Das Teehaus am Ende der Straße von Seelenfinsternis ================================================================================ Kapitel 2: Fragen, Antworten und wieder tausend neue Fragen ----------------------------------------------------------- 02 – Fragen, Antworten und wieder tausend neue Fragen Mit offenem Mund starrte Kagome unverhohlen den Daiyoukai an. Sesshoumaru schien sie nicht weiter zu beachten, denn er strich sich gelangweilt einige der langen Strähnen, die ihm in die Stirn hingen, nach hinten und griff nach einer verknitterten Zigarettenpackung in der Brusttasche seines Hemds. Aus halb geschlossenen Augen sah er dem Rauch der neuen Zigarette hinterher, der im Schein der Lampe durch die Luft waberte. Immer noch lehnte er auf den Ellenbogen gestützt auf der Theke. Doch plötzlich kam Bewegung in ihn und er streckte seinen Arm zu dem Regal hinter sich um ein verstaubtes, altes Radio anzuschalten. Knarzend durchschnitt es die peinliche Stille. Ungläubig musterte sie seine Gestalt. Sie konnte nicht fassen, wer da vor ihr stand, das konnte nicht real sein! Sie hatte so oft darüber nachgedacht, was aus ihm geworden sein könnte. Am ehesten konnte sie sich ihn immer noch als skrupelloser Boss eines internationalen Waffenhändlerrings vorstellen, denn es schien ihr am besten zu ihm zu passen. So hatte sie ihn damals kennengelernt: eiskalt, ohne Mitgefühl, machtversessen und mit einem tiefen Menschenhass in seinem Herzen. Und einen gewissen Hang zur körperlichen Auseinandersetzung war ihm damals auch zu Eigen. Aber der scheinbar geistig abwesende Mann ihr gegenüber war eindeutig Inuyashas Bruder, auch wenn er nichts mit ihrer Vorstellung gemein hatte. Nachdem sie den ersten Schock über das überraschende Wiedersehen überwunden hatte, nahm sie in weiter in Augenschein. Die obersten Knöpfe des schwarzen Hemds waren lässig offen und gaben einen dezenten Hinweis auf seine immer noch kraftvolle Statur. Die Ärmel waren nachlässig aufgerollt, der Stoff umhüllte locker seinen Körper. Weder an seinen Handgelenken noch in seinem Gesicht konnte sie die für ihn typischen Zeichnungen entdecken, die in der Vergangenheit seine edle Herkunft bezeugten. Das Antlitz hatte auch nach fünf Jahrhunderten nichts von seinem jugendlichen Esprit verloren, er schien keinen Tag gealtert zu sein. Allerdings war immer noch deutlich zu erkennen, dass er kein Mensch war. Die überirdische Makellosigkeit und spitzen Ohren verrieten ihn eindeutig als einen Youkai. Um den Hals baumelte ein ledernes Band mit einem Holzplättchen als Anhänger. Wie auch damals schon so oft schlugen seine Augen sie in ihren Bann. Sie hatten nichts von ihrem kalten, goldenen Glanz eingebüßt. Lang fiel ihm das silbrige Haar über den Rücken, das auf Höhe seiner Schulterblätter zu einem losen Zopf gebunden war. Sie hatte ihn sofort erkannt und doch war er nicht mehr der Dämon, den sie damals im Zeitalter der kriegerischen Staaten gesehen hatte. Sie war so völlig in ihre Beobachtungen versunken, dass sie nicht bemerkte, wie sie ihn anstarrte. Seine Finger trommelten den Takt der Musik auf dem Tresen mit. „Hast du endlich genug?“, knurrte er sie schließlich latent genervt an. Ertappt zuckte Kagome zusammen und suchte hektisch nach einem Punkt auf dem Boden, den sie mit ihrem Blick fixieren konnte. „Du hörst Cash?“, fragte sie plötzlich, als die Musik aus dem Radio ihr bewusst wurde. Super gemacht Kagome, schalt sie sich innerlich. Da siehst du nach Ewigkeiten den ersten Dämon und die erste Frage, die du ihm stellst, ist nach seinem Musikgeschmack! Seine linke Augenbraue bewegte sich leicht nach oben, sonst aber zog er es vor ihre Frage zu ignorieren. Um die Stille zu verhindern, die sich sonst wieder über den Raum legen würde, begann sie nervös los zu plappern: „Hätte ich nicht gedacht, dass du sowas Modernes hörst. Aber irgendwie passt es ja schon zu dir.“ Eigentlich wollte sie schon längst ihren Mund halten, aber die Aufregung verhinderte es. Sie konnte nur noch hoffen, dass sie den heutigen Nachmittag überleben würde. Und das meinte sie nicht im übertragenen Sinne, sondern sehr wörtlich! „Würde es eher deinen Erwartungen entsprechen, wenn ich dieses überdrehte Gequietsche hören würde, das heute alle zu hören scheinen?“, sagte er ruhig zwischen zwei Zigarettenzügen. Seit wann war er sarkastisch? Jetzt war sie endgültig überfordert mit der Situation. „Nein nein“, wiegelte sie schnell ab, „Ich hätte gedacht, dass du alte, traditionelle Musik hörst.“ Die Augenbraue hob sich weiter bedrohlich. „Weil ich auch alt bin? Ist es das was du damit sagen willst?“ Jetzt hatte er sein zur Schau gestelltes Desinteresse abgelegt und fixierte sie mit seinem Blick. Seine Stimme wurde bei den letzten Worten schärfer. In was für eine Situation hatte sie sich da nur manövriert? Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie hatte ihn provoziert und sie erinnerte sich daran, wie er gewöhnlich mit Menschen verfuhr, die ihn reizten. Eigentlich konnte sie ihre Situation nicht weiter verschlimmern, also konnte sie diese Unterhaltung auch weiterführen. Es würde nichts an ihrem Schicksal ändern. „Du bist nicht alt, so war das nicht gemeint. Naja, aus Menschensicht schon….“ Noch bevor er darauf reagieren konnte, senkte sie reumütig den Kopf. „Es tut mir leid. Ich sollte keine Vermutungen über dich anstellen“, sagte sie resigniert. Hatte er es überhaupt gehört? Er schwieg immer noch, aber davon ließ sich Kagome nicht beirren und verharrte weiter still in ihrer demütigen Haltung. Das Klicken des Feuerzeugs ließ sie vorsichtig ihren Blick heben. „Dieses Shamisengejaule konnte ich schon damals nicht ertragen. Irgendwer war aber der Meinung, dass es kultiviert wäre.“ Belustigt sah er auf die junge Frau und genoss ihre Angst und die Verwirrung, die seiner Antwort folgte. Fassungslos mit offenem Mund sah ihn Kagome an. Er antwortete ihr? Er schlug ihr nicht den Kopf von den Schultern? „Mach den Mund zu, sieht intelligenter aus“, murmelte er und verfiel wieder in seine gelangweilte Attitüde. Jetzt war Kagomes Neugier entflammt! Was war mit ihm geschehen, dass er so ruhig blieb und sich auf bissige Bemerkungen beschränkte? War er immer noch derselbe Youkai wie vor fünfhundert Jahren? Und auch erst jetzt fiel ihr auf, dass er sich an sie erinnerte! Die vertraute Anrede und die Tatsache, dass er sofort genervt war, ließen keinen anderen Schluss zu. „Du weiß noch wer ich bin? Du erinnerst dich an alles, was damals war?“, platzte es aus ihr heraus. „Du hast ja damals einen unübersehbaren Eindruck hinterlassen, auch wenn ich es gerne vergessen würde. Du bist das merkwürdige Menschending, das meinem Nichtsnutz von Halbbruder hinterhergerannt ist“, beantwortete er ihre Frage. Pikiert stellte sie fest: „Kagome. Mein Name ist Kagome Higurashi und nicht merkwürdiges Menschending.“ „Meinetwegen auch das.“ Er blies den Rauch weit von sich und umnebelte sie damit. „Lass das, das ist eklig!“, hustete Kagome. „Seit wann rauchst du eigentlich?“ Er rollte gedankenverloren den Stummel zwischen seinen Fingern bevor er ihn im Aschenbecher versenkte. „Seit über hundert Jahren.“ Belehrend zeigte sie auf die inzwischen auf der Theke liegende Packung. „Weiß du nicht, dass das total ungesund ist?“ „Mein Vater muss wohl vergessen haben es mir zu verbieten“, rechtfertigte er sich. „Ich meine das ernst!“, ereiferte sie sich weiter, „Du kriegst sonst bald Krebs!“ Seine Schultern bebten als Sesshoumaru leise in sich hinein lachte. Mit einer wegwerfenden Geste meinte er: „Pshaw, ihr Menschen vielleicht. Ich aber nicht.“ Er setzte seinen bewährten düster funkelnden Blick auf und zischte herausfordernd: „Oder willst du es mir verbieten, Menschlein?“ Diesmal sprang Kagome nicht auf darauf an und blieb ruhig. „Immer noch was Besseres, Youkai?“, meinte sie trocken. „Daiyoukai. Wir wollen doch bei den Fakten bleiben“, stellte er richtig. Richtig, bemerkte sie in Gedanken, was war eigentlich aus seinem Titel als Herr des Westens geworden? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Dämonenherrscher von dieser Spelunke aus sein Reich regierte. Die Neugier brachte ihre Augen zum Leuchten, sie hatte oft schon darüber gegrübelt, was aus ihm geworden sein könnte. Und jetzt hatte sie die einmalige Gelegenheit Antworten auf ihre unzähligen Fragen zu bekommen und die würde sie sich nicht nehmen lassen! „Bist du noch immer Herr über die westlichen Länder? Ich meine, du bist ja nach eigener Aussage noch immer ein Daiyoukai.“ Plötzlich verfinsterte sich seine Miene, sein Blick glitt in die Ferne. Seine Gestalt schien irgendwie zu schrumpfen und die unbeeindruckt gelangweilte Haltung wich Resignation. Er wirkte in sich gekehrt, tief in Gedanken oder Erinnerungen versunken, die durch die Frage aufgewirbelt wurden. Unbewusst wanderte seine Hand suchend über den Tresen, bis sie das Gesuchte fand. Sekunden später zog er wieder gierig den Rauch in sich und hüllte seine Gedanken darin ein. Hatte sie da einen wunden Punkt getroffen? Schließlich entschloss er sich zu einer Antwort. „Nein, bin ich nicht mehr.“ „Warum?“ Jetzt wurde es spannend. „Die Zeiten haben sich geändert“, sagte er und zuckte leicht mit den Schultern. „Du bist kein Daiyoukai mehr?“ Die Frage brachte die Schärfe in seinen Blick zurück, sie schien ihn zu empören. „Man wird als Daiyoukai geboren. Man stirbt als Daiyoukai. Das hat nichts mit irgendwelchen Titeln zu tun“, sprach er ernst. Kagome stützte sich nun mit ihren Ellenbogen auf der Theke ab und bettete ihr Kinn auf ihre Handflächen. Ihre Gedanken rasten. Wie hatte er seine Herrschaft verloren? Wegen eines anderen Dämon? Oder waren daran die Menschen schuld? Aber wenn er immer noch ein Daiyoukai war, dann hätte er sich ja dagegen wehren können. Sesshoumaru war nach wie vor ein Rätsel, das hatte sich in all der Zeit nicht geändert. Jede Antwort auf eine Frage erzeugte tausend neue Fragen. Aber so interessant das alles war, sie musste besonders bei diesem Thema vorsichtig sein. Es schien eine offene Wunde zu sein und sie wollte nicht riskieren, dass er die Beherrschung verlor. Sie beschloss daher erst einmal das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Wieso ein Teehaus? Ich hätte vieles erwartet, aber nicht, dass du Wirt eines Teehauses wirst“, fuhr sie mit ihrer Befragung fort. Interessiert legte er den Kopf leicht schief und sah sie an. „Ach, was würde denn deiner Meinung nach besser zu mir passen?“ Kagome ahnte, dass es sich um eine Fangfrage handelte und er sie wieder verhöhnen würde. Aber damit kam ihr Ego klar, solange sie nur mehr über ihn erfuhr. „Ich hätte gedacht, dass du immer noch der Schrecken der Menschheit bist. Ich könnte mir dich gut als Kopf eines Waffenhändlerrings vorstellen. Oder als Vorstandsvorsitzender irgendeines skrupellosen Konzerns. Irgendwo an der Spitze eben.“ Er verschränkte die Arme und richtete sich zum ersten Mal zu seiner vollen Größe auf. „Ich stehe an der Spitze dieses Teehauses!“, sagte er ernst und feierlich um die Würde und Wichtigkeit dieser Position zu unterstreichen. Sie brach in schallendes Gelächter aus. Sein trockener, schwarzer Humor war eine neue Seite an ihm, die sie mochte, auch wenn er sie damit triezte. Was hatte er wohl erlebt, dass er so sarkastisch und zynisch wurde? Aber trotz des gelungenen Witzes erlaubte sie ihm nicht sich so einfach aus der Affäre zu ziehen. „Im Ernst, warum? Du könntest so viel tun mit deinen Fähigkeiten. Warum verkriechst du dich hier vor der Welt?“ „Wie kommst du darauf, dass ich mich verkrieche?“ Sie zeigte mit ihren Armen durch den Raum und stellte stumm ihre Frage mit einem vorwurfsvollen Blick. Er antwortete zunächst ebenso tonlos, indem seine linke Augenbraue wieder nach oben schoss. „Nur weil du hier keine Menschen siehst, heißt das nicht, dass ich mich verkrieche“, führte er dann verbal das Gespräch weiter. „Du legst aber auch offensichtlich keinen Wert darauf, dass sich jemand hierher verirrt“, stellte Kagome spitz fest. Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte daraufhin seine Lippen. „Stimmt.“ Er verbarg irgendetwas vor ihr! Aber sie würde es schon herausbekommen, da konnte er sich sicher sein. Energisch warf sie sich in Pose und wollte ihm seine Geheimniskrämerei vorhalten, doch sie kam nicht dazu. Er beugte sich leicht vor und das kalte Gold seiner Augen durchbohrte sie. „Das waren genug Fragen. Du gehst jetzt endlich, sonst werde ich nicht so geduldig bleiben“, drohte er ihr. Diesmal war es definitiv kein Spielchen, das spürte sie. Das meinte er verdammt ernst. Sie wunderte sich über den plötzlichen Sinneswandel in ihm, aber sie wagte nicht sich ihm zu widersetzen. Sie würde wiederkommen und weiter das Mysterium Sesshoumaru erforschen! Das war genau das, was ihr in ihrem Leben gefehlt hatte und sie würde es nicht einfach so aufgeben. Sie wusste jetzt, dass er überlebt hatte und wo er zu finden war, also konnte sie sich dieses Mal zurückziehen. Vielleicht verriet er ihr das nächste Mal im Gegenzug etwas mehr über sich, wenn sie jetzt seine Grenzen respektierte und nicht nachbohrte. Sie stand auf und lächelte ihn an. „Ich bin froh, dass ich dich wieder getroffen habe, Sesshoumaru. Ich werde bald wiederkommen!“ Betont desinteressiert stellte er sein Radio lauter. „Lustig wie du ‚Ich werde für immer aus deinem Leben verschwinden‘ aussprichst.“ Zuhause lag sie erschöpft von einem reichhaltigen Abendessen in der Badewanne und ließ den Tag noch einmal Revue passieren. Sie hatte tatsächlich einen Youkai in ihrer Zeit gefunden und nicht nur irgendeinen. Der Daiyoukai des Westens Sesshoumaru hatte zwar viel von seiner einstigen Erhabenheit verloren und führte nun ein Teehaus und hörte schwermütige Musik, aber er hatte die Jahrhunderte überlebt. Welche Ereignisse hatten ihn gebrochen und zu diesem resignierten Zyniker werden lassen, der sich vor den Menschen zurückzog? Vielleicht konnte sie ihn ja wieder zu seiner vergangenen Größe aufrichten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)