Das Teehaus am Ende der Straße von Seelenfinsternis ================================================================================ Kapitel 13: Wahrheit am Boden des Bechers ----------------------------------------- 13 – Wahrheit am Boden des Bechers Sie saßen eine Weile beieinander und tranken schweigend. Worte waren weder erwünscht noch notwendig. Kagome hatte sich sehr schnell an den bittersüßen Geschmack des Getränks gewöhnt, auch das Brennen des Alkohols in ihrer Kehle störte sie nicht mehr. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihr aus und umfing sie zärtlich. Der kalte Hauch des Todes, der in ihre Glieder gekrochen war, wich der schummrigen Geborgenheit und ihre über die Maßen malträtierten Gedanken und Gefühle wurden in sanfte Watte gepackt. Ein herrlicher Dämmerzustand, ihre Gedanken waren frei, doch der Körper schwer und müde. Träge warf sie einen Blick auf Sesshoumaru, der ihr gegenüber in seinem Stuhl mehr lag als saß und gedankenverloren Rauchkringel in die Luft schickte. Er sah entspannt aus, der harte Zug in seinem Gesicht hatte sich etwas gelockert und seine Augen waren genießerisch geschlossen. Doch ein Gedanke in ihrem Kopf wollte sich nicht der betrunkenen Trägheit hingeben und sah endlich seine Chance gekommen. Da all die Hemmungen bereits weggedämmert waren, fand er seinen Weg auf ihre Zunge. „Was ist eigentlich damals aus Rin geworden?“ Erschrocken über sich selbst hielt Kagome sich den Mund zu, aber es war zu spät: die Frage stand im Raum und es war nicht mehr rückgängig zu machen. Wider Erwarten wurde er nicht auf der Stelle ärgerlich, sondern öffnete nur matt seine Augen. Er sah sie melancholisch an und hoffte wohl mit seiner Frage das Unvermeidliche weiter heraus zögern zu können. „Du wirst nie Ruhe geben, bis ich es dir erzählt habe, hab ich Recht?“ Kagome setzte sich wieder gerade und nickte bestimmt. Er warf einen leidenden Blick über seine Schulter und seufzte schwer. „Bringen wir’s hinter uns“, knurrte er und schenkte sich einen weiteren Becher ein. Kagome fiel auf, dass er weniger unnahbar wurde durch den Alkohol und sie nicht mehr gnadenlos von sich weg schlug. Schmolz etwa gerade die Eismauer, die sein geschundenes Herz umgab? Er stürzte den Schnaps hinunter ohne abzusetzen und fingerte mit einer Hand eine neue Zigarette aus dem Päckchen. Verschwenderisch langsam zündete er sie mit seinem alten Plastikfeuerzeug an und lehnte sich dann bequem gegen die Lehne des Stuhls, um seine Erzählung zu beginnen. „Nachdem Naraku besiegt war, habe ich sie in euer Dorf gebracht und die alte Priesterin gebeten sie aufzunehmen. Der Westen war durch diesen Hanyou ziemlich in Aufruhr geraten und ich musste erst einmal wieder einige widerspenstige Youkai zur Räson bringen. Es wäre zu gefährlich gewesen sie mitzunehmen und sie sollte auch wieder lernen unter Menschen zu leben.“ Erstaunt sah Kagome ihn an. „Du hast sie Kaede anvertraut? Aber Rin hing doch so an dir, wie konntest du sie einfach zurücklassen? Das hat ihr doch sicher das Herz gebrochen.“ „Ich habe sie nicht verlassen“, erklärte er weiter, „Sie hat es verstanden und von Zeit zu Zeit habe ich sie besucht. Sie kam dort über ihr Misstrauen gegenüber Menschen hinweg und lebte fast zehn Jahre bei der alten Miko.“ Gespannt hörte Kagome zu. Würde er ihr vielleicht auch etwas über ihre Freunde erzählen? Es war möglich, dass er sie nie ganz aus den Augen verloren hatte! „Als die Miko schließlich im hohen Alter starb, bat Rin mich wieder mit mir reisen zu dürfen. Da wieder Ruhe in den Westen eingekehrt war, erfüllte ich ihr den Wunsch und nahm sie mit mir auf die Burg des Westens.“ „Du hattest eine Burg?“, fragte Kagome aufgeregt. Sie hatte sich damals nie darüber Gedanken gemacht. Sie wusste zwar, dass er der Herr der westlichen Länder war, aber dass zu dem Titel mehr gehörte, hatte sie nicht bedacht. „Steht sie noch?“, fügte sie noch hinzu. „Irgendwo mussten die Inuyoukai ihren Sitz haben. Mach dir aber keine zu romantischen Vorstellungen davon. Das war ein altes, enges und unwirtliches Gemäuer und ich habe es gehasst. Ich war heilfroh, als sie zerstört wurde, ich habe mich dort immer eingesperrt gefühlt.“ „Deshalb bist du immer umher gewandert“, schlussfolgerte Kagome. „Richtig“, beendete Sesshoumaru das Thema und drückte seine Zigarette in dem schon wieder sehr vollen Aschenbecher aus. Wieder bestätigte sich ihre Vermutung. Je emotionaler ein Thema für ihn war, desto mehr rauchte er. Schon hatte er die nächste zwischen den Fingern und spielte gedankenverloren damit. „Leider war zu dieser Zeit meine Anwesenheit dort nötig, also nahm ich sie mit mir und sie wurde zu meiner Tochter und Hime des Westens.“ „Oh, das überrascht mich jetzt, dass du es so offiziell gemacht hast. Weil sie ja trotz allem ein Mensch war und du Menschen hasst“, sagte Kagome lachend. Finster blickend antwortete er ihrer Heiterkeit: „Vergleich Rin nie wieder mit diesem Abschaum! Sie war es schon immer für mich, warum hätte ich es also verleugnen sollen? Außerdem konnte ich so für ihre Sicherheit sorgen. Niemand hätte es gewagt ihr auch nur ein Haar zu krümmen.“ Kagome nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Becher, aber sie musste husten. Nachdenken und Trinken zur gleichen Zeit vertrug sich nicht, besonders nicht wenn der Schnaps bereits begann seine Wirkung zu entfalten. „Warum hast du sie eigentlich bei dir aufgenommen? Das habe ich nie verstanden… Der Schrecken der Menschheit nimmt ein Waisenkind bei sich auf, das wirkt doch sehr paradox“, forschte sie weiter nach, aber konnte sich den hämischen Unterton nicht verkneifen. Ihre Selbstkontrolle litt bereits unter dem vielen Branntwein. „Wenn es dich beruhigt, ich habe mich nie freiwillig dafür entschieden. Sie hatte beschlossen mir zu folgen und ließ sich nicht davon abbringen. Ich war selbst überrascht, dass ich ihre Gesellschaft als angenehm und nicht störend empfunden habe, also ließ ich es geschehen. Irgendwann gehörte sie einfach zu mir und ich wollte sie auch nicht mehr missen.“ Sie konnte das Kichern nicht unterdrücken, das plötzlich aus ihr herausbrach. „Sie hat dich voll um den kleinen Finger gewickelt!“ „Möglich“, murmelte er leise und sah wehmütig in seinen schon wieder leeren Krug. Nachdem Kagome sich wieder eingekriegt hatte, bat sie ihn weiter zu erzählen. „Rin war zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen, das blieb leider nicht unbemerkt. Sie kam schließlich in das Alter, in dem man zu heiraten hatte und Jaken drängte mich ihr einen Ehemann auszusuchen.“ „Bah, die alte Kröte. Warum hast du ihn eigentlich bei dir akzeptiert?“ Ein kryptisches Lächeln bildete sich auf seinen Lippen als er auf ihren Vorwurf antwortete: „Jaken war so nützlich wie er nervig war. Zum Glück hatte Rin mir die Entscheidung abgenommen. Sie gestand mir, dass kurz nachdem sie wieder zu mir kam, sie sich in einen meiner Hauptmänner verliebt hatte. Ihre Liebe blieb nicht unerwidert, aber sie hatten Angst, dass ich sie ihnen verbieten würde. Also trafen sie sich heimlich.“ „Wie sie da nur drauf kamen“, witzelte Kagome. Empört zog Sesshoumaru seine linke Augenbraue hoch und schnaubte: „Weil mir damals noch Respekt entgegengebracht wurde und meine Autorität nicht in Frage gestellt wurde. Etwas, an dem es heute gewissen Personen mangelt.“ Kurz schien es, als würde Kagome wieder ungebremst losprusten, aber im letzten Moment schaffte sie es ernst zu bleiben. „Bitte erweist mir die Gunst und setzt eure Erzählung fort, Sesshoumaru-sama!“ Mit aufgesetztem Ärger seufzte er: „Deinen Spott kannst du dir schenken, Weib!“ Die Erinnerung an seine verlorene Stellung verlangte dringend danach ertränkt zu werden, deshalb schenkte er sich wieder nach. Kagome kam nicht ansatzweise mit und spürte bereits deutlich das verräterische Glühen ihrer Wangen, das sich immer einstellte, wenn sie zu viel getrunken hatte. Er dagegen wirkte fast nüchtern; er sprach nur mehr und offener als für gewöhnlich. Nach einer angemessen langen Pause, um sie für ihren Mangel an Manieren zu strafen, fuhr er fort: „Es kam mir aber sehr recht mit den beiden. Lieber gab ich sie einem meiner engsten Vertrauten zur Frau und konnte mir sicher sein, dass sie glücklich sein würde, als sie irgendeinem windigen Menschenfürst geben zu müssen mit ungewissem Schicksal.“ Kagome erschauerte bei dem Gedanken. Sie hatte auf ihren Reisen das zweifelhafte Vergnügen gehabt einige dieser verwöhnten Adelssprösslinge kennenzulernen. Eine Heirat war für die Frauen damals wie ein Lotteriespiel: Wenn sie Glück hatten, konnten sie glücklich leben, wenn sie Pech hatten, mussten sie sich einem Tyrann unterordnen und wurden wie eine Gebärmaschine behandelt. Es freute sie sehr zu hören, dass Rin aus Liebe heiraten konnte. Trotzdem wollte Kagome sich nochmals bei ihm versichern: „Ist sie glücklich gewesen?“ „Sie hatten sechs Kinder bekommen. Er war bei ihr, als sie schließlich als alte Frau starb“, sagte er und sah in die Leere des Raums. Er schien ihren Tod bis heute nicht verwunden zu haben, es fiel ihm sichtlich schwer darüber zu sprechen. Mitfühlend legte Kagome ihre Hand auf seine und wollte ihm so etwas Trost spenden, doch er zuckte stattdessen zusammen. Warum brachte ihn eine Berührung so aus der Fassung? War es so ungewohnt für ihn? Trotzdem ließ sie ihre Hand auf seinem Handrücken liegen; er sollte sich daran gewöhnen und spüren, dass er nicht allein war. Warum ihr das jetzt gerade so ein tiefes Bedürfnis war, konnte sie selbst nicht erklären. Es fühlte sich einfach richtig an. „Was ist aus ihren Kindern geworden?“, fragte sie einen Augenblick später weiter. Wieder führte er seinen Becher an die Lippen und brummte in das Tongefäß: „Es ist eine starke Linie Hanyou daraus entsprungen. Sie hat die Zeiten bis heute überdauert und ich wache weiter ungesehen über sie.“ Die Erkenntnis traf Kagome wie ein Schlag. Mit aufgerissenen Augen und pochendem Herzen hauchte sie: „Hanako!“ Er reagierte nicht darauf, er trank einfach weiter und gab vor, Kagome nicht gehört zu haben. Aber sein verbissenes und eisernes Schweigen ließ keinen anderen Schluss zu und sie hatte nun Gewissheit: Hanako war eine Nachkommin von Rin! „So, nachdem du mich jetzt andauernd über mein Leben ausgefragt hast, ist es nur fair, wenn ich nun das gleiche tue.“ Sesshoumaru unterbrach mit seiner unerwarteten Feststellung abrupt ihre sich wild überschlagenden Gedanken. Mit einem unergründlich lauernden Blick und genüsslich spottendem Grinsen sah er sie an, durchdrang sie, als wollte er direkt in ihre Seele blicken. Es machte sie nervös. Die golden strahlenden Augen, die fest auf ihr lagen, weckten in ihr das Gefühl ihm schutzlos ausgeliefert zu sein. Aber zugleich fesselten sie sie, faszinierten sie und schlugen sie in seinen Bann. Ihre Aufmerksamkeit verfolgte seine Hand, die gerade eine frisch angezündete Zigarette zu seinen Lippen führte. Auch dort blieb ihr Blick haften. Warum war ihr nie zuvor aufgefallen, dass er so sinnliche Lippen hatte? Wie es wohl wäre ihn zu küssen? Und warum zum Kuckuck machte sie sich plötzlich darüber Gedanken? „Also, warum bist du nicht wieder zu meinem Halbbruder zurückgekehrt?“, zerschnitt seine kalte und tiefe Stimme den stimmungsvollen Moment. Kagome fühlte sich plötzlich ertappt und setzte sich erschrocken stocksteif auf. Hatte er ihre Blicke bemerkt? Hatte sie ihre Gedanken unabsichtlich verraten? Verstohlen sah sie ihn an, aber es schien, als wären ihre verwirrten Gefühle ihm nicht aufgefallen. Verlegen räusperte sie sich umständlich und sagte dann schüchtern: „Nachdem das Juwel verschwunden war, brachte es mich direkt wieder nachhause. Seitdem ist der Brunnen verschlossen, ich kann nicht mehr durch die Zeit reisen.“ Den Teil mit dem Kuss mit Inuyasha sparte sie aus. Einmal wäre es eine willkommene Einladung für seine Häme, andererseits wollte sie nicht zu sehr daran denken, bevor sie sich in den amourösen Gefühlen verlor. Irgendetwas in ihrem Herzen versuchte sich gerade zu verselbstständigen und sie wollte diesem Etwas nicht neue Nahrung geben. „Hast du nicht versucht ihn wieder zu öffnen? Er war doch dein Gefährte, oder nicht?“, hakte Sesshoumaru unbarmherzig nach. Stand er nun dank des Alkohols zu seiner Neugier und verbot sie sich nicht mehr? Traurig sah Kagome zu Boden. Er hatte einige wunde Punkte berührt, aber sie würde ihm wahrheitsgemäß antworten. Das war sie ihm schuldig, da er auch offen zu ihr gewesen war. „Es…war nicht so eine Beziehung. Ja, ich habe ihn geliebt, aber es war immer… kompliziert.“ Es fiel ihr schwer ihre zerrissenen Gefühle in Worte zu kleiden. „Die tote Priesterin?“, fragte Sesshoumaru ehrlich interessiert nach. „Die tote Priesterin“, antwortete Kagome mit resigniertem Nicken. Sie hatte beinahe vergessen, wie sehr Inuyasha ihr immer wieder wehgetan hatte, weil er Kikyou einfach nicht loslassen konnte. Und als sie endlich diese Welt verlassen hatte und das zarte Pflänzchen ihrer Liebe Luft zum Wachsen hatte, verbannte sie das Schicksal in ihre Zeit. Sie schluckte den Kummer der Vergangenheit tapfer herunter und berichtete weiter: „Ich habe alles in meiner Macht stehende versucht, um den Brunnen wieder zu öffnen, aber alles war vergebens. Ich habe unzählige alte Bücher gelesen, in anderen Schreinen um Rat gefragt, aber der Brunnen blieb verschlossen.“ Stumm sah er sie an, hörte zu. Wie immer verriet nichts in seinem Gesicht, was in ihm vorging. Tränen brachen sich ihren Weg nach draußen frei und kullerten über ihre Wangen. All die verdrängten Gefühle drängten nun an die Oberfläche. „Gerade als Inuyasha mich in seine Arme schloss, brachte uns der Brunnen in diese Zeit. Aber er wurde sofort in das Licht zurückgezogen und verschwand. Ich konnte mich nicht einmal von ihm und den anderen verabschieden! Sie waren meine Freunde, wir haben so viel zusammen erlebt. Und plötzlich sind sie weg und ich ganz allein wieder hier. Ich weiß nichts über sie, was aus ihnen geworden ist“, schluchzte Kagome und zog geräuschvoll die Nase hoch. Mit undeutbarem Blick verfolgte Sesshoumaru ihren Weinkrampf. Schließlich kramte er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es ihr. „Du bist eine unglückliche Trinkerin“, stellte er trocken fest. „Nicht nur als Trinkerin“, wimmerte sie und vergrub ihr verweintes Gesicht in dem Taschentuch. „Seit ich wieder hier sein muss, fühle ich mich so leer und einsam. Alles wirkt so fad und unbedeutend, dabei hat sich seit meiner Reise nichts verändert. Meine Freundinnen sind immer noch bei mir, aber trotzdem bin ich allein. Niemandem kann ich erzählen, was in mir vorgeht, niemand kann es verstehen. Mit niemandem kann ich meinen Schmerz teilen. Sie wissen nicht, wie es sich anfühlt plötzlich aus einem glücklichen Leben gerissen zu werden.“ Wieder wischte sie die Tränen von ihren Wangen und flüsterte mehr zu sich selbst: „Manchmal denke ich, dass ich nicht mehr in diese Zeit gehöre. Dass ich eigentlich im Zeitalter der kriegerischen Staaten hätte weiterleben sollen. Dort hatte ich eine Aufgabe, aber hier ist es doch egal, was ich tue oder nicht tue.“ Sesshoumaru schwieg noch immer, doch sein Blick lag weiter auf ihr. Was ging in seinem Kopf vor, was dachte er darüber? Überlegte er gerade, wie er sich am besten über sie lustig machen konnte? Es war Kagome gleich. Sollte er doch sich seinen Spaß aus ihrem Kummer machen, es würde nichts an der Traurigkeit in ihrem Herzen ändern, schlimmer konnte es nicht werden. Sie zog die Knie nach oben und umschlang sie mit ihren Armen. Ein kleines Häufchen Elend saß nun auf dem alten Stuhl und weinte stumm Tränen um Freunde, die sie fünfhundert Jahre in der Vergangenheit zurücklassen musste. „Der Mönch und die Dämonenjägerin haben geheiratet und unzählige Kinder in die Welt gesetzt“, durchbrach Sesshoumarus ruhige Stimme plötzlich die depressive Tristesse. Aufgeregt riss Kagome den Kopf nach oben und sah den Daiyoukai entgeistert an. Geschah das gerade wirklich? Hatte der kaltherzige Dämon tatsächlich Mitgefühl und erzählte ihr deshalb von ihren Freunden? „Schau nicht so entsetzt oder hattest du etwas anderes von den beiden erwartet?“, sagte Sesshoumaru abwertend. Ihre Überraschung über seine plötzliche Empathie und auch die Dankbarkeit, die in ihren noch immer tränennassen Augen schimmerte, schienen ihm unangenehm zu sein. Wie so oft setzte er seine beißende Ironie dagegen, vielleicht damit er sich nicht eingestehen musste, dass er manchmal – wenn er wollte – gar kein so schlechter Kerl war. „Nein“, lachte sie, während die traurigen Tränen langsam von Freudentränen verdrängt wurden, „Wie viele Kinder haben sie denn bekommen?“ Kurz durchforstete Sesshoumaru sein Gedächtnis, aber schließlich schnaubte er nur: „Unzählige, ich hab irgendwann den Überblick verloren. Wie die Karnickel….“ Das Lachen befreite Kagome von den dunklen Wolken, die ihr Herz angefangen hatten zu umschließen. Sie sah vor ihrem inneren Auge die beiden inmitten einer Schar von dutzenden Kindern und es freute sie aufrichtig, dass die beiden ihr gemeinsames Glück gefunden hatten. Das Lachen schüttelte sie noch immer, als sie sich die letzten Tränen aus dem Augenwinkel strich. „Oh je, Shippo und Kohaku hatten es sicher nicht leicht in dem ganzen Trubel.“ „Die beiden taten das einzig Richtige und sind auf Wanderschaft gegangen. Der Junge wurde ein berühmter Dämonenjäger und zog von Dorf zu Dorf und der kleine Fuchs wurde ein geschickter Zauberer. Manchmal besuchten sie noch das Dorf, aber die meiste Zeit reisten sie zusammen.“ Sesshoumaru saß entspannt in seinen Stuhl gelehnt, hielt den kleinen Tonbecher in der Hand und schwenkte den Inhalt gedankenverloren hin und her. Es war sehr ungewohnt ihn so unbeschwert und locker zu erleben, aber ein kurzer Blick zur inzwischen halbleeren Flasche auf dem Tisch gab ihr die Antwort. „Ist Shippo denn gewachsen?“, erkundigte sich Kagome weiter über ihren kleinen Freund. „Als ich ihn zuletzt gesehen hatte, war er einen Kopf kleiner als ich“, bekam sie als Antwort. Etwas schwang in seiner Stimme mit, was nicht zu der fröhlichen Erinnerung an den Kitsune passen wollte. Das Ende dieser Geschichte war sicher nicht so heiter, aber damit würde sie sich noch früh genug auseinander setzen müssen. Jetzt genoss sie die Erinnerung an ihre Freunde und schöne Zeiten. Im Überschwang kicherte sie: „Dann konnte er Inuyasha ja endlich all die Gemeinheiten heimzahlen!“ Doch kaum erwähnte sie den Namen des Hanyou, huschte ein Schatten über das Gesicht des älteren Bruders. Sie wusste bereits, dass ihm etwas passiert war, daher würde es sie nicht in tiefe Depression stürzen von seinem Schicksal zu erfahren. Wieder legte sie ihre Hand auf Sesshoumaru Unterarm und sah ihn ruhig an. „Ich weiß bereits, dass er tot ist. Ich habe es auch die ganze Zeit zuvor geahnt. Bitte erzähl mir, was ihm widerfahren ist.“ Erstaunt hob Sesshoumaru die Brauen. „Ich habe nie davon gesprochen…“, wandte er ein, doch Kagome fiel ihm lächelnd ins Wort. „Doch, aber ohne es zu wollen.“ „Meinetwegen“, murrte er und griff wieder nach seinen Seelentröstern. „Nachdem du verschwunden bist, hat er jeden Tag darauf gehofft, dass der Brunnen sich wieder öffnen würde. Er lebte ebenfalls in dem kleinen Dorf und gab niemals den Glauben daran auf, dass du zu ihm zurückkehren würdest. Ich habe ihn oft auf jener Lichtung im Wald an den Brunnen gelehnt sitzen sehen. Wenn er nicht gerade auf dich wartete, dann beschützte er das Dorf vor wilden Dämonen, die nach Narakus Tod wieder zahlreicher geworden waren.“ Ein trauriges Lächeln umspielte Kagomes Lippen. Es war Inuyasha nicht anders ergangen als ihr selbst. Auch sie sah in der ersten Zeit nach ihrer Rückkehr jeden Tag nach, ob der Brunnen wieder passierbar war. Doch inzwischen hatte sie sich damit abgefunden nie mehr durch ihn reisen zu können. Sesshoumaru schien ihre Gedanken zu erraten. „Er hat dich nie vergessen“, sagte er leise. Es war schön das zu hören und es löste ein warmes Gefühl in ihrer Brust aus. Aber all das war Vergangenheit. Eine Vergangenheit, an die sie sich gerne erinnerte, aber die leider unwiederbringlich war. „Habt ihr euch versöhnt nach eurem gemeinsamen Kampf gegen Naraku?“, wechselte Kagome vorsichtig das Thema. Betrunken war es keine gute Idee Herzensangelegenheiten zu überdenken, es machte nur traurig und ihre Gedanken waren heute sowieso schon auf seltsamen Pfaden unterwegs. Kam dieses wohlige Gefühl der Geborgenheit nur vom Alkohol oder hatte Sesshoumaru etwas damit zu tun? Da ihre beiden Becher leer waren, nahm er die Flasche, füllte sie wieder auf und antwortete ausweichend: „Sagen wir mal so, ich habe nicht mehr versucht ihn umzubringen. Wir haben uns irgendwie arrangiert, aber versöhnt haben wir uns nie wirklich. Ungefähr hundert Jahre nach deinem Verschwinden zogen die vier Herrscher in einen vernichtenden Krieg und Inuyasha kämpfte an meiner Seite für den Westen. In einer der letzten Schlachten fielen er und der Fuchs im Duell gegen den Herrn des Ostens.“ Kagome schwieg. Was sollte sie auch darauf erwidern? Es war traurig vom Tod ihres geliebten Freund berichtet zu bekommen, aber es tröstete sie etwas, dass die beiden ungleichen Brüder auf eine sehr eigene Art und Weise zueinander gefunden hatten. Wenn Sesshoumaru seinen Halbbruder weiter verachtet hätte wie am Anfang ihres Abenteuers, hätte er es nie geduldet, dass Inuyasha an seiner Seite in den Krieg zog. Mit starrem Blick zog Sesshoumaru an seiner Zigarette. Der Tod des Hanyou hatte ihn wohl auch nicht unberührt gelassen. Schließlich brach Kagome das melancholische Schweigen, das sich zwischen den beiden breit gemacht hatte und drohte sie niedergeschlagen zu machen. „Wer hat den diesen Krieg gewonnen?“, fragte sie ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben. Wie ein Lehrer, der vom Unwissen seiner Schülerin enttäuscht wurde, sah er sie an und gab ihr zu verstehen: „Diese Art von Streit funktionierte schon immer nach dem Prinzip ‚Wer als letzter tot ist, hat gewonnen‘. Ich sitze jetzt hier und betrinke mich mit dir.“ „Macht Sinn“, murmelte sie verlegen. Aber ihre Neugier war nun wieder aus ihrem Dämmerschlaf erwacht und sie wollte sofort mehr wissen. „Warum habt ihr gekämpft? Worum ging es in diesem Krieg?“ In Gedanken versunken lehnte sich Sesshoumaru in seinen Stuhl, legte den Kopf in den Nacken und sah konzentriert die renovierungsbedürftige Decke an. „Macht, Land, Ehre… der ganze übliche Daiyoukaikram eben. Eigentlich war das auch egal, wenn ich ehrlich bin, haben wir nur wieder nach einem Grund gesucht uns bis aufs Blut zu bekämpfen. Es gab eigentlich kein Jahrhundert ohne mindestens einen Krieg zwischen den Reichen der Youkai.“ Perplex sah ihn Kagome an und schüttelte verständnislos den Kopf. „Ihr habt aus Langeweile Krieg angefangen?“ „Nicht ganz“, schmunzelte Sesshoumaru. „Es gab meist einen Grund, nur tat niemand etwas um einen Krieg zu verhindern.“ Das machte die Sache in Kagomes Augen keinen Deut besser. „Welchen fadenscheinigen Grund habt ihr vorgeschoben um diesen Krieg anzufangen?“, fragte sie spöttisch. Er drehte den Kopf zu ihr herum und hob bewundernd die Augenbrauen. „Du hast die Spielregeln schnell verstanden. Es war irgendeine kleine Streitigkeit um eine Grenze zwischen dem Norden und dem Osten. Doch dieser Krieg ist irgendwann eskaliert und der Hauptgrund dafür, dass es so gut wie keine Youkai mehr gibt.“ Kagome wollte Genaueres wissen und deshalb bat sie ihn die Ereignisse von Beginn an zu berichten. „So ein Zwischenfall an einer Grenze ist eigentlich immer ein willkommener Grund den Nachbarn in seine Schranken zu weisen. Diesmal aber gab es einen gewitzten Menschen, der seine Finger im Spiel hatte. Es war ein kleiner Samuraifürst, dem die Herrschaft der vier Daiyoukai schon lange ein Dorn im Auge war und der sich nicht uns ‚Monstern‘ unterordnen wollte. Mit gezielten Falschinformationen hetzte er den Norden und den Osten gegeneinander auf, bis die beiden Daiyoukai sich unversöhnlich hassten. Durch Bündnisse wurden auch ich und der Süden in diesen Krieg hineingezogen und irgendwann ging der eigentliche Grund in den Wirren verloren und jeder kämpfte nur noch für seinen eigenen Vorteil. Die Menschen sahen ihre Chance gekommen sich ein für alle Mal der Youkai zu entledigen und heizten den Konflikt weiter an.“ „Aber wenn du das alles durchschaut hast, warum hast du diesen Irrsinn mitgemacht? Warum hat keiner diese Spirale unterbrochen?“, unterbrach Kagome seine Erzählung. Das durfte doch nicht wahr sein, dass sich die Youkai selbst vernichtet hatten vor lauter Stolz und Starrsinn! „Keinem von uns lag etwas an einem brüchigen Frieden, also tat niemand etwas um den Krieg zu beenden. Hätte ich mich verweigert, wäre der Westen überrannt und vernichtet worden“, führte er ungerührt an. Fassungsloses Entsetzen stand Kagome in das gerötete Gesicht geschrieben. Es war ihr einfach unbegreiflich wie man sehenden Auges in den eigenen Untergang stürmen konnte. Sie trank den Rest ihres Bechers aus und musste sich beim Nachschenken bereits sehr konzentrieren. „Erzähl weiter“, seufzte sie dabei. „Der Norden und der Süden waren früh besiegt, die Herrscher tot. Kurz nach Inuyashas Tod standen sich mein Heer und das des Ostens ein letztes Mal gegenüber. Die Schlacht tobte mehrere Tage, tausende Katzendämonen fielen allein Bakusaiga zum Opfer. Am Ende standen nur noch ich und der Daiyoukai des Ostens, flankiert von einem guten Dutzend unserer Krieger. Ich kämpfte lange gegen den großen Nekoyoukai, die Gegend wurde dabei völlig verwüstet. Schließlich rang ich ihn mit meinem Gift nieder und ging als Sieger aus diesem Krieg hervor.“ Bitter lachte Kagome auf: „Ja, ein toller Sieg. Alle anderen außer dir waren tot und das Zeitalter der Youkai vorbei.“ Die Sinnlosigkeit dieses Triumphs schien Sesshoumaru ebenso bewusst zu sein, denn er wirkte nicht weniger verbittert als Kagome. Wieder goss er den golden schimmernden Branntwein in sein Trinkgefäß. „Ich habe nicht behauptet, dass ich besonders stolz darauf bin“, beendete Sesshoumaru seine Geschichte. „Es sollte wohl so sein, dass die Youkai ihrem eigenen Machthunger zum Opfer gefallen sind. Einige wenige haben versteckt überlebt und die Menschen konnten nun ihre eigene blutige Geschichte schreiben.“ „Ja, wir waren auch nicht besser“, stimmte Kagome zu. „Deshalb hast du also deinen Titel verloren, weil die vier Reiche vernichtet wurden.“ Stumm nickte er, während er hastig austrank. Beide waren mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt und so legte sich wieder der Mantel des Schweigens über die kleine Trinkgesellschaft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)