem er sich mit dem Zeigefinger auf den Mund tippte. "Dann hast du wohl den falschen Beruf." Tim grinste und erlöste seinen Nebenmann endlich mit dem sehnsüchtig erwarteten Kuss. "Ja, scheint so." Marek ließ den Wagen an und setzte rückwärts auf der Einfahrt. "Was hast du denn da in der Tasche?" Tim verdrehte die Augen. Dass er ihn ausgerechnet daran erinnern musste. "Meine Mutter hat mir Kuchen mitgegeben." "Kuchen?" Das war das einzige, was Marek wahrgenommen hatte. Er sah Tim gespannt an. Sein Mund bog sich zu einem breiten Lächeln. "Für mich?" "Nein, leider nicht." Tim dachte enttäuscht an den Weg und die Zeit, die ihm dadurch verloren ging. Zeit, die er eigentlich mit Marek verplant hatte. "Könnten wir einen kleinen Umweg machen?" "Wohin soll es denn gehen?" Abwartend sah Marek zu Tim, der betrübt neben ihm saß. "Haus Waldfrieden", knurrte Tim unwirsch. "Was ist das? Ein Hotel?" Marek lächelte frech. "Ist es dort schöner als in meinem Bett?" "In hundert Jahren sicher..." Trotz des verdorbenen Nachmittags musste Tim jetzt doch lachen. "Das ist ein Altenheim." "Das kenne ich ja noch gar nicht", sagte Marek nachdenklich vor sich hin. "Und was willst du dort? Visitenkarten verteilen?" "Nein, meine Oma besuchen", verkündete Tim düster. "Und der Kuchen-", Marek sah sehnsüchtig zu der Tasche hin, die Tim achtlos in den Fußraum befördert hatte. "Ist der Kuchen für die Oma?" "Ja, tut mir wirklich leid für dich." "Ein Stück oder zwei?" Gebannt hing Marek an Tims Lippen. "Zwei." Tim lachte über Marek, der dem Kuchen seiner Mutter nicht widerstehen konnte. Und als er Mareks größer werdende Augen sah, fügte er, jede Silbe betonend, hinzu: "Nusskuchen." "Du Sadist!", stieß Marek empört aus. Tim grinste stumm vor sich hin, während Marek wirkte, als leide er körperlich. "Meinst du, deiner Oma fällt es auf, wenn ein Stück fehlt?", verlegte sich Marek aufs Verhandeln. Amüsiert musterte Tim Marek, der es nicht sein lassen konnte. "Was willst du damit sagen?" Marek beugte sich zu Tim hinüber. "Was wäre denn der Preis für ein Stück?", hauchte er und klimperte betont freundlich mit den Wimpern. "Ein blaues Auge", entgegnete Tim trocken. Marek fuhr auf. "Auf was für Sachen stehst du denn neuerdings?!", rief er gespielt entsetzt. Tim lachte los. "Das blaue Auge bekomme ich und zwar von meiner Oma. Oder denkst du, die weiß nicht, wie viele Stücke Kuchen meine Mutter ihr immer mitbringt?" Marek schnappte nach Luft. "Da werde ich wohl mal die Oma besuchen müssen." "Die gibt dir sicher ein Stück Kuchen ab... Vom Nusskuchen meiner Mutter..." "Versuchen kann ich es ja mal", raunte Marek hoffnungsvoll. "Nebenberuflich bin ich nämlich ein Omi-Magnet, falls du das nicht wusstest." Über so viel Dreistigkeit konnte Tim nur lachen. "Und hauptberuflich bist du ein Spinner." "Könnten wir zuerst was essen?", unterbrach Tim Mareks weitere Pläne, wie er wohl an ein Stück Kuchen herankommen könne. "Ich bin hungrig wie ein Bär." "War heute wieder Suppentag?" Marek klang bedauernd. Er kannte die Kochkünste von Tims Mutter. Die waren unterirdisch. Nicht einmal er brachte einen Bissen davon hinunter und er aß normalerweise alles. Seltsamerweise konnte sie erstklassig backen. Statt einer Antwort brummelte Tim. "Da hattet ihr heute sicher Spaß, was?!", witzelte Marek. "Gab es wieder Stress?" "Was dachtest du?" "Wie immer? Du kriegst nichts auf die Reihe, du hilfst nicht im Haushalt, du gehst nicht mit dem Hund raus?" "Ich besuche die Oma zu wenig", fügte Tim hinzu. Marek konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er hatte einmal einen Streit zwischen Tim und seiner Mutter mitbekommen, bei dem es um eben jene Sachen ging, die er gerade aufgezählt hatte. Ein Erdbeben war nichts dagegen... "Könnten wir das Thema wechseln?" Tim sah Marek bittend an, der sofort Mitleid bekam. "Klar", setzte er versöhnlich hinzu. "Mein Kühlschrank ist gut gefüllt." "Klasse", murmelte Tim und grinste schief. Wenigstens mussten sie dann nicht wieder einkaufen gehen. Marek hatte nämlich keinerlei Probleme damit, seinen Wocheneinkauf mit seinem schwarzen Firmenwagen zu erledigen. Und auch wenn sie schon lange genug zusammen waren, war es Tim immer noch etwas peinlich, wenn er neben Marek auf dem Parkplatz des Supermarktes stand, während sein Freund seelenruhig die Einkäufe in den Kombi packte. "Müssen wir noch was abholen?" Tim warf einen zögerlichen Blick über seine Schulter nach hinten. Marek folgte Tims Blicken im Rückspiegel. Dort, wo sich normalerweise eine Rückbank mit anschließendem Kofferraum befand, waren Führungsschienen in den Boden des Wagens eingelassen. Und bis eben hatte dort ein Sarg gestanden, den Marek zur Feuerbestattung gebracht hatte. "Nein, alles erledigt, der Tag gehört ganz uns", sagte Marek fröhlich. "Du meinst: mir und meiner Oma..." Marek lenkte den Wagen auf den Hof des Beerdigungsinstituts, zu dem auch ein kleiner Blumenladen gehörte. "Zuerst uns, dann dir und deiner Oma und dann wieder uns", bemühte sich Marek Tim zu trösten, der bei diesen Worten tatsächlich ein Lächeln zustande brachte. "Siehst du, geht doch." "Apropos nichts auf die Reihe bekommen." Marek, der die Stufen zu seiner Wohnung hinauf ging, die über dem Blumenladen lag, drehte sich um und wartete, bis Tim auf seiner Höhe angekommen war. Tim schwante Übles, auch wenn Marek ihn bisher nie böse überrascht hatte. "Wann schaffst du denn den Rest deiner Sachen hierher und ziehst offiziell bei mir ein?", rückte Marek schließlich mit der Sprache raus. Tim seufzte kaum hörbar. "Was fehlt denn noch?" "Eigentlich nur du." Marek sah sein Gegenüber abwartend an. "Ich denke darüber nach, okay?" "Es gibt auch keinen Suppentag", versuchte Marek Tim ein Ja zu entlocken. Er nahm den Zögernden in den Arm und neigte seinen Kopf zu dessen Ohr hinab. "Es gäbe dafür nur den ein oder anderen Marek-Tag." Tim erschauerte unter Mareks Küssen, die zuerst in seinem Ohr kitzelten und sich dann von dort seinen Hals hinab zogen. "Besser, als mit dem Köter raus zu müssen..." Marek hielt abrupt inne. Etwas irritiert sah er Tim an, der schallend loslachte. "Na warte", brummte Marek beleidigt, "das kostet dich ein bisschen mehr als ein Stück Kuchen!" Halb schlafend hörte Marek Tim im Bad pfeifen. Marek drehte sich auf den Bauch, bettete seinen Kopf auf seine verschränkten Arme und sah zur geöffneten Badezimmertür hinüber. "Bring deiner Omi doch Blumen mit", hörte Tim Marek aus dem Schlafzimmer rufen. "Omis stehen auf Blümchen." "Woher willst du wissen, auf was Omis stehen?" Tim ging, nackt wie er aus der Dusche gekommen war, zum Kleiderschrank und suchte nach etwas Angemessenem für den Besuch bei seiner Oma. "Du wurdest doch von Wölfen großgezogen, oder nicht?" "Dir gebe ich Wölfe", kam die erheiterte Antwort aus Richtung des Bettes. Tim, der sich über Marek beugte, der plötzlich wieder hellwach war, fand sich gleich darauf auf dem Bett liegend vor, einen grinsenden Marek über sich. "Dein Glück, dass das mit den Wölfen stimmt." "Ich glaube, ich komme heute nicht mehr zu meiner Oma...", stieß Tim ergeben aus und es klang fast ernst gemeint. "Die Gerbera sind heute frisch angekommen." Zum dritten Mal an diesem Tag stand Tim vor der Frage, was er anziehen sollte. "Wie sehen die gleich wieder aus?" Marek, der versuchte, Tim nicht aus den Augen zu verlieren, seufzte. "Langsam könntest du dir mal die ganzen Pflanzen merken. Wir haben welche in pink und welche in orange. Ich würde die Orangefarbenen nehmen." "Ok, danke, werde ich finden." Im Augenwinkel nahm Marek etwas Rotes und äußerst gut riechendes wahr, das sich über ihn beugte. Ein paar Tropfen fielen aus Tims Haaren und kullerten über Mareks Wange. Kaum, dass sich ihre Münder berührten, biss Marek leicht in Tims Unterlippe. "Sag deiner Omi einen schönen Gruß, Rotkäppchen." "Mache ich", kam die Antwort. "Bis später, großer müder Wolf." Eilig hastete Tim die Treppe zum Laden hinunter, der an diesem Nachmittag wie an jedem Mittwoch schon geschlossen war. Das Licht über der Theke flackerte ein paar Mal. Ohne darauf zu warten, bis es richtig brannte, stand Tim schon an der Tür zur Kühlzelle, in der sich die Blumen für den nächsten Tag befanden. "Orange, orange, orange", murmelte Tim vor sich hin und versuchte, sich einen Überblick über die ganzen Blumen zu verschaffen, die vor ihm standen. Die waren fast alle orange, dachte er entsetzt. Welche zur Hölle waren die Gerbera? Tim schnappte sich einfach welche, die orangefarben waren und ziemlich weit vorne standen, und ging damit zur Theke zurück. Etwas unbeholfen wickelte er den Blumentopf samt seines Inhalts in durchsichtige Folie und schlang ein Band um das obere Ende. So, fertig, dachte Tim zufrieden und knipste das Licht wieder aus, ehe er den Laden absperrte. Tim horchte in die Stille des Hausflurs. "Ich nehme das schöne Auto", rief er in Richtung Wohnung. Als kein Widerspruch kam, zuckte Tim mit den Schultern, nahm den Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und verließ fröhlich vor sich hin pfeifend das Haus. Gutgelaunt schlenderte Tim auf Haus Waldfrieden zu. Dass er tatsächlich an die Blumen gedacht hatte, wunderte ihn selbst. Wie angewurzelt blieb Tim stehen. "Fuck, der Kuchen!" Der stand zuhause bei Marek irgendwo in der Küche. Oder im Bad? Im Auto? Im Schlafzimmer? "Dreckskuchen!", fluchte Tim wütend vor sich hin. Naja, wenigstens war Marek satt, wenn er wieder zurück kam. "Entschuldigung", wurde Tim kurz vor der Eingangstür angehalten, "der Lieferanteneingang ist hinter dem Haus." Verblüfft sah Tim den Mann an, der sich ihm in den Weg gestellt hatte. "Ja und?" Der Mann sah an Tim vorbei zum Parkplatz, auf dem der kleine rote Sprinter stand, mit dem Tim gekommen war. Grüne, lila, gelbe und blaue Blumen zierten das Auto. Auf der Heckklappe saß ein Comic-Wolf in einer Blumenwiese und warf lachend ein paar Blüten in die Höhe. Wilk Floristik & Bestattungen stand darunter. "Ach so", leuchtete es Tim ein. Der Wagen. Die Blumen in seiner Hand. "Ich bin hier privat", erklärte er dem Mann vor sich. "Omi besuchen", fügte er betont brav hinzu. "Hätte ich den Kuchen dabei, wär's offensichtlicher, aber den hat jetzt der Wolf." Jetzt hatte er sein Gegenüber irritiert. Das tat ihm ja so leid... "Wie gut, dass ich nicht mit dem schwarzen Kombi gekommen bin", setzte Tim mehr für sich selbst hinzu und setzte seinen Weg fort. Bis er vor dem Zimmer seiner Oma stand, amüsierte sich Tim noch über den Pfleger, der vermutlich noch immer über den Zusammenhang von Kuchen und Wolf nachdachte. Und dann sah ihn seine Oma und augenblicklich wünschte sich Tim wieder nach hause. Glad to See You Go ------------------ Das Rotkäppchen kommt vom Weg ab Die Großmutter schimpft mit dem Rotkäppchen Der Jäger kontrolliert sein Revier Der Wolf bekommt den Kuchen "Wo ist der Kuchen?", fuhr die alte Frau Tim an, der im Türrahmen stand und noch nicht einmal Zeit gehabt hatte, sie zu begrüßen, ihr die Blumen zu geben und sich hinzusetzen. "Welcher Kuchen?", stellte sich Tim dumm. Er stellte den Topf mit dem Grünzeug auf dem Nachttisch ab und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. "Der Kuchen, den deine Mutter mir für heute versprochen hat." Mann, die hatte ein Gedächtnis, wenn sie wollte, dachte Tim. "Ich weiß nichts von einem Kuchen", log er. "Zwei Stück!", beschwerte sich seine Oma weiter. "Sie wollte ihn dir mitgeben, damit du auch mal wieder den Weg hierher findest." "Habe ich ja geschafft – auch ohne Kuchen." Nach dreimaligem Verfahren, fügte Tim in Gedanken hinzu. Dabei war es doch gerade einmal sieben Monaten her, dass er das letzte Mal hier gewesen war. Oder Acht. Achteinhalb. Höchstens. "Nimm die Karten aus der Schublade", fuhr ihn die alte Frau in dem Moment an, als Tim gerade im Begriff war, sich zu setzen. "Bitte nicht schon wieder", jammerte Tim. Immer diese dämlichen Karten! "Wie sonst auch", sagte seine Oma mit unverhohlener Genugtuung. Lächelnd wartete sie, bis Tim das Kartenpäckchen aus ihrer Kommode genommen hatte. "Hilf mir beim Aufstehen", wies sie ihren Enkel an und hielt ihm demonstrativ ihren dürren Arm hin. Das nächste Mal dachte er an den Kuchen, schimpfte sich Tim selbst aus. Verfluchter Kuchen! Den vergaß er sicher nie wieder... Im Schneckentempo ging Tim neben seiner Oma über den Flur. Die alte Frau hatte sich bei ihm untergehakt und quakte ihm die Ohren zu, seit sie vor circa 200 Jahren ihr Zimmer verlassen hatten. Tim hatte das Gefühl eingeschlafen oder gestorben zu sein, noch ehe sie das Gemeinschaftszimmer, das lediglich 20 Meter entfernt war, erreicht haben würden. Das machte die Alte doch absichtlich, kam es ihm plötzlich in den Sinn. Und dann dieses Lächeln. Und die Karten. Das war das letzte Mal, dass er hierher gekommen war. "Johan hat sicher noch ein Stück Kuchen übrig", unterbrach seine Oma Tims Gedanken. "Da du meinen ja vergessen-" Und schon hörte er ihr wieder nicht zu. Nach einer Ewigkeit kamen sie endlich im Gemeinschaftszimmer an, wo seine Oma direkt auf einen Tisch in der Mitte des Raums zusteuerte und dort schwerfällig Platz nahm. "Die Karten", sagte seine Oma gerade, aber Tim verstand den Rest nicht. Der eingeschaltete Fernseher, der in einer Ecke stand, war so laut, dass sein Gehäuse vibrierte. Ein paar alte Menschen saßen in den Sesseln davor und starrten konzentriert auf den flimmernden Bildschirm, auf dem ein Western in schwarz-weiß lief. Liebend gerne hätte Tim mit einem von ihnen getauscht. Was war ein gesundes Gehör schon gegen die Tatsache, dass er jetzt hier vor seiner Oma saß und ihr zusehen durfte, wie sie ein Kartenspiel für eine Person spielte. Jedes Mal das gleiche. "Warum kommst du nie?", begann seine Oma wieder das leidige Thema. Im Zeitlupentempo mischte sie die Karten. "Ich habe halt Zeug zu tun", brüllte Tim gegen den ebenfalls brüllenden Fernseher an. "Ich habe einen Job." "Immer noch bei diesem Bestatter?" "Ja, Oma", rief Tim. So langsam schmerzte sein Hals vom vielen Schreien. Unbeeindruckt von der Lautstärke, die um sie herum herrschte, legte seine Oma ihre Patience. "Vermutlich sehen wir uns dann erst wieder, wenn du mich mit dem Leichenwagen abholen kommst..." Überrascht von dem Zynismus, den seine Oma da an den Tag legte, schnappte Tim nach Luft. "Ja, Oma, das nächste Mal hole ich dich mit dem Leichenwagen ab", versuchte Tim den Lärm um sich herum zu übertönen. Hoffentlich hatte sie das gehört! In diesem Augenblick verstummte der Fernseher und das gebrüllte das nächste Mal hole ich dich mit dem Leichenwagen ab schallte gut hörbar durch den Raum, in dem es mit einem mal so still wurde, dass Tim die knarrenden Federn eines Sessels hören konnte, als sich der alte Mann darin zu ihm herumdrehte. Jedenfalls hoffte Tim, dass es die Federn gewesen waren, die dieses Geräusch erzeugt hatten. Tim wurde aus einem Dutzend mehr oder weniger klar sehender Augen angesehen. Ein Paar davon blitzte amüsiert auf: die, die zu dem Pfleger gehörten, dem Tim vor dem Heim in die Arme gelaufen war und der gerade den Ton des Fernsehers abgestellt hatte. Vor ihm lachte seine Oma gehässig über Tims rotglühende Wangen, während sie weiter ihre Patience legte. "Mein Enkel", verkündete seine Oma grinsend den Anwesenden. "Er hat meinen Kuchen vergessen." "Hier ist Ihr Kuchen, Esther." Der Pfleger stellte einen Teller vor seine Oma und wandte sich dann lächelnd an Tim. "Möchte der Enkel auch ein Stück?" Noch ehe Tim etwas dazu sagen konnte, hatte seine Oma das für ihn übernommen. "Der braucht keinen Kuchen, der hat zuhause zwei Stück", schnarrte sie und piekte ihre Gabel triumphierend in ihr Stück Apfelkuchen. "Wenn der Wolf ihm noch was übrig gelassen hat", witzelte der Pfleger und fing sich einen verwirrt-ratlosen Blick von Tim ein. Esther fand das wohl ziemlich lustig, auch wenn sie gar nicht wissen konnte warum. Ein Stück Kuchen und zwei Stunden später legte Esther immer noch eine Patience nach der anderen, ohne sich großartig um Tim zu kümmern, der gelangweilt neben ihr saß und in die Gegend starrte. Was er jetzt zu Hause alles hätte tun können... Gegenüber des Gemeinschaftsraumes befand sich das Stationszimmer. Durch die großen Glasfenster, die sich über drei Seiten zogen, hatten man von drinnen einen guten Blick auf alles, was draußen passierte. Jedes Seitenfenster war auf einen der beiden Flure gerichtet, während man durch das Fenster an der Front den Bereich des Zimmers überblicken konnte, in dem er mit seiner Oma saß. Und von draußen konnte man genauso gut hineinsehen. Was Tim auch seit ungefähr fünfzehn Minuten tat. Der Pfleger hatte es gut, bemitleidete sich Tim selbst. Der saß da in seinem Zimmer, ordnete irgendwelche Papiere, tippte etwas in den Rechner ein und sah nur ab und zu mal auf. Gerade telefonierte er und lachte dabei. Vielleicht sollte er sich zu ihm setzen, überlegte Tim. Anders als er hier draußen, hatte der ja offensichtlich Spaß. Tim stützte seinen Kopf auf eine Hand. Dieses Zimmer hatte was von einem Aquarium, wenn auch ohne Wasser. Und der Typ könnte gut ein Fisch sein. Ein Guppy würde zu ihm passen, so geschäftig wie er da gerade in dem Zimmer hin und her lief und Aktenschränke öffnete, um darin herumzukramen. Der Gedanke ließ Tim grinsen und in diesem Moment sah der Pfleger hinter der Scheibe auf. Er erwiderte das Lächeln, das Tim vor Schreck im Gesicht festfror. Mist, Mist, Mist!, dachte Tim, als der Pfleger in seinem Zimmer aufstand, zur Tür herauskam, die er sorgsam verschloss, um dann zu ihnen ins Gemeinschaftszimmer geschlendert zu kommen. Er hielt direkt auf Esther und Tim zu. Verzweifelt bemühte sich Tim seine Wangenmuskulatur zu entspannen, was ihm nicht gelang, weil er immer noch an den Guppy denken musste. Tim lächelte auch noch als der Pfleger sich vor ihm aufbaute, allerdings hatte es mittlerweile etwas hilfloses an sich. 'Der wird doch nicht...' Tims Befürchtungen, was der Pfleger jetzt von ihm halten mochte, fuhren Karussell in seinem Kopf. "Wie wäre es, wenn wir essen gehen?", fragte der Typ gerade und sah zu Tim, der ihn mit angehaltenem Atem anstarrte. "Was – wieso – wir – wohin?" Klasse, Tim, noch mehr W-Wörter fallen dir nicht mehr ein, schimpfte er sich selbst aus und spürte im gleichen Augenblick, wie sich sein verkrampftes Lächeln endlich löste, während das seines Gegenübers breiter wurde. "Ich weiß nicht..." "Schon wieder?", hörte Tim seine Oma in der selben Sekunde neben sich fragen. "Ich bin noch vom Kuchen satt." In dem Moment kapierte Tim, dass die Frage mit dem Essen überhaupt nicht ihm gegolten hatte. "Eine Scheibe Brot geht sicher noch, oder?" Der Pfleger half Esther dabei, aufzustehen, ohne Tim aus den Augen zu lassen. "Bis morgen früh ist es noch lange." "Na schön", stimmte Esther schließlich zu. Gott, hatte der Typ ihm etwa gerade zugeblinzelt?! Tim senkte seinen Blick und schob die Karten zusammen, die in Reihen nebeneinander auf dem Tisch lagen, ehe er den Stapel in die Packung verfrachtete. Was war er für ein Volltrottel? Wenigstens konnte er jetzt endlich gehen. Möglichst ohne wieder etwas blödes zu sagen oder zu tun gab Tim dem Pfleger die Karten. "Tschüs", murmelte Tim ungewohnt schüchtern. "Bis bald", erwiderte der Pfleger lächelnd. "Vermutlich nicht", quäkte Esther dazwischen. "Das dauert jetzt wieder ein halbes Jahr, bis er sich hier wieder blicken lässt." "Was?" Tim stand mit offenem Mund vor seiner Oma. "Werde ich nicht." "Ja, ja", murrte Esther. Ein müdes Lächeln umspielte ihre faltigen Mundwinkel. "Ich bin froh, dass du wieder gehst!", rief sie ihrem Enkel nach, der sich noch einmal an der Tür zum Treppenhaus umdrehte, auf die er wütend zugestürmt war. "Ich komme wieder!", entgegnete Tim. "Das glaube ich dir nicht", erwiderte Esther böse. Gereizt winkte Tim ab und drehte sich um. Der Pfleger, der das Ganze belustigt verfolgt hatte, sah dem jungen Mann mit dem knallroten Ramones-T-Shirt und dem ebenso knallroten Gesicht nach, der – dieses Mal ohne sich noch einmal umzudrehen – um die Ecke des Flurs verschwand. "Der kommt wieder", lachte Esther leise. Der Pfleger sah die alte Dame erstaunt an. "War das Absicht?" Esther lachte und ihre knochigen Schultern bebten dabei. "Sie sind ganz schön raffiniert." Stolz sah Esther den jungen Mann an ihrer Seite an. "Ich bin 91 ¾, was haben Sie denn erwartet?" Esther lag im Bett und sah müde Johan zu, der gerade den Fallschutz an der Seite des Bettes hochzog. Als sie ihre Hand auf seine Hand legte sah er auf. "Ich verraten Ihnen mal etwas, Johan." Esther winkte ihn mit ihrem Zeigefinger ein bisschen näher zu sich. Ihre Stimme nahm einen verschwörerischen Klang an. "Wissen Sie", begann sie leise, "immer wenn mein Enkel zu Besuch kommt - also alle Schaltjahre einmal -, dann unternehme ich Sachen mit ihm, von denen ich weiß, dass sie ihn schrecklich langweilen." Johan, dem vor Verblüffung kurz die Kinnlade herunter geklappt war, fing sich gleich darauf wieder. "Das kannte ich bisher nur anders herum. Das Kartenspielen auch?" "Nein, das nicht." Esther schüttelte leicht ihren Kopf. "Aber das nächste Mal werde ich ihn bitten, mit mir eine Runde im Garten zu drehen. Wissen Sie, wie langsam ich gehen kann?" "Esther, ich bin entsetzt", lachte Johan auf. Die alte Frau hatte es faustdick hinter den Ohren. "So gehässig kenne ich Sie ja gar nicht." Ihre Augen blitzten belustigt auf. Sie zeigte auf ihren Nachttisch. "Da, Junge, nehmen Sie die Blumen mit, ich schenke sie Ihnen." Zweifelnd betrachtete sich Johan sein Geschenk. "Ihr Enkel wird sich wundern, wenn sie nicht mehr da sind." "Als ob der sich das nächste Mal noch an irgendetwas erinnern könnte, was wir heute miteinander gesprochen oder getan haben..." Esther gähnte hinter vorgehaltener Hand. "Vielen Dank." Johan nahm den schief in Folie eingewickelten Blumentopf an sich und verließ leise das Zimmer. "Schlafen Sie gut." Im Stationszimmer stellte Johan die Blumen vor sich auf den Schreibtisch, betrachtete sie sich eine Weile und hoffte, dass sich Esthers Enkel sehr wohl noch an die Sachen erinnern konnte, die heute passiert waren. Nicht an alles, aber an einiges. An ihn zum Beispiel. "Auf dem Balkon", wurde Tim zuhause fröhlich von Marek begrüßt. Müde warf Tim seine Schuhe in die eine und die Autoschlüssel in die andere Ecke. "Na, wie war's?", war die erste Frage, die Marek Tim stellte, als dieser den Balkon betrat, wo Marek saß und sich das Gesicht von den letzten Sonnenstrahlen des Tages wärmen ließ. "Hat sich deine Oma über deinen Besuch gefreut?" "Ja, und wie..." Tim schnaubte. "Schrecklich war es. Oder hast du was anderes erwartet?" "Du Ärmster." Marek tat, als bedauere er Tim, der tatsächlich wie ein Häufchen Elend aussah. Er schnappte sich Tims Hand und zog diesen zu sich auf den Schoß. "Bekomme ich jetzt zwei blaue Augen?", fragte Marek scheinbar zusammenhangslos. Tim, der müde seinen Kopf gegen Mareks Kopf gelehnt hatte, setzte sich auf. Er sah Marek fragend an, der sich das Lachen verbeißen musste. "Wie meinst du das?" "Ich habe den Kuchen gefunden", gestand Marek kleinlaut. "Und hast beide Stücke gegessen, richtig?" Vorwurfsvoll schüttelte Tim den Kopf. "Du hättest mir ja wenigstens was davon abgeben können." "Kann ich doch." Marek blinzelte unschuldig, was Tim erst recht misstrauisch werden ließ. "Will ich es wissen?" Marek grinste bis über beide Ohren. Er schlang seine Arme um Tims Taille und drückte sein Gesicht in Tims Rücken. "Ich kann dir was von der Energie abgeben, die ich durch den Kuchen bekommen habe", murmelte er dumpf. Tim musste unweigerlich lachen. "Wenn ich nicht so müde wäre..." Marek brummelte irgendetwas vor sich hin, was Tim einfach überhörte. Er hatte für heute genug von essen. Stattdessen durfte er sich jetzt Gedanken darüber machen, wie er beim nächsten Besuch bei seiner Oma dem Pfleger gegenüber möglichst unauffällig so tun konnte, als wäre nichts geschehen. Als hätte es den Zwischenfall mit der Frage nach dem Essen gar nicht gegeben. Tim seufzte auf, was Marek einfach zum Anlass nahm, ihn noch ein bisschen fester zu umarmen. "Vergiss es, Vielfraß!" Schon  als er die Tür zum Stockwerk öffnete, auf dem seine Oma lebte,  konnte Tim Johans Stimme hören. Zu sehen war er nicht. Vielleicht  schaffte er es ja, ungesehen am Stationszimmer vorbei zu kommen und  vor allem, ohne auf den letzten Besuch angesprochen zu werden. "Oh  Hallo", wurde Tim prompt von einem fröhlich lächelnden Johan  begrüßt, kaum dass er einen ersten Schritt in Richtung zum Zimmer  seiner Oma getan hatte. So  viel zu seinem Plan, sich vorbeizuschleichen. "Wenn  das mal nicht Esthers vergesslicher Enkel ist", scherzte der  alte Mann, der, auf einen Krückstock gestützt, langsam neben Johan  herging. "Ja,  genau der", antwortete Tim und grinste verlegen. "Heute  habe ich Kuchen dabei." Wie zum Beweis hielt Tim die Stofftasche  in die Höhe, die ihm seine Mutter mitgegeben hatte. "Ich  weiß nicht, ob sie Appetit auf Kuchen hat", sagte Johan und  zuckte entschuldigend mit den Schultern. "Sie war müde und hat  sich gerade etwas hingelegt." "Wir  haben sie aufs Zimmer gebracht", informierte der Alte Tim, der  sich mit einem schnellen 'Ich  schaue mal nach ihr'  davon machte, bevor das zur Sprache kam, weswegen er Johan eigentlich  hatte aus dem Weg gehen wollen. Stumm  verharrte Tim in der Zimmertür, die halb offen stand, und sah ratlos  in das kleine gemütliche Räumchen. Seine  Oma lag, die Augen geschlossen, still in ihrem Bett. Klasse,  dachte Tim, jetzt konnte er gleich wieder verschwinden, ohne Ärger  zu bekommen. Und den Kuchen ließ er als Beweisstück einfach da. Vorsichtig  betrat Tim das Zimmer, das von einer eigentümlichen Stille  beherrscht wurde. Durch den Spalt des gekippten Fensters drangen zwar  gedämpft die Geräusche von draußen herein, aber alles schien sich  nur außerhalb abzuspielen. Vögel zwitscherten in den Bäumen, in  deren Blätterkronen der Wind rauschte. Geschäftige Insekten surrten  am Fenster vorbei und unten vor dem Haus hörte man ein paar Leute  miteinander schwatzen und lachen. Wenn er sich nicht irrte, hatte er  gerade Johan gehört. Im  Zimmer seiner Oma war alles anders. Die  antike Standuhr, deren Pendel träge und von einem kaum hörbaren  Seufzen begleitet von einer Seite auf die andere schwang, verstärkte  den Eindruck der unheimlichen Stimmung im Zimmer. Draußen war alles  voller Leben - und hier bei ihnen? Als gäbe es eine Barriere  zwischen dem lebhaften Draußen und dem in sich gekehrten Drinnen. Etwa  einen Meter vor dem Bett seiner Oma blieb Tim stehen. Er  sah zu seiner Oma hinüber, die noch immer bewegungslos in ihrem Bett  lag. Die leichte Decke, die bis zu ihrer Brust hinaufgezogen war,  bewegte sich kein Stück. Nicht einmal ein Atmen war zu erkennen. Tim  legte die Stofftasche mit dem Kuchen auf den Nachttisch und stieß  dabei gegen ein leeres Wasserglas, welches wiederum klirrend gegen  die Flasche daneben stieß. Spätestens  jetzt musste seine Oma wach werden. "War  keine Absicht", entschuldigte sich Tim und wartete auf die  Ermahnung seiner Oma, doch ein bisschen vorsichtiger zu sein. Reglos  blieb Esther im Bett liegen und Tim wurde langsam mulmig zumute. Mit  klopfendem Herzen machte Tim einen Schritt auf das Bett zu. Sein Mund  war trocken und sein Hals kratzte. Er räusperte sich, auch, um auf  sich aufmerksam zu machen. 'Die  alte Hexe wird doch nicht-' Ein erster Impuls ließ Tim darüber  nachdenken, den Pfleger zu rufen, doch dann schüttelte er den  aufkommenden Gedanken schnell ab. Alte Leute schliefen nun einmal  besonders tief, oder nicht? Vorsichtig  streckte Tim seine Hand nach der Hand seiner Großmutter aus, die  neben ihr auf der Bettdecke ruhte. Das  erste Mal bemerkte er die unzähligen Altersflecke und die violett  schimmernden Adern, die unter der blassen, dünn wie Seidenpapier  wirkenden Haut hervortraten. Im  ersten Augenblick zuckte Tim zurück, als seine Hand die kühle Haut  berührte. Das  war also Mareks Job? Tim  biss sich auf die Unterlippe. So  etwas sah er mehrmals in der Woche? Nicht  nur alte Menschen,  dachte Tim und schluckte, um das riesig wirkende Hindernis in seinem  Hals loszuwerden, das ihm die Luft abschnürte. Er  war bisher kein einziges Mal dabei gewesen, wenn Marek die  Verstorbenen abholte und für die Bestattung vorbereitete. Marek  hatte einen Assistenten, der immer mit ihm fuhr. Er selbst half bei  allem anderen, was so anfiel. Bürokram eben. Bestellungen,  Buchführung. Das reichte Tim. Mehr als die Namen erfuhr er nie von  den Verstorbenen und mehr wollte er auch gar nicht damit zu tun  haben. Alles, was über den schriftlichen Kontakt mit Ämtern  hinausging, überließ er Marek, der ihm das bisher noch nie  vorgeworfen hatte. "Oma?"  Tims zitternde Stimme verhallte unbeantwortet in dem ruhigen Zimmer. Er  sah auf die dünne Hand hinab, die immer noch still da lag und bis  jetzt auf keine Berührung reagierte. Ihre Hand war so mager, dass  man darunter jeden einzelnen Knochen spüren konnte. Tim drückte  leicht zu. Selbst wenn seine Oma tief schlief, musste sie seinen  Händedruck doch wenigstens reflexartig erwidern. Es passierte nichts. Gimme Gimme Shock Treatment --------------------------- Die Großmutter liegt in ihrem Bett Das Rotkäppchen erschrickt Der Jäger ist auf der Pirsch Der Wolf freut sich auf das Rotkäppchen Traurig betrachtete sich Tim das Gesicht seiner Oma, das ebenso fragil und zerbrechlich wirkte, wie der Rest ihres Körpers. Ihr schneeweißes Haar trug sie zurückgekämmt und am Hinterkopf zu einem Dutt zusammengebunden. Ein paar Haare hatten sich gelöst und ringelten sich widerspenstig um ihre Ohren. Tim streckte die Hand aus und strich seiner Oma die seidig weichen Locken aus dem Gesicht. Seine Mutter war nie müde geworden, jedem zu erzählen, dass er die Haare von seiner Oma geerbt hatte. Die gleiche dunkelblonde Haarfarbe – er konnte es sich nicht einmal vorstellen. Er kannte seine Oma, die eigentlich schon seine Ur-Oma war, nur mit weißem Haar. Er hatte nie ein Bild gesehen, auf dem sie noch jung war. Und es hatte ihn nie interessiert. Jetzt war es zu spät, seine Oma kennenzulernen. Tim konnte sich ein leises Fuck nicht verkneifen. Verdammter Mist, verdammter. Tim beugte sich zu seiner Oma hinab, um ihr zumindest jetzt noch einen Kuss zu geben. Es würde wohl der letzte sein. Und, wie er sich traurig eingestehen musste, vermutlich auch der erste, seit er sich erinnern konnte. Gerade als Tim sich soweit zu Esther hinab gebeugt hatte, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben, sah er das leichte Pulsieren ihrer Schläfen. Erschrocken fuhr Tim auf und seine Blicke trafen die seiner Oma, deren helle Augen amüsiert und vor allem sehr lebendig aufblitzten. "Angeschmiert!", jubelte Esther triumphierend und begann laut zu lachen. "Verdammt, Oma!", war alles, was Tim herausbrachte. Esther lachte nur noch lauter über das perplexe Gesicht ihres nun sprachlosen Enkels. "Sag deiner Oma, dass du sie lieb hast", krähte Esther fröhlich, "wer weiß, wie lange du sie noch hast?" Tim schwankte zwischen aus dem Zimmer zu stürmen und nie wieder zurückzukommen, und laut loszulachen. Er entschied sich für Ersteres und rannte dabei fast Johan über den Haufen, der in diesem Moment im Türrahmen erschien. "Die alte Hexe ist kerngesund", zischte Tim und ließ den verdutzten Johan einfach stehen. Das letzte, was Tim noch hörte, bevor er das Treppenhaus betrat, war seine Oma. "Johan, was heißt Fahack?" Johan musste immer noch über Esther lachen, als er später am Tag nach draußen ging, um eine Zigarette zu rauchen. Er zückte das Feuerzeug, um seine Zigarette anzuzünden, und stolperte im gleichen Moment über ein Hindernis vor sich auf der Treppe, das dort normalerweise überhaupt nicht sein dürfte. "War keine Absicht", entschuldigte sich Johan bei Tim, der auf vorletzten Stufe saß und noch nicht einmal aufgesehen hatte, als Johan gegen ihn stieß. Johan setzte sich neben Tim, der sich stumm seine Schuhspitzen betrachtete. "Du sitzt hier doch nicht wirklich schon seit zwei Stunden, oder?" Ohne aufzusehen nahm Tim die angebotene Zigarette entgegen. "Was war denn los?", hakte Johan geduldig nach. Tim, der die Zigarette in den Händen hielt, ohne sie anzuzünden, schnaubte unwirsch. Johan streckte die Beine aus und ließ seine Blicke über den parkähnlichen Garten gleiten, der sich vor ihnen erstreckte. "Das kann sie echt gut, was?" Das erste Mal sah Tim Johan an, seit der sich zu ihm gesetzt hatte. "Was?" "Flach atmen", antwortete Johan, während er seine brennende Zigarette festhielt, ohne einen Zug davon zu nehmen. "Wie meinst du das?" "Hat sie sich tot gestellt?", fragte Johan mit einem Tonfall, als kenne er die Antwort darauf schon, und sah Tim an, der verwirrt zurück starrte. "Ja, hat sie", stieß Tim verblüfft aus. "Woher weißt du das?" "Weil sie das schon mit uns allen gemacht hat." Johan sah dem Rauch nach, der von der Spitze seiner Zigarette aufstieg und sich im sanften Wind kräuselte, bis er nicht mehr zu sehen war. "Ich fasse es nicht." Tim musste unweigerlich grinsen. "Dann war das also kein persönlicher Service um dem gehassten Enkel ein schlechtes Gewissen zu machen?" Johan lachte auf. "Nein, war es nicht. Außerdem hat sie sich schon die ganze Woche auf deinen Besuch gefreut." Tim sah Johan ungläubig an. "Hat sie das gesagt?" "Nicht wortwörtlich", gab Johan zu. Tim stieß die Luft durch die Nase aus. Er hätte sich auch gewundert... "Danke übrigens", sagte Johan nach einer Weile in die Stille hinein. "Wofür?" "Dafür, dass ich deiner Oma das neue Wort erklären musste, das du ihr beigebracht hast." Johan sah grinsend zu Tim, der ihn mit offenem Mund anstarrte. "Welches Wort?", fragte Tim unschuldig und hoffte, dass Johan ihm abkaufte, dass er es vergessen hatte. Johan kaufte es ihm nicht ab. Er nahm seine verglühte Zigarette, von der er, seit er sie angezündet hatte, keinen einzigen Zug genommen hatte, und drückte sie in dem Blumenbeet neben der Treppe aus. "Hast – hast du es ihr gesagt?" Tim spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen und die Stirn stieg. Johan lachte leise. "Ich habe ihr gesagt, dass es das Wort nicht gibt. Es wäre dir nur rausgerutscht, weil du dich so erschrocken hättest." "Na klasse, jetzt denkt sie, ich hätte einen Schlaganfall gehabt..." Tim grinste schief. "Nein, sie denkt nur, dass du sie jetzt nie wieder besuchen wirst." Johan lächelte Tim an, der nun nicht mehr so blass war, wie zu Anfang ihres Gesprächs. "Käme mir nicht in den Sinn", murmelte Tim. Er meinte es tatsächlich so, stellte er fest und war von sich selbst überrascht. "Dann ist ja gut", erwiderte Johan. Er machte eine kurze Pause. "Sonst hätte ich mir was anderes einfallen lassen müssen." Tim hob den Kopf und sah seinen Nebenmann an. "Einfallen lassen? Wofür?" "Na ja", Johan wich kurz Tims Blicken aus. "Das mit dem Essen weiß ich noch." "Ach das." Tim fühlte sich, als sei sein Kopf mit kochender Lava gefüllt. "Möchtest du deiner Oma noch Auf Wiedersehen sagen, damit sie beruhigt ist?" Johan stand auf und wartete darauf, dass Tim es ihm gleich tat. "Wird wohl besser sein", stimmte Tim zu. Er erhob sich von seinem Sitzplatz und hielt Johan seine unberührte Zigarette hin, damit er sie zurück nahm – doch statt nur der Zigarette nahm Johan einfach den Rest von Tim gleich mit dazu, als er ihn in seine Arme zog und dem irritiert dreinsehenden Tim einen forschen Kuss auf den Mund drückte. "Das mit dem Essen gehen war mein Ernst", sagte Johan, ohne Tim aus seiner Umarmung zu lassen. "Dachte ich mir", stotterte Tim, der nicht wusste, wohin mit seinen Händen und wohin mit dem Chaos, das Johans Kuss und seine Umarmung gerade in ihm anrichteten. Der nächste Kuss war dafür umso sanfter und Tim spürte, wie seine Knie weich wurden. Er öffnete seine Hand, die die mittlerweile zerdrückte Zigarette festhielt. Das malträtierte Tabakröllchen fiel unbeachtet zu Boden und Tim hatte endlich die Hände frei für Johan. "Schämen Sie sich, Johan!", empfing sie Esther, die quicklebendig im Gemeinschaftszimmer in einem Sessel vor dem Fernseher saß. Johan setzte sein strahlendstes Lächeln auf. "Warum denn das?" "Wegen ihm!", schimpfte Esther weiter und zeigte anklagend auf Tim, dem vor Verblüffung alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.. Tim und Johan wechselten einen ratlosen Blick miteinander. "Was habe ich denn getan?", fragte Tim zögerlich. Er rechnete mit allem. Aber nicht mit seiner Oma. "Was kennst du denn für Wörter?", empörte sich Esther weiter. Dann wandte sie sich an Johan. "Und Sie nehmen ihn auch noch in Schutz!" Johan lachte erleichtert auf. Er ging zu Esther. "Und woher wissen Sie das?" "Von Wilhelm." Esther zeigte mit dem Finger auf den alten Mann im Sessel neben ihr, der seine Hände auf den Krückstock gestützt hatte und Johan frech angrinste. "Ich hab's ihr erklärt", bestätigte Wilhelm und nickte dabei stolz. Tim, der noch in sicherer Entfernung gestanden hatte, kam näher. "Ich geh dann mal heim und denke darüber nach, welche Wörter ich kenne, okay?" "Aber warum denn?" Esther war sichtlich enttäuscht. "Du bist doch gerade erst gekommen." "Ich-ich-" "Er ist glaube ich müde", übernahm Johan Tims Versuch, nach einem Grund für sein frühes Verschwinden zu suchen. Esther verzog den Mund. "Jetzt schon? Es ist doch noch früh." "Er hat scheinbar eine wilde Nacht hinter sich", witzelte Johan und Tim war sich sicher, dass er hier gleich in Grund und Boden versank. Wie kam Johan auf so etwas? "Ich bin nächste Woche wieder hier", bemühte sich Tim, seine Oma zu trösten. "Heute ist doch erst Donnerstag", Esther klang fast wie ein Kind, dem man den einzigen Wunsch abgeschlagen hatte, den es gehabt hatte. "Vielleicht schaffe ich es auch früher, gut?" "Gut." Esther sah zufrieden ihren Enkel an. "Aber schlaf dich vorher aus, damit du nicht wieder so früh verschwindest", tadelte sie ihn noch. "Ja, mache ich, Oma." Tim sah zu Johan, der sich königlich amüsierte. Er wusste noch immer nicht, warum und worüber. "Bis denn." "Bis bald", sagte Johan. Nächste Woche? Das hatte Esther Tim vielleicht abgekauft, nicht aber Johan. "Viel Spaß." Mit weichen Knien ging Tim zu seinem Auto. Mit weichen Knien fuhr er nach Hause und mit ebensolchen weichen Knien stieg er die Treppe zur Wohnung hinauf. Mit weichen Knien ging er in die Küche und nahm sich etwas zu trinken aus dem Kühlschrank und mit weichen Knien schaffte er es gerade noch so bis zum Sofa, wo seine weichen Knie endgültig nachgaben. Das erste Mal seit Johans Küssen spürte Tim seine weichen Knie nicht mehr. Er atmete tief durch und war erleichtert. "Na, Schatz, war es so anstrengend bei deiner Oma?" Langsam schlug Tim die Augen auf. Marek stand über ihn gebeugt da und lächelte auf ihn hinab. Er musste eingeschlafen sein, ohne gemerkt zu haben, dass er müde gewesen wäre. "Bist du schon lange zurück?" Tim setzte sich auf. Die Colaflasche lag ungeöffnet auf seinem Bauch. Er hatte es also nicht einmal mehr geschafft, etwas zu trinken. "Ich sitze hier schon seit einer Stunde und schaue dir beim Schlafen zu." Marek lachte über Tims erschrockenes Gesicht. "Bleib locker, war nur Spaß", fügte er hinzu. "Ich bin gerade erst gekommen." "Dir traue ich fast alles zu", sagte Tim und streckte sich ausgiebig. "Nur fast?" Marek zog die Augenbrauen zusammen. Tim schüttelte grinsend den Kopf. "Hattet ihr noch viel zu tun?" "Meinst du damit, ob wir noch Kundschaft hatten?" Marek blinzelte unschuldig und Tim verdrehte die Augen, was Marek wiederum dazu veranlasste, Tim leicht in die Wange zu kneifen, als wäre er ein kleines Kind. "Sag doch mal Verstorbener." "Willst du mich veralbern?" Erfolglos versuchte Tim Mareks Händen zu entgehen, der sein Kinn gepackt hatte und Tims Gesicht so zu sich herumdrehte, dass er ihn anschauen musste. "Probier's doch mal", säuselte Marek so nett er konnte. "Ver-stor-be-ner. Ist ganz leicht." "Du-kannst-mich-mal", antwortete Tim stattdessen und befreite sich lachend aus Mareks Griff. "Ich geh ins Bett." "Ich komme mit", rief Marek tatendurstig und folgte Tim auf dem Fuße. "Scheiße, Marek, was ist das?" Marek spuckte den Zahnpastaschaum aus und spülte mit Wasser nach. Er sah Tim, der neben ihm am Waschbecken stand, von oben bis unten an. "Ein halbnackter Tim, wobei die Betonung auf halbnackt liegt", scherzte Marek und lachte über seine eigene Genialität. Oder wie immer man das auch nennen mochte. "Ich meine das da!" Vorwurfsvoll deutete Tim auf einen kleinen lila-roten Flecken, direkt auf seinem Schlüsselbein. "Immer noch nur ein halbnackter Tim." Tim funkelte Marek an, der sich vor Lachen kaum noch halten konnte. "Du hast da übrigens noch einen." Marek näherte sich Tim. Sein Zeigefinger fuhr über Tims Nacken, bis er an einer Stelle kurz vorm Haaransatz anhielt. "Und noch einen." "Oh Gott, bitte nicht", stöhnte Tim. "Ist doch nicht schlimm." Mareks Mund strich erst sachte über den Fleck und dann biss er zart hinein. "Ich mag die." "Die sind ja auch von dir!" Tim wand sich aus Mareks Umarmung. Er wirbelte herum und sah seinen Freund tadelnd an. "Ich habe so die ganze Zeit vor meiner Oma gesessen!" Und vor Johan. "Ja und?" Marek kapierte das Drama immer noch nicht. "Als ob deine Oma wüsste, was das ist." "Ich frage sie das nächste Mal..." Tim hielt sich die Hände vors Gesicht. Plötzlich wusste er, was Johans Anspielungen gesollt hatten. Er ist müde. Er hat 'ne wilde Nacht hinter sich. Viel Spaß. "Himmel..." "Wie geht’s deiner Oma denn?" "Sie hat sich totgestellt." Tim kroch zu Marek unter die Decke und rückte so nah wie möglich an ihn heran. Er hoffte, auf ein bisschen Verständnis zu treffen, aber schon gleich nach dem Satz spürte er wie Mareks Brustkorb bebte. "Es-es-es tut mir so leid für dich", presste Marek mühevoll hervor. "Du kannst ruhig lachen, kein Problem, tu dir keinen Zwang an." Seit geschlagenen zehn Minuten hatte Tim nun schon geduldig zugesehen wie Marek sein Fünfeinhalb-Minuten-Frühstücksei zuerst sorgfältig mit seinem Messer geköpft, mit Salz bestreut und schließlich genüsslich verspeist hatte. Er selbst hatte seinen Toast darüber kalt werden lassen. Jetzt war Marek bei Ei Nr. 2 und Tim wusste immer noch nicht, ob er ihn wirklich darauf ansprechen sollte, was ihm schon seit Ei Nr. 1 auf der Seele brannte. Die erste Hälfte der letzten Nacht - des schlaflosen Teils zumindest - hatte Tim damit zugebracht über Johan nachzudenken. Worüber er natürlich nicht mit Marek sprechen konnte. Aber da war ja noch die andere schlaflose Hälfte und die lag ihm gerade auf der Zunge, als Marek den Kopf hob, Tims Blicke bemerkte und ihm ein so dermaßen liebes und ohne Hintergedanken versehenes Lächeln zuwarf, das Tim beinahe dazu brachte, alles Gedachte über Bord zu werfen, sich Marek zu schnappen und mit ihm den schönsten Tag seit sicher zwei Wochen zu verbringen. Sie könnten endlich mal wieder das tun, wozu kaum Zeit gewesen war. Irgendwo hin fahren, ohne vorher alles zu planen. Unterwegs kaufen, was sie bräuchten - wenn es nach Marek ging, wäre das wahrscheinlich nur eine Decke, die sie auf irgendeiner Wiese ausbreiten würden, um sich darauf zu legen. Und das einzige, was Tim dem noch hinzuzufügen hätte, wäre das ein oder andere kalte Getränk. Und Marek natürlich. Am liebsten pur. Ohne alles. Tim wurde erst wieder daran erinnert, dass Marek in seinem Gesicht wie in einem offenen Buch lesen konnte, als er den belustigten Blicken seines Gegenübers begegnete. Mareks Lippen bogen sich zu einem Lächeln, das Tim ständig aus dem Konzept zu bringen drohte. Mit genau so einem Lächeln hatte Marek so gut wie immer gewonnen. Und das wusste er. Leider. "Ein Kuss für deine Gedanken..." Tim spürte, wie sein Herz einen aufgeregten Takt zulegte. Er biss sich auf die Unterlippe. Hör auf, so zu lächeln, hör auf, sonst weiß ich nicht, was ich sage. Es hätte sicher was mit einer Decke und Marek zu tun und mit dem kleinen Feuermal in Form einer Schneeflocke an der Stelle, die außer ihm und Marek nur der Storch gesehen hatte, wie Marek ihm einmal lachend erklärt hatte. Widerstrebend löste Tim seine Blicke von Marek, der ihn keine Sekunde aus den Augen ließ. Nicht einmal Ei Nr. 2 beachtete er mehr. "Kann ich heute mit dir kommen?" Tim hatte Mühe, die Frage auszusprechen. Es war nicht einfach, das zu sagen, was besser war, wenn man eigentlich etwas völlig anderes wollte. Und er wollte etwas völlig anderes. Er wollte Marek. Mit oder ohne Decke. Jetzt sofort. "Wohin?", fragte Marek gerade und Tim war einen Moment lang irritiert. Ja, wohin denn nun? Tim schob das Feuermal und die Decke beiseite. "Wohin du eben so musst", sagte Tim in möglichst normalem Tonfall. "Bist du sicher?" Marek hatte Ei Nr. 2 nun endgültig vergessen. Er wartete, ob Tim sein Gesagtes nicht doch nochmal korrigieren wollte, aber Tim sah ihn unbeirrt an. Marek legte den Löffel aus der Hand. Er beugte sich etwas vor und suchte erfolglos in Tims Gesicht nach einem winzigen Anzeichen Unsicherheit. "Aber du weißt, was heute ansteht, oder?" Mareks Tonfall war ruhig, fast lauernd. "Du holst die Urne für die Bestattung morgen ab." Keines dieser Worte war Tim schwer über die Lippen gekommen, weder Urne noch Bestattung. "Ich organisiere das alles, falls du das vergessen hast..." Marek schien immer noch zu zweifeln. Doch Tim hielt auch diesen Blicken ohne zu zögern stand. "Na schön, da du ja weißt, wo wir hin müssen, soll es mir recht sein." Marek hielt kurz inne. "Wenn es dich im Krematorium hinhaut und ich dich ins Auto tragen muss, erwarte ich selbstverständlich eine Wiedergutmachung." "Alles, was Sie wünschen, Chef", flötete Tim und warf Marek einen Kuss über den Tisch hinweg zu. "Du machst dich über mich lustig?" Marek stand auf und begann, das Essen vom Tisch zu räumen. "Tja, das war's dann wohl mit der Gehaltserhöhung..." Tim folgte ihm mit dem benutzten Geschirr. Er blieb bei Marek stehen, der das Marmeladenglas zuschraubte und noch immer grinsend auf die Antwort wartete. "Schade um den Nachtisch, den ich mir ja leider nicht mehr leisten kann", blödelte Tim und lachte dann hämisch über Mareks sich verfinsternde Augen. "Was willst du denn mit der Decke?" Die Hände in die Hüften gestützt, stand Marek zwischen den beiden parkenden Wagen auf dem Hof und sah zu, wie Tim das zusammengerollte Stoffteil hinter den Vordersitzen des roten Sprinters verstaute. "Wer weiß", antwortete Tim ausweichend. Er wollte sich an Marek vorbeischlängeln, als der ihn am Ellenbogen festhielt und so an der Flucht hinderte. "Nicht so schnell", erstickte Marek Tims ungewohnten Eifer im Kern. Er wunderte sich kurz über Tims ertappt wirkenden Gesichtsausdruck und lächelte ihm sanft zu. "Wir sind die letzte Zeit fast nur aneinander vorbei gerannt-" "Außer im Bett", unterbrach Tim Marek albernd. "Ja, außer im Bett", gab Marek amüsiert zu. Er schlang seine Arme um Tims Taille und zog ihn zu sich. Eigentlich war es seine Aufgabe, anzügliche Witze zu machen und Tim lachte meistens darüber. Marek blickte in Tims Augen. Er liebte sie. Sie waren Grau und hatten hier und da grüne Flecke. "Du weißt, dass du nicht mitfahren musst, um mir einen Gefallen zu tun?" "Weiß ich." Tim schüttelte leicht mit dem Kopf. "Mach doch jetzt kein Drama daraus", fügte er fast enttäuscht wirkend hinzu. "Ich meine ja nur", entgegnete Marek zerknirscht. Er löste seine Blicke von Tim und sah an ihm vorbei zum Haus. Im geschlossenen Laden brannten lediglich die Lampen in den beiden Schaufenstern. Tim war jetzt seit einer Woche ununterbrochen bei ihm. Normalerweise nahm er sich spätestens nach drei Tagen immer ein paar Tage Auszeit vom Zusammenleben mit Marek und schlief dann wieder eine Weile bei sich zu Hause. Fast so, als wolle er nicht, dass Marek dachte, er hätte endlich beschlossen, bei ihm zu bleiben. Hieß das nun, er hatte sich entschieden? Vorsichtig befreite sich Tim aus Mareks Umarmung. "Fahren wir? Wenn du mich noch ein paar Mal fragst, ob ich mir sicher bin, überlege ich es mir vielleicht doch wieder..." Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals und er versuchte, Mareks forschenden Blicken auszuweichen. Wahrscheinlich war es doch keine so gute Idee gewesen, ausgerechnet um etwas zu bitten, was bei Marek mehr Fragen als Antworten hinterließ. Sich die Decke und Marek zu schnappen wäre wohl wirklich besser gewesen. Now I Wanna Be A Good Boy ------------------------- Das Rotkäppchen wird brav Die Großmutter hat Neuigkeiten Der Jäger stellt das Wild Der Wolf hat das Rotkäppchen ganz für sich alleine Es hatte ihn im Krematorium nicht umgehauen. Nicht vor Angst jedenfalls. Tim war beeindruckt gewesen von dem modernen Gebäude, das er zuerst überhaupt nicht als Krematorium wahrgenommen hatte, wären da nicht die hohen Schornsteine gewesen. Natürlich war ihm im ersten Moment flau gewesen, als sie auf den Eingang zugingen, aber kaum hatte sich die Holztür hinter ihnen geschlossen und die Alltagsgeräusche von draußen verstummen lassen, hatte es sich Tim nicht verkneifen können, die riesige Vorhalle mit offenem Mund zu bestaunen. Hohe, verschieden dicke Säulen, die bis knapp unter die Decke reichten, standen dort wie Bäume aus Stein, genauso ungeordnet wie in einem Wald und ebenso erhaben. Dort, wo die Säulen an der Decke endeten, waren runde Oberlichter in das Dach eingelassen und durch eben diese schien die Sonne und warf lange hellstrahlende Lichtzylinder zu Füßen der Säulen. Ehrfürchtig ging Tim durch einen der hellen Lichtkreise, die die Sonne auf den kühlen grauen Granitboden malte. Auf seiner Haut fühlte er die prickelnde Wärme der Sonnenflecken, die sich mit den schattigen Stellen abwechselte, kaum dass man aus ihnen heraustrat. Tim hob die Hand und strich sachte über die kalte Oberfläche einer Säule. In den Stein war eine Struktur gemeißelt, die an Baumrinde erinnerte, und an manchen Stellen befanden sich runde und ovale Stellen, fast wie Astlöcher. Tim hob den Kopf und sah zu Marek, der einige Meter vor ihm im lichtdurchfluteten Steinsäulenwald stand und geduldig auf Tim wartete, der sich kaum vom überwältigenden Anblick seiner Umgebung lösen wollte. Lange Sonnenstrahlen streckten ihre Finger nach Marek aus und hüllten seinen Körper in einen warmleuchtenden Kokon, in dem winzige Staubpartikel umherwirbelten. Mareks Mund, der in der vergangenen Nacht noch fast jeden Zentimeter von Tims Körper geküsst hatte, bog sich nun zu einem liebevollen Lächeln, das Tim wieder den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte. Im Zickzackkurs schlenderte Tim durch den Säulenwald, schritt durch Licht und Schatten, bis er schließlich Mareks warme Hand in seiner eigenen, kalten Hand spürte. An all das dachte Tim, als er wieder neben Marek im Leichenwagen saß und auf die Urne in seinen Händen hinabsah. Er hatte immer nur an alle unheimlichen Details gedacht, die Mareks Beruf mit sich brachte, aber nie an die andere Seite, an die stille Zeit, das zur Ruhe kommen. Er hatte, seit Esther sich tot gestellt hatte, immer wieder darüber nachdenken müssen, wie es Marek wohl schaffte, nicht überzuschnappen, bei all dem Leid, das er zu sehen bekam. Er selbst hatte sich ja davor gefürchtet, irgendwann mal den Verstand zu verlieren. Als sie sich kennen gelernt hatten, hatte sich Tim ein halbes Jahr geweigert, bis er endlich Marek das erste Mal zuhause besucht hatte. Und obwohl es überhaupt nicht gruselig gewesen war, war ihm danach noch ein weiteres halbes Jahr jedes Mal flau geworden, wenn er den Laden betreten hatte und an die Räume dachte, die dahinter lagen. Die Räume, in denen Marek und sein Assistent die Verstorbenen herrichteten, waren für Tim tabu. Nicht, weil Marek das so wollte, sondern er selbst hatte sich diese Grenze gezogen. Es hatte ihm gereicht, die Namen der Verstorbenen und deren Hinterbliebenen zu erfahren. Er hatte die nötigen Termine vereinbart und alle Behördengänge erledigt, mit Gastwirten über Zimmerbuchungen und Kuchenauswahl gesprochen und, wenn es mal keine Beerdigungen gab – was natürlich auch vorkam – Mareks grauenhafte Buchführung korrigiert. Das war alles, was er vom Tod wissen wollte. Was er von ihm auszuhalten gedacht hatte. "Hier", unterbrach Marek Tims Gedanken. Marek reichte Tim einen weinroten Samtbeutel. "Was ist das? Schmuck der Verstorbenen?" Tim betrachtete sich den Beutel, der oben zusammengebunden war. Er ertastete das Innere. Nein, Schmuck war es keiner. Viel zu groß und zu schwer und mit seltsamen Auswüchsen. Fragend sah er zu Marek, der sich auf den Straßenverkehr konzentrierte. "Ein Stein?" "Fast", Marek bremste an einer roten Baustellenampel. Er sah zu Tim hinüber, der den Beutel in der Hand wendete. "Ein Glasherz, so weit ich weiß." "Und was ist damit?" Tims Augen wurden größer. "Soll-soll das in die Urne?" Ihm war auf einmal schwindelig. Wollte Marek, dass er die Urne öffnete und- und- "Nein." Marek lachte leise. "Es ist für dich." Tim atmete erleichtert aus. Er öffnete die beiden Bänder, zog die Öffnung auseinander und drehte den Samtbeutel herum. Der Gegenstand darin glitt in Tims geöffnete Handfläche. Er war tatsächlich aus Glas. Und es war tatsächlich ein Herz. Anatomisch korrekt. Und drinnen befand sich eine rote Flüssigkeit, die hin und her schwappte, als Tim sich das Herz von alle Seiten betrachtete. "Das ist – irgendwie", Tim suchte nach den passenden Worten, während Marek gespannt auf die Reaktion wartete. Die rote Flüssigkeit schlug winzige Wellen in den beiden Herzkammern und den Vorhöfen, als Tim zu lachen begann. "Dein neuer Briefbeschwerer – oder Waffe..." Amüsiert beobachtete Marek Tim, der in einer Hand das Glasherz hielt und mit der anderen Hand die Urne auf seinem Schoß stützte, damit sie nicht fiel. Noch völlig aufgekratzt vom Besuch im Krematorium und den folgenden Tagen schritt Tim auf das Altenheim zu. Garten und Terrasse waren nahezu leergefegt. Die meisten Alten mussten sich an diesem heißen Sommertag auf ihren kühleren Zimmern befinden. Er fand seine Oma im schon obligatorischen Gemeinschaftszimmer vor. Sie saß alleine an ihrem Tisch und spielte wie immer Patience. Von Johan keine Spur. Er konnte ihn weder hören, noch sah er ihn irgendwo. Erste Hürde: seiner Oma klarmachen, dass er dieses mal wirklich keine Zeit gehabt hatte. Zweite Hürde: Johan treffen. Tims Hand schloss sich fester um die Henkel der Stofftasche, in deren Innerem ein Plastikbehälter mit Kuchen darauf wartete, ausgepackt zu werden. Er atmete tief ein und betrat dann das Zimmer, in dem seine Oma saß. Die erste Hürde erledigte sich quasi von selbst. "Tim! Tim!" Unnötigerweise winkte Esther ihren Enkel zu sich und bedeutete ihm, sich zu setzen. Was Tim auch tat. Gerne sogar. "Hallo, Oma", begrüßte Tim Esther, deren Gesicht heute frisch und rosig zu strahlen schien. Er legte den Behälter mit dem Kuchen auf den Tisch und setzte sich dann Esther gegenüber. Esther begann auch gleich einen Redeschwall über ihn herabprasseln zu lassen, dem Tim nur wortweise folgen konnte. Seine Blicke suchten das Stockwerk nach Johan ab. Mit halbem Ohr hörte Tim Esther etwas über den Bäcker erzählen, der normalerweise das Heim mit Backwaren belieferte. Aber nichts darüber, dass er nicht wie versprochen noch letzte Woche zu Besuch gekommen war. Wo war Johan? Das Stationszimmer war leer. Die Flure auch, soweit er das hatte sehen können. Und sonst war alles still. Unruhig zupfte Tim am Saum der Tischdecke. Er wollte endlich sehen, wie Johan reagierte. Er selbst hatte sich alle möglichen Szenarien vorgestellt. Angefangen dabei, dass Johan tat, als wäre alles wie immer, weil sie hier an seinem Arbeitsplatz waren, bis hin zur völligen Horrorvorstellung, dass Johan tatsächlich so tun könnte, als wäre nichts gewesen, weil es für ihn eben nichts gewesen ist, und Tim in dem Moment verstand, dass er der größte Idiot des Planeten war – was Tim aber wiederum bezweifelte, wenn er an ihre letzte Begegnung dachte. Die Tischdecke auf Tims Seite wurde immer länger und die Karten und der Kuchen darauf waren um etliche Zentimeter zu ihm hingerückt. Genau genommen wollte Tim nur sehen, wie er selbst reagierte. Weil er zu wissen meinte, was Johan tat. Esther redete und redete und redete. Und Tim hörte nicht zu. Bis ein Name fiel. "Was?" Aufmerksam geworden setzte sich Tim auf seinem Platz gerade hin. "Wir haben kein Brot bekommen, weil der Bäcker-" "Nein, das andere, was du davor gesagt hast." Mit angehaltenem Atem starrte Tim seine Oma an, die nachdenklich einen Zeigefinger an ihren Mund legte und in Gedanken durchging, was sie gesagt hatte. "Du hast was über Johan gesagt", half Tim ihr auf die Sprünge. Doch Esther erwiderte seine Blicke nur stumm. Ihre Augenbrauen zogen sich in der Mitte zusammen. Oh Gott, was war nur mit seiner Oma los? Sie sah ihn an, als wären sie sich gerade das erste Mal begegnet. "Holst du mir bitte eine Tasse Kaffee?" Esther hatte die Frage ihres Enkels vergessen, was Tim nahezu wahnsinnig machte. Ausgerechnet jetzt, als das Thema auf Johan zu sprechen gekommen war. Widerstrebend ließ Tim die Tischdecke los und stand auf. Mit hölzernen Schritten ging er zu einem Servierwagen, auf dem Geschirr und drei große Thermoskannen standen. Er nahm eine der Tassen, die dort auf Tabletts gestapelt standen und ging damit zu den Kannen, an denen beschriftete Schilder klebten. Auf der ersten stand Tee, auf der daneben Kaffee entkoffeiniert und auf der dritten Kaffee. In Wirklichkeit aber hatte Tim nur Johan, Johan und Johan gelesen. Mit fahrigen Bewegungen nahm Tim die mittlere Kanne und füllte die Tasse mit koffeinfreiem Johan. Unsinn! Mit koffeinfreiem Kaffee natürlich. Das Geschirr auf dem Servierwagen klirrte leise, als Tim die Kanne mit zittrigen Händen etwas zu fest absetzte. "Milch?" Er hörte seine eigene Stimme wie durch Watte. Der Großteil seiner Aufmerksamkeit galt noch immer irgendwelchen Geräuschen, die auf Johans Anwesenheit hindeuteten. "Drei Stück Zucker bitte", rief Esther von ihrem Platz. Tim wusste nicht, ob er seiner Oma geantwortet hatte. Seine Lippen waren ausgetrocknet und seine kalten Finger griffen nach einer Schale, in der in Papier eingewickelte Zuckerstücke lagen. Er nahm drei heraus und legte sie auf die Untertasse. "Milch?" Hatte er das nicht schon mal gefragt? "Nein, danke", antwortete Esther brav. "Und auch nur ein Stück Zucker", hörte Tim eine Stimme neben sich. Er erschrak so heftig, dass Kaffee über den Rand der Tasse schwappte und sich Tim die Finger daran verbrannte. Der Schmerz in seiner Hand sagte ihm, die Tasse sofort fallen zu lassen, aber sein Anstand und der Schock über Johans plötzliches Auftauchen ließen ihn die Tasse festhalten. Mühevoll unterdrückte Tim den Fluch, der ihm auf der Zunge lag. Johan lächelte ihn vergnügt an und Tim lächelte gequält zurück. "Spielverderber!", kreischte Esther heiser und Johan lachte über Tims irritiertes Gesicht. Johan nahm Tim die Tasse aus der Hand. Seine Hand hielt für einen kurzen Moment Tims Hand fest. Als Tim seine tauben Finger endlich dazu brachte, die Tasse loszulassen, stellte Johan diese beiseite. Er nahm eine saubere Tasse, setzte sie auf eine frische Untertasse und griff dann nach der mittleren Kanne, wie auch Tim zuvor. Tim bewegte sich kein Stück, auch nicht, als ihm Johan dabei so nahe kam, dass er dessen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. "Wo warst du denn die ganze Zeit?" Die Frage, vor der er sich gefürchtet hatte, dass seine Oma sie ihm stellen könnte. Und jetzt sollte er sie demjenigen beantworten, der ihm, ohne es zu wissen, einige schlaflose Nächte beschert hatte. Tim presste die Lippen fest zusammen. Sein pulsierendes Blut rauschte in seinen Ohren wie ein Wasserfall. Ohne darüber nachzudenken, griff er in die Schale mit den Zuckerstücken. Er hielt Johan das eingewickelte Zuckerstück entgegen. "Hier, Zucker", krächzte Tim und fühlte, wie er in der gleichen Sekunde unter Johans belustigten Blicken errötete. "Ich habe dich schon vermisst." Johan nahm den Zuckerwürfel und legte ihn auf die Untertasse, ohne Tim dabei aus den Augen zu lassen. "Ach was!" Tim lachte gepresst. Ich dich auch, hätte er lieber gesagt. Seine Haut kribbelte noch immer dort, wo Johan ihn berührt hatte. "Nicht mal Oma hat mich vermisst." Er strich sich fahrig durch sein Haar. "Ihr reicht ja auch der Kuchen, den du ihr vorbeibringst. Auf den Kuchen kann ich aber verzichten..." Johan zwinkerte Tim frech zu und ließ ihn dann am Servierwagen zurück. "Das ist kein Spiel", sagte Johan beschwichtigend zu Esther, die die Tasse mit giftigen Blicken ansah, die Johan vor ihr auf den Tisch stellte. Benommen griff Tim nach einem Kuchenteller und einer kleinen Dessertgabel. Ohne es zu registrieren legte er eine Serviette auf den Teller und ging mit allem zum Tisch seiner Oma. Geduldig sah Johan zu, wie Esther das Zuckerstück auswickelte und in die Tasse fallen ließ. "Sie haben mit einem Stück Zucker schon genug Energie." "Ja, ja", murrte Esther und rührte geräuschvoll mit dem Löffel in der Tasse. Sie nahm die Gabel und piekte sie so fest in den Kuchen, den Tim mittlerweile auf ihren Teller gelegt hatte, als wäre es seine Schuld, dass Johan ihr den Spaß verdorben hatte. Dabei war es so leicht und vor allem so lustig Tim immer wieder hereinzulegen. "Wollten Sie nicht Pause machen, Junge?", fuhr sie Johan verstimmt an. "Die kann ich ja jetzt beruhigt machen", entgegnete Johan unbeeindruckt auf die spitze Bemerkung. "Ich bin gleich wieder hier." Seelenruhig aß Esther ihren Kuchen. Sie hatte beschlossen, Johan zu ignorieren. "Jetzt brauche ich eine Zigarette", murmelte Johan. "Ich komme mit." Tim war von seinem Platz aufgesprungen. "Wenn das in Ordnung ist", fügte er hinzu, als ihm seine eigentlich gute Erziehung wieder einfiel. "Klar, warum nicht?" Tim sah zu seiner Oma, die nun auch ihn ignorierte und ihre Aufmerksamkeit nur dem Kuchen auf ihrem Teller zukommen ließ. Zusammen mit Johan verließ Tim das Zimmer. Als sie durch die Tür gingen, hörten sie Esther, die ihnen etwas nachrief. "Das werde ich mir für's nächste Mal merken, wenn Sie wieder was über meinen Enkel wissen wollen, Johan." Johans Kopf wirbelte zu dem neben ihm gehenden Tim herum und dieses Mal war er es, der die Überraschung nicht verbergen konnte. Er fasste sich allerdings schneller, als Tim, dem der Satz seiner Oma den Atem verschlagen hatte. "Das kann ich ihn jetzt ja alles selbst fragen", antwortete er Esther. Sie setzten sich draußen auf die gleichen Stufen wie beim letzten Mal. Johan bot Tim wieder eine Zigarette und Feuer an und schweigend rauchten sie ihre Zigaretten. Jetzt hatte er seine Antwort darauf, wie Johan ihr letztes Treffen hier draußen eingeordnet hatte, dachte Tim. Johan hatte also seine Oma nach ihm ausgefragt? Interessant. Johan sah zu Tim, der stumm vor sich hin grinste. "Ich habe sie nur nach deinem Namen gefragt." Er glaubte selbst nicht, was er da sagte. Und Tim glaubte es ihm auch nicht. "Klar." Ohne etwas von dem Grinsen zu verlieren, stieß Tim den Rauch aus. Johan musste lachen. "Ich wollte vor dem nächsten Kuss ja zumindest mal deinen Namen wissen." Tim hustete, als er sich an dem eingeatmeten Rauch verschluckte. "Sag bloß", ächzte Tim, während sein Hals kratzte und ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er schnippte die halb gerauchte Zigarette ins Blumenbeet und wischte sich die Tränen weg. "Wie kommst du darauf, dass es noch einen gibt?" Johan antwortete wie damals, als sie das erste Mal hier draußen waren. Seine Hand legte sich auf Tims Wange. Er drehte dessen Gesicht zu sich herum und küsste ihn einfach. Heute saß Tim nicht wie erstarrt da. Er rückte so nahe zu Johan hinüber, bis sich ihre Schultern berührten. "Warum bist du denn sonst hier?", neckte Johan Tim, als er den Kuss kurz unterbrach. "Omi besuchen", murmelte Tim mit roten Wangen. Er musste sich Mühe geben, Johan nichts von dem Tornado merken zu lassen, der gerade durch seinen Magen tobte. Johans Augen schienen in Tim hineinzusehen und er fühlte sich einen Moment bei etwas erwischt, was er vielleicht nicht tun sollte. Oder, was er vielleicht nicht mal denken sollte. Sachte strich Johans Hand über Tims Kinn. Seine Fingerspitzen berührten Tims Mund. Johan, der sich zuerst hinüberbeugte, um Tim erneut zu küssen, richtete sich wieder auf. Er sah Tim forschend an, der sich verlegen auf die Unterlippe biss. "Vergiss das Essen", sagte Johan plötzlich. Augenblicklich verschlug es Tim die Sprache und den Atem. Johans  Hand glitt langsam von Tims Kinn. Er drehte sich von Tim weg und  drückte den Rest seiner Zigarette in die Erde des Blumenbeets. All  das tat er unter Tims betretenem Schweigen und den ratlosen Blicken,  die jedes Krümmen seiner Finger und jede noch so winzige Bewegung  seiner Gesichtsmuskulatur beobachteten und zu analysieren versuchten. Endlich,  gerade als Tim schon gedacht hatte, das Ausdrücken der Zigarette  würde sich noch ewig hinziehen, wandte sich Johan ihm wieder zu. "Ich  habe am Wochenende keinen Dienst." Dazu  fiel Tim jetzt nichts ein. "Ich  meine, wenn du schrecklich hungrig bist, können wir auch was essen  gehen, aber ich dachte da eher an anderes, was man so tun könnte." Jetzt  fielen Tim alle möglichen Sachen ein. "Erst  mal kennenlernen", fügte Johan schmunzelnd hinzu und Tim sah  ihn ertappt an. "Ja...  natürlich." Wie gab man sich möglichst harmlos, wenn man  überrumpelt wurde, ohne dass andere Anwesende merkten, wie gestellt  das alles wirkte? Jedenfalls nicht, indem man stotterte und sich  dann, wenn man es bemerkte, räusperte, um dann ein heiseres Okay  hervorzupressen, obwohl es eigentlich hätte unbeeindruckt klingen  sollen. In  so etwas war Tim mies. Gott sei Dank wusste Johan das nicht. Deshalb  tat Tim auch das, wovon er hoffte, besser darin zu sein: er drehte  den Spieß um und zwar so schnell, dass dem anderen gar keine Zeit  blieb, viel nachzudenken. "Samstagabend  um Acht vor dem Ostpark am Yoga-Fisch." Tim dachte nicht daran,  es wie eine Frage klingen zu lassen. Und er dachte erst recht nicht  daran, Johan zu Wort kommen zu lassen, so lange er ihn küsste. "Und  ja, ich bin immer schrecklich hungrig. Und ich mag Steak." Johan,  der sich plötzlich in der Rolle des Geküssten fand, als Tim sich  blitzschnell zu ihm hingedreht hatte, wartete brav ab, bis Tim nach  der Ansage mit dem Treffpunkt und dem Steak seine Lippen von Johans  Mund löste und diesem nun gestattete, auch mal was zu sagen. "Gut,  einverstanden." Johan konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.  Er hatte Tim da wohl kurzzeitig unterschätzt. Blöder Fehler. Er  stand auf und wartete auf Tim. "Lösen wir meine Kollegin ab und  schauen mal, ob deine Oma mit dem Kuchen fertig ist?" Tim  nickte, auch wenn er lieber hier draußen geblieben wäre. Aber der  Samstag war ja nicht mehr lange hin. Er  war viel zu früh dran. Von acht Uhr war die Rede gewesen und Johan  stand bereits seit zwanzig Minuten hier vor dem Ostpark und schaute  alle zwanzig Sekunden auf seine Uhr, ob die verbleibenden zehn  Minuten jetzt endlich vorüber waren. Seine  Zigaretten lagen im Auto. Vermutlich auf dem Beifahrersitz. Direkt  neben seinem Handy. Entweder hatte er am Ende des Abends ein  aufgebrochenes Auto und ein gestohlenes Handy oder ein aufgebrochenes  und gestohlenes Auto inklusive gestohlenem Handy, auf dem eine  Nachricht von Tim auf ihn wartete, dass er es sich anders überlegt  hatte und sich lieber doch nicht mit ihm treffen wollte. Und er würde  es nie erfahren... Noch  sieben Minuten. Johan  schlenderte an der Graffitiübersäten Parkmauer entlang, die kaum  noch etwas von ihrer ursprünglichen Farbe hatte. Am  Yoga-Fisch hatte Tim gesagt. Johan  sah sich den Teil der Parkmauer noch einmal an, vor der er gerade  stand. Ja,  er war hier richtig. Hier zwischen dem Graffiti mit den  Strichmännchen, die von oben in einen riesigen Trichter fielen und  unten als kunterbunter Regenbogen herausflossen, und einem Zebra,  dessen eigentlich schwarze Streifen aus verschieden grauen Punkten  bestand wie ein verstellter Fernsehsender, dazwischen saß ein  mannshoher Fisch mit geschlossenen Augen und selig lächelndem Mund,  die Hinterflossen zum Lotussitz untergeschlagen und die Vorderflossen  auf den 'Knien' ruhend. Loose  lips sink ships  stand in einer Denkblase neben dem Fisch. Vier  Minuten. Nervös  suchten Johans Hände seine Hosentaschen ab, bis ihm wieder einfiel,  wo seine Zigaretten lagen. "Ich  dachte, ich wäre Erster." Johan  drehte sich zu der Stimme um, die hinter ihm erklang. Erleichtert  erwiderte er Tims Lächeln. "Rare,  medium oder durch?", begrüßte Johan Tim. "Medium",  erwiderte Tim ohne groß nachzudenken. Johans Blicke zogen ihn sofort  in ihren Bann. Er sah Tim an, als wisse er schon längst, was er  selbst wollte – und als wisse er, was Tim wollte. "Und du  rare." Johan  konnte nicht verbergen, dass Tim ihn kurz aus dem Konzept brachte.  "Da muss ich wohl an meiner Tarnung arbeiten, wenn ich so leicht  zu durchschauen bin", murmelte Johan scheinbar nachdenklich und  sah an sich hinab. "So  schaust du also ohne Arbeitskleidung aus", entfuhr es Tim  unbewusst, als er sich Johan näher ansah. "Mit  Kleidung, natürlich. Privat. Nicht ohne  Kleidung insgesamt", fügte er hastig hinzu und merkte  verzweifelt, wie er sich mit jedem weiteren Wort mehr und mehr um  Kopf und Kragen redete. Was Johan natürlich lustig fand. "Du  wolltest ja unbedingt zuerst essen gehen", neckte Johan Tim, der  Johan zuerst mit großen Augen angesehen hatte, dann seinen Blicken  beschämt ausgewichen war und sich gerade mit der Hand über die  Stirn strich und den Kopf schüttelte, bevor er endlich auch  losprustete. "Toller  Anfang", stieß Tim zwischen zwei Lachsalven hervor. "Ich  hätte es nicht besser hinbekommen", bestätigte Johan lachend.  "Na, immer noch hungrig?" Tim,  der gehofft hatte, das Thema sei nun endlich vom Tisch, wusste nicht,  wohin er noch schauen oder was er noch sagen konnte, ohne dass es  nicht noch zweideutiger wurde. Gott, wie peinlich... "Das-das  war keine Absicht", stammelte Tim verlegen. "Ich  weiß, deshalb ist es ja so lustig." Johan wischte sich die  Lachtränen aus den Augen. Er sah zu Tim, der in einem fort Oh,  Gott-Oh, Gott vor  sich hinmurmelte und unbewusst auf Abstand zu Johan ging. Auf der  Stelle bekam Johan Mitleid. Gut, eigentlich musste er sich dazu  zwingen, nicht weiter zu lachen. Sachte  griff Johan nach Tims Hand und zog ihn wieder zu sich. Dann, als Tim  keine Anstalten machte, flüchten zu wollen, legte er einen Arm um  Tims Taille und ging schweigend neben ihm her. Zufrieden nahm er  wahr, wie Tim es ihm gleich tat und nun auch seinen Arm um Johans  Hüfte legte. Es wirkte noch ein bisschen hölzern, aber irgendwann  merkte Johan, dass Tims Anspannung nachließ. Da  hast du den Salat,  dachte Tim nach zwanzig Metern geknickt und warf einen schnellen  Blick zu Johan, der völlig gefasst neben ihm herging und noch nicht  einmal eine Zigarette geraucht hatte, seit sie sich gesehen hatten.  Vermutlich war Tim der einzige von ihnen, der einen Grund hatte,  nervös zu sein. Und was für einen Grund er hatte... Johan  sah zu Tim, als dessen Arm von seiner Hüfte glitt. Er ging etwas auf  Abstand und steckte seine nun freien Hände in die Hosentaschen. "Entschuldige",  stieß Tim kaum hörbar hervor. "Kein  Problem." Johan lächelte Tim aufmunternd zu. Tim  wich den Blicken aus. Was für ein Idiot er war! Nicht nur Marek  gegenüber, sondern auch Johan gegenüber. Wie  dumm, dass er gedacht hatte, einfach so tun zu können, als wäre das  hier ein normales Date. Er hätte das gleich sein lassen sollen.  Nicht jetzt, sondern schon viel früher. Schon damals, als Johan ihn  auf der Treppe zum Seiteneingang des Altenheims geküsst hatte.  Davor, um genau zu sein. Jetzt war es zu spät. Er fühlte es in  seiner linken Hand, die er um Johan geschlungen hatte. Sie kribbelte  noch immer wie elektrisiert und auch jetzt meinte er, den Stoff von  Johans T-Shirt an seinen Fingerspitzen fühlen zu können; die  Muskeln, die sich darunter mit jedem Schritt bewegt hatten. "Wohin  wolltest du überhaupt?", riss Johan Tim aus den düsteren  Gedanken. Swallow My Pride ---------------- Die Großmutter hat ihre Ruhe Der Jäger bringt das Wild zur Strecke Der Wolf macht große Augen Das Rotkäppchen bekommt mehr als gedacht Tim sah das erste Mal zu Johan, seit er seinen Arm weggenommen hatte. Sie hatten den Park längst hinter sich gelassen und standen nun an der Kreuzung Richtung Altstadt. "Ich denke, dort werden wir sicher was finden", sagte Tim und nickte zur gegenüberliegenden Straßenseite, von wo aus laute Musik zu ihnen hinüberschallte. Und vor allem konnte man in der Menschenmenge gut abtauchen, fügte Tim in Gedanken hinzu. Zusammen schlenderten sie nebeneinander durch das Labyrinth der Gassen. Jetzt war der Abstand zwischen ihnen zwar wieder geringer, doch außer dass sich ihr Arme ab und an berührten – manchmal wirkte es sogar unabsichtlich –, war es ungezwungener als der Weg am Park entlang. Immerhin hatte er hier eine Entschuldigung dafür, dass sie nicht einen halben Meter Anstandsabstand zwischen sich lassen konnten. "Das schaut doch gut aus", lenkte Johan Tim von seinen Gedanken darüber ab, welcher Abstand zwischen ihnen angemessener war. Er nahm Tims Hand und zog ihn auf eine Lücke zwischen zwei Häuser zu, über der eine bunt flimmernde Leuchtreklame ein Bistro im Hinterhof versprach. Tim folgte Johan durch den schmalen Durchgang, den er ohne Schild am Vordereingang nie im Leben betreten hätte. Ihr Weg ging über ungleichmäßig hoch verlegtes Kopfsteinpflaster, bis sie schließlich, als sie schon dachten, der enge Durchgang habe überhaupt kein Ende mehr, in einem weitläufigen Hinterhof ankamen. "Ein Tisch für Zwei?", wurden sie nur wenige Schritte später von einer Kellnerin empfangen. Johan hielt immer noch seine Hand, bis sie an ihrem Tisch ankamen. Erst dann ließ er ihn los und Tim griff schnell nach der Karte, die in der Mitte des Tischs in einem Halter klemmte. "Was möchtest du?" "Keine Ahnung, ich habe mir noch nicht alles durchgelesen", antwortete Tim zerstreut auf Johans Frage. "Du starrst schon seit fünf Minuten auf die gleiche Seite." Tim hob wie benommen den Kopf. Johan grinste ihn an. Hatte er das wirklich getan? Johan machte Witze. Oder? "Ich habe mir mal erlaubt, etwas für dich mitzubestellen. Du hast die Wahl zwischen Bier und Bier." Johan zeigte auf die beiden Gläser, die am Rande des Tisches standen. Okay, er hatte keinen Witz gemacht. Perplex nahm Tim eines der Biergläser, das ihm Johan zuschob. "Beim Essen war ich mir nicht sicher. Die haben hier kein Steak, sonst hätte ich dir was bestellt", entschuldigte sich Johan ohne etwas von seinem Grinsen zu verlieren. Er hatte sich eine Packung Zigaretten geben lassen und zündete sich gerade eine davon an. Höflich hielt er Tim die Packung hin, der aber den Kopf schüttelte. "Ich denke, ich habe keinen Hunger." Tim klappte die Karte zusammen, von der er außer dem Namen des Bistros kein einziges Wort behalten hatte. "Gut, ich auch nicht." Johan schnippte die Asche von seiner Zigarette in den Aschenbecher. Er musterte Tim, der den Blicken tapfer standhielt. "Ist das dein Laden oder arbeitest du dort?" "Ich bin dort angestellt." "Du bist also Florist?", schloss Johan. Tim schüttelte den Kopf. "Nein, was ich auch nicht bedauere." "Bestatter?", hakte Johan interessiert nach, als er sich an den unteren Teil des Schriftzugs auf dem roten Transporter erinnerte. "Bloß nicht", entfuhr es Tim entsetzt, worüber Johan lachen musste. Johan ließ nicht locker. "Gärtner dann eben?" "Knapp daneben. Ich mache den Bürokram. Buchführung, Bestellungen und so was eben." Tim griff nach dem Bierglas, das seine Hand angenehm kühlte. Er wischte über das kondensierte Wasser und betrachtete sich die bogenförmige Spur, die sein Daumen hinterlassen hatte. "Ich bin sozusagen die Sekretärin", fügte er so bitter hinzu, dass Johan nicht anders konnte, als wieder zu lachen. "Schade, dass ich keinen eigenen Laden habe", seufzte Johan, worüber nun Tim lachen musste. Johan beugte sich weiter über den Tisch hinüber zu Tim. "Dann hast du sicher auch Ahnung von Steuererklärungen, oder?", fragte er und fügte mit gedämpfter Stimme hinzu, als sei es ein Geheimnis, das nur Tim hören sollte: "Kennst du ein paar – Extras?" "Ein oder zwei", antwortete Tim schmunzelnd. "Die bleiben aber unter uns." "Selbstverständlich", versprach Johan mit möglichst ernsten Gesichtsausdruck. "Setzt du das hier als Geschäftsessen ab?" Tim musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. "Ich bin mir nicht sicher, wie ich das meinem Chef erklären sollte", gab er amüsiert zurück und erschrak im gleichen Moment. Johan beobachtete Tim aufmerksam, dessen Gesichtsausdruck von einer Sekunde auf die andere wie versteinert wirkte. Er war so bleich geworden wie jemand, dem im Flugzeug mitten über dem Atlantik einfiel, dass er Zuhause den Herd nicht ausgeschaltet hatte. Tim biss sich auf die Unterlippe. Da hatte er aus Versehen die Wahrheit gesagt und im gleichen Atemzug Marek verleugnet. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand mit voller Kraft in den Magen geboxt. Johan griff über den Tisch nach Tims Hand, die das Bierglas so fest umschloss, dass seine Knöchel weiß unter seiner Haut hervortraten. Sprachlos sah Tim auf Johans Hand hinab. Er hätte den Griff um das Glas gerne gelockert, aber die Verbindung zwischen seinem Kopf und seiner Hand schien völlig blockiert zu sein. Wie betäubt nahm er die Musik und das Stimmengewirr um sie herum wahr. Die bunten Lichterketten, die über ihnen hingen und sanft im warmen Sommerwind hin und her schaukelten, lösten Schwindel in Tim aus. Sachte schob Johan seine Finger unter Tims verkrampfte Hand, bis er merkte, dass deren Kontakt zum Glas langsam nachließ. Er nahm Tims eiskalte Hand in seine und wartete, bis die Kälte gewichen war. Er hätte Tim gerne gefragt, was plötzlich mit ihm los war, verwarf den Gedanken aber, als er Tims erwidernden Händedruck fühlte. "Also", sagte Johan auf einmal in die Stille hinein, die zwischen ihnen ausgebrochen war. "Ich glaube, ich sollte dir was gestehen." Tim ließ den Blick von Johans Händen, die noch immer seine eigene festhielten. "Okay", murmelte Tim. Warum nicht weitermachen mit Zugeständnissen? Dann war der Abend jedenfalls schneller vorbei, als er gedacht hatte. Tim atmete tief ein und machte sich auf das gefasst, was ihn gleich erwarten würde. "Die Frage nach dem Essengehen-", Johan unterbrach sich selbst. Seine Finger strichen über jeden Zentimeter von Tims Hand, die endlich wieder eine gesunde Temperatur angenommen hatte. "Also damals - als du mich vom Gemeinschaftszimmer aus im Stationszimmer beobachtet hast und ich dann rauskam, um zu fragen, ob wir essen gehen-" "Und du eigentlich meine Oma gemeint hattest?", beendete Tim Johans ungewohnt holprigen Satz. "Genau", erwiderte Johan und machte wieder eine kurze Pause, in der er nachzudenken schien. "Da hatte ich nicht unbedingt nur deine Oma angesprochen." "Echt jetzt?", entfuhr es Tim verblüfft. Was wollte Johan denn damit sagen? Und warum wich er Tims Blicken aus und starrte konzentriert auf seine Hand? "Ich wollte wissen, wie du reagierst", gestand Johan schließlich nach einer Weile. Er sah auf und blickte direkt in Tims Augen, die ihn etwas desorientiert ansahen. Tim schwieg. Johan war noch nicht fertig mit reden. Da fehlte noch was, hatte er das Gefühl. Ein Knaller, sozusagen. "Und ich denke, ich weiß, was du gerade am Überlegen bist", fuhr Johan fort. Seine Blicke glitten an Tims Kopf hinab über seinen Hals und stoppten in Höhe seiner Schulter. "Ich weiß es seit dem Tag als Esther sich tot gestellt hat." Er wusste sofort, auf was Johan da anspielte. Tims freie Hand fuhr gleich zu der Stelle mit dem mittlerweile nicht mehr sichtbaren Flecken, wo Marek ihn im Eifer des Gefechts gebissen hatte. Er musste aussehen wie eine der brennenden Fackeln, die in den Ecken des Innenhofs standen. Jedenfalls fühlte sich Tim so. Fahrig griff er nach dem Bierglas und hob es an seine Lippen. Wenn Johan noch ein Wort in dieser Richtung sagte, fiel Tim hier tot vom Stuhl, da war er sich absolut sicher. Doch Johan sagte nichts mehr. Er saß da und beobachtete Tim mit dem gleichen wissenden Lächeln auf den Lippen, mit dem er damals Tims Reaktion auf die Frage mit dem Essen quittiert hatte. Das Bier war mittlerweile schal geworden und Tim bereute den Schluck, den er gerade aus Verlegenheit genommen hatte. "Ich wette, du willst jetzt lieber nach Hause, oder?" Tim brachte nicht mehr als ein leises Hm hervor. Am Yoga-Fisch angekommen sah Tim das erste Mal seit sie das Bistro verlassen hatten Johan direkt an. Er war selbst schuld. Was benahm er sich auch wie der letzte Trampel? Was dachte Johan jetzt wohl von ihm? "Ich habe nächste Woche Mittagschicht", beantwortete Johan Tims unausgesprochene Frage. "Und ich hoffe, du besuchst deine Omi?" Tim wäre am liebsten im Erdboden versunken. Nach all dem, was Johan jetzt wusste? Jetzt, wo er wusste, wie skrupellos Tim war? Ernsthaft? In genau diesem Moment spürte er Johans Arme, die sich um seinen Oberkörper legten, um ihn sanft und bestimmt zu sich zu ziehen. Ohne viel nachzudenken kam Tim Johan entgegen, der den Kopf zu ihm hinab geneigt hatte und ihn küsste. Tims Hände gruben sich auf der Suche nach Halt in den dünnen Stoff von Johans T-Shirt. Er merkte, wie seine Knie wieder zu Wachs wurden, während ihr Kuss andauerte. Damit war dann auch die letzte Frage beantwortet. Das erste, was Tim tat, als er die Wohnung über dem Blumenladen betrat, war, einen Moment zu horchen, ob Marek zuhause war. Anscheinend nicht, wenn er die Stille richtig deutete. Oder er schlief schon. Tim öffnete die angelehnte Schlafzimmertür und schaltete das Licht ein. Das Bett schien unberührt. Zumindest sah es noch so aus, wie Tim es von heute Morgen in Erinnerung hatte. Es war nicht unbedingt perfekt gemacht, aber immerhin waren die Decken glatt gezogen. Er löschte das Licht wieder und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Frischgeduscht ließ sich Tim zwanzig Minuten später erschöpft auf das Sofa im Wohnzimmer fallen. Er suchte nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Eine Weile zappte er unkonzentriert durch die Programme. Im Wohnzimmer war es heiß und stickig. Offenbar war Marek den ganzen Tag noch nicht hier gewesen. Tim versuchte, sich daran zu erinnern, ob er irgendetwas gesagt hatte, warum er später kam, aber es fiel ihm nichts ein. In seinem Kopf fuhren gerade sämtliche Gedanken Karussell – besonders die, die mit Johan zu tun hatten; und das hatten sie alle irgendwie... Und dann noch diese unerträgliche Hitze hier. Entschlossen stand Tim auf. Er ging zur Balkontür hinüber und riss sie auf, um frische Luft hineinzulassen. Aber alles, was er bekam, war die restliche Hitze des vergangenen Tages, die sich zwischen den Häusern angestaut hatte. Tim seufzte und ging wieder zurück zum Sofa. Er zwang sich, in den Fernseher zu gucken – was er auch erfolgreich schaffte. Allerdings blieb es auch beim in den Fernseher starren. Vom Programm bekam er nichts mit. Jedes Mal, wenn er dachte, die nächste Werbung für Bausparverträge könnte ihn ablenken, sah er stattdessen Johan vor sich, wie er sein Gesicht mit beiden Händen stützte, fühlte seinen Mund auf seinem und hörte den letzten Satz, den er zu ihm gesagt hatte. "Wir sehen uns bald wieder, ja?" Tim raufte sich die Haare. Wie sollte er jetzt noch seine Oma besuchen, wenn er sich ständig fragen musste, ob er nicht nur noch wegen Johan dort war? Weshalb hatte ihn die Tatsache, dass sich Tim ja offensichtlich noch mit jemand anderem traf, überhaupt nicht gestört? Und warum war er mit mehr Fragen als Antworten nach Hause gegangen? "Scheiß Hitze!", entfuhr es Tim. Er lehnte sich auf dem Sofa zur Seite und schaltete den Ventilator ein, der dort stand und sogleich damit begann, die warme Luft im Zimmer gleichmäßig zu verteilen. Tim sank zurück auf seinen Platz. Seit wann war das Sofa so unbequem? Jede Naht und jede Feder schien ihn zu drücken. Er wechselte seine Position. Erfolglos. Tim schlug sich die Hände vors Gesicht. Ein Gedanke ließ ihn auffahren. Vielleicht war er ja auch nur eine Nummer für Johan? Eine Nummer zwischen 0 und 99? Eiskalt kroch dieser Gedanke in Tim. Warum war Marek nicht hier? Er hätte ihn ablenken können. Von diesen Gedanken – und vor allem von diesem Gedanken. Dem Letzten... Er fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Seufzend wischte ihn Tim weg – und hielt dann inne. Im Fernsehen lief gerade eine Werbung über das zigste Auto, das garantiert noch sparsamer, schneller und umweltfreundlicher war, als die zehntausend davor. Das war's! Tim sprang auf und rannte ins Schlafzimmer. Hektisch zog er sich an, rannte zurück in den Flur, zog dort seine Schuhe an und wurde einen Moment panisch, als ihm nicht mehr einfallen wollte, wo er den Autoschlüssel hingeworfen hatte. Auf dem Bett! Natürlich! Dort, wo er zuerst hingesehen hatte. Den gefundenen Autoschlüssel in der Hand und den Rest von ihm mit Mut angefüllt, verließ Tim die Wohnung, ehe er es sich wieder anders überlegen konnte. "Guten Abend, mein Schatz, dein Lieblings-Chef ist hier!" Marek wartete auf eine Erwiderung nach dem Motto: Wo ist meine Gehaltserhöhung? Aber alles, was ihn empfing, war ein laufender Fernseher. "Hallo, Fernseher", begrüßte Marek den Kasten. "Und einen schönen Guten Abend, Ventilator. Habt ihr Tim gesehen?" Schulternzuckend setzte sich Marek in Bewegung. "Bist du schon im Bett? Ich hoffe, ja.", rief er gut gelaunt in Richtung Schlafzimmer. Spätestens jetzt hätte ihm Tim eine passende Antwort an den Kopf geschleudert. Dass keine kam, konnte nur bedeuten, dass er wirklich nicht zuhause war. "Das ist die letzte Gelegenheit, bevor ich mir eine andere Beschäftigung suche – und du weißt, was das heißt!" Atemlos horchte Marek in die anhaltende Stille. "Gut, du hattest deine Chance. Ich nehme mir jetzt was zu trinken und leiste dann dem Fernseher Gesellschaft..." Mit der Absicht, keinen Krach zu machen, öffnete Tim die Wohnungstür und hielt inne, als er die Stimmen aus dem Wohnzimmer hörte. Er hatte vergessen, den Fernseher auszuschalten. Oh, und den Ventilator. Und das Licht. Und die Balkontür stand auch offen. "Hallöchen", wurde Tim fröhlich aus dem Wohnzimmer begrüßt. Zuerst dachte er, die Stimme käme aus dem Fernseher, bis er Mareks Schuhe im Flur sah. Er war also hier und anscheinend noch wach. Schlechtes Timing, dachte Tim. Er streifte die Schuhe ab und legte den Autoschlüssel auf das niedrige Schränkchen im Flur. "Du machst es ja ganz schön spannend, was?" Marek lachte ihn so herzlich an, als Tim endlich zu ihm ins Wohnzimmer kam, dass Tim auf der Stelle wieder Bauchweh bekam. "Bist du schon lange zuhause?" "Geht so." Marek legte seinen Arm um Tim, der sich neben ihn setzte, und gab ihm einen Kuss. "Wir hatten noch was zu feiern." "Ja? Und was?" Tim lehnte den Kopf gegen Mareks Schulter. Hatte er doch etwas vergessen? "Thomas hat seine Prüfung geschafft", verkündete Marek nicht ohne Stolz in der Stimme. "Und weißt du, was das heißt?" "Nein", entgegnete Tim und unterdrückte ein Gähnen. "Er kann demnächst alleine los und ich", Marek unterbrach sich, um sich zu Tim umzuwenden. "Ich hätte dann mehr Zeit für dich." Marek neigte seinen Kopf zu Tim hinab, der ihn erschrocken ansah, und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. "Das müssen wir feiern, oder was meinst du?" "Wart ihr nicht schon feiern?" Tim lächelte gequält. "Du bist sicher nicht mehr fit..." "Nicht mehr fit wofür?", neckte Marek Tim, der sich plötzlich auf dem Rücken liegend auf dem Sofa vorfand. "Um-um-um – du weißt, wofür." Tim versuchte, sich um die Antwort zu drücken, was Marek mit einem breiten Grinsen quittierte. "Bin ich nicht", sagte Marek sanft. Sein Mund strich sachte über Tims Hals. "Überzeugt?" Tim griff nach Mareks Kopf. Er zog ihn zu sich und küsste ihn so forsch, dass Marek einen überraschten Laut von sich gab, als Tim ihm dabei in die Unterlippe biss. "Hast du nicht behauptet, ich wäre der Wolf?", lachte Marek, als ihn Tim kurz losließ. "Ich glaube, du bist das Rotkäppchen", antwortete Tim. Marek lachte auf. "Wieso denn Rotkäppchen?" "Die Oma ist schon vergeben", erwiderte Tim und blinzelte unschuldig. Marek richtete sich ein wenig auf. "Und was ist mit dem Jäger?" "Auch schon vergeben, tut mir leid." Tim zuckte scheinbar bedauernd mit den Schultern. "An wen?" Marek schien empört, aber seine Augen verrieten das Gegenteil. "Na los, sag mir, an wen." Tim lachte, als ihn Mareks freie Hand zu kitzeln begann. Er wand sich unter Marek, der ihm allerdings keine Chance zur Flucht ließ. "Ich-ich – ich sag's nicht", stieß Tim atemlos hervor. "Ich werde nicht damit aufhören, bis du mir sagst, wer der Jäger ist." Mareks Hände schienen wirklich überall zugleich zu sein, egal, wie sehr sich Tim auch aus seiner ungünstigen Position zu befreien versuchte. "Irgendwann wirst du lockerlassen müssen", keuchte Tim nach Atem ringend. "Was denkst du, warum ich so große Hände habe?" Marek schnappte nach Tim, der es doch tatsächlich geschafft hatte, ein paar Zentimeter Freiraum zu gewinnen. "Weil du ein Spinner bist?", rief Tim lachend. Er bekam so langsam Seitenstechen vom falschen Atmen. "Falscher Text", entgegnete Marek scheinheilig grinsend. "Ich glaube, Rotkäppchens Fragen sind etwas anders, soweit ich mich erinnern kann." "Okay, okay", Tim musste ein paar Mal durchatmen. "Ich bin ganz friedlich, siehst du?" Wie zum Beweis hielt Tim endlich still. "Gut", murmelte Marek, der dem Frieden nicht ganz traute. "Deine Frage muss lauten, warum ich ein so großes Maul habe. Verstanden?" Tim verschluckte sich beinahe, als er Marek antworten wollte, der gebannt an seinen Lippen hing. "Damit liegst du richtig, auch ohne Rotkäppchen." Marek gab einen empörten Laut von sich. "Damit ich dich besser fressen kann", berichtigte Marek Tim und begann im gleichen Moment, dessen Hals mit zarten Bissen zu übersäen. "Schön, du hast gewonnen", rief Tim. "Der Wolf gewinnt doch nicht", unterbrach Marek Tim. "Kennst du das Märchen überhaupt?" "Ja, ja klar." Tim machte sich auf eine erneute Beißattacke gefasst und versuchte, Mareks Kopf auf Abstand zu halten. "Und was muss ich jetzt fragen? Warum du so große Ohren hast?" Er zog sachte an Mareks linkem Ohr, der daraufhin überrascht die Luft einsog. Tim prustete vor lachen. "Lach nicht den Wolf aus!" Marek tat schockiert. "Wie kommst du denn auf die Idee?" Es kostete Tim mittlerweile echt Mühe, Mareks Hände abzuwehren, die an seinen Kleidern zerrten, dass die Nähte krachten. Oh, und das Atmen durfte er zwischen dem Lachen und dem Geküsstwerden auch nicht vergessen. Dann hielt Marek plötzlich inne. Er stützte sich auf einen Ellenbogen und betrachtete sich stumm Tim. "Was ist denn los?", alberte Tim. "Was machst du denn für große Augen?" Er versuchte, sein Lachen zu verbergen, aber sein ganzer Körper bebte. Marek grinste zufrieden. "So langsam lernt das Rotkäppchen." "Sind damit endlich alle Fragen beantwortet?" "Noch lange nicht", flüsterte Marek und beugte sich zu Tim hinab. "Ich kenne das Märchen", warf Tim protestierend dazwischen. "Mehr als Maul, Ohren, Hände und Augen gibt es nicht." Marek sah Tim eine Weile stumm an, der unter ihm lag und abwartend zu ihm aufsah. Er strich ihm durch das Haar, das mittlerweile noch verwuschelter war, als ohnehin schon. Mareks Finger strichen die Konturen von Tims Augenbrauen nach, seinen Nasenrücken entlang bis sie einen kurzen Moment auf Tims Mund zur Ruhe kamen. Dann neigte Marek seinen Kopf zu Tim hinab und küsste ihn sachte. Seine Zunge glitt über Tims Lippen, bis diese sich öffneten. "Kennst du schon die ab-18-Version von Rotkäppchen?", flüsterte Marek, ohne seine Lippen von denen Tims zu lösen. "Ich hätte da noch eine passende Frage für das Rotkäppchen." Tim grinste. "Die Frage erübrigt sich wohl – das Rotkäppchen kennt die Antwort darauf schon längst." Der Wolf gewinnt doch nicht – Tim dachte schon seit vorletztem Abend über diesen Satz nach, den Marek nur nebenher gesagt hatte. Für Marek hatte er keine weitere Bedeutung gehabt. Anders als für Tim. Er war sich einen Moment lang wie überführt vorgekommen. Aber woher sollte Marek auch nur ahnen- "Weißt du, wo die Calla sind?" Marek stand in der Mitte des Ladens und sah sich ratlos um. Tim, der hinter dem Tresen stand und den Unterschied zwischen Tüll- und Organzabändern herauszufinden versuchte, hob den Kopf. "Was sind Calla? Und wie sehen die denn aus?" "Wie Calla eben aussehen. Schmale grüne Blätter, trichterförmige Blüten. Und die, die ich suche, waren orange." So hatten die Blumen ausgesehen, die er seiner Oma mitgebracht hatte. "Die Gerbera?" Marek sah Tim mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Jetzt sag bloß, du hast die Calla mitgenommen, weil du dachtest, es seien Gerbera?" "Na ja, sie waren halt orange..." Entschuldigend hob Tim die Schultern. "Ach, Schatz." Marek stand auf der Kundenseite der Theke und sah zu Tim, der schuldbewusst seinen Blicken auswich. Er nahm Tims Hand, mit der er gerade konzentriert einem grünen Steckschwamm eine neue Form gegeben hatte. "War das eine Sonderbestellung?" "Nein." Marek wartete, bis Tim ihn endlich ansah. "Du bist mir jetzt allerdings etwas schuldig." "Ich habe doch alle Schulden bezahlt. Die alten und die, die ich noch machen wollte", protestierte Tim und verbiss sich das Grinsen. Mareks Mundwinkel bogen sich zu einem milden Lächeln. "Dieses Mal wirst du bezahlen. Aber nicht so, wie du denkst", sagte er so ruhig, dass Tim misstrauisch wurde. "Was meinst du damit?" Tims Grinsen war wie weggewischt. "Ab sofort bekommst du Unterricht in Pflanzenkunde." "Können wir nicht noch mal darüber reden?", unterbrach Tim Marek. Marek schüttelte den Kopf. "Nein, tut mir leid." Er stupste Tims Nasenspitze an, der sein Gegenüber bittend ansah. "Du weißt, dass das keinen Zweck hat." Tim hoffte, Marek noch umstimmen zu können, doch der ging kein Stück darauf ein. "Ich werde dir jede einzelne Pflanze so lange erklären, bis du sie im Schlaf aufsagen kannst." "Das glaubst du doch selbst nicht", lachte Tim trocken auf. "Abwarten, Herzchen." Mit Genugtuung nahm Marek Tims sich wandelnden Gesichtsausdruck wahr. Er schien noch zu überlegen, wie genau Marek das Ganze nahm. "Ich werde den Unterricht auch interessant gestalten", fügte Marek großzügig hinzu. Er musste sich zusammenreißen, seinen Worten auch den nötigen Ernst mitzugeben. "Wusste ich's doch, dass das noch einen Haken hat." Tim lachte triumphierend auf. "Freu dich nicht zu früh, ich bin ein strenger Lehrer." Marek spitzte die Lippen und wartete auf einen Kuss. "Ich seh's", witzelte Tim. "Du hältst nicht mal fünf Minuten durch." "Ab morgen", murmelte Marek und wusste im gleichen Augenblick, dass Tim jetzt schon recht hatte. Nachdem Marek den Laden verlassen hatte, wanderten Tims Gedanken wieder zu Vorgestern. Er war zu Johan gefahren und dann hatten sie das getan, was sie die ganze Zeit schon taten: sie saßen zusammen und redeten. Tim hatte ihm von Marek erzählt, auch wenn es ihn zuerst einiges an Überwindung gekostet hatte. Und Johan hatte es genauso locker genommen, wie ein paar Stunden davor, als Tim es schon angedeutet hatte. Oder besser gesagt, als Johan von alleine darauf gekommen war und Tim sich verzweifelt um eine Antwort gedrückt hatte. Und genau das war der Punkt, der Tim keine Ruhe mehr ließ. Johan hatte Fragen zu Marek gestellt. Scheinbar nebenher. Und Tim hatte sie genauso aufgefasst. Aber Johan hatte nichts darüber gesagt, wie er die Situation fand. Durch das Schaufenster sah Tim wie Marek draußen den roten Sprinter mit Gartengeräten und verschiedenen Pflanzen belud. Der schwarze Kombi war weg. Thomas hatte ihn. Jetzt wusste Johan also von Marek. Oder eher davon, dass Tims Chef mehr war, als nur sein Chef. Mareks Name war nie gefallen. Tim wusste nicht, warum. Und er wusste immer noch nicht, was Johan dazu brachte, sich wieder mit ihm treffen zu wollen. Dumpf schlugen die Hecktüren des Transporters zu und Marek kam wieder zurück zum Laden. "Heute wird es nicht so spät wie am Samstag", versuchte Marek Tim zu trösten, der ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte. "Ich bin den ganzen Tag draußen." Draußen hieß auf dem Friedhof Gräber frisch bepflanzen. "Okay, viel Spaß", antwortete Tim und stieß den Kartenständer vor sich auf der Theke an, der quietschend zwei Drehungen um die eigene Achse machte. "Möchtest du nicht mitkommen? Dann könnten wir gleich mit dem Unterricht anfangen", schlug Marek belustigt vor. Tim rollte mit den Augen. "Nein, danke, ich weiß, wie das endet..." "So streng bin ich jetzt auch wieder nicht", lockte Marek Tim, der ihn kopfschüttelnd ansah. "Ja, eben." Tim wehrte sich halbherzig gegen Mareks Kuss. "Siehst du, du kommst ja nicht mal aus dem Laden raus." "Was du immer von mir denkst." Marek tat als wäre er beleidigt. Oder war er es? Tim bekam Zweifel. "Ich fahre vielleicht noch zu Oma", fügte Tim versöhnlicher hinzu und sah erleichtert, wie sich die nachdenklichen Falten auf Mareks Stirn wieder glätteten. "Sag ihr einen schönen Gruß von mir – und deinem Jäger auch, wenn du ihn siehst." Zum Glück konnte Marek nicht sehen, wie bleich Tim auf einmal wurde. Er nahm einfach nur den Autoschlüssel und sah sich noch einmal im Laden um, ob er nicht doch etwas vergessen hatte. "Sperrst du bitte hier ab, wenn du gehst?" "Klar, wie immer." "Beeil dich, sonst hast du gleich den Laden voller Kundschaft und wer weiß, was du denen dann verkaufst", neckte Marek Tim, der ihn mit einem finsteren Blick bedachte, was Marek wiederum mit einer Kusshand quittierte. Tim spürte, wie die Muskeln seiner Beine zuckten, als er einen kurzen Moment darüber nachdachte, doch mit Marek mitzufahren. Ablenkung war vielleicht ganz gut, auch wenn er dafür auf dem Friedhof stehen und unter Mareks Anweisung Blumen auf Gräber pflanzen musste. Die Klingel über der Ladentür begleitete Mareks Verschwinden und Tim blieb regungslos hinter der Theke stehen. Marek rannte über den Hof und stieg in den Sprinter. Der Motor heulte auf. Marek kurbelte das Seitenfenster herunter und winkte Tim fröhlich zu, ehe er vom Hof fuhr. Tim winkte zurück. Das wurde ja immer besser. Er übertrug seine eigenen Zweifel auf Marek und verunsicherte sich dann selbst damit. Und Marek warf einen harmlosen Satz hin, der Tim den Atem verschlug. Der Kartenständer drehte eine quietschende Pirouette nach der anderen, als Tim ihn gedankenverloren anstieß. Sein Blick fiel auf das Glasherz, das neben der Kasse auf der Theke lag. Er nahm es in die Hand, schwenkte es hin und her und ließ die rote Flüssigkeit darin von einer Herzkammer in die nächste fließen. Heute würde er seine Oma nicht besuchen. Und Johan auch nicht. Heute Abend wieder vor dem Ostpark am Yoga-Fisch? Ratlos sah Marek auf die Nachricht, die ihm Tim gerade geschickt hatte. Warum wollte sich Tim mit ihm am Ostpark treffen? Abends? Er wusste doch, dass Marek den ganzen Tag am anderen Ende der Stadt unterwegs war und nicht erst nach Hause fahren konnte, um zu duschen, sich umzuziehen und dann wieder quer durch die Stadt zu rasen. Das Display verdunkelte sich, während Marek immer und immer wieder die Nachricht las und doch nicht hinter die Absicht kam. Er stellte die Gießkanne ab, mit der er später die frisch eingepflanzten Blumen begießen wollte, und zog die erdverkrusteten Handschuhe aus. Noch ehe Marek einen einzigen Buchstaben tippen konnte, kam bereits die nächste Nachricht an. Heute wird nicht geredet. Ok? Seufzend wischte sich Marek die Haare aus der verschwitzten Stirn. Vielleicht war ihm hier auf dem Friedhof direkt unter der sengenden Sonne ja die Hitze zu Kopfe gestiegen, aber das klang wie ein Date. Eines der spezielleren Sorte. Marek lachte vor sich hin und sah sich dann blitzschnell um, ob keine anderen Friedhofsbesucher in der Nähe waren, die ihn sehen konnten. Es kam bei trauernden Leuten womöglich nicht so gut an, wenn man gerade mit Spaten und Schaufel vor einem zerwühlten Grab stand und dabei lachte... Gute Idee eigentlich. "Darauf hätte ich auch selbst kommen können", murmelte Marek belustigt vor sich hin. Gerne, schrieb er zurück. Wann? Oh, und ich bin ziemlich schmutzig, aber das weißt du ja. Zwinkernder Smiley. Mit offenem Mund starrte Tim auf die Antwort die er gerade bekommen hatte. Sie war nicht von Johan, dem er eigentlich geschrieben hatte. Hatte er? Nein, hatte er nicht... Jetzt hatte er nicht nur keine Prinzipien oder einen Hauch von Willenskraft, sondern litt auch noch unter einem akuten Mangel an genügend Rückgrat. Anders konnte er es sich nicht erklären, dass er die Nachrichten wieder neu tippte und dieses Mal an den richtigen Empfänger schickte, ohne aber Marek zu antworten. What's Your Game ---------------- Das Rotkäppchen mischt die Karten neu Der Jäger verdoppelt seinen Einsatz Der Wolf gewinnt nicht "Heute mal nicht am Yoga-Fisch?", begrüßte Johan Tim, der zu ihm ins Auto stieg. Tim sah aus wie ein begossener Pudel. Es hatte in dem Moment zu regnen begonnen, als er sich zu Fuß auf den Weg zu ihrem neuen Treffpunkt gemacht hatte und gerade die Hälfte der Strecke quer durch den Park hinter sich gelassen hatte. Das als Schicksal zu sehen, hatte sich Tim verkniffen. Ein Auto hatte er heute ja nicht und als alternativen Treffpunkt hatte er sich auch ausgerechnet das andere Ende des Parks aussuchen müssen, statt irgendwo mitten in der Stadt, wie es eigentlich logischer gewesen wäre. Aber die Logik hatte ja schon längst das Gebäude verlassen. Genauso wie sein Gewissen. Vermutlich saßen beide irgendwo in einer schummrigen Bar und kippten sich einen Drink nach dem anderen hinter die Binde, während sie über seinen Verstand lästerten. "Also reden fällt aus und essen gehen fällt wohl auch aus, schätze ich." Bemitleidend sah Johan Tim an, der mit klatschnassen Kleidern neben ihm saß und sich erfolglos mit nassen Händen den Regen aus dem Gesicht wischte. Wie konnte Johan ihn auch noch bemitleiden, wenn er wusste, was für ein Idiot er war? Tim stieg einfach nicht dahinter. "Zuerst mal Kleider wechseln, oder?" Tim nickte nur niedergeschlagen auf Johans Frage. Dann überlegte er es sich anders. "Lass mal, schmeiß mich einfach irgendwo zwischen hier und einem Kilometer vor dem Blumenladen raus und dann verschieben wir das." Er konnte sich unmöglich von Johan bis nach Hause fahren lassen, um sich dort umzuziehen. Wahrscheinlich war Marek schon zuhause. Tim verbarg sein Gesicht hinter seinen Händen. "Kommt nicht in Frage", entgegnete Johan und stieß die Luft empört aus. Ohne Tim zu fragen, schlug er den Weg zu seiner eigenen Wohnung ein. "Hier, Handtuch und ein frisches T-Shirt." Johan hielt Tim beides lächelnd entgegen, der bis auf seine Boxershorts entkleidet mitten in dem winzigen Bad stand. Der Regen hatte gerade eine Pause eingelegt. Kühle Luft wehte durch das gekippte Fenster und ließ Tim erschauern. Johan schloss das Fenster. "Danke", murmelte Tim verlegen. Er presste sein Gesicht in das Handtuch. Es war rauh. Johan benutzte wohl keinen Weichspüler. Aber es roch gut, dachte er zerstreut und lachte über sich selbst. Er hatte wohl sonst keine Probleme, außer sich um Weichspüler und Waschmittel Gedanken zu machen. "Meine Hosen werden dir nicht passen", Johan sah an Tim hinab, der schmaler und kleiner war als er und sich gerade die Haare trocken rieb. "Brauchst du überhaupt eine Hose? Reden wolltest du ja sowieso nicht." Johan lachte nicht, auch wenn das sein erster Reflex war, aber Tim hörte ihm ohnehin nicht zu. So wie er wirkte, war er gerade Meilenweit entfernt mit seinen Gedanken. Stattdessen nahm Johan Tims völlig durchweichtes T-Shirt und hielt es vor sich. Es war das rote Ramones-Shirt, das Tim am ersten Tag getragen hatte, als er seine Oma besucht hatte. Der Stoff war etwas dicker und durch und durch nass. Wenn sich Tim mal nicht erkältete... "Das wird dauern, bis das trocken ist", fachsimpelte Johan und warf das T-Shirt über die Querstange des Duschvorhangs. Tim rieb seine Arme und den Oberkörper ab. "Hast du keinen Trockner?", fragte er und sah Johan hoffnungsvoll an. "Ich habe noch nicht mal eine Waschmaschine", zerschlug Johan Tims letzten Lichtblick auf ein weniger peinliches Ende des Abends. Geduldig wartete er, bis Tim sich fertig abgetrocknet hatte. "Brauchst du sonst noch was?" "Nur dich", platzte es aus Tim heraus. Johans Mundwinkel bogen sich nach oben. Er nahm das feuchte Handtuch aus Tims Händen und ließ es einfach zu Boden fallen. Tims Arme waren kühl und die Härchen darauf hatten sich aufgerichtet. Sachte strich Johan darüber, bis sie sich erwärmt hatten und die Haut sich wieder glättete. Johan öffnete den Mund, um Tim etwas zu fragen. "Ohne zu reden, schon vergessen?", schnitt Tim ihm das Wort ab. Schweigend nickte Johan. Tim sah ihn unverwandt an. An der Spitze einer Haarsträhne direkt über seinem linken Auge hatte sich ein Wassertropfen gebildet, der dort für wenige Augenblicke hing, ehe die Schwerkraft ihn übermannte und er auf Tims Wange fiel, wo ihn Johans Finger vorsichtig auffing. Das schwache Trommeln des Regens gegen das geschlossene Badezimmerfenster und das helle Plätschern des Wassers, das aus dem roten T-Shirt in die Duschwanne rieselte, begleiteten Johans Küsse, die sich zuerst Tims Hals, Schlüsselbein und dann quälend langsam dessen Brust hinab zogen. Sein Atem strich dabei wie ein warmer Schatten seiner Küsse über Tims Haut und Tim musste sich auf die Unterlippe beißen, um sich an seine eigene Anweisung, nicht zu sprechen, zu halten. Dabei fiel ihm gerade jetzt so vieles ein, was er Johan unbedingt sagen wollte. Über seine weichen Lippen, die sich gierig ihren Weg über das für sie noch unentdeckte Gebiet suchten, und über seine Hände, die seinem küssenden Mund etwas weiter voraus zu sein schienen. Aber noch ehe Tim den winzigsten Laut herausbrachte, war Johans Kopf wieder auf seiner Augenhöhe und schloss Tims Mund mit seinem. Jedes Wort war unnötig. Das Gießen der Blumen hätte er sich sparen können. Marek stand auf dem Balkon. Er hatte die Unterarme auf dem Geländer abgestützt und schaute grübelnd den langen Regenfäden zu, die dicht wie ein Vorhang vom nachtschwarzen Himmel fielen. Die Luft war frisch und klar, keine Spur mehr von der drückenden Hitze, die die letzten Tage geherrscht hatte. Das hätten sie schon früher gebrauchen können. Marek sah auf die Uhr an seinem Handgelenk hinab und seufzte kaum hörbar. Es war kurz vor zwei und Tim hatte sich, wie es aussah, ausgerechnet heute dazu entschlossen, das gerade erst begonnene Zusammenwohnen, das sich schon fast wie ein echtes Zusammenleben angefühlt hatte, wieder zu beenden. Ohne Ankündigung, ohne sich für die kommenden paar Tage zu verabschieden wie sonst. Anscheinend hatte er sich nach Mareks Nachricht, dass er ihn am Park wohl übersehen hatte, in Luft aufgelöst. Erschöpft lehnte Marek seine Stirn auf seine Unterarme. Die Luft wehte den Regen als feinen Sprühnebel auf seine Arme, wo er bald schon einen feinen, kühlen Film bildete. Entfernter Donner erklang und am Horizont ließen ein paar Blitze die Wolken aufleuchten. "Guten Morgen, lange nicht mehr gesehen, was?" "Morgen." Tim vermied es, seine Mutter direkt anzuschauen, als er vor ihr am Küchentisch saß. Er hatte ganz vergessen gehabt, wie früh seine Mutter immer aufstand und ihn dann jedes Mal auch gnadenlos weckte, egal ob er wie letzte Nacht nur drei Stunden Schlaf bekommen hatte, oder acht. Sogar Sonntags stand sie schon um sechs Uhr auf. Wirklich jeden Sonntag. Und dann wurde Kuchen gebacken, dessen Geruch dann Tim schlussendlich auch aus dem Bett trieb. "Ich fahre heute zu Oma", eröffnete sie ihm gerade, als er nach einem Brötchen griff. "Soll ich mitkommen?" Neben seinem rechten Fuß lag friedlich schlafend die Töle. Der Köter lag so nahe, dass Tim jeden Atemzug an seinem Knöchel spürte. Warum nur mochte dieser Hund ihn so? "Dein Vater kommt mit. Ich denke, das reicht." Tim nickte. Insgeheim hatte er gehofft, dass seine Mutter seine Frage verneinte. Er hielt dem Hund eine Scheibe Wurst unter die Nase, der, ohne die Augen zu öffnen, gleich danach schnappte. Die dankbaren Blicke, die Tim zugeworfen bekam, waren fast herzerweichend. "Eure saubere Wäsche steht im Keller auf dem Trockner", sagte seine Mutter abwesend. Ein dünnes Heft mit Kreuzworträtseln lag aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch. Der Kugelschreiber in ihrer Hand klickte im Sekundentakt, während sie nachdenklich mit dem Daumen auf den kleinen Knopf am oberen Ende des Stifts drückte, der die Mine ein- und ausfahren ließ. "Törichter Mensch mit acht Buchstaben?" "Tim", antwortete Tim trocken. Seine Mutter war im Begriff, Tims Vorschlag in die quadratischen Kästchen einzutragen, als sie irritiert aufsah. "Das sind drei Buchstaben." "Die Beschreibung stimmt trotzdem", murmelte Tim verbittert. "Hör auf, dich selbst zu bemitleiden", schlug ihm seine Mutter natürlich in diesem Moment vor, als wüsste sie, um was es ging und Tim hatte im ersten Augenblick eine trotzige Entgegnung auf den Lippen. Er verkniff es sich. Tim stand auf. "Ich geh mit dem Hund raus." Seine Mutter blinzelte verwundert. "Als ob ich da Nein sagen würde", entfuhr es ihr überrascht. "Aber trockne ihm bitte die Pfoten ab, wenn ihr nach Hause kommt. Der Boden ist frisch gewischt." "Schau mich nicht so an, ich kann es auch kaum glauben", sagte Tim zu dem Hund, der brav neben ihm über den Bürgersteig trottete und mit großen runden Augen ergeben zu seinem Herrchen aufsah. Sein Handy vor dem Regen schützend las Tim die Nachrichten, die seit gestern Abend eingegangen waren und die er bis jetzt erfolgreich ignoriert hatte. Hab dich eben leider verpasst. Bis später. Von Marek. Guten Morgen. Geht's dir gut? Auch von Marek. Tims Lippen wurden zu einem schmalen Strich und sein Magen wand sich zu einem unlösbaren Knoten. Habe die Schicht mit Simone getauscht. Nachtschicht. Werde mich sicher tierisch langweilen - außer du kommst vorbei. Von Johan. Und so schnell löste sich der scheinbar unlösbare Knoten auf, dachte Tim schmunzelnd. Als Tim nach der zehnten Runde durch den Park mit dem Hund, dem mittlerweile schon die Zunge bis zum Boden aus dem Hals hing, nach Hause kam, lag ein Zettel von seiner Mutter auf dem Küchentisch. Marek war hier und hat die Wäsche abgeholt. Im Kühlschrank ist ein Stück Kuchen für dich. Denk an die Pfoten! Mama Tim verdrehte die Augen. "Das gibt sicher Ärger, wenn das jemand rausbekommt." Etwas unbehaglich war Tim schon zumute, als er neben Johan die stillen Flure des Altenheims entlang ging. "Wenn du es niemandem erzählst, wird es auch niemand wissen." Johan zwinkerte Tim verschwörerisch zu. "Außerdem dürfen Angehörige zu jeder Tages- und Nachtzeit vorbeikommen." Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Tim zu Johan auf. "Hast du dir das gerade ausgedacht?" Johan lachte. "Nein, das stimmt wirklich." Er sperrte die Tür zum Stationszimmer auf und ließ Tim als erstes hinein. "Es könnte ja mal ein Notfall sein", erklärte er Tim weiter, der nach drei Schritten stehengeblieben war. "Aber jetzt mach's dir gemütlich. Wenn wir Glück haben, passiert die ganze Nacht nichts." "Wer weiß", witzelte Tim. Interessiert sah er in dem kleinen Raum um. Es war halt ein Büro. Völlig unspektakulär. "So sieht das Aquarium also von innen aus." "Aquarium?" Johan schüttelte amüsiert den Kopf. Er deutete auf eine kleine Tischgruppe, die an einer Wand stand und setzte sich dann Tim gegenüber, nachdem der Platz genommen hatte. "Ist der Raum eigentlich schalldicht?" Tim grinste frech. "Du kommst auf Ideen..." Johan verschränkte die Hände im Nacken und betrachtete sich sein Gegenüber lächelnd. "Dein T-Shirt ist übrigens frisch gewaschen und getrocknet. Du kannst es dir gerne abholen kommen." "Ach was, behalte es ruhig." Tim blätterte in einem Heft, das auf dem Tisch lag."Ich dachte, du hättest keine Waschmaschine." Gott, was stand da für ein Blödsinn in diesem Heftchen? Die 20 besten Abnehmtipps. Und so einen Unfug las Johan? "Es gibt Waschsalons", erinnerte Johan Tim an diese nicht ganz so neumodische Errungenschaft. "Wir haben eine Waschmaschine", murmelte Tim abwesend. Sie hatten tatsächlich eine. Eine brandneue sogar, die allerdings nur ein einziges Mal in Gebrauch war, um sie auszuprobieren. Seine Mutter machte die Wäsche für sie und Tim oder Marek holten sie dort ab. "Wer ist wir? Du und dein Chef?" Johan amüsierte sich königlich über Tims schockierten Gesichtsausdruck, als er endlich von dem Heft aufsah. Er schnappte sich Tims Hand, ehe er noch eine weitere Seite von Simones Schicht-Lektüre umblättern konnte. "Du kannst trotzdem vorbeikommen und so tun, als würdest du es abholen." Jetzt sah Tim auf. Johan bemühte sich, ein relativ neutrales Gesicht zu machen, was ihm aber sichtlich misslang. Tim schlug sich die Hand gegen die Stirn. "Entschuldige, aber manchmal stehe ich echt auf dem Schlauch", lachte er. "Kann ja vorkommen." Johan beugte sich über die Tischplatte hinweg zu Tim, der ihm entgegen kam. "So schnell lasse ich nicht locker, keine Sorge", fügte er hinzu und wartete auf den Kuss. Ein Warnton unterbrach die Stille nach Johans letztem Satz. Er löste seine Lippen von denen seines Gegenübers und sah zu einer Anzeigetafel über dem Fenster, das zum Flur zeigte. Eine orange-leuchtende 12 flammte auf. "Oh, das ist deine Oma", bemerkte Johan, während er aufstand. "Als ob sie wüsste, dass du da bist." "Soll ich hier warten?" Johan nickte. "Ich bin gleich wieder hier", sagte er und verließ das Zimmer. "Hallo, Esther", begrüßte Johan die alte Dame, als er ihr Zimmer betrat. Leises Schluchzen empfing ihn und Johan beschleunigte seine Schritte, bis er an Esthers Bett stand. "Was ist denn?", fragte er besorgt und strich Esther die Haare aus der Stirn. Ihre Wangen waren tränenüberströmt. Esther konnte nicht direkt antworten. Ein Schluchzen ließ ihre Stimme jedes Mal ersticken, sobald sie den Mund öffnete. "Schon gut." Johan griff nach ihrer kühlen Hand, bis sie sich gefasst hatte. "Haben Sie Schmerzen?" Esther schüttelte mit dem Kopf. "Lotte ist krank, sie muss zum Arzt", flüsterte sie schließlich erstickt. Johan dachte einen Moment nach. Eine Lotte gab es hier nicht. Er besah sich Esthers Augen, die ihn bis auf die Tränen völlig klar anblickten. Sie senkte die Blicke, schluchzte noch einmal auf und sagte dann mit bebender Stimme: "Ich-ich habe schlecht geträumt." "Das kommt vor", erwiderte Johan gefasst. Ihm kam eine Idee. "Warten Sie, Esther, ich bin gleich wieder hier." "Wer ist Lotte?" Tim sah zu Johan, der ihn gerade im Stationszimmer abholte, um ihn zu seiner Oma zu begleiten. "Die Mutter meiner Mutter. Meine richtige Oma, also." Tim wartete auf eine Erklärung. "Was ist mit ihr?" "Esther hat nach ihr gefragt." Johan sperrte das Stationszimmer ab. "Sie sagte, Lotte wäre krank und müsste zum Arzt." Tims Augenbrauen zogen sich fragend zusammen. Er zuckte hilflos mit den Schultern und folgte Johan über den Flur zum Zimmer seiner Großmutter. "Ich kannte sie nicht. Sie ist wohl schon früh gestorben." "Oh", stieß Johan leise aus. Seine Hand legte sich auf Tims Rücken. "Na ja, dann geh mal zu Esther und rede ein bisschen mit ihr, bis sie sich beruhigt hat. Ich warte im Aquarium. Wenn was sein sollte, klingelst du." Tim schnürte es den Hals zu, als er seine Oma in ihrem Bett liegen sah. Sie hatte die Augen geschlossen und schniefte leise vor sich hin. "Hallo, Oma." Tims Stimme klang gepresst, auch wenn er sich Mühe gab, sie möglichst locker klingen zu lassen. Langsam ging er auf ihr Bett zu. Als er direkt neben ihr stand und seine Hand auf ihren Arm legte, schlug Esther ihre Augen auf. "Oh, Tim", begrüßte sie ihn erstaunt. "Arbeitest du jetzt hier?" Tim konnte nicht anders als leise zu lachen. "Nein, Oma, ich bin nur zufällig gerade hier gewesen." Wie schon Johan zuvor, strich Tim Esther nun ein paar Haare aus ihrer bleichen Stirn. "Hast du schlecht geschlafen?" "Ich denke ja", hauchte Esther so leise, dass Tim Mühe hatte, sie zu verstehen. "Tim?" Der Angesprochene sah auf. "Ich möchte nach Hause." Tims Kehle war wie zugeschnürt. "Wie meinst du das? Mit nach Hause zu uns?" Esther nickte langsam. "Ich spreche mit Mama darüber, gut?" Er beugte sich zu seiner Oma herab und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Erneut quollen Tränen aus ihren Augen. Er sah zu ihrem Nachtschrank hinüber, wo ein Stofftaschentuch mit gehäkelter Borte lag. Er nahm das Tuch, das ihm wie ein Artefakt aus einer ewig vergangenen Zeit vorkam, und wischte damit Esthers nasse Wangen trocken. "Weißt du was?", sagte Tim leise und lächelte Esther aufmunternd zu, die ihn gespannt ansah. "Ich bleibe hier, bis du wieder eingeschlafen bist und wenn ich das nächste Mal vorbei komme, zeigst du mir wie man Patience spielt. Einverstanden?" Esthers Mund verzog sich zu einem strahlenden Lächeln. Sie nickte eifrig und drückte die Hand ihres Ur-Enkels so fest sie konnte. "Abgemacht", sagte sie mit leiser brüchiger Stimme. Tim ließ die Hand seiner Oma kurz los, um sich einen Stuhl näher zu ihrem Bett zu ziehen. Er setzte sich hin und griff gleich wieder nach der Hand seiner Oma, die nun, nicht ohne Tim noch einmal zuzulächeln, ihre Augen schloss. Auch nachdem Esther bereits vor einer knappen halben Stunde eingeschlafen war, blieb Tim weiter bei ihr sitzen und dachte nach. Ausnahmsweise mal nicht über Marek und Johan und sich selbst. Er dachte an Esther und an Lotte, die er nie kennengelernt hatte. Und er dachte an seine Mutter, die nach Lottes frühem Tod bei Esther aufwachsen war. "Schläft sie wieder?" "Ja." Tim gab Johan einen Kuss, der auf dem Bürostuhl saß und eine Liste vor sich auf dem Tisch liegen hatte, die er am Ausfüllen war. "Hat sie das öfter?", hakte Tim besorgt nach. Johan dachte kurz nach. "Selten, aber es kam schon vor." Er hob seine Hand und strich sachte über Tims Wange. "Du musst dir keine Sorgen machen. Das ist normal." "Ich versuche es", versprach Tim. "Marek?" Sein Name kam kaum zu ihm durch. Er registrierte die Stimme sehr wohl, schob sie aber schnell wieder beiseite, als wäre sie eine lästige Fliege, die summend um seinen Kopf kreiste. "Marek? Ist noch Schleierkraut da?" Er wurde sachte am Arm angestoßen. "Marek?" Seufzend sah Marek auf. Seine Tante stand neben ihm und sah ihn fragend an. "Bitte? Ich war gerade-" "Habe ich gesehen." Seine Tante runzelte die Stirn. "Schleierkraut. Ich wollte wissen, wo es steht." "Oh, na klar", Marek rieb sich seine Schläfen hinter denen es nach zwei fast schlaflosen Nächten dumpf pochte. Er hatte das Gefühl, sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. Von Konzentration war gar nicht zu reden. "Ich glaube, es steht noch welches bei den Rosen, bin mir aber nicht sicher..." "Ich schau mal nach." Seine Tante hatte die Hände in die Hüften gestützt und blieb entgegen ihrer letzten Worte vor Marek stehen. "Mach dir mal einen Kaffee oder sonst was, du siehst aus als wärst du seit zwei Wochen wach." "Fühlt sich auch so an", murmelte Marek mit belegter Stimme. Sein Blick fiel wieder auf Tims Glasherz neben der Kasse. Nein, auf sein Herz, das er Tim geschenkt hatte, der es dann hier auf der Theke liegen ließ, als wäre es irgendein Dekozeug. Und das erste Mal kam Marek der Gedanke, dass der Jäger, von dem Tim gesprochen hatte, tatsächlich echt sein könnte und keine Erfindung von Tim war, um Marek aufzuziehen. Und dass das Treffen am Ostpark nicht mit ihm hätte stattfinden sollen, wie er gedachte hatte. Er war so dumm gewesen, so furchtbar dumm... Tim stand vor dem geöffneten Kleiderschrank und durchsuchte hastig jedes einzelne der sorgfältig gestapelten T-Shirts in den Fächern. Hier irgendwo zwischen Mareks und seinen T-Shirts musste das sein, das Johan ihm geliehen hatte. Und ausgerechnet Marek musste es dort eingeräumt haben. Wahrscheinlich ohne es überhaupt zu bemerken. Seufzend hielt Tim in seiner Suche inne. Er setzte sich aufs Bett und sah zum Schrank hinüber, als könne der ihm gleich die Antwort darauf geben, wo das T-Shirt war. Die drei schmalen Fächer waren bis oben hin voll mit T-Shirts in allen möglichen Farben. Ein System beim Einräumen gab es nicht wirklich. Die Kleider im Schrank aufzuteilen hatten sie einmal ganz kurz am Anfang ausprobiert und gleich wieder sein gelassen, nachdem Tim irgendwann immer öfter bei Marek geblieben war und es einfach unpraktisch war, jedes Mal eine Tasche mit seinem Kram erst zu Marek hinzuschleppen und zwei Tage später wieder mit nach Hause zu nehmen. Da hatten dann Tims Kleider eine Weile lang im mittleren Fach gelegen. Nach dem dritten Mal ein- und aussortieren hatte keiner mehr Lust gehabt, die Kleider aufzuteilen und so fanden Tims Sachen nach und nach ihren Weg in sämtliche Bereiche von Mareks Schrank, wo sie sich ganz selbstverständlich einfügten. Tim ließ sich nach hinten auf das Bett fallen. Er schloss die Augen und ließ die bekannten Geräusche und Gerüche des Zimmers auf sich wirken. Vor dem Fenster rauschte schwach der Straßenverkehr wie ein nie abreißender Strom vor sich hin. Tim hatte sich erst an das stetige Rauschen gewöhnen müssen, als er die erste Zeit bei Marek übernachtet hatte, was ihn einige schlaflose Nächte gekostet hatte. Was für ein Unterschied zum kaum vorhandenen Verkehrslärm zuhause bei seinen Eltern, der nur Sonntags zunahm, wenn alle zur Kirche wollten. Ansonsten war es dort meistens so still und Vorstadtmäßig langweilig, dass Mareks Auftauchen mit dem Leichenwagen für jede Menge Aufregung in der Nachbarschaft gesorgt hatte. Außer bei seinen Eltern. Der erste Anstandsbesuch von Marek verlief völlig glatt, was eigentlich so gut wie nur an Marek gelegen hatte, der eine angeborene Begabung dafür zu haben schien, Eltern für sich einzunehmen, weil er sich keine Sekunde verstellte. Tim rollte zur Seite. Mareks leerer Platz hatte was deprimierendes. Er meinte sogar, dass das Kissen an der Stelle, auf der Mareks Kopf nachts lag, noch leicht eingedrückt war. Marek schlief auf der Seite. Immer. Und immer mit dem Gesicht zur Bettmitte, egal, auf welcher Bettseite er lag. Es war, als wolle er sich sicher gehen, dass Tim noch da war. Wie er jetzt wohl schlief, wenn Tim tatsächlich nicht da war? Tim streckte einen Arm aus und schob seine Hand unter Mareks Kopfkissen. Noch vor einer Stunde hätte er nicht gedacht, dass er hier liegen und über seine und Mareks Beziehung nachdenken würde, als wäre sie bereits vorbei. Es fühlte sich nicht so an. Er war schließlich hier und Marek war auch hier, wenn auch nur als Erinnerung an seine letzte Nacht, in der sein Kopf auf seinem Kissen gelegen hatte. Er roch ihn sogar. Old Spice - was Tim früher lustig gefunden hatte, weil es nach alten Männern klang, aber seit er Marek kannte, verband er diesen Geruch nur noch mit ihm. Er war mittlerweile so vertraut für Tim, dass er ihn in jedem anderen Zusammenhang einfach nur irritierte. Er konnte sich Johan nicht mit diesem Aftershave vorstellen. Keine Sekunde lang. Tims Hand unter Mareks Kissen öffnete sich. Er fühlte das Gewicht, das das Kissen auf seine Hand niederdrückte und er roch den würzigen Duft von Old Spice, als ihm schlanke Finger sachte über die Wange strichen und die fast getrocknete Tränenspur nachzeichneten. Marek wagte nicht, irgendetwas zu sagen. Als er nach Hause gekommen war und Tim schlafend im Bett liegen sah, hatte er sich so sehr gefreut, dass er sich dazu hatte zwingen müssen, ihn nicht zu wecken, obwohl er genau das am liebsten getan hätte. Tims Erscheinen war so plötzlich und unwirklich, erst recht, als Marek die geöffneten Schranktüren bemerkte, dass er sich nicht traute, diesen Moment mit einem unvorsichtigen Hallo zu zerstören. Er legte sich einfach zu ihm und betrachtete ihn stumm. Tims Tränen brachen ihm fast das Herz. Er hatte so viele Fragen, die in der Sekunde unwichtig wurden, als er die nassglänzenden Spuren auf den Wangen des Schlafenden gesehen hatte. Das erste Mal, seit ihm der Gedanke gekommen war, dass Tim nicht zuhause bei seinen Eltern schlief, weil er eine Auszeit vom Blumenladen brauchte, lag Marek wieder in seinem Bett. Und Tim war auch hier. Mehr wollte er nicht. Ob es das war, was Tim wollte, wusste er leider nicht. Als Tim die Augen aufschlug, war das erste, was er sah, ein verschwommener heller Schriftzug auf dunklem Stoff. Die Finger, deren Berührung er im Wegdämmern auf seiner Wange gespürt hatte, lagen nun auf seinem Rücken, wo sie sachte über die Erhebungen und Senkungen seiner Wirbelsäule strichen. Er konnte Mareks sich hebenden und senkenden Brustkorb an seiner Stirn fühlen, die er dicht gegen die Brust seines Nebenmannes gedrückt hatte. Kurz bildete sich Tim ein, Mareks Puls wahrzunehmen. Tim rückte ein kleines Stück weg, um Marek ins Gesicht sehen zu können. Er schlief nicht, wie Tim zuerst vermutet hatte. Seine Blicke trafen Tims Augen in dem Moment, als der aufsah, als hätte er nur auf diesen Zeitpunkt gewartet. Schweigend hielt dieser Augenblick an, bis Marek ihn schließlich mit leiser Stimme unterbrach. "Er ist echt, oder? Der Jäger." Die sechs Worte entzogen Tim sämtliche Kraft, die er zu haben geglaubt hatte, als er mit dem Vorsatz hergekommen war, nach dem T-Shirt zu suchen und dann wieder zu verschwinden, bis ihm eine Antwort auf so eine Frage leichter fallen würde. Stumm presste Tim die Lippen zusammen. Mareks Blicke lösten sich von seinen und glitten zu einem Punkt hinter Tim. Jäger, Wolf, Rotkäppchen. Er wusste doch selbst nicht, welche Rollen sie alle gerade spielten. Marek reichte Tims Schweigen als Antwort. Es beinhaltete alles, was er sowieso nicht hören wollte. War er wirklich der Wolf? Der böse Wolf? Und wenn, warum fühlte sich das Rotkäppchen so wohl bei ihm? Tat es das überhaupt? Tim hatte seine Stirn wieder gegen Mareks Brust gelehnt. Seine freie Hand lag auf Mareks Hüfte. "Wie heißt er?" Es war nur die Hälfte der Wörter wie im letzten Satz, aber ihr Gewicht fiel noch schwerer auf Tim, als Mareks Frage nach der Echtheit des Jägers. Er zwang ihn mit der Frage dazu, zu antworten und Marek hier auf der Stelle alle Illusionen zu nehmen, oder zu schweigen und mit einem noch schlechteren Gewissen wegzugehen und alles vielleicht nur ein bisschen länger hinauszuzögern. "Warum willst du das wissen?" Tims Stimme klang befremdlich in seinen eigenen Ohren, als er sich darum bemühte, sie fest und sicher klingen zu lassen. "Was hast du davon?" Dann hätte er einen Namen. Dann würde aus der gesichtslosen Märchengestalt, vor der sich Marek fürchtete, ein Mensch. Der Jäger war Rotkäppchens Retter und er wusste, was der Jäger in der Geschichte mit dem Wolf machte. Aber das war nur ein Märchen. Er wollte jetzt wissen, mit was er es in der Realität zu tun hatte, selbst wenn es nur ein Name war. "Nur so", antwortete Marek leise. Seine Hand auf Tims Rücken, die kurz innegehalten hatte, setzte ihr Tun fort. Sein Herzschlag pochte unerträglich laut in seinen Ohren. Es fühlte sich an, wie der vibrierende Hall einer riesigen Glocke, die geläutet wurde. Das Blut schoss durch sein zitterndes, pulsierendes Adergeflecht und sein Hals wurde langsam eng. Der eigentlich glatte Stoff wurde unter Mareks tauben Fingerspitzen zu rauem Sandpapier, das sich in seine Haut und seine Nerven fraß. Tim verlagerte seine Position etwas. Mareks Hand auf seinem Rücken hatte ihren Griff nach und nach unangenehm verstärkt. "Johan." Mareks Hand hielt abrupt auf Tims unterem Rippenbogen inne. Jetzt kannte er den Namen also. Besser machte es das aber auch nicht. Im Gegenteil. Er wusste den Namen, mehr aber nicht. Der Jäger war immer noch nur eine gesichtslose Gestalt, vor der sich Marek noch genauso fürchtete. Was für ein Mensch war er? Und warum fiel es Tim so schwer, sich zu entscheiden? Und, war es wegen ihm oder war es wegen Johan, dass er sich nicht entscheiden konnte? Hatte er sich schon entschieden und Marek war der letzte, der es erfuhr? Mareks Hand rutschte von Tim herunter, als dieser sich aufsetzte. "Ich geh dann jetzt", sagte Tim knapp. Er sah auf Marek hinab, der auf seinem Platz liegen blieb, wie ein Gummitier, aus dem man die Luft herausgelassen hatte. Marek drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme im Nacken. "Wann kommst du wieder?" Was für eine dämliche Frage, dachte Marek im gleichen Moment. Es gab vermutlich niemanden, der in ihrer Situation war und auf so eine Frage eine ehrliche Antwort geben konnte oder wollte. Aber irgendwie hatte er trotzdem noch die irrige Hoffnung, dass sie Morgen oder Übermorgen oder In drei Tagen lauten könnte. "Weiß ich noch nicht", sagte Tim stattdessen und in Mareks rumorendem Bauch mischten sich Enttäuschung und Bestätigung, weil er eigentlich mit genau so einer Antwort gerechnet hatte, wenn er ehrlich war. "Bist du bei deinen Eltern?" Die Matratze gab nach, als Tim aufstand. Marek lag wie gelähmt da, während er Tim nachsah, der die Türen des Kleiderschranks schloss und ohne Marek auf dem Bett noch einen Blick zuzuwerfen das Schlafzimmer verließ. Wie konnte es für Tim nur so leicht sein, zuerst hier aufzutauchen, um seine Sachen zu packen, und dann wieder zu verschwinden, ohne sagen zu können, warum er das tat und weshalb er Marek so einfach in der Schwebe hielt? Mareks Augen verfinsterten sich. Okay, er hatte jetzt die Möglichkeit, hier zu bleiben und darauf zu warten, das irgendwann mal irgendetwas passierte. Und er hatte die Möglichkeit, selbst etwas zu tun, um zumindest den Faktor des ungewissen Zeitpunkts zu ändern. Die Wahl fiel Marek nicht schwer. Er erhob sich vom Bett und öffnete den Kleiderschrank, den Tim eben erst wieder geschlossen hatte. You're Gonna Kill That Girl --------------------------- Der Wolf besucht die Großmutter Der Jäger besucht das Rotkäppchen Er erwischte Johan gerade, als der zur Haustür rausging. Er trug einen vollen Wäschekorb bei sich, den er gerade im Begriff war, in sein Auto zu laden. "Na du", begrüßte Johan Tim, der ihm auf dem Bürgersteig entgegenkam. Er stützte den Wäschekorb auf seiner Hüfte ab und tastete mit seiner freien Hand nach den Autoschlüsseln, die zur Hälfte aus seiner Hosentasche heraus hingen. Erfolglos zerrte Johan an dem Schlüsselbund, das sich in einer gelösten Naht heillos verhakt hatte. Der Wäschekorb unter seinem Arm schwankte bedenklich. "Hast du dich auf dem Weg zu deiner Oma verlaufen?", ächzte Johan und überlegte, wie das wohl aussehen würde, wenn sich gleich seine Schmutzwäsche auf dem Gehsteig verteilen würde. Ohne großartig nachzudenken griff Tim nach den Autoschlüsseln und half Johan dabei, sich davon zu befreien. "Du bist zur richtigen Zeit hier aufgetaucht." Johan lachte erleichtert auf, als Tim die freien Autoschlüssel in der Hand hielt. "Ich war zufällig in der Nähe." Tim entriegelte den Kofferraum von Johans Auto und stemmte die Heckklappe in die Höhe. "Im Lügen bist du nicht gut, weißt du das?" Johan hatte den Wäschekorb in den Kofferraum gewuchtet und grinste Tim nun frech an, der kurz beschämt zur Seite sah. Johan schloss den Kofferraum und lehnte sich dann gegen das Auto, so dass er Tim im Blick hatte. Tim stand da wie ein Fremdkörper auf dem Bürgersteig. Die Fußgänger mussten um ihn herumgehen, was Tim aber nicht im Geringsten zu stören schien. Eine erboste Fahrradklingel ertönte, doch Tim blieb weiter stehen. Schneller, als Tim reagieren konnte, hatte sich Johan seine Hand geschnappt und ihn in seine Arme gezogen. "Verrätst du mir, warum du hier bist?" Johans Atem kroch über Tims Ohr und er spürte, wie ihm ein Felsen in den Magen plumpste. War das jetzt eine rhetorische Frage? "Ich habe-" "Mich vermisst?", schlussfolgerte Johan unverfroren. "Oder wolltest du mir unbedingt bei meiner Wäsche helfen?" Johan hielt kurz inne, als denke er nach. "Kannst du bügeln?" "Nein, und Marek kann es auch nicht." Johan horchte auf. Marek? Tim hatte Johan keine Sekunde aus den Augen gelassen. Als Mareks Name fiel, hatte Johan einen Moment irritiert dreingesehen, was genau das war, worauf Tim gewartet hatte. Irgendwie musste er ja mal aus der Reserve zu bekommen sein. Bisher hatte er auf die Tatsache, dass Tim eigentlich schon in einer Beziehung war, ziemlich locker reagiert. Johan musterte Tim ausführlich. Um seine Mundwinkel zuckte es belustigt. Tim hatte ihn kalt erwischt, musste Johan zugeben. Aber das musste er ja nicht unbedingt wissen. "Fährst du mit zum Waschsalon?" Tim hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Es war zum Verrücktwerden wie schnell sich Johan jedes Mal wieder fing! "Einfach weg-" Johan sah von seiner frisch gewaschenen Wäsche auf, die er gerade in die Schränke in seinem Schlafzimmer einräumte. Tim stand vor dem Topf mit den Blumen, die Johan von Esther geschenkt bekommen hatte, und kratzte sich an der Stirn. "Was ist?" Johan trat neben Tim und folgte dessen konzentrierten Blicken, die auf der Blume ruhten. "Stehen sie nicht richtig?" "Ich wusste bis eben noch, wie die heißen." Tim schüttelte leicht den Kopf. Sein Zeigefinger glitt sachte über die samtweiche orange Blüte. Die Blumen sahen noch genauso frisch aus wie im Laden. Keine braunen, vertrockneten Stellen, die Farben waren kräftig. Johan hatte sich scheinbar gut um die Blumen gekümmert. Bei ihm würden sie anders aussehen. Johan und Marek hatten wohl was gemeinsam. Etwas, was es Tim nicht gerade leichter machte. Johan sah von den Blumen, die noch immer wie am Anfang blühten, zu Tim, dessen Augenbrauen sich nachdenklich zusammen gezogen hatten. Ihm fiel gerade das erste Mal ein, wo diese Blumen eigentlich her waren, bevor Esther sie ihm geschenkt hatte. Und ihm fiel das erste Mal das Zwicken in seinem Magen auf, das diesen Gedanken begleitete. Er kam nicht darum herum, sich mit Tims Chef auseinanderzusetzen. Später irgendwann. Nicht jetzt. Nicht jetzt, wo Tim hier war und sie sowieso viel zu wenig Zeit hatten, so dass Johan nur zu gerne alles andere vergaß. Johan merkte, wie das Zwicken nachließ, wie es weicher wurde und schließlich abebbte, weil Tim schließlich hier vor ihm stand. "Ich habe Tiefkühlpizza, Pay-TV und Zeit bis morgen früh um fünf Uhr. Und du? Wann musst du zur Arbeit?" Tim kniff die Augen etwas zusammen. Es war schwer, sich das Hab-ich's-doch-gewusst zu verkneifen, wenn Johan die Frage, ob Tim die Nacht bei Marek oder ihm verbringen würde, so nett verpackte. "Ich arbeite eine Weile von zuhause aus", antwortete Tim, nicht ohne die übliche Schwerelosigkeit zu fühlen, wenn er die eine oder andere Wahl treffen musste. Johans Lächeln war es wert. Dabei war es nicht nur das Lächeln, das ihn sich die letzten Tage wie ein Idiot benehmen ließ. Es war alles an Johan. Und es war mindestens genauso viel an Marek, was ihm jedes Mal diese Achterbahn bescherte, aus der er am liebsten bei voller Fahrt aussteigen würde. Die beiden hätten nicht verschiedener sein können und Tim hätte nicht jeden Unterschied mehr lieben können. Abgesehen vom Äußeren. Johans Art etwa, wie er sich sicher war, dass Tim ihm absolut nichts entgegensetzen konnte und wollte – womit er richtig lag. Und auf der anderen Seite Marek, der intuitiver als Johan handelte und sich solche Dinge gar nicht erst fragte – und womit er Tims Willen, ihm das Gegenteil beweisen zu wollen, schneller brach, als der überhaupt realisierte, was da gerade ablief. Er liebte Johans gerade Körperhaltung. Die Spannung, die darin lag. Wie ein Baum, der nicht wich. Und er liebte Mareks unkomplizierteren Umgang mit allem, was sich ihm in den Weg stellte. Spielend leicht schaffte er Dinge, über die Tim erst mal eine Woche nachdenken würde. Tim sank tiefer in Johans Umarmung. Er schloss die Augen und genoss die Finger, die durch sein Nackenhaar strichen, hinunter zu seinen Schulterblättern glitten und wieder hinauf, und mit jedem Zentimeter, den sie zurücklegten ein Kribbeln unter Tims Haut erzeugten, das nur durch erneute Berührung wieder zu besänftigen war. Keiner der beiden ließ auch nur den Hauch eines Zweifels aufkommen, dass er genau das war, was Tim gerade brauchte. Johan, der seine stille Präsenz genoss. Und Marek, der einen unerschöpflichen Vorrat an Charme besaß, den er sehr gut einzusetzen wusste. Tim schien der einzige von ihnen zu sein, der das noch nicht akzeptieren wollte. Calla! Es waren Calla, dachte Tim unkonzentriert. Johans Blumen. Die samtigen Blüten, die so weich waren wie Johans Lippen, die Tims Körper erkundeten und jedes unnötige Wort in seiner Kehlen verstummen ließen. Esther war Ausnahmsweise auf ihrem eigenen Zimmer. Sie saß in ihrem hohen Lehnsessel am Fenster. Aus dem altmodischen Radio auf ihrer Kommode klang leise Swingmusik und vor Esther auf dem kleinen runden Kaffeetisch lag ein Fotoalbum ihrer Familie. So vieles war auf dem festen schwarzen Karton dokumentiert. Bilder in schwarz weiß mit gezackten Rändern klebten darin und darüber hatte sie mit hellem Stift Namen, Daten und Ereignisse festgehalten. Den Anfang machte ein Foto ihrer Eltern. Ihre Mutter, die auf einem Armlehnstuhl saß, trug ein dunkles elegantes Kleid mit hochgeschlossenem Kragen. Etwas versetzt dahinter stand ihr Vater. Groß und erhaben, wie Esther ihn in Erinnerung hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite waren bereits zwei ihrer älteren Geschwister mit auf den Fotos. Und eine Seite weiter sie selbst. Esther lächelte in Erinnerung. Sie hatte eine schöne unbeschwerte Kindheit gehabt, genau wie der Rest ihres bisherigen Lebens verlaufen war. Zuerst mit ihren Eltern und Geschwistern und dann mit ihrer eigenen Familie. Das halbtransparente Trennpapier zwischen den einzelnen Seiten knisterte, als Esthers Hand sachte darüber strich. Ein Klopfen an ihrer Tür ließ sie den Kopf heben. "Herein", rief Esther mit heiserer Stimme. Die Tür öffnete sich und im Rahmen stand ein junger Mann, den Esther noch nie gesehen hatte. Er war manierlich gekleidet und offensichtlich wusste er, was Höflichkeit war. Er hatte einen Strauß Blumen in den Händen, den seine schmalen feingliedrige Finger etwas nervös umklammerten, wie Esther amüsiert feststellte. "Guten Tag", erklang seine äußerst angenehme Stimme, mit der er Esther sofort in seinen Bann zog. "Mein Name ist Marek Wilk." Esther horchte auf. Der Name sagte ihr etwas. Sie hob die Hand und winkte den jungen Mann zu sich ins Zimmer. "Kommen Sie rein und setzen Sie sich doch bitte." Esther deutete auf den Armlehnstuhl, der ihr gegenüber an dem Kaffeetisch stand. Es war der Stuhl vom Foto ihrer Eltern, auf dem ihre Mutter gesessen hatte. Marek gab Esther den Blumenstrauß und nahm dann auf dem angebotenen Stuhl Platz. Er schien alt zu sein, aber stabil. Er wackelte kein Stück und keine einzige Schraube quietschte. "Darf ich Du sagen?" Irritiert sah Marek auf. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er das gefragt wurde. "Natürlich", sagte er schnell und schickte ein Lächeln hinterher. "Ich denke, ich weiß, wer du bist." Esther lachte leise über Mareks Gesicht, dem wohl alle möglichen Dinge durch den Kopf gingen, was Tim ihr wohl verraten haben könnte. "Dir gehört der Blumenladen, nicht wahr? Tim hat mir davon erzählt." Mareks Gesicht erhellte sich. "Eigentlich gehört das Geschäft meiner Tante und meinem Onkel", wiegelte Marek beschämt ab. "Ich bin nur die meiste Zeit dort und kümmere mich darum." "Und um die Bestattungen", warf Esther ein. "Ja, das auch", gab Marek peinlich berührt zu. "Dass muss dir doch nicht unangenehm sein." Esther amüsierte sich prächtig über das erschrockene Gesicht ihres Gegenübers. "Deine Arbeit ist jedenfalls krisensicher." Esther lachte heiser und Marek konnte nicht anders, als einzustimmen. "Mein Mann hatte auch einen solchen Beruf", sagte Esther. "Er war Bestatter?" Esther lachte erneut. "Nein, er war Bäcker." "Ach so, entschuldigen Sie..." Marek biss sich auf die Unterlippe. "Esther", sagte Esther und sah Marek aus ihren hellen blauen Augen an, die wie zwei eisbedeckte Seen schimmerten. "Wir hatten ein eigenes Café", fuhr Esther mit ihrer Erzählung fort. "Mein Mann hat die besten Kuchen gebacken, die ich kenne und meine Enkelin, Tims Mutter, hat sein Talent geerbt. Magst du Kuchen?" "Ja, kann man so sagen." Marek nickte. Er kannte die Kuchen von Tims Mutter nur zu gut und konnte bestätigen, dass es die besten waren, die er je gegessen hatte. Er würde einiges dafür stehen und liegen lassen. "Schade, dass du die Kuchen von meinem Mann nicht kennst. Er ist leider ziemlich früh gestorben." Esther schlug das Fotoalbum zu und legte ihre Hand darauf. Ihre Mundwinkel zuckten ein wenig und Marek fühlte sich schuldig, ohne zu wissen, weshalb. "Ich konnte das Café nicht mehr alleine weiterführen. Ich hatte ja unsere kleine Tochter, die gerade erst mit dem Laufen begonnen hatte, und vom Backen verstand ich nichts. Aber ich denke, du weißt, wie das mit eigenen Geschäften ist, habe ich Recht?" Marek nickte. Ohne Tims Hilfe würde der Laden bedeutend schlechter laufen. Er hatte einfach Talent, wo Marek die Lust fehlte, sich um den Bürokram zu kümmern. Esthers Hand strich über den abgewetzten und ausgeblichenen Deckel des Fotoalbums. "Lotte, meine Tochter, hat es ihrem Vater gleich getan – was das frühe Sterben angeht. Und ich stand wieder mit einem kleinen Kind da und musste zusehen, wie ich zurecht komme." Marek spürte, wie sein Hals eng wurde. Das alles hörte er heute zum ersten Mal. Er hatte gewusst, dass Tim seine Oma nie kennengelernt hatte, weil sie früh verstorben war, aber viel mehr hatte Tim nicht darüber geredet und Marek hatte nicht nachgefragt. "Ist er gut in seinem Job?" Esthers Frage riss Marek aus seinen Überlegungen. "Ja, besser als ich", gab Marek zu und versuchte ein Lächeln. "Ohne ihn hätte ich den Laden vermutlich schon ruiniert." "Dann ist gut." Esther sah zum Blumenstrauß auf ihrem Schoß. "Er arbeitet sich momentan in die Floristik ein", erzählte Marek nicht ohne Stolz. "Ich bin öfter unterwegs, weil es gerade ganz gut läuft, was die Besta-" Marek hielt inne. Er wusste nicht, ob es angebracht war, sich mit einer 91jährigen über Beerdigungen zu unterhalten. "Was die Bestattungen angeht, wolltest du sagen, oder?" Esther lachte wieder mit heiserer Stimme und Marek nickte. "Ich hoffe, mit den Zahlen ist er besser, seine Verpackungskünste habe ich nämlich schon erlebt", murmelte Esther amüsiert. Dann schien ihr etwas anderes einzufallen. "Kennst du Patience?" Marek hielt den Kopf schief und dachte nach. "Nein, davon habe ich noch nie gehört." "Gut, dann zeige ich dir, wie man es spielt." Esthers zitternde Hand deutete zu ihrem Nachtschrank. "Nimm bitte die Karten und bring sie her." "Und was jetzt?" Marek sah auf die verschieden langen Reihen aus Karten, die Esther nach einer bestimmten Reihenfolge gelegt hatte. "Jetzt brauchen wir einen roten König, um das hier abzuschließen." Esther zeigte auf die längste Reihe. "Zieh eine Karte." Marek griff nach dem Kartenstapel und nahm die oberste davon. "Na, was ist es?", fragte Esther und wartete gespannt darauf, dass Marek sie ihr zeigte. "Leider kein König", sagte Marek und hielt die Karte so, dass Esther sie sehen konnte. "Macht nichts, leg sie hier hin." Marek tat, wie angewiesen. Die nächste Karte zog Esther. "Oh, schade, wieder kein König", lachte sie. "Los, du bist dran." "Die liegen wohl ganz unten", sagte Marek lachend, nachdem er seine Karte gezogen und sie Esther präsentiert hatte, die sie an der richtigen Stelle ablegte. "Hast du es eilig?" Ihre blauen Augen ruhten auf Marek, der verneinend den Kopf schüttelte. "Gut", sagte Esther zufrieden. "Weißt du, mit Tim kann man das nicht spielen." Marek lachte auf. "Ja, ich fürchte Geduld ist nicht seine größte Stärke." Esthers Lachen klang rau. "Aber er hat andere", fügte Marek hinzu. Tim hatte immer zu ihm gehalten, auch am Anfang, als es mit dem Laden gefährlich auf der Kippe stand, weil sein Onkel sich mehr mit dem Alkohol beschäftigt hatte, als mit seinen Finanzen. Sie hatten sich einige Nächte um die Ohren gehauen, um alles einigermaßen so hinzubiegen, dass sie nicht noch weiter in die roten Zahlen gerieten, und sie hatten es geschafft. Gerade so, aber es hatte gereicht. Und jetzt lief es wieder tadellos. Esther hatte Marek genau beobachtet. Keine noch so kleine Regung in seinem Gesicht entging ihr. Immer, wenn Tims Name fiel, blitzte es in seinen Augen, nur um gleich darauf einem nachdenklichen Blick zu weichen, als hätte er sich bei einem Gedanken erwischt, der gerade unpassend war. "Er ist stärker, als ich dachte", schloss Marek seine unausgesprochenen Gedanken ab. "Ja, da hast du recht." Esther lächelte. "Er hat nur so furchtbare Angst vor allem, was mit dem Sterben zu tun hat. Vielleicht wegen Lotte und meinem Mann. Ich habe keine Ahnung..." "Und dann sucht er sich einen Bestatter zum Freund", rutschte es Marek heraus. In dem Moment, in dem Marek bewusst wurde, dass er gar keine Ahnung hatte, inwieweit Tims Oma überhaupt über ihre Beziehung zueinander Bescheid wusste, fing Esther auch schon zu lachen an. "Tut mir leid", entschuldigte sich Esther bei Marek, "aber dein Gesicht gerade war göttlich. Los, los, zieh die nächste Karte." Grinsend schüttelte Marek den Kopf. Seine Hand schwebte über dem Kartenstapel. Er hob die erste ab und wollte gerade gucken, welche es war, als eine Stimme sie unterbrach. "Hallo, Esther. Sie haben Besuch?" Marek sah auf. Ein junger Mann etwa in seinem Alter hatte das Zimmer betreten und kam zu ihnen geschlendert. Er nickte Marek begrüßend zu, der das Nicken erwiderte. "Das ist Marek", stellte Esther ihn dem Fremden vor, der bei der Nennung seines Namens plötzlich erschrocken aussah. "Ihm gehört der Blumenladen, in dem Tim arbeitet." Im gleichen Moment, in dem Johan kapierte, wen er da vor sich hatte, erkannte Marek Tims rotes Ramones-Shirt, das Johan trug. Es gab nur dieses eine, das er unter hunderten wiedererkannt hätte. Ohne Zweifel. Es war nur eine winzige Stelle, an der das Logo wie verschwommen wirkte, aber nur Marek und Tim wussten, wo diese Stelle war und warum sie dort war. Es war passiert, nachdem sie ihre Waschmaschine ausprobiert hatten. Marek hatte Tims T-Shirt gebügelt – das erste Mal in seinem Leben hatte er ein Bügeleisen in der Hand gehabt – und war mit dem heißen Bügeleisen dem Aufdruck etwas zu nahe gekommen. Marek hatte sich tausendmal entschuldigt, aber Tim war ihm trotzdem eine Woche lang böse gewesen, weil er dieses T-Shirt abgöttisch liebte. Seit diesem Tag erledigte Tims Mutter die Wäsche für sie. Marek musste also nicht erst den Namen des Fremden hören, um zu wissen, wen er da vor sich hatte. Johan war es sichtlich unangenehm, so plötzlich mit dem Teil von Tim konfrontiert zu werden, den er bisher zu verdrängen versucht hatte. "Eigentlich wollte ich mich nur schnell verabschieden", sagte Johan zu Esther, ohne den Blick von Marek lösen zu können, der ihn von seinem Platz aus wohl genauso schockiert ansah, wie Johan ihn. Jeder einzelne Gedanke, der ihm gerade durch den Kopf schoss, war in seinem Gesicht abzulesen und Johan überlegte, ob auch Marek das gleiche in seinem Gesicht sah. Mit Sicherheit. Das war also Tims Chef?! Chef und mehr, korrigierte sich Johan. "Dreh doch mal die Karte um." Mareks Hand war wie gelähmt. Er konnte seine Blicke nicht von Johan abwenden, der sich Mühe gab, möglichst unbekümmert zu wirken. Endlich schaffte es Johan, sich Esther zuzuwenden. "Wir sehen uns dann erst Montag wieder. Ich muss meine Überstunden abfeiern", sagte er zu Esther, die ihn enttäuscht ansah. "Schade, aber das haben Sie sich wohl verdient, Johan. Ich habe ja noch Gesellschaft." Sie zeigte auf Marek, der ein Stück zurück wich. "Und nächste Woche bringe ich Ihnen Patience bei, damit ich nicht immer auf Tim warten muss." "Natürlich." Johan rang sich ein relativ neutrales Lächeln ab, obwohl ihm nicht dazu zumute war. "Schönes Wochenende, Esther." Er hielt kurz inne und nickte dann Marek flüchtig zu, der ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, seit er wohl wusste, wer Johan war. Er fühlte die Blicke förmlich auf sich, wie sie sich in ihn hineinfraßen. "Tschüß", sagte er knapp zu dem blassen jungen Mann, der in Esthers uraltem Armlehnstuhl saß und eine Spielkarte in der Hand hielt. Marek sagte gar nichts. Er sah Johan nach, der das Zimmer verließ und über den Flur auf eine Tür zuging. "Hast du die Karte vergessen?" Mareks Gedanken rasten. Er hörte Esther, konnte sich aber nicht dazu durchringen, endlich die Karte umzudrehen, die mit seinen Fingern verwachsen zu sein schien. Er sah nur Johan, der gerade durch die Tür ins Treppenhaus ging. Gerade drehte er sich um, scheinbar um die Tür hinter sich zu schließen, doch seine Blicke trafen Marek. Als die Tür endgültig hinter dem Typen mit Tims Ramones-Shirt zufiel, sprang Marek auf. Die Stuhlbeine schoben sich polternd über den Boden und endlich fiel auch die Karte aus seiner verkrampften Hand. "Herzkönig!", freute sich Esther, was Marek schon nicht mehr richtig hörte, weil er aus dem Zimmer rannte. "Siehst du, man muss nur etwas Geduld haben", sagte Esther zu dem schon nicht mehr anwesenden Marek. Sie legte den Herzkönig an seine vorgesehene Stelle und schob den nun beendeten Stapel zusammen. "Geduld und Vertrauen, der Rest findet sich von alleine." Die Tür schlug hart gegen die Wand im Treppenhaus, als Marek sie aufstieß. So schnell er konnte, rannte er die Treppe hinunter hinter Johan her. Ein falscher Schritt und er fiel die Treppe hinunter. Spielte keine Rolle. Er musste diesen Typen erwischen. Er hatte keine Ahnung, was er tun oder sagen würde, wenn er ihn eingeholt hatte. Er hatte auch keine Ahnung, wie es ausgehen würde, wenn er ihm gegenüber stand. You Should Never Have Opened That Door -------------------------------------- Das Rotkäppchen öffnet eine Tür Die Großmutter schließt eine Tür Johan war schon fast über den Parkplatz, als er die hastigen Schritte hinter sich hörte. Er blieb stehen und drehte sich in aller Ruhe zu Marek um, der auf ihn zugerannt kam. Nach Atem ringend blieb Marek vor Johan stehen und überlegte fieberhaft, was er jetzt tun sollte. Reden? Am liebsten würde er Johan seine Faust ins Gesicht rammen. Johan atmete tief durch. Aus der Nummer kam er nicht mehr raus. Und Marek auch nicht. "Zwei Straßen weiter ist ein Bistro", unterbrach Johan Mareks fiebrige Gedanken. "Ich lege nur schnell mein Zeug ins Auto." Fassungslos sah Marek, wie Johan genau das tat, was er gesagt hatte. Er öffnete die Fahrertür seines Autos, warf den Rucksack, den er bei sich getragen hatte, auf den Beifahrersitz und schloss die Tür wieder. Er hätte auch einsteigen und wegfahren können und Marek hätte nichts dagegen tun können, dachte Marek. Aber er tat nichts davon. Seelenruhig wartete Johan neben seinem Wagen auf ihn. Marek setzte sich in Bewegung. Wie ein Schlafwandler folgte er Johan, der eine Hand in seine Hosentasche schob und ein Zigarettenpäckchen daraus hervor kramte. Er bot Marek eine Zigarette an, der sie aber ablehnte. Das war die erste Zigarette seit zwei Tagen, fiel es Johan ein, während er es noch immer nicht fassen konnte, wer gerade neben ihm über den Bürgersteig ging. Was Tim wohl tun würde, wenn sie sich jetzt alle über den Weg liefen? Johan lachte leise, verstummte aber sofort wieder, weil er fürchtete, Marek noch mehr zu irritieren. Er hatte keine Ahnung, seit wann Marek von ihm wusste. Dass er es tat, hatte er bestens sehen können, auch wenn er selbst am liebsten so getan hätte, als wisse er selbst nicht, wer Marek ist. Marek war enttäuscht. Am meisten von sich selbst. Er starrte in das Glas Tonic Water, das vor ihm auf dem Tisch stand. Seit Johans Satz, dass er erst noch sein Zeug ins Auto stellen müsse, hatten sie kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Und sie waren immerhin schon bei ihren jeweils dritten Gläsern angelangt. Alles, was er selbst am liebsten gesagt oder getan hätte, war weg. Gut, er hatte zu wenig Zeit gehabt, sich wirklich Gedanken darüber zu machen, was er zu Johan sagen sollte, wenn er ihm mal gegenüber stehen würde. Wer hätte auch ahnen können, dass das so schnell passiert. Und wer hätte ahnen können, dass es ausgerechnet dann passieren würde, wenn er Tims Oma besucht. Nie im Leben wäre er darauf gekommen, dass Tim und Johan sich ausgerechnet im Altenheim begegnet waren. "Woher wusstest du-", nahm Johan erneut den Anfang eines Gesprächs in die Hand. "Das T-Shirt", unterbrach Marek Johan. Johan nickte verstehend. Ab wann waren Zufälle keine Zufälle mehr? Er trug das T-Shirt an genau dem Tag, an dem Marek, der noch nie in Haus Waldfrieden gewesen war, Esther besuchte. Marek hob das Glas an seine Lippen und trank einen Schluck des bitteren Getränks und musste sich zusammenreißen, um sich nicht zu schütteln. Eigentlich trank er das Zeug überhaupt nicht. Über den Glasrand hinweg beobachtete er Johan, der sein Glas nachdenklich auf der Tischplatte einige Zentimeter hin und her schob und dabei eine feuchte Spur auf dem dunklen Holz hinterließ. Das Geräusch des über das Holz schabenden Glases zerrte an Mareks Nerven. Er hielt Johans Hand fest, der bei der Berührung kurz zusammenzuckte, aber endlich aufhörte, sein Glas über den Tisch zu schieben. "Danke", murmelte Marek und ließ Johans Hand wieder los. Wie seltsam, dachte er. Der Fremde, Johan, der sich fast selbstverständlich in das gewohnte Umfeld, das rote Ramones-Shirt, einfügte. Johan biss sich auf die Unterlippe. Marek blieb ungewöhnlich still, dafür, dass er seinem eigentlichen Konkurrenten gegenüber saß. Aber waren sie das überhaupt? Wenn er ehrlich war, hatte Tim keine Anstalten gemacht, irgendetwas klären zu wollen. "Weißt du, was du bist?" Mareks Satz schlug wie ein Blitz ein. Viel zu schnell, um wirklich zu sehen, was da auf einen zukam. Johan hatte den Kopf leicht schiefgelegt. Was war er? Marek sah Johan einige Zeit lang schweigend an. Er schien jedes geplante Wort genauestens abwägen zu wollen. "Der Jäger", sagte Marek schließlich, als sein Schweigen für Johan fast unerträglich geworden war. "Habe ich nicht gewusst", gab Johan erstaunt aber ehrlich zu. "Frag das Rotkäppchen." Mareks Lippen wurden zu einem dünnen Strich. "Tim?" Marek nickte. Er trank einen Schluck Tonic Water und dachte darüber nach, sich beim nächsten Mal was anderes zu bestellen. Das Zeug war ja widerlich. "Ich schätze mal, du bist dann wohl nicht die Großmutter", witzelte Johan trocken. Aber wer mit so ernster Miene ein so schreckliches Getränk wie Tonic Water trinken konnte, vertrug auch Witze. Ein leises Lachen kroch Mareks Kehle hinauf. Es war nicht mehr als ein kaum hörbares Grollen, aber für Johan war es eine Bestätigung. "Ich habe mir Tims Wolf – Chef, meine ich, irgendwie anders vorgestellt." Marek hob den Blick. "So und wie?" "Älter", sagte Johan nach einer Weile bedächtig und fügte hinzu: "Und seriöser. Eben chefmäßiger." "Halbglatze, Nickelbrille, kariertes Hemd und im Winter eine Strickweste?" "Ja, genau!" Johan freute sich über Mareks unglaubliche Fähigkeit, seine Gedanken lesen zu können. "So sieht mein Onkel aus, der echte Chef – auf dem Papier jedenfalls", murmelte Marek und zog die Nase kraus. Johans Schultern bebten. Er versuchte, das Lachen zu unterdrücken, bis ihm die Tränen in den Augen standen. Marek hatte eine Augenbraue hochgezogen und sah abwartend sein Gegenüber an, dem wohl gleich die Tränen über die Wangen liefen. "Und ich habe mich schon gewundert", stieß Johan schließlich aus. "Worüber?" Marek verschränkte die Arme vor der Brust. "Über Tims Geschmack." Jedes Wort wurde von Johans Lachen unterbrochen und Marek wurde langsam ungeduldig. Er wollte zur Abwechslung auch mal lachen. "Ich habe mir dich genau so vorgestellt, wie du deinen Onkel beschrieben hast, und dann-" Johann musste Mareks Blicken ausweichen, sonst bekäme er für die nächste halbe Stunde kein einziges vernünftiges Wort mehr über die Lippen. "Und dann habe ich mich gefragt, was er von mir will..." "Oh", war alles, was Marek dazu einfiel. War das ein Kompliment an ihn? "Ich hoffe, du bist jetzt beruhigt." Johan nickte. Jetzt war es vorüber. Er musste lachen. Jedes weitere Wort von ihm oder Marek würde ihn nur noch mehr zum Lachen bringen. Aber er wusste jetzt endlich, warum es ihn gar nicht gestört hatte, dass es da noch jemanden in Tims Leben gab. Er hatte Tims Chef nie als Konkurrenz gesehen, weil er immer nur einen alten Mann vor Augen gehabt hatte. Johan wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Seine Rippen schmerzten und Marek sah ihn immer noch so gefasst an. Zum Glück hatte Johan die Wahrheit nicht früher gekannt. Tims Chef war nämlich durchaus attraktiv, wie er zugeben musste. Und er meinte, Tim zu verstehen. Insgeheim war er sich sicher gewesen, dass sich Tim schlussendlich für ihn entscheiden würde. Er hatte kein einziges Mal daran gezweifelt. Aber jetzt wusste er, dass Tim das nicht tun würde. Johans Irrtum war schon lustig, aber Marek konnte nicht richtig darüber lachen. Er hatte noch immer Angst vor Johan. Nicht vor Johan als Person, aber vor Johan als Jäger, dem es so leicht gefallen war, Tim zu bekommen. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Sollte er wegrennen oder sitzen bleiben? Sein Gefühl riet ihm zu ersterem. Mareks Blicke gingen zur Tür des Bistros hinüber, um dann wieder bei Johan zu landen, der ihn, wer wusste schon wie lange, beobachtete. Natürlich waren ihm Mareks zögernde Blicke zur Tür nicht entgangen und Johan wartete förmlich nur darauf, dass sein Gegenüber gleich aufspringen und das Bistro verlassen würde. Weit würde Marek wahrscheinlich nicht kommen. Nicht so lange Johan noch seine Hand hielt, was diesem bisher überhaupt nicht aufgefallen war. Marek merkte, wie sein rasender Puls wieder langsamer wurde. Was für eine dumme Idee, abhauen zu wollen. Selbst wenn er sich die Blöße gab, was kam danach? Er konnte ja wohl kaum heimgehen und so tun, als wüsste er von nichts. Nichts von Johan. Nichts von Tim und Johan... Marek griff nach dem Glas, mit dem sicher schon warmen Tonic Water – und hielt inne. "Zu spät", kommentierte Johan Mareks erschrockene Blicke, die zuerst auf ihren Händen verharrten, die einander hielten, und dann zu Johans Gesicht hoch fuhren. Genau dieser Ausdruck in Mareks Augen war es, der Johan nach Mareks Hand hatte greifen lassen. Es war, als griff er in ein Wespennest. Er hatte jede Sekunde damit gerechnet, dass das Wilde, das in Mareks Augen wie fast erloschene Flammen in einem Stück Kohle glühten, durchschlug. Ein Windstoß würde ausreichen, um die schlummernde Glut wieder aufflammen zu lassen. Mareks Mundwinkel zuckten, aber er blieb stumm. Johan wartete. Es war nicht mehr die plötzliche Wut, die er noch vor zwei Stunden in Mareks Gesicht gesehen hatte, als sie sich auf dem Parkplatz des Altenheims gegenüber gestanden hatten und Marek wohl in ihm den Rivalen um Tim zu erkennen gedacht hatte. Da hätte er es nie gewagt, Mareks Hand zu ergreifen. Jetzt war etwas viel Subtileres in Mareks Mimik, als ihm bewusst geworden war, dass Johan seine Hand hielt. Es schimmerte wie bleiche Kieselsteine am Boden eines ruhigen Flussbetts. Der Blick darauf war zwar etwas verschwommen, aber man konnte ihre Formen trotzdem gut erkennen und wusste, dass es Steine waren. Johan konnte nicht anders. Es hatte nichts mit Triumph zu tun oder damit, wer als Sieger hier rausging. Wie die ruhige und glatte Wasseroberfläche dazu verleitete, durchbrochen und in Bewegung versetzt zu werden, reizte es Johan, das, was er in Marek zu sehen meinte, entweder weiter still aus der Ferne zu beobachten und die Steine Steine sein zu lassen, oder die Wasseroberfläche in Aufruhr zu versetzen und sich von den Strömungen mitreißen und in tausend Stücke zerreißen zu lassen. Und in diesem Augenblick konnte er sich gerade nichts schöneres vorstellen, als in tausend Stücke zerrissen zu werden. Johan sog den Atem tief ein. Seine Lungen füllten sich gierig mit Sauerstoff, als wäre er kurz vor dem Ertrinken. Mareks verschwitzter Körper unter ihm schien ihm zu entgleiten und Johan packte fester zu. Mareks Hände in seinem Nacken zogen Johan hinunter, bis er sein eigenes Spiegelbild in Mareks dunklen Augen sah und sich ihre Münder berührten. "Hast du immer noch Angst vor mir?" Johan spürte Mareks Lächeln auf seinen eigenen Lippen. "Dann ist ja gut." Johan fiel rückwärts auf sein Bett und verharrte einen Moment so, ohne etwas zu tun, außer an die Decke zu starren. Das Schlafzimmerfenster stand offen und draußen rauschte der Regen vom Himmel. Kurz bevor Marek gegangen war, hatte der Regen eingesetzt. Die Luft, die durch das Fenster wehte, war kühl und Johan dachte kurz darüber nach, die Decke über sich zu ziehen. Das erste Mal störte ihn die Stille in seiner Wohnung. Sie drückte in seinen Ohren wie nach einem zu langen Tauchgang. Johan sah zu den Blumen hinüber, von denen nur die Schemen zu erkennen waren. Es waren Calla, wie er jetzt wusste. Marek hatte ihm das gesagt, während er sie an einen anderen Platz gestellt hatte. Ohne hinzuschauen, tastete Johan im lichter werdenden Halbdunkel nach seinen Zigaretten auf dem Nachtschrank. Ein kalter Luftzug verwirbelte den aufsteigenden Rauch aus dem glimmenden Tabakröllchen und Johan bekam eine Gänsehaut. Mit jedem Zug erhellte das orange Glimmen der Zigarettenspitze seine Hand. Eigentlich hatte er nicht erwartet, mit jemand anderem als Tim hier in seinem Bett zu landen. Marek war überhaupt nicht vorgesehen gewesen. Und er war auch nicht in tausend Stücke zerrissen worden, obwohl die letzten Tage voller Bruchstücke gewesen waren. Tim und er. Tim und Marek. Er und Marek. Auf jedes einzelne Puzzleteil war ein neues gefolgt. Und trotzdem fühlte es sich an, als wäre endlich alles an seinen richtigen Platz gerückt. Johan drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Er faltete die Hände auf dem Bauch und sah dem Tag zu, wie er vor dem Fenster langsam anbrach. Er wusste nicht, wie lange er schon auf dem Hof stand und nahezu bewegungslos aus der Frontscheibe des Leichenwagens starrte. Es war immer heller geworden und irgendwann hatten die ersten Vögel zu zwitschern angefangen. Die Luft war kalt und feucht vom Regen, der auf das Autodach trommelte. In zwei Stunden würde seine Tante den Laden öffnen. Ein normaler Tag für sie - für Marek, Tim und Johan nicht. Gestern Abend noch hatte er sich davor gefürchtet, nach Hause in eine leere Wohnung zu kommen. Dann war Johan aufgetaucht und hatte ihm, ohne es direkt auszusprechen, die Wahl gelassen, nach dem Besuch im Bistro mit zu ihm zu fahren, oder nach Hause in die leere Wohnung. Natürlich war Marek mit Johan mitgefahren. Und jetzt saß er hier, schaute dem Tag zu, der den Regen zu durchbrechen versuchte, und dachte über Rotkäppchen, den Jäger und den Wolf nach. Das war wohl das erste Mal, seit Erzählen der Geschichte, dass der Wolf mit dem Leben davon gekommen war, obwohl er den Jäger getroffen hatte. Marek lachte leise. Tim und sein verdammtes Rotkäppchen. Und die verdammten Schnüre, die sich gerade am Verheddern waren. Müde strich sich Marek über die Augen. Esther hatte gesagt, dass Tim sich vor dem Tod fürchtete. Bei Marek war er ständig damit konfrontiert gewesen. Und bei Johan auch. Und er war geblieben. Bei Marek und bei Johan. Tim war wohl der einzige, der – vermutlich unbewusst – den Zusammenhang gesehen hatte. Bis jetzt. Marek hatte eine erste Ahnung davon bekommen, als er vor dem Kleiderschrank gestanden hatte. Es hatte nichts darin gefehlt. Und mit Johan hatte er jetzt die Bestätigung, dass Tim nicht nach etwas gesucht hatte, das besser war, als das, was er bereits hatte. Er wollte nichts austauschen, er hatte nur ergänzt. Marek drehte den Zündschlüssel im Schloss um. "Guten Morgen", begrüßte ihn Tims Mutter fröhlich an der Haustür. "Ist Tim da?" Marek musste jedes der drei Wörter aus sich heraus zwingen, zu groß war die Angst, dass Tims Mutter ihm sagen könnte, er wolle nicht mehr mit ihm reden oder ihn sehen. "Er ist nicht da", war dann auch prompt die Antwort, die Marek kurz zusammenzucken ließ. "Er ist schon vor einer Stunde mit Feli spazieren gegangen." "Wirklich?" Marek kratzte sich am Hinterkopf. "Kaum zu glauben, was?" Tims Mutter lachte. "Er wollte zum Ostpark." Es war wirklich kaum zu glauben. Tim ging normalerweise nie freiwillig mit der Ratte spazieren, wie er den winzigen Hund ständig nannte. "Danke, ich schau mal, ob ich ihn treffe." Marek nickte Tims Mutter schnell zu und hastete wieder zu seinem Auto. Der Hund war der erste, der Marek schon von Weitem sah, als er auf sie zugerannt kam. "Komm schon!" Tim zerrte an Felis Leine, die stehengeblieben war und kläffte. Ohne weiter auf den Hund zu achten ging Tim weiter. Das Display seines Handys war voller Regen. Unter den Wasserperlen war der Text kaum noch zu lesen, aber Tim kannte ihn mittlerweile auswendig. Johan hatte ihm irgendwann gestern Abend geschrieben und ihr Treffen abgesagt. Und eben schrieb er, dass er gestern Tims rotes T-Shirt getragen hatte. Er dachte jetzt schon eine Weile über den Sinn der Nachricht nach, aber er kam einfach nicht dahinter, was Johan damit meinte. Marek musste mit gesenktem Kopf gegen den Regen rennen, der ihm dennoch heftig ins Gesicht prasselte. Er trug nur ein T-Shirt, das mittlerweile völlig durchnässt war. Ebenso wie seine Schuhe, in denen das Regenwasser stand, das mit jedem Schritt hochspritzte. Seine nassen Hosenbeine klebten kalt an ihm und Marek war sich sicher, morgen krank im Bett zu liegen. Feli, die sich schon zum zwanzigsten Mal zu ihm umgedreht hatte, kläffte ohne Unterlass. Nur Tim schien das wenig zu stören. Er hatte sich noch kein einziges Mal umgedreht, um zu sehen, weshalb der Hund so außer sich war. Er hatte die Kapuze über den Kopf gezogen und ging mit gesenktem Blick, ohne auf seine Umgebung zu achten. Marek fiel fast über Feli, die versuchte, an ihm hochzuspringen. Er bekam gerade noch Tims Arm zu fassen, sonst hätte es ihn mitten im Park in die Regenpfützen gehauen. Tim erschrak, als er unvermittelt nach hinten gerissen wurde. Ehe er realisieren konnte, was vorging, wurde er geküsst. Und dann erkannte er Marek, dem das Regenwasser aus den Haaren lief. Er schmeckte Mareks regennasse Lippen auf seinen und dann schmeckte er noch etwas anderes als nur den Regen. Er schmeckte Salz. Er hatte Marek noch nie weinen gesehen. Tat er jetzt genau genommen auch nicht, weil Mareks Gesicht regenüberströmt war und man nicht unterscheiden konnte, was Regen und was Tränen waren. Augenblicklich fühlte sich Tim schlecht. "Hey", sagte Marek leise und lächelte zögerlich. Tim schüttelte den Kopf. Er hob seine freie Hand und strich Marek die tropfenden Haarsträhnen aus der Stirn. "Du bist nass", war alles, was ihm einfiel. Mareks Herz schlug ihm bis zum Hals. Die ganze Fahrt über, bis sie schließlich vor Tims Elternhaus standen, hatte er kein einziges Wort herausgebracht. Tim saß neben ihm und hielt Felis Leine in den Händen, während der Hund im Heck des Leichenwagens umher raste, als befände er sich auf einer Rennbahn. Regenbäche verschleierten den Blick nach draußen und langsam kondensierte ihr Atem auf den Scheiben. Er wollte Tim fragen, ob er wieder mit zu ihm komme, aber er erinnerte sich noch zu gut an die Antwort, die er beim letzten Mal bekommen hatte. "Ich bringe noch schnell den Hund rein", kam ihm Tim zuvor und Marek hätte ihn am liebsten in die Arme genommen und die nächsten paar Tage nicht mehr losgelassen. Marek und Tim saßen sich am Küchentisch in Mareks Wohnung gegenüber, als wären sie bei ihrem ersten Date. Marek hatte kurzerhand etwas zu Essen kommen lassen, damit sie nicht erst noch einkaufen mussten. Er hatte Tim etwas zu sagen und der ihm vermutlich auch. "Schönen Gruß von deiner Oma soll ich dir ausrichten." Tim horchte perplex auf. "Du hast sie besucht?" Marek nickte mit aufeinander gepressten Lippen. Nervös drehte er die Gabel in seiner Hand, so dass die Spaghetti, die er gerade erst um die Zinken gewickelt hatte, wieder in den See aus Sahnesoße auf seinem Teller plumpsten. Tim war schon fertig mit Essen, obwohl er kaum etwas heruntergebracht hatte. "Mir ist gestern dein rotes Ramones-Shirt über den Weg gelaufen." Marek machte eine kurze Pause, damit das Gesagte einen Moment auf Tim wirken konnte, der Marek mit offenstehendem Mund ansah. "Mit Johan darin", beendete Marek seine Neuigkeit. Tim wurde schwindelig. Jetzt machte Johans letzte Nachricht Sinn. "Wir waren was trinken", setzte Marek fort und überlegte, ob er Tim, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war, ein Glas Wasser holen sollte. Hinter Tims Stirn arbeitete es auf Hochtouren. Marek besuchte seine Oma, traf Johan und zusammen gingen sie was trinken? War er in einem Paralleluniversum? Tim zuliebe schwieg sich Marek über den Rest der Nacht aus. "Und jetzt?", krächzte Tim heiser. "Soll ich mein Zeug packen?" "Wie kommst du denn darauf?" Marek war sichtlich schockiert. "Na ja, nur so - wegen Johan?" Marek dachte nach. "Dann müsste ich wohl auch mein Zeug packen", sagte er mit belegter Stimme und hoffte, dass Tim verstand, worauf er hinaus wollte. Tim verstand sofort. Er hätte auch etwas dazu gesagt, wenn nicht in diesem Moment sein Handy geklingelt hätte. Johan zeigte das Display an. Tim biss sich auf die Lippe. Er wusste nicht, was für ein Spiel das werden sollte, und er wusste erst recht nicht, ob er der einzige von ihnen war, der keine Ahnung hatte. Sein Finger wischte über das Display und gleich darauf hörte er Johans Stimme. "Bist du unterwegs?" Tim versetzte es einen Schlag in den Magen, wie normal Johan mit ihm plauderte. Als wäre nichts geschehen. "Nein", sagte Tim schließlich. "Ich bin bei Marek." Er erwartete fast, dass Johan enttäuscht war, aber der sagte nur leise Gut. "Ich bin in fünf Minuten bei euch." Schneller, als Tim nachfragen konnte, warum, hatte Johan aufgelegt. Als ob es nicht hätte schlimmer kommen können, dachte er. Jetzt musste er Johans Besuch nur noch Marek klarmachen. Marek sah von seinem eigenen Handy auf, als Tim zu reden anfing. "Johan kommt vorbei", sagte Tim so leise, dass Marek, der einen halben Meter vor ihm saß, es kaum verstand. Ich weiß, wäre es Marek beinahe rausgerutscht. Er sah auf sein Handy hinab, auf dem noch Johans Nachricht angezeigt wurde, die in der Sekunde bei ihm angekommen war, als Johan Tim angerufen hatte. Tim sprang fast von seinem Sitzplatz auf. Wie konnte Marek nur so ruhig bleiben, wenn Johan seinen Besuch ankündigte? Als wäre es das normalste auf der Welt! Mit zitternden Händen räumte Tim den Tisch ab. Er sah zur Uhr am Backofen und versuchte sich daran zu erinnern, wann die fünf Minuten vorbei sein mussten, die Johan ihnen gegeben hatte. Sein Hals war ausgedörrt wie nach einem Tagesmarsch durch die Sahara. Endlich klingelte es an der Haustür. Tim war erleichtert und aufgeregt zugleich. Marek öffnete und dann hörte er auch schon Johans Schritte auf der Treppe. Bonustrack : Today Your Love, Tomorrow the World ------------------------------------------------ Es war einmal ein Junge, den hatte ein jeder lieb, der ihn auch nur ansah. Am allerliebsten aber hatte ihn der Wolf. Und weil der ihn so lieb hatte, schenkte er ihm sein Herz. "Pass schön auf mein Herz auf", sagte der Wolf zu dem Jungen. "Geh nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst es." Der Junge versprach es und von diesem Tag an trug er das Herz des Wolfs bei sich, wo immer er auch hin ging. Eines Tages, als der Junge seine Großmutter besuchte, um ihr Kuchen zu bringen, den die Mutter gebacken hatte, traf er dort den Jäger. Der Junge hatte keine Ahnung, wer der Jäger war und ging ein Stück des Weges neben ihm her. Nach einer Weile fragte der Jäger: "Was hast du da in deiner Hand? Es schimmert so schön und die Sonnenstrahlen springen so lustig darin hin und her." "Das ist das Herz vom Wolf", antwortete der Junge unbekümmert und hielt dem Jäger das Herz entgegen, damit er es besser betrachten konnte. Der Jäger stieß das Herz sachte an. Es war aus zartem Glas und so klar, dass man durchsehen konnte. Dort, wo die Sonnenstrahlen durch es hindurch fielen, schillerte die Luft in tausend Farben. Der Jäger, der bisher nur blutige Herzen in den Händen gehalten hatte, wurde traurig. "Sag, Jäger, warum bist du auf einmal so betrübt?" "Weil ich noch nie ein so reines und zerbrechliches Wolfsherz gesehen habe", antwortete der Jäger und gab dem Jungen das gläserne Herz zurück. "Du kannst es gerne eine Weile tragen, wenn dich das glücklich macht", sagte der Junge und bot dem Jäger das Herz erneut an. "Du musst mir nur versprechen, es nicht fallen zu lassen", ermahnte er den Jäger, dessen Gesicht sich erhellte, als er das kühle Glas in seinen Händen hielt. "Ich werde gut darauf aufpassen", sagte der Jäger und hielt das Wolfsherz in die Sonne, damit deren Strahlen weiter darin umher springen und tanzen und Farbenfunken versprühen konnten. Johan huschte ein flüchtiges Lächeln übers Gesicht, als er Tim und Marek sah. "Hallo", begrüßte er die beiden. Er sah, wie blass Tim war und nickte Marek zu, der etwas hinter Tim stand. Die beiden hatten sicher schon darüber gesprochen. "Setzen wir uns?" Marek deutete ins Wohnzimmer. Ohne Johan aus den Augen zu lassen, ließ Tim ihn zuerst ins Wohnzimmer gehen. Johan steuerte ohne Umschweife auf den Sessel zu und Tim und Marek nahmen auf dem Sofa Platz. Tim versuchte, abwechselnd in Johans und Mareks Gesicht abzulesen, was das sollte. Doch beide hätten auch draußen aneinander vorbei gehen können. Keiner wirkte, als wären sie Drei nicht gerade eine etwas seltsame Gruppierung. Tim und Johan hatten sich miteinander getroffen und Johan und Marek auch. Jeder wußte eigentlich von dem anderen Bescheid. Aber was sollte das hier? "Möchtest du was trinken?", unterbrach Marek ihr Schweigen. "Ja, danke", antwortete Johan und lächelte Marek zu. Als Marek aus dem Zimmer war, wartete Tim, dass Johan endlich die Initiative ergriff und sagte, warum er hier war. Doch Johan sah sich nur interessiert im Wohnzimmer um. Tim rutschte etwas auf seinem Platz nach unten, bis er die Rückenlehne in seinem Nacken spürte. Er schloss kurz die Augen und versuchte sich auszumalen, wie sie alle erst in diese Situation geraten waren und wie sie nun weitergehen sollte. Was war der erste vernünftige Satz, den sie gleich miteinander wechseln würden? War es seine Schuld? Stellten sie ihn vor die Wahl? Er wollte keine Wahl treffen. Konnte es gar nicht. Marek stellte eine Flasche vor Johan auf den Tisch, der sich zwar erneut bedankte, aber die Flasche keines Blickes mehr würdigte. Das Sofapolster sank etwas an Tims Seite ein, als sich Marek nebem ihm niederließ und Tim öffnete die Augen. Er setzte sich wieder auf und spürte Mareks Arm auf seine Schulter herabsinken. Johan lächelte auch jetzt noch. Wenn er gekommen war, um Marek zu eröffnen, dass er Tim niemals aufgeben würde, wäre jetzt der ideale Zeitpunkt dafür. Oder ging es hier nicht um ihn? Mareks Fingerspitzen zeichneten kleine Kreise auf Tims Schulter. Tims Anspannung war kurz vorm Platzen. Gott, warum sagte niemand etwas? Johan setzte sich etwas auf. Seine Finger hatten sich haltsuchend ineinander verschlungen. "Esther ist vor einer Stunde verstorben", sagte Johan endlich vorsichtig und im gleichen Atemzug tat es ihm auch schon leid, als er sah wie Tims Kopf hochfuhr und ihre Blicke sich trafen. Hatte er das richtig verstanden? Tim drehte sich zu Marek um, der ihn keine Sekunde aus den Augen ließ und gerade ansetzte, etwas zu sagen. Tim schüttelte den Kopf. Von allen schrecklichen Sachen, die es hätten sein können, war das die unglaubwürdigste. "Meine Mutter", flüsterte Tim und brach mitten im Satz ab. "Sie ist schon auf dem Weg zu ihr." Johan kämpfte mit sich. Er wäre gerne aufgestanden und hätte sich zu Tim gesetzt, der gar nicht richtig zu realisieren schien, dass die Nachricht wahr war. Aber das konnte er nicht einfach so bringen. Noch nicht. "Ich hole die Autoschlüssel." Marek bewegte sich erst von der Stelle, nachdem Tim, der Johan seit dem Satz mit Esther anstarrte, als ob er darauf warte, dass der sagte, es wäre nur Spaß gewesen, ihn ansah und nickte. "Lass nur", wandte Johan ein, "ich bin sowieso mit dem Auto hier." Er erhob sich und schob die Hände in die Hosentaschen. "Ich warte unten auf euch." Schweigend fuhren sie zu Haus Waldfrieden, das seinem Name entsprechend ruhig da lag. Hinter einigen Zimmerfenstern brannten gedimmte Nachtlichter. Johan parkte neben dem Wagen von Tims Eltern und wartete dann auf Tim und Marek, die beide auf der Rückbank gesessen hatten. Marek hielt Tims Hand. Seine Finger waren eiskalt und Marek drückte sie sachte. Er hatte sich nie Gedanken über seine Besuche hier gemacht, aber jetzt, wo er wusste, dass er das letzte Mal den Weg nach oben auf die Station machte, um seine Oma zu sehen, fielen Tim alle möglichen Sachen auf. Das Muster auf den Granitstufen, das freundliche Orange, in dem die Wände des Treppenhauses gestrichen waren, Bilder in alten verschnörkelten Holzrahmen, die die Wände zierten und den Menschen hier ein heimisches Gefühl vermitteln sollten. Jeden Schritt, den Tim tat, tat er mit dem schrecklichen Gefühl, dass es wirklich das letzte Mal war, dass er hierher kam. Und dann spürte er Johans Arm, der unabsichtlich gegen seinen stieß und er musste sich korrigieren. Er war eben nicht das letzte Mal hier. Seine Oma würde zwar nicht mehr hier auf ihn warten, um mit ihm im Gemeinschaftszimmer Patience zu spielen, aber Johan war schließlich noch hier. Johan sah zu Tim, dessen freie Hand ganz kurz gegen seine stieß und schnell über seinen Handrücken strich. Seine Eltern standen an Esthers Bett. Zwischen ihnen konnte Tim ein Stück von Esthers Arm erkennen, der still neben ihr auf der Matratze ruhte. Tim blieb stehen und atmete tief durch. Mareks Hand hatte ihren Griff etwas gelockert, als wolle er ihm die Wahl lassen, alleine zu Esther ans Bett zu gehen oder zusammen mit ihm. Johan war an der Tür stehen geblieben und beobachtete von dort die Szene. Simone hatte wie üblich alles gut vorbereitet. Das Licht war gedimmt, weil die meisten Leute erschraken, wenn sie ihre Verstorbenen das erste Mal in diesem Zustand sahen. Ein Körper, dessen Blutkreislauf zum Stillstand gekommen war, sah nun einmal anders aus, als normal durchblutetes Gewebe. Das sanfte Licht machte die Haut weicher und ließ die erschlafften Konturen nicht ganz so scharf hervortreten. Marek verstand das sofort. Er ließ Tims Hand los, als er sie aus seinem Griff gleiten spürte. Seine Mutter legte einen Arm auf Tims Schulter und drückte ihn schnell an sich. Es tat ihm weh, als er ihre Tränen sah, die ihr über die Wangen liefen. Er wandte die Blicke ab und sah zu Esther. Der Anblick erinnerte ihn an seinen zweiten Besuch hier, als sich Esther tot gestellt hatte. Es gab tatsächlich kaum einen Unterschied. Mit angehaltenem Atem wartete er auf ein Zucken ihrer Lider, die sich gleich heben würden. Wo war das Pulsieren ihrer Schläfen? Wann öffnete sie endlich den Mund und rief wieder fröhlich Angeschmiert? Tim sah so konzentriert zu seiner Oma, dass es in seinen Augen zu brennen begann. Vielleicht tat sie ja doch nicht nur so. Vielleicht war sie wirklich tot? Tim wandte sich zur Tür. Johan und Marek standen dort nebeneinander und erwiderten seine Blicke. Marek lächelte leicht und Johan schien nicht ganz zu wissen, wie er reagieren sollte. Es war das erste Mal, dass er jemandem, den er kannte, die Nachricht hatte überbringen müssen, dass jemand gestorben war. Dass er Tim liebte, machte es nur noch schwerer. Johans Augen sagten ihm, dass es wirklich kein Spiel war und er sich verabschieden musste. Tim tat es. Mit allem, was dazu gehörte. Er war dabei, als Marek Esther abholte. Er fuhr mit zum Laden und folgte Marek mit klopfendem Herzen in die Räume dahinter. Zweimal fuhren sie zum Krematorium und schritten nebeneinander durch den Steinsäulenwald. Tapfer hielt Tim auf der Rückfahrt des zweiten Besuchs im Krematorium Esthers Urne auf seinem Schoß. Und dann stellte er sie auf den mit einem schwarzen Tuch verdeckten und mit Blumen geschmückten Sockel in der Einsegnungshalle. Sie waren alleine in der Halle. Marek und Tim. Das Wachs verbrannte zischend in den Kerzen, die um den Sockel mit Esthers Urne aufgebaut waren. Marek dachte darüber nach, dass er der Letzte von ihnen gewesen war, der Esther lebend gesehen hatte. Und er war der Letzte, der sie tot gesehen hatte. Die Tür zur Halle schwang sanft auf. Kurz hörte man Vogelgezwitscher, das von draußen in die stille Einsegnungshalle drang wie ein frischer Luftzug. Dann wurde es wieder still. Tim sah zu Johan auf, der sich an seiner freien Seite auf dem Stuhl niederließ. Er hielt den Topf mit den Calla in den Händen. Dann sah Tim zu Marek, der auf seiner anderen Seite saß. "Ich habe noch was für dich." Tim drehte den Kopf zu Johan, der in seine Hosentasche griff und eine kleine rechteckige Schachtel hervorholte, die er Tim gab. Es waren Esthers Spielkarten. Tim öffnete die Packung und ließ die Karten in seine Hand gleiten. Er ging jede einzelne Karte durch. Sie waren noch so geordnet, wie sie Esther das letzte Mal benutzt hatte. Kreuz Zehn, Karo Bube, Pik Dame, Herz König. Dahinter lagen der Kreuz König und der Karo König. Für Tim machten sie keinen Sinn. Tränen tropften auf die Karten in Tims Händen. Es waren die ersten Tränen, die er seit Esthers Tod weinte. Sie fielen auf die drei Könige und rollten auf seine Hände. "Ich weiß nicht mal, wie man Patience spielt", stieß Tim leise aus. Er hatte nur bei seiner Oma gesessen und darauf gewartet, dass die Zeit umging. Er war nicht Rotkäppchen. Er war in Wirklichkeit der böse Wolf, der nacheinander in sämtliche Rollen geschlüpft war, damit er alle Beteiligten auffressen konnte. Zuerst Marek, dann Johan und zum Schluss seine Oma. Johan presste die Lippen fest aufeinander. Er hatte Esther so oft ihr Kartenspiel spielen sehen, aber er kannte die Regeln selbst nicht. Zögernd legte er seine Hand auf Tims Rücken und zuckte kurz zurück, als er Mareks Hand direkt daneben spürte. Er sah zu Marek, der kaum merklich mit dem Kopf schüttelte und lächelte. Mareks Hand legte sich auf Johans und seine Finger glitten sachte zwischen Johans Finger. Marek neigte seinen Kopf zu Tim. Mit seiner freien Hand strich er ihm über den Unterarm, bis hinunter zu seinen Händen, die die Karten festhielten. "Ich weiß, wie das geht", sagte Marek und wartete, bis Tim ihn ansah. "Esther hat es mir beigebracht. Wenn ihr wollt, zeige ich es euch." Tim sah zu Johan, der nun ebenfalls nach Tims Hand griff, sich zu ihm beugte und ihm einen Kuss auf die Wange gab. Ja, warum nicht?! Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)