H-Reunion von Norrsken (Das Vermächtnis der fünf Prinzen) ================================================================================ Kapitel 4: Nach eigenem Ermessen -------------------------------- Ganz in Gedanken versunken saß Takao auf der Veranda vom Dojo und sah den Wolken dabei zu, wie sie langsam abzogen. Es wurde inzwischen dunkel und die ersten Sterne blitzten am Himmel auf, um die Nacht einzuläuten. Doch Takao hatte dafür keine Augen. Die Ruhe des Nachthimmels war so konträr zu seinem Gemüt, dass er es gar nicht richtig wahrnahm. Nachdem Mr. Daitenji ihm offenbart hatte, dass es sein letztes Turnier im Beybladesport sein würde, fühlte er sich wie in Watte gepackt. Alle folgenden Erläuterungen über den Ablauf des Turniers und welche Rolle Kai und Rei zukam, drang bloß gedämpft an seine Ohren und brauchte anschließend eine Ewigkeit, um in sein Bewusstsein vorzudringen. Seine letzte Chance an einem Turnier teilzunehmen. Als Hiromi und Manabu ihm das Plakat gezeigt hatten und seine alten Freunde angereist waren, hatte sich Takao vieles ausgemalt. Wie sie gemeinsam trainierten, als Team antraten oder doch gegeneinander und – so wie bei ihrem aller ersten Turnier – das Halbfinale und Finale besetzen würden. Dass nicht alle von ihnen teilnehmen würden, hatte ihn schmerzhaft zurück auf den Boden geschleudert. Und seine Entscheidung? Sein Kopf fühlte sich plötzlich an, wie mit Blei gefüllt, und er ließ ihn sacken, bis er auf seine Arme traf, die ihn hielten. Takao konnte gar nicht sagen, was ihn am meisten überforderte. Die Tatsache, dass er und seine Freunde nicht mehr alle teilnehmen konnten oder dass er selbst ab nächstem Jahr von solchen Veranstaltungen ausgeschlossen wurde. Und selbst wenn er dieses Mal noch teilnahm - es würde nicht mehr dasselbe sein. »Brüderchen?« Takao hob den Blick und sah auf die Gestalt seines großen Bruders. Die Arme locker vor der Brust verschränkt, stand er in bequemen Kleidern auf der Veranda und musterte ihn. Ein Lächeln zog an seinen Mundwinkeln und Hitoshis ernste Miene entspannte sich. Es war nicht so, dass er davon ausging, dass alles gut war, nur weil sein kleiner Bruder lächelte, doch er wusste, solange es Takao überhaupt möglich war, ein Lächeln aufzusetzen, war alles noch zu kitten. »Du siehst nachdenklich aus«, bemerkte er unnötigerweise, denn er war sich sicher zu wissen, was seinen Bruder beschäftigte. Dies war auch der Grund dafür, dass Takao sich eine Antwort sparte. Er zuckte hilflos mit den Schultern, um seine Situation, wie sie sich für ihn anfühlte, zu veranschaulichen und blickte auf einen unbestimmten Punkt im Garten. Hitoshi ging den letzten Meter auf ihn zu und ließ sich gemächlich auf der Veranda nieder. Aus dem Augenwinkel betrachtete er ihn, bevor auch er einen unbestimmten Punkt im Garten fixierte. Sie blieben eine Weile stumm nebeneinander sitzen, jeder mir seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Auch wenn man von der Familie Kinomiya sagen konnte, dass sie laut und stürmisch war, konnten die Brüder bloß durch ihre Präsenz einander stärken. Zumindest war es für Takao immer so gewesen. »Magst du hören, was ich zu der Sache denke?«, fragte Hitoshi in die Stille hinein, sah seinen Bruder nicht an und überließ die Entscheidung ganz ihm. Er hatte nicht den zwingenden Drang, seine Meinung zu verlauten, aber sein kleiner Bruder war jemand, der selten von sich aus danach fragte. Daher hatte es immer diese Situationen gegeben, in denen Hitoshi sich gezwungen sah, Takao mit seiner Meinung zu konfrontieren. Nicht selten waren seine Worte harsch, doch letztendlich hatte er immer das Beste für seinen Bruder gewollt. Takao sagte nichts, doch er sah dem Älteren direkt ins Gesicht, was ihm Antwort genug war. »Egal, wie du dich am Schluss entscheidest, ob es gut wird, entscheidet sich daran, was du draus machst.« Takao lupfte eine Augenbraue und seine Lippen bewegten sich für einen Wimpernschlag, als wollte er zu einem Kommentar ansetzen. Sätze wie ›Glückskeksweisheiten, ernsthaft?‹ oder ›Wow, das hat mir jetzt die Augen geöffnet – nicht.‹ schwebten ihm durch den Kopf, doch am Ende blieb er stumm. Hitoshi würde eh keine Miene verziehen oder sich um einen Konter bemühen. Da konnte er sich jeden Spruch direkt sparen. Gerade als Takaos Gedanken drohten, sich im Kreis zu drehen, vergrub Hitoshi die Hand in seinen Haaren und wirbelte sie ordentlich durch, als wäre seine Absicht gewesen, seinen Kopf kräftig durchzuschütteln. »Sieh zu, dass du nicht mehr so lange machst« »Kaum zu Hause, schon im Mutti-Modus?«, erwiderte Takao frech. Hitoshi verzog keine Miene, gab keinen Kommentar ab. Wie es zu erwarten war. Stattdessen rappelte er sich auf und klopfte sich beiläufig die Hose ab. »Ich geh schlafen. War eine anstrengende Woche«, informierte er Takao zum Abschied und bewegte sich zielgerichtet auf das Bad zu. »Gute Nacht!«, rief der Jüngere ihm nach, bevor er sich rücklings fallen ließ und die holzvertäfelte Überdachung der Veranda anstarrte. Es kommt darauf an, was ich draus mache, wiederholte er innerlich, um kurz darauf das Gesicht zu verziehen. Gute Ratschläge waren wohl aus. Gedankenverloren fischte Takao nach seinem Beyblade – der einzige Gegenstand in seinem Leben, von dem er immer genau wusste, wo er war (nämlich in der Tasche an seiner Jacke). Perfekt in der Hand liegend, hielt er den Kreisel auf einige Entfernung in seinem Blickfeld und betrachtete das Abbild des Dragoon. Mit dem Daumen strich er die Konturen des Energierings entlang – eine Geste, die auf ihn immer eine beruhigende Wirkung hatte. Dragoon wegen so was um Rat zu fragen, wäre irgendwie … Schließlich raffte Takao sich auf, Dragoon ms immer noch fest mit der Hand umschlossen, und ging mit ruhigen Schritten über die Veranda bis zur Trainingshalle. Bemüht leise zog er die Tür auf, warf einen Blick in den leeren, dunklen Raum und anschließend einen Blick über die Schulter. Weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Nachdem er in das Dojo eingetreten war, zog er die Tür hinter sich zu. Mit behutsam gewählten Schritten ging er zielstrebig auf den Sockel des alten Schwertes zu. Das Schwert, das seit Urzeiten im Besitz seiner Familie war und dem der Geist des heiligen Dragoon innegewohnt hatte, bevor er in den Beyblade von Takao übergegangen war. Hinter dem Schwert an der Wand war der Altar angebracht und diesem galt Takaos volle Aufmerksamkeit. Er hob den Blick an, um die aufgereihten Bilder zu betrachten. Ein Bild, das seine Mutter bei der Pflege der Blumenbeete zeigte, ein Bild seiner Großmutter, die am Teich ihren Nachmittagstee genoss, und ein Bild seines Großvaters vor dem Dojo. »Opa«, begann Takao mit belegter Stimme, »ich könnte gerade eine deiner dummen Reden wirklich gut gebrauchen.« Er sank auf die Knie, um sich im Saiza hinzusetzen. Mit geraden Schultern, die Hand mit dem Beyblade auf dem Schoß, sah er hinauf und begann das Bild seines Großvaters zu studieren. Anschließend schloss er die Augen und ging in sich. Was würdest du mir raten? ✪ Mr. Daitenji hatte mehrfach betont, dass sein Besuch in Japan ebenso wie der von Max keine Verpflichtungen für das Turnier beinhaltete. Es war eine Einladung und daher ein Angebot zum Urlaub machen. Dafür hatte Rei allerdings nicht viel übrig. Nicht, dass er den Luxus seiner Unterkunft nicht genoss und keine Freude daran hatte, Zeit mit seinen Freunden zu verbringen. Es war nur so, dass dies für ihn nicht ausreichend war und wenn er davon überzeugt war, dass es für ihn eine sinnvolle Aufgabe geben könnte, ließ es ihm keine Ruhe. So kam es, dass er sich vormittags auf den Weg zur BBA Hauptzentrale machte und mit einem motivierten Grinsen an den Infoschalter trat. Überrascht sah ihn der Herr hinterm Tresen an, lächelte jedoch freundlich und erkundigte sich danach, was er für Rei tun konnte. Als dieser dabei war eine Antwort zu formulieren, tönte von der Seite ein überraschtes: »Was machst du denn hier Rei?“« Neugierig, wer sich in die Unterhaltung einschaltete, drehten sich die beiden Herren der Richtung entgegen, aus der die helle Frauenstimme erklungen war. Erfreut stellte Rei fest, dass es niemand Geringeres als Hiromi war und verabschiedete sich freundlich bei dem Herren an der Rezeption. Mit federnden Schritten kam er auf sie zu und überdachte die Formulierung seines Anliegens, das er gerade dem Herrn von der Information unterbreiten wollte, bevor er Hiromi antwortete: »Ich würde mich gern nützlich machen.« Das war nichts, was sie wirklich überraschte, trotzdem musste sie einen Moment blinzeln. »Keine Lust, ein wenig freie Zeit zu genießen?«, fragte sie mit einem schmunzelnden Ton. Tatsächlich konnte sie das gut nachempfinden. Gerne genoss sie die freie Zeit, die sie hatte, doch schon die Schulferien waren ihr zeitweilen zu lang gewesen, dass sie gegen Ende der Schule – oder besser gesagt einer sinnvollen Beschäftigung – entgegenfieberte. »Ach, die letzten Tage hatte ich schon eine Menge Zeit, um mich zu erholen. Es wäre schade, die gewonnene Energie nicht zu nutzen«, erklärte Rei mit einem vorsichtigen Lächeln. Hiromi verstand trotzdem, dass ihm einfach langweilig war, ganz egal wie gewählt er sich ausdrückte. Während ihr ein Gedanke kam, huschte ihr Blick zu einer Uhr, die in der Eingangshalle hing. »Aktuell kann ich dir leider nicht viel anbieten, weil alles in den letzten Zügen für das Turnier steckt, aber wenn du noch ein wenig wartest …« Rei hob die Augenbrauen und sah seine Kameradin abwartend an, doch die schien den Satz noch etwas in der Schwebe lassen zu wollen. Ihr Blick ging inzwischen an ihm vorbei, weshalb er konfus die Stirn kräuselte. Er entschied sich, ihrem Blick zu folgen und bemerkte das heimliche Grinsen auf ihren Lippen nicht, als er sich abwandte. Wie auf ein Zeichen öffnete sich die Eingangstür des Gebäudes und Rei war überrascht. Den Mann mit der schwarzen Mähne würde er unter Tausenden erkennen und wenn nicht ihn, dann seine Schwester, die durch ihre himbeerfarbene Haarpracht aus jeder Menge herausstach. »Lai! Mao!« Die Angesprochenen waren während der Ankunft in eine Unterhaltung vertieft, aber als sie ihre Namen auf diese ihnen allzu bekannte Art hörten, ließ Mao ihren Satz, den sie begonnen hatte, unvollendet und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Rei. Ihre Augen wurden ein Stück größer und die Freude über ihr Zusammentreffen, ließ ihre Wangen erröten. »He, Li!« Geschmeidig wand sie sich an ihrem Bruder vorbei und war mit schnellen Schritten auf ihren Kindheitsfreund zugeeilt. »Wir haben gar nicht erwartet, dich hier gleich zu treffen«, plauderte sie drauf los, glücklich über diesen Zufall. »Kann ich nur zurückgeben. Ich hab mit euch noch gar nicht gerechnet«, gestand Rei. Zum Zeitpunkt seiner Abreise hatte kein Plan gestanden, wann Mitglieder von Bai Hu Zu ihre Reise nach Japan antreten würden. Da war er davon ausgegangen, dass es noch eine Weile dauern würde. »Es hatte sich nicht gelohnt, dir zu schreibe. Der Brief wäre vermutlich nach uns angekommen«, lachte Mao. »So ist es doch auch eine viel schönere Überraschung«, warf Hiromi mit einem verschmitzten Grinsen ein. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, musterte sie Reis Gesicht. Einen Moment sah er seine alte Teamkameradin von den Bladebreakers mit gekräuselter Stirn an, bevor ihm der erleuchtende Gedanke kam. »Moment, du musst das gewusst haben.« Wäre Rei nicht spontan auf die Idee gekommen zur BBA zu fahren, wäre sein Verdacht, dass Hiromi dieses Treffen eingefädelt hat. Auch wenn sie eine Planungskünstlerin ist, das kann sie nicht vorausgesehen haben, dachte Rei. »Dank Hitoshi wussten wir, dass Bai Hu Zu heute eintreffen. Bevor er nach Japan geflogen ist, hat er nämlich einen Stopp in China gemacht«, erklärte Hiromi beiläufig, in der Hoffnung, dass es die kritischen Seitenblicke von Rei beendete. »Hitoshi war im Dorf von Bai Hu Zu?«, folgerte er und in diesem Satz schwang ein Korb voller Fragen mit. »War er«, erwiderte Lai, der erst seine Schwester schief von der Seite ansah, bevor er sich mit einem zufriedenen Grinsen an seinen Kindheitsfreund wandte. »Du weißt ja, dass unser Dorf, was die Kommunikation mit der Außenwelt angeht, geradezu hinterwäldlerisch ist. Deshalb war es einfacher, direkt mit einem Abgesandten der BBA alles zu klären.« Langsam nickte Rei und bevor er sich selbst überhaupt fragen konnte, was denn Weiteres zu klären war, ahnte er es schon, als er die restlichen Reisebegleiter seiner alten Freunde aus dem Augenwinkel bemerkte. Das erste Mal fern der Heimat, hielten sie sich im Hintergrund, blieben ruhig und aufmerksam. Mit Mühe verkniff Rei sich ein Schmunzeln. Man sah es keinen von ihnen an, doch er war sich trotzdem sicher, dass jedem von ihnen die Beine schlotterten. »Ich nehme an, das ist die nächste Generation von Beybladern, die bei euch im Dorf ausgebildet wird?«, fragte Hiromi neugierig, ein breites Lächeln auf den Lippen. Mao und Lai gingen je ein paar Schritte zur Seite, um die Schüler von Bai Hu Zu aus dem Hintergrund zu locken. Eine Faust gegen die flache Hand gedrückt, verbeugten sich die Vier respektvoll vor Rei und Hiromi. Letzterer war das fast unangenehm. Ein Junge, dessen Haarpracht unweigerlich an Lai erinnerte, trat einen Schritt vor. »Es freut uns, dass uns die Gelegenheit zu Teil wird, bei diesem Turnier neue Erfahrungen zu sammeln. Meine Freunde und ich haben sehr ausdauernd trainiert, mit dem Ziel, uns eines Tages mit Bladern aus der ganzen Welt messen zu können.« Den Kopf gereckt lächelte er Hiromi an und seine Freunde standen wie eine Einheit hinter ihm. Das Leuchten in ihren Augen ließ Hiromi keinen Zweifel daran haben, mit welcher Entschlossenheit die Vier sich dieser Möglichkeit stellten und es wollten ihr keine Worte einfallen, die nicht bloß nach einer Floskel klingen würden. Statt ihnen also Mut zuzusprechen, den sie ganz offenbar schon mitgebracht hatten, nickte sie bloß anerkennend und entschied sich, zur Tagesordnung überzugehen. »Also, Rei. Was ich dir als Aufgabe anbieten wollte, ist die ›Betreuung‹ unserer chinesischen Ehrengäste«, erklärte sie und verhinderte mit Mühe ein Grinsen. »Oh«, war die weniger geistreiche Erwiderung von Rei. »Um Da Xiang, Chi Yun, Meimei und Zhao Xin kümmere ich mich. Sie bekommen eine kurze Einweisung, ein Testtraining und werden anschließend in das Hotel gefahren, in dem wir unsere Gäste unterbringen«, erklärte Hiromi, den Blick auf ihren Organizer gerichtet. »Testtraining?«, horchte Rei auf, doch bevor sie auch das erklären konnte, hatte Mao sich bei ihm eingehakt und seine Aufmerksamkeit. »Das können wir dir erklären. Hitoshi hat uns über die Abläufe bestens informiert!«, meinte sie und zog Rei mit sich mit. Mit der anderen Hand griff sie die von ihrem Bruder. »Statt zu warten, wäre ich dafür, dass wir etwas essen gehen. Ich komme fast um vor Hunger.« Lai schenkte ihr ein nachgiebiges Nicken, doch bevor sie sich auf den Weg machten, wandte er sich an die Schützlinge seines Dorfes. »Gebt euer Bestes, dann könnt ihr am Ende nicht enttäuscht von euch sein – und habt Spaß.« Es waren eigentlich nett gemeinte Worte, doch durch den Bass in Lais Stimme, klang es wie eine Anweisung. Ernst, aber doch mit einem Grinsen im Mundwinkel, sahen die Vier ihn an. Meimei war die Erste, die ihre Tasche schulterte, um Hiromi gleich nachzusetzen, nachdem diese ihren Weg fortsetzte und Rei und den anderen beiden über die Schulter zuwinkte. Die Jungs nahmen eilig die Verfolgung auf und verschwanden schließlich zu den beiden Damen im Fahrstuhl. ✪ Der Konferenzraum war erfüllt vom monotonen Stühlerücken. Papiere wurden geordnet, Taschen gepackt und Informationen per Telefonat schnellstmöglich weitergeleitet. Hochachtungsvoll verabschiedeten sich die Teilnehmer bei Kai, der am Kopfende saß, was dieser mit der knappen Geste eines Nickens zur Kenntnis nahm. Geschäftig bearbeitete er verschiedene Dokumente an seinem Laptop und blendete ganz bewusst die Tatsache aus, dass Hitoshi sich immer noch im Raum befand. Allerdings schien dieser, ähnlich seinem kleinen Bruder, vollkommen unempfänglich für solche Signale. Wobei sich Kai durchaus vorstellen konnte, dass der Ältere sich bewusst war, dass er ihn ignorierte. Dann zumindest so stur wie sein Bruder, dachte Kai. Hitoshis Geduld war eisern, was ein entscheidender Unterschied zu Takao war. Dieser würde sich nach wenigen Augenblicken laut bemerkbar machen. Dagegen war sein Bruder ein Fels, doch nicht minder penetrant. Schließlich unterbrach Kai die Arbeit an seinem Laptop und ließ den Blick über den Rand des Bildschirmes hinweg gleiten. Langsam hob er das Kinn und zog die Augenbrauen ernst zusammen. »Ich denke das Testtraining mit den chinesischen Gästen wird in Kürze starten. Da wirst du sicher erwartet.« Sein Tonfall war beiläufig, doch der Subtext seiner Worte eindeutig. ›Steh hier nicht in der Gegend rum. Ich habe nicht die Absicht, mich mit dir zu befassen.‹ »Die werden einen Augenblick warten können.« Kai lag die eine oder andere Verwünschung auf der Zunge, doch er schluckte sie ohne die Miene zu verziehen hinunter. Er ließ sich in den Sessel zurücksinken und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Schultern waren gerade und mit den Augen taktierte er den unliebsamen Gesprächspartner. »Was möchtest du?« Als Hitoshi endlich die volle Aufmerksamkeit genoss, entspannte sich seine Haltung. Über seine Mundwinkel huschte ein minimales Lächeln. »Ich denke, du hast gestern mitbekommen wie Takao drauf war.« Die Reaktion von Kai beschränkte sich auf eine hochgezogene Augenbraue, die offenkundig vermittelte, dass nicht mehr kommen würde, wenn er sich nicht etwas präziser ausdrückte. Am liebsten hätte Hitoshi die Augen gerollt, doch damit hätte er sich selbst ins Aus befördert und die Unterhaltung wäre – wie nach Kais Wunsch – beendet gewesen. »Ich bin mir sicher, dass dir nicht entgangen ist, dass er bereits wütend zum Meeting erschienen ist.« »Und wenn dem so wäre?« »Hast du eine Vermutung, wieso?« Hatte Kai irgendetwas unterschrieben, das ihn dazu verpflichtete sämtliche Gefühlsregungen von Takao zu registrieren und zu analysieren? Er hatte bei Weitem wichtigere Dinge zu erledigen. Für Hitoshi war klar, dass Kai keine offene Stellung dazu beziehen würde, aber das machte nichts. Auch wenn sein Gegenüber es hasste, so gelang es ihm immer wieder spielend, ihn zu lesen. »Ich weiß, so wie er weiß, dass du nicht unbedingt der kontaktfreudigste Mensch bist. Nichtsdestotrotz sieht Takao dich als einen guten Freund.« »Und weiter?« »Und weiter weiß ich, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Es wäre wirklich nett gewesen, wenn du dich in der Zeit, die du schon wieder in Japan bist, mal bei ihm gemeldet hättest. Die Gelegenheiten sind rar geworden, dass ihr euch treffen könnt.« Einen Wimpernschlag lang herrschte Stille zwischen den beiden Gesprächspartnern. Ihre Blicke schienen ineinander verkeilt, als trügen sie einen mentalen Kampf aus, den keiner verlieren wollte. Es war schließlich Kai, der das Schweigen brach. Er befeuchtete seine Lippen, bevor er in alter Manier, kühl und reserviert fragte: »War’s das dann?« Hitoshis Schultern erschlafften. Er hatte nicht viel erwartet, doch hatte er sich etwas mehr erhofft, als das. »Ja, das war’s«, antwortete er mit einem fahlen Geschmack im Mund. Er wandte sich zum Gehen und konnte ein resigniertes Kopfschütteln nicht vermeiden. Kai wartete, bis die Tür hinter Hitoshi ins Schloss fiel, ehe er tief durchatmete. Er spürte an seiner Schläfe ein Pochen. Etwas Ruhe oder eine Pause wäre wahrlich eine gute Entscheidung, doch für ihn keine Option. Die Augen verschlossen kämpfte er das unangenehme Gefühl nieder, um sich letztendlich aufzurichten und wieder der Arbeit zu widmen. Es war noch viel zu viel zu tun für das Turnier und seine Arbeiten für die Hiwatari Enterprise begann, sich aufzustauen. Nicht akzeptabel! Er hatte soweit alles geregelt, dass er für die nächste Zeit nicht mehr nach Russland musste, was das Mitwirken beim Turnier vereinfachte, doch trotzdem ließ sich die Firma nicht ohne ihn Stemmen. Nicht mehr. Zwar hatte er den Tag herbeigesehnt, dass er in Geschäftsangelegenheiten nicht mehr bevormundet würde, doch im Moment wäre es eine Erleichterung gewesen. Missmutig knurrte Kai in sich hinein und schollt sich innerlich für diesen Gedanken. Diese doppelte Belastung hatte er sich selber ausgesucht und es war genau das, was er gewollt hatte. Es war von vornherein klar gewesen, dass es viel Arbeit würde, also gab es kein Recht zu klagen. Die Finger ruhten auf den Tasten und er starrte die blanke Textfläche an, auf der er ein Schreiben aufsetzen wollte, dass per Mail an einen Partner der Hiwatari Enterprise gehen sollte, aber sein Kopf fühlte sich so leer an, wie die weiße Fläche es war. Er war sich in diesem Moment nicht einmal mehr sicher, ob er das Schreiben auf Japanisch, Russisch oder Englisch anfertigen sollte. Sein Blick glitt ungewollt zur Tür als stünde sie für das, was Hitoshi ihm gesagt hatte. Eine Ablenkung, die ihm missfiel, doch er konnte sie nicht verpackt in eine hintere Ecke seines Bewusstseins drängen. Nervig bohrend ließen die Worte nicht von ihm locker. Das gerade er sich herausnimmt, mir so etwas zu sagen, dachte Kai. Der große Bruder, der nie daheim war. Der nach dem Schulabschluss das Haus verlassen hatte und sich nur noch sporadisch blicken ließ. Woher nahm sich so ein Mensch das Recht, mit dem Finger auf ihn zu zeigen? Sein Handy machte sich durch kurze Vibration bemerkbar und kündigte so eine Textnachricht an. Wie aufs Stichwort. Schon bevor er die Mitteilung las, wusste er, von wem sie kam und was sie beinhaltete. Es war eine Erkundigung nach überfälligen Informationen, die er per Mail versendet wollte. Zwar hasste Kai es, wenn man ihm Druck machte (er war immerhin nicht unzuverlässig, er brauchte keinen Aufpasser!), doch es war eine berechtigte Erinnerung. Natürlich hatte er nicht vergessen, dass er es noch zu erledigen hatte. Es war nur für einen Moment aus dem Fokus geraten. Ruppig schmiss Kai das Handy auf den Tisch, bevor er eine gerade Haltung annahm. Die Schultern waren straff gezogen und er atmete tief ein. Wenn er es weiterhin vermeiden wollte, in nächster Zeit einen Flug nach Russland zu buchen, musste er sich zusammenreißen. Die Arbeit musste erledigt werden – und da blieb keine Zeit für Privates. Von Russland aus konnte er am kommenden Turnier nicht auf die gleiche Weise mitwirken, wie er es in diesem Augenblick konnte, und das war etwas, dem höchste Priorität zuteil war. Es darf keine Patzer geben. Das Turnier muss perfekt werden, dachte Kai verbissen und begann im selben Augenblick auf die Tasten seiner Laptoptastatur einzuhämmern. ✪ Unruhig verlagerte Takao sein Gewicht immer wieder von einem Bein auf das andere und wieder zurück. Lieber wäre es ihm gewesen, er hätte den gesamten Raum nutzen dürfen, um seinem Bewegungsdrang Luft zu machen, doch Hiromi hatte ihm bereits einen warnenden Blick zukommen lassen, der versprach, dass er es bereuen würde, wenn er anfing, auf und ab zu laufen. Nicht, weil es sie nervte (okay, vielleicht auch deshalb), sondern weil sie genau wusste, dass es den gegenteiligen Effekt hatte, den er sich davon erhoffte. Tief atmete Takao ein und vergaß für einen Moment auszuatmen. Sein Blick war auf die Tür gerichtet, durch die er später mit Mr. Daitenji und anderen Mitwirkenden des Turniers gehen würde, um an einem Podium mit vielen Mikrofonen, Blitzlicht und einer Masse von Journalisten, die sich mit Fragen überschlugen, Platz zu nehmen. Bei der Vorstellung sank Takao der Magen bis in die Kniekehlen, um gleich daraufhin wieder mit einem Purzelbaum an seinen rechtmäßigen Platz zu springen. Fahrig huschten seine Augen zu einer anderen Tür, die als Toilette gekennzeichnet war. »Meine Güte, du bist ja kreideweiß um die Nase«, bemerkte Manabu. Takao hatte überhaupt nicht mitbekommen, wie sein Kumpel den Raum betreten hatte. »Passt schon«, erwiderte er mit einem wackeligen Grinsen auf den Lippen. »Ist nicht das erste Mal und wird nicht das letzte Mal sein.« Ein Fakt, der ihn in den Wahnsinn treiben könnte. Ein Stadion, gefüllt mit Zuschauern, machte ihn nur solange nervös bis sein Match angezählt wurde. Sobald er sich auf sein Spiel konzentrieren konnte, war die Umwelt vergessen. Es zählten nur die Beyblades, sein Gegner und er – alles andere war egal. Bei einer Pressekonferenz blieb diese Zuflucht aus und er musste sich voll und ganz den vielen Menschen widmen, die sich extra eingefunden hatten. Wieso muss ich hier nochmal dabei sein?, fragte er sich in Gedanken und für einen kurzen Augenblick war er gewillt, es laut auszusprechen, biss sich letztendlich aber doch auf die Zunge. Er kannte die Antwort darauf und die Frage hätte bei seiner Nervosität harscher geklungen, als er gewollt hätte. Zumal er nicht musste und letztlich selber wollte. Er hatte die letzten Tage genutzt und seine Möglichkeiten, welche Rolle er in diesem Turnier einnehmen würde, genauestens abgewogen und nun war der Moment gekommen, sich festzulegen. Mr. Daitenji betrat in gemütlichem Tempo den Raum. Ihm folgten die restlichen Teilnehmer der Pressekonferenz unter denen auch Hitoshi und Kai auszumachen waren. Der Blick des alten Mannes traf auf Takao und verriet eine väterliche Sorge. Über die Jahre, die der Präsident der BBA den jungen Champion kannte, war es nicht verwunderlich, dass er über dessen Lampenfieber im Bilde war. Takao versuchte es mit einem Schulterzucken und grinste vage. Als der alte Herr sich zum Aufgang bewegte, merkte Takao wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er konnte das Pochen bis in den Hals spüren. Wie aus einem Reflex heraus schluckte er, als würde es dadurch verschwinden. Seine Bewegungen waren mechanisch. Ohne dass er irgendwie darüber nachdachte, was er da gerade tat, folgte er den anderen Mitgliedern durch die Tür und setzte sich auf den im zugewiesenen Sitzplatz. Die Schultern angespannt, sah er auf eine Menge Menschen vor sich, die Notizblöcke, Mikrofone oder Kameras in den Händen hielten. Ihre Gesichter spiegelten eine Neugier und Aufregung, die Takao ihnen nachfühlen konnte. In diesem Moment war er unendlich glücklich, dass er nicht die Aufgabe von Mr. Daitenji hatte. »Vielen Dank, dass Sie sich alle die Zeit genommen haben und heute hier her gekommen sind«, begann der Vorsitzende der BBA ruhig und im freundlichen Tonfall. »Es ist, denke ich, ein offenes Geheimnis, weswegen Sie hierher eingeladen wurden, deshalb versuche ich mich kurz zu halten, damit wir anschließend zu Ihren Fragen kommen können.« Mr. Daitenji machte eine Pause, um sich zu sammeln und seine Worte klug zu wählen. »Die BBA hat sich nach reichlicher Überlegung und mit Rücksprache ihrer Partner dazu entschlossen, nach langer Zeit wieder ein Turnier auf globaler Ebene zu veranstalten.« Stimmengewirr brach los und es erinnerte an das Summen in einem Bienenschwarm. Die ersten Hände hoben sich, um die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden zu erlangen, bevor die Fragen verlautet wurden: »Bedeutet das, uns steht die nächste Beyblade Weltmeisterschaft bevor?« Die Frage war zu erwarten und Mr. Daitenji schüttelte sogleich vehement den Kopf. »Nein, es wird keine Beyblade Weltmeisterschaft. Zwar findet das Turnier auf globaler Ebene statt, doch das Konzept wird ein völlig Neues sein. Es wird keine Vorentscheid-Runden geben und keine Teams, die ihr jeweiliges Land repräsentieren. Jeder hat die Chance, sich für die entscheidende Runde zu qualifizieren.« »Und wie wird entschieden, wer sich qualifiziert?«, war die berechtigte nächste Frage. »Nun, hierfür haben wir uns überlegt, dass bis zwei Woche vor den entscheidenden Runden eine bestimmte Menge von Punkten gesammelt werden muss. Vom Eröffnungstag an müssen zehntausend Punkte gewonnen werden, um sich zu qualifizieren. Um sicherzustellen, dass wirklich alle ausgetragenen Matches in die Zählung mit eingehen, wurde speziell für dieses Turnier eine Software für den BeyBattle Analyzer entwickelt. Zur Registrierung wird das Update installiert.« »Was ist mit denen, die keinen BeyBattle Analyzer besitzen?« »Diejenigen bekommen zu ihrer Registrierung einen BeyBattle Analyzer von der BBA gestellt.« »Bedeutet das, bis zur Qualifikation wird dieses Turnier nur im Hinterhof ausgetragen?« »Mitnichten! Zwar kann man auch mit Matches gegen seine Freunde Punkte gewinnen, aber das wird nicht der einzige Weg sein. Es werden zusätzlich Turniere veranstaltet, bei denen man eine höhere Anzahl von Punkten gewinnen kann, um sich schneller für die Finalrunde zu qualifizieren.« »Und wo werden die finalen Runden stattfinden?« »Hier in Tokyo im renovierten Turbo Stadium. Spieler, die sich im Ausland qualifizieren, werden eingeflogen, um die Teilnahme wahrnehmen zu können.« Takao sah neugierig über die Masse hinweg. Für einen Augenblick schienen alle Fragen geklärt, die Journalisten unterhielten sich untereinander, beratschlagten sich oder teilten der Redaktion bereits die Informationen mit, dann aber ging wieder eine Hand nach oben. Nicht wenige der Anwesenden schauten neugierig und Mr. Daitenji gab zu verstehen, dass der junge Mann sprechen durfte. »Wird der letzte Beyblade-Weltmeister, Takao Kinomiya, an diesem Turnier teilnehmen?« Sämtliche Augenpaare, vor und auch neben ihm, richteten sich auf Takao. Er fühlte sich wie gelähmt und am liebsten wäre er einfach weggelaufen, aber genau dieser Moment war es, weshalb er gebeten wurde, dieser Pressekonferenz beizusitzen. Diese Frage wurde vorhergesehen und er war bei seinen Überlegungen zu dem Schluss gekommen, dass er genau an diesem Ort zu diesem Zeitpunkt seine Entscheidung verkünden wollte, um sie nicht mehr zurückziehen zu können. Er hatte viel Zeit im Dojo vor dem Altar beim Schwert gesessen und sich Gedanken gemacht. Irgendwann hatte die Stimme in seinem Kopf wirklich wie sein Großvater geklungen, was ihm schon nach kurzer Zeit auf die Nerven gegangen war. Nichtsdestotrotz hatte es ihm geholfen. In seinem Hals steckte ein Knoten, den er nur mit Mühe runtergeschluckt bekam. »Ich habe nach reichlicher Überlegung für mich entschieden, dass … ich nicht aktiv an diesem Turnier teilnehmen werde.« Erwartungsgemäß ging das Stimmengewirr wieder los, mehrere Hände schnellten in die Höhe und es war den Leuten anzusehen, dass sie sich nur schwer zurückhalten konnten, um nicht wild durcheinander zu sprechen. Takao brauchte niemanden bitten, die Frage laut zu stellen, die ihnen allen durch den Kopf ging. Jedem, auch ihm, war klar, dass sie ein ›Warum‹ erfahren wollten. Die Erklärung hatte er sich längst zurechtgelegt, trotzdem fiel es ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Unsicher befeuchtete er seine Lippen, bevor er sagte: »Ich denke, es ist ein guter Zeitpunkt, um der nächsten Generation von Beybladern Platz zu machen. Sie hatte die letzten fünf Jahre keine Gelegenheit wie diese, um ihr Können unter Beweis zu stellen – im Gegensatz zu mir.« Außerdem wäre es einfach nicht dasselbe, ergänzte er heimlich in seinen Gedanken. Langsam sanken die Hände der Anwesenden und vereinzelte Gespräche waren im Flüsterton zu vernehmen. Man konnte eine gewisse Enttäuschung erkennen, doch davon wollte Takao sich nicht beeinflussen lassen. »Aber!«, verkündete er mit Nachdruck, sodass noch einmal alle Aufmerksamkeit bei ihm war. »Derjenige, der aus diesem Turnier als Sieger hervorgehen wird, dem sei gesagt: Ich werde der Erste sein, der dich zu einem Match herausfordern wird. Da sei dir sicher!« Ein Grinsen stahl sich ungewollt auf Takaos Lippen, doch es kam ihm nur recht. Ein Blitzlichtgewitter brach los, das ihn Sterne sehen ließ. Irritiert wandte er sich ab und blickte unerwartet in Kais Gesicht. Es war nicht so als gäbe es da großartig viel zu sehen, immerhin war Kai unbestrittener Champion des Pokerface. Trotzdem hatte Takao den Eindruck, dass sein alter Teamkamerad ihn mit einem gewissen Unverständnis ansah. Es gab nichts, worauf er das begründen konnte – es war nur ein Gefühl. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)