Das triste Leben des Jesse Wyatt von Sky- ================================================================================ Kapitel 11: Die Konfrontation ----------------------------- Jesse rieb sich müde die Augen und schaute auf sein Handy um nachzusehen, wie spät es eigentlich war. Schon knapp zehn Uhr. Unfassbar, dass er in einer solchen Situation überhaupt schlafen konnte. Na, eigentlich war es ja auch kein Wunder. Die ganze Aufregung hatte ihn schon erschöpft und außerdem fühlte sich sein Körper auch irgendwie etwas schwächer an als sonst. Es konnte am Wetter liegen, vielleicht aber auch an diesen merkwürdigen Symptomen, welche inzwischen zum Dauerzustand geworden waren. Diese hatten sich seit seiner Flucht sogar noch verschlimmert und er spürte, dass es ihm dreckig ging. Nicht nur, dass er sich müde und ausgezehrt fühlte, seine Stimmung war auf einem Tiefpunkt und er bekam seine Gedanken einfach nicht richtig sortiert. Außerdem war dieses Gefühl allgegenwärtig, dass er in einer Sackgasse steckte. Obwohl er es für gewöhnlich vermied, seinen siebten Sinn einzusetzen, hatte er es getan, um alle verschiedenen Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, wie er am besten vorgehen sollte. Seine Fähigkeit brachte ihm zwar den Vorteil, Gefahren frühzeitig zu erkennen und entsprechend dagegen zu steuern, aber er war kein Hellseher. Er konnte nicht alle Details erkennen und musste dann immer gut überlegt handeln und stets alles genauestens beobachten. Hellseher sahen in ihren Visionen direkt vor sich, was sich alles abspielen würde, so als ob sie einen Film vor ihrem inneren Auge sehen würden. Doch bei ihm war es anders, in seinen Träumen konnte er lediglich kleinere Schlüsselerlebnisse sehen und im Wachzustand bekam er nur ein unbestimmtes Gefühl. Instinktiv wusste er dann sofort, wenn Gefahr drohte und welche ungefähren Konsequenzen die Handlungen bestimmter Menschen in seiner Umgebung haben konnten. Das galt auch für ihn. Dies war oft zum Vorteil, denn so konnte er Gefahrenquellen frühzeitig orten, bevor überhaupt etwas passierte. Aber dieser siebte Sinn hatte natürlich auch seine Schattenseiten. Denn seit dieser siebte Sinn immer stärker zutage trat, konnte Jesse keine Bücher mehr lesen. Allein schon nachdem er die ersten Seiten gelesen hatte, kannte er schon die Auflösung, ohne dass er das Buch jemals zuvor angerührt oder davon gehört hatte. Und was sollte er denn mit einem Buch anfangen, wenn er die Auflösung schon nach den ersten gelesenen Seiten kannte? In solchen Momenten hasste er seine Gabe, besonders weil er nicht jedes Unglück verhindern konnte, das er vorherahnte. Besonders schlimm wurde es, wenn er in einen Bus einsteigen wollte und spürte, dass dieser in einen Verkehrsunfall geraten würde. Eine Zeit lang hatte er noch versucht gehabt, diese ganzen Dinge zu verhindern, aber wer würde ihm denn schon glauben? Er konnte ja schlecht die ganze Welt davon in Kenntnis setzen, dass sein siebter Sinn so stark ausgeprägt war, dass er bestimmte Dinge in der Zukunft sehen oder erahnen konnte. Das würde nur Probleme zur Folge haben und jeder würde dann versuchen, seine Gabe auszunutzen. Die normalen Durchschnittsmenschen, die Wissenschaftler, die Polizei, wahrscheinlich auch die Regierung. Sein Leben wäre vorbei und auf so ein Dasein, wo wirklich jeder seine Gabe für persönliche Interessen nutzen wollte, konnte er wirklich verzichten. Überhaupt fragte er sich, warum ausgerechnet er mit dieser Fähigkeit zur Welt kommen musste, mit seinen Vorahnungen stets richtig zu liegen, selbst wenn er es nicht wollte. Wahrscheinlich wäre sein Leben ganz normal abgelaufen und er würde in einer ganz normalen Familie leben. Aber stattdessen hatte es ihm persönlich nur Unglück gebracht. Aber andererseits hätte er niemals Charity kennen gelernt, zumindest nicht so. Charity… ob sie wohl nach ihm suchte? Natürlich tat sie das, er hatte es ja geahnt, ebenso dass sie sich mit ihrer naiven Gutgläubigkeit in ernsthafte Schwierigkeiten bringen würde. Dafür hatte er ja Marco gebeten gehabt, auf sie aufzupassen und er wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Aber er selbst hatte sich irgendwie in eine ausweglose Lage manövriert und musste sich nun überlegen, wie er da am besten rauskam, ohne zu viele Menschenleben in Gefahr zu bringen. Dazu hatte er verschiedene Möglichkeiten in Betracht gezogen und seinen siebten Sinn dabei gezielt eingesetzt um schon mal erfahren zu können, ob dieser Entschluss nicht vielleicht das Leben seiner Mitmenschen kosten konnte. Den genauen Verlauf sah er nicht, wusste aber zumindest das Endergebnis und das war das Wichtigste. Die Stadt zu verlassen war ihm natürlich als Erstes in den Sinn gekommen, doch der Gedanke wurde sofort wieder fallen gelassen. Wenn er das tun würde, dann würden nicht nur Grace und Charity, sondern auch sogar Marco sterben. Bei den Witherfields zu bleiben, würde zumindest Marcos Leben retten, aber nicht das der anderen beiden. Und wenn er bei Marco blieb, würde es sowohl für ihn, als auch für Chibi den Tod bedeuten. Die allerletzte Möglichkeit bestand darin, seine Mutter alleine zu stellen. Das würde das Überleben der anderen sichern, aber was ihn betraf, war er sich unsicher und auch sein siebter Sinn konnte ihm keine klare Auskunft geben. Zwar hatte er wieder einen Traum gehabt, doch Mr. Deadman war nicht aufgetaucht, der ja der Bote von zukünftigen Toden war. Womöglich, weil er sich wohl selbst nicht in der Kutsche sehen könnte. Demnach war es also ungewiss, ob er die Konfrontation mit seiner Mutter überstand oder nicht. Bevor es aber dazu kam, wollte er wenigstens noch eine letzte Zigarette rauchen. Nach trinken war ihm jetzt nicht zumute, obwohl er wusste, dass es hier und heute zur letzten Konfrontation kommen würde, die vielleicht seinen Tod bedeuten konnte. Aus seiner Jackentasche holte er die kleine Schachtel und sein Feuerzeug, dann zündete er sich einen Glimmstängel an und blies den leicht bläulichen Nikotinqualm aus. Wie hatte das alles nur so weit kommen können, fragte er sich und merkte, wie seine Stimmung weiter sank. Hätte es vielleicht anders werden können, wenn er nicht bei den Witherfields geblieben wäre? Insgeheim hatte er schon ein schlechtes Gewissen Charity gegenüber, vor allem weil er wusste, dass sie ihn liebte. Aber als er so darüber nachgedacht hatte, war es vielleicht das Beste für sie beide, wenn er für immer aus ihrem Leben verschwand. Er konnte ihr doch rein gar nichts bieten. Er hatte weder Job noch Schulabschluss, geschweige denn ein eigenes Zuhause. Zudem war er ein Alkoholiker, der nicht in der Lage war, Gefühle wahrzunehmen und sie auszudrücken. Charity war da ganz anders. Sie stand mit beiden Beinen im Leben (auch wenn sie schusselig und etwas treudoof war), hatte eine liebevolle Großmutter und ging aufs College. Im Gegensatz zu ihm hatte sie Pläne und Ziele und sie brauchte jemanden, der ihre Gefühle verstand und ihr dann auch Mitgefühl entgegenbrachte. Er konnte das alles nicht und sein ganzes Leben war ein einziger Scherbenhaufen. Und wenn er es im Gesamtpaket betrachtete, passten sie einfach nicht zusammen und es würde so oder so nicht gut gehen. Das sagte ihm zwar nicht sein siebter Sinn, aber er wusste es dennoch. Charity würde sich nur unglücklich machen und dann würde sie ihn auch alleine lassen. Und bevor das geschah, ging lieber er zuerst und ließ sie mit einem gebrochenen Herzen zurück. So etwas würde die Zeit schon irgendwann heilen und dann würde sie jemanden finden, der besser zu ihr passte und der sie auch glücklich machen könnte. Aber warum fühlte er sich dann so schrecklich bei dem Gedanken? Seit Charity in sein Leben getreten war, herrschte in ihm ein emotionales Chaos und er wusste nicht, wie er sich eigentlich fühlte und was diese diversen Symptome zu bedeuten hatten. Warum nur löste sie so viel bei ihm aus? Waren es seine Hormone, weil sie schon sehr attraktiv war, oder lag es daran, weil sie ihm Mitgefühl und Verständnis entgegenbrachte? In solchen Momenten hasste Jesse seine Gefühlsblindheit, die ihm in den letzten zehn Jahren überhaupt keine Probleme gemacht hatte. Im Gegenteil, sie hatten ihm vieles erleichtert. Durch seine Unfähigkeit, Gefühle wahrzunehmen, hatte er die Schikanen an der Schule, die Zeit auf dem Straßenstrich und den jahrelangen Terror seines Onkels ertragen können. Aber Charity nicht verstehen zu können, das war für ihn wesentlich schlimmer. Er wollte sie ja gerne verstehen und ihr endlich sagen, was er fühlte, um auch selbst Gewissheit zu haben. Doch er konnte das nicht so einfach abstellen, selbst wenn er es wollte. Und selbst wenn er lernen würde, Gefühle zu verstehen, würde es dann wirklich wieder ganz wie früher werden? Würde er sie tatsächlich so wahrnehmen können wie jeder andere Mensch? Das wagte er zu bezweifeln und so langsam verließ ihn der Mut. Womöglich hatte sich Charity bloß etwas vorgemacht mit ihrer Naivität und er würde niemals der Freund sein, den sie sich wünschte und den sie brauchte. Er war definitiv nicht der Richtige für sie und er wollte ihr auch nicht noch mehr wehtun mit seiner Unfähigkeit, Gefühle zu verstehen. Charity… die ganze Zeit konnte er nur noch an sie denken und sich fragen, ob es ihr und ihrer Großmutter auch gut ging. Dabei hatte er sich noch nie über einen anderen Menschen solche Gedanken gemacht. Höchstens, als er noch klein war und sein Vater verschwand. Der Wind wurde kühler und Jesse wickelte sich fester in seine Jacke. Der Container an der Baustelle hatte zwar den Vorteil, dass er ihn vor Wind und Wetter schützte, aber es war trotzdem kalt und vor allem dunkel. Die einzige Lichtquelle war das Display seines Handys, welches fast ununterbrochen geklingelt hatte, bis er es einfach auf stumm geschaltet hatte. Charity versuchte ihn schon die ganze Zeit zu erreichen, aber er konnte ihre Anrufe einfach nicht entgegennehmen. Das würde die ganze Sache noch schlimmer machen. Aber er wollte es insgeheim trotzdem. Er wollte sie sprechen und ihr alles erklären und er wollte sie wieder sehen. Unglaublich, dass er solch einen Drang nach Nähe verspürte, obwohl er sie doch kaum kannte. So etwas hatte er noch nie in seinem Leben erlebt. Aber was war das bloß für ein Gefühl, das er für sie empfand? Es ließ ihm einfach keine Ruhe, er wollte unbedingt wissen, was er für Gefühle für sie hegte. Da er keine Ruhe fand, entschloss er sich, noch ein wenig spazieren zu gehen und auf diese Weise einen klaren Kopf zu bekommen. Die frische Luft würde ihm sicher ganz gut tun und vielleicht half ihm das, seine Gedanken wieder sortiert zu bekommen. Er warf die Zigarette zu Boden und trat sie aus, dann streckte er sich. Der Himmel war nach dem Regen sternenklar und es herrschte absolute Stille. Da er sowieso nicht befürchten musste, dass seine Sachen hier geklaut werden konnten, ließ er sie im Container und machte sich auf den Weg. Durch den Regen hatten sich überall riesige Pfützen gebildet und auf dem Kies klangen seine Schritte viel zu laut. In der Dunkelheit wirkten die Baumaschinen wie schlafende Ungeheuer und Jesse erinnerte sich an eine Szene aus seiner Kindheit, als er mit seinem Vater abends unterwegs gewesen war. Da war er neun Jahre alt und hatte die Silhouette eines Baggers für einen Dinosaurier gehalten. Erst jetzt fiel ihm auch auf, dass er sich überhaupt nicht mehr an das Gesicht seines Vaters erinnern konnte. An das seines Bruders Luca konnte er sich noch erinnern, denn er hatte ja immer ein Foto von ihm dabei. Er erinnerte sich auch noch an die Stimme seines Vaters, aber nicht an sein Gesicht. Nun gut, er war damals erst zehn Jahre alt gewesen, als dieser einfach abgehauen war, ohne sich zu verabschieden. Sogar der Name wollte ihm nicht mehr einfallen. Manchmal hatte er sich schon gefragt, wieso sein alter Herr einfach verschwunden war und sich nie gemeldet hatte. Warum hat er uns im Stich gelassen? Geht es ihm gut? Ist ihm vielleicht etwas passiert? Diese Fragen hatte er sich damals immer wieder gestellt, als er noch klein war. Aber dann hatte er erkannt, wieso es so kommen musste: Sein Vater war seinetwegen abgehauen. Ihm war klar geworden, dass sein Sohn diesen siebten Sinn hatte und deshalb war er verschwunden, ohne ein Wort zu sagen. Aber wieso war er deswegen weggelaufen? Etwa weil er Angst vor diesen Fähigkeiten hatte? Drei Jahre hatte sich Jesse genau das gefragt und sich die Schuld gegeben, bis dieser eine Tag kam. Sein kleiner Bruder wurde umgebracht und seine Mutter versuchte daraufhin, ihn mit einem Messer zu töten. Danach hatte er rein gar nichts mehr für seinen Vater empfunden. Für ihn war er ein selbstsüchtiger Feigling, der die Familie im Stich gelassen hatte und wenn Jesse jetzt noch etwas wirklich empfinden könnte, dann wäre es Hass. Sein Vater war ein feiges Arschloch, weiter nichts. Aber war er, Jesse Wyatt, denn so anders als sein alter Herr? War er nicht auch einfach weggelaufen? Natürlich war er das, aber er hatte einen guten Grund gehabt. Wäre er bei Charity und Grace geblieben, wären sie bloß in Gefahr geraten und das konnte er ihnen nicht antun. Und sein Vater war bloß ein Egoist und mehr nicht. Mit Sicherheit hatte er schon damals irgendeine neue Frau kennen gelernt und war mit ihr zusammen durchgebrannt, ohne dabei an seine Familie zu denken. Diese ganze Liebe war doch genauso gelogen gewesen wie die geheuchelte Fürsorge seines Klassenlehrers, der ihn, als er auf dem Strich gewesen war, fast umgebracht hätte. Wirklich jeder hatte ihn bis jetzt enttäuscht, außer Marco und Charity. Und schon wieder musste er an sie denken. Ein seltsames Gefühl beschlich Jesse und abrupt blieb er stehen und sah sich um. Er war unruhig und hörte nicht weit entfernt, wie jemand durch den Kies lief. Ein Obdachloser oder sonst irgendein harmloser Nachtschwärmer war das nicht, das wusste er sofort. Nein, es war jemand, der gezielt hierher gekommen war, nämlich wegen ihm. Es war seine Mutter und so wie sich sein siebter Sinn meldete, ging eine unmittelbare Gefahr von ihr aus. Verdammt, er war so in seinen Gedanken versunken gewesen, dass er erst jetzt gemerkt hatte, dass sie hierher kam. Und so wie die Schritte im Kies klangen, musste sie noch knapp 100 oder 200 Meter entfernt sein. Das Beste war, sich erst einmal zu verstecken und dann zu überlegen, was er als nächstes tun sollte. Zum Glück war es so dunkel, dass sie ihn wahrscheinlich noch gar nicht bemerkt hatte. Aber woher wusste sie bloß, dass er sich hier aufhielt? Er hatte doch zu niemandem ein Wort gesagt, nicht einmal Marco! Womöglich war es Zufall, vielleicht hatte sie einen Komplizen, oder aber es war ihr eigener siebter Sinn. Manchmal vergaß er, dass jeder Mensch über diesen verfügte und er hoffte nur, dass Walter wenigstens die Klappe gehalten hatte was Charity betraf, wenn Veronica schon dort gewesen war. Wer weiß, was Charity in ihrer Naivität alles ausgeplaudert hatte. Im schlimmsten Fall wirklich alles, zuzutrauen wäre es ihr. Immerhin brachte sie sich mit ihrer Gutgläubigkeit oft genug in Schwierigkeiten. Geduckt schlich Jesse zu einem der Bagger hin, um dort in Deckung zu gehen. Lange würde ihm das aber auch nicht helfen, das wusste er jetzt schon. Er hatte keine Waffe bei sich und zum Container zurück konnte er auch nicht. Da war er ungeschützt und saß dann auch in der Falle. Seine Möglichkeiten waren mehr als begrenzt und er fragte sich, ob er die ganze Sache überleben würde. Sein siebter Sinn ließ ihn zumindest erahnen, dass es nicht gut für ihn ausgehen würde. Warum nur musste dieser siebte Sinn immer nur so ungenau sein? Das nervte ihn immer wieder. Ein Schuss fiel hinter ihm und mit einem Hechtsprung brachte er sich in Sicherheit, wobei er merkte, wie sein Herz zu rasen begann und er noch unruhiger wurde. Offenbar bekam er Angst. Das wurde ja immer schlimmer. Jetzt war seine Mutter auch noch mit einer Pistole bewaffnet und nun war sie anscheinend so durchgedreht, dass sie auf jeden schoss, den sie in der Dunkelheit ausfindig machen konnte. Die hatte sie ja nicht mehr alle. Offenbar war es ihr völlig egal, dass sie vielleicht Unschuldige treffen könnte. Fast blind tastete er sich voran und bekam eine massive Rohrstange zu fassen, die er gut als Waffe benutzen konnte. Nun gut, gegen eine Pistole würde die eher wenig ausrichten, aber zumindest war das besser als nichts. Als Erstes musste er sich überlegen, wie er seine Mutter unschädlich machen konnte, ohne sie zu töten. Egal was sie in der Vergangenheit auch getan hatte, so war sie immer noch seine Mutter und deshalb brachte er es einfach nicht übers Herz, sie umzubringen. Er begann zu überlegen, wo er sie am besten hinlocken konnte und der Container, wo er zuvor geschlafen hatte, kam ihn als Erstes in den Sinn. Wenn er sie dort hineinlocken konnte, war es ihm vielleicht möglich, die Containertür mit der Rohrstange zu verriegeln. Dann galt es nur noch die Polizei zu rufen. Dumm nur, dass er sein Handy dort hatte liegen lassen. Wäre er nicht so abgelenkt gewesen durch seine Gedanken an Charity und seine Symptome, dann hätte er diesen Fehler nicht begangen. Er hatte sich einfach zu sicher gefühlt! Jetzt hatte er den Salat und musste nun überlegen, was er jetzt tun sollte. Erste Möglichkeit: Ein Ablenkungsmanöver starten und dann zum Container laufen. Der erste Teil würde noch gut werden, aber danach würde es eher schlecht für ihn aussehen. So zum Container laufen war noch dümmer und sich direkt zum Angriff stellen genauso. Noch eine Alternative war, zum Container zu eilen und sich dort irgendwie zu verbarrikadieren. Diese Möglichkeit war auch gut, aber ihn beschlich dennoch das Gefühl, als würde es lebensgefährlich werden. Nicht für ihn, sondern für jemand anderen, der zur Baustelle kommen würde. Wer es war, konnte er noch nicht sagen, aber er konnte schlecht zulassen, dass seine gestörte Mutter noch andere Menschen in Gefahr brachte. Also blieb die beste Alternative, dass er sie ablenkte und dann zum Container eilte. Na hoffentlich ging das auch gut. Ein gutes Gefühl hatte er nämlich nicht dabei. Wieder kniete er sich hin und tastete umher. Viel gab es ja nicht, aber dann fand er einen größeren Stein. Besser als nichts, dachte er und sah sich um, wo er das Ding am besten hinwerfen konnte. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und so konnte er nicht weit entfernt einen Bagger erkennen. Nun kam er aus seiner Deckung hervor und warf mit aller Kraft. Der Stein traf sein Ziel und es gab ein metallisches Knallen, woraufhin der Schatten seiner Mutter in Richtung der Geräuschquelle eilte. In dem Moment rannte Jesse in Richtung des Containers und lief so schnell er konnte. Dummerweise waren seine Schritte auf dem Kies so laut, dass sie seine Mutter natürlich sofort aufmerksam machen mussten. Es wurde wieder geschossen und gerade, als er den Container erreichte, durchzuckte ein brennender Schmerz sein linkes Bein und beinahe wäre er gestürzt. Nur mit Mühe konnte er sich wieder fangen und weiterlaufen. Doch jeder Schritt schmerzte entsetzlich und so wie es sich anfühlte, schien der Streifschuss eine tiefe Wunde gerissen zu haben. Doch wenn er jetzt stehen blieb, war er tot. Also biss er die Zähne zusammen und kurz darauf traf bohrte sich eine zweite Kugel in seine Hüfte. Der irrsinnige Schmerz durchzuckte seinen ganzen Körper und er schrie auf. Ein dritter Schuss verfehlte ihn nur knapp und er verlor die Kontrolle über seine Beine, woraufhin er zu Boden stürzte. „Hab ich dich endlich gefunden!“ hörte er seine Mutter rufen und kurz darauf fiel der nächste Schuss, doch es gelang ihm noch rechtzeitig, sich zur Seite zu drehen und somit auszuweichen. Hätte er nur eine Sekunde später reagiert, hätte die Kugel seinen Kopf erwischt. Nun stand sie direkt vor ihm und zielte mit einer Smith & Wesson auf ihn. Im schwachen Licht des Mondes sah sie nur noch mehr wie eine lebende Leiche aus und ihr Gesicht wirkte wie ein Totenschädel. Noch immer trug sie unverkennbare orangefarbene Kleidung einer Gefängnisinsassin und ihr Blick verriet, dass sie keine Gnade walten lassen würde. In ihren staubgrauen und trüben Augen war nichts als purer Hass zu sehen. „Hab ich dich endlich gefunden, Jesse. Jetzt wirst du mir nicht mehr davonlaufen. Du wirst dafür bezahlen, dass du mir mein Leben zerstört und Luca getötet hast. Nun habe ich endlich die Chance, das zu beenden, was ich damals nicht zu Ende bringen konnte. Und du wirst leiden, genauso wie ich leiden musste!“ Damit gab Veronica ihm einen Tritt gegen sein verletztes Bein, woraufhin ein entsetzlicher Schmerz durch Jesses ganzen Körper fuhr. Er schrie auf und sogleich setzte es einen weiteren Tritt in sein Gesicht und dann noch einen in die Magengrube. So einfach würde seine Mutter ihn wohl nicht erschießen wollen. Nein, sie wollte ihn leiden sehen, bevor sie ihn tötete. Aber dieses Mal würde er sich zur Wehr setzen und nicht wie vor zehn Jahren alles hinnehmen, weil er glaubte, er hätte es nicht anders verdient. Lange genug hatte er sich von anderen herumschubsen, verprügeln, verarschen oder ausnutzen lassen, nur um sich selbst für den Tod seines kleinen Bruders und für das Verschwinden seines Vaters zu bestrafen. Das war nun vorbei, denn nun wusste er selbst, dass seine Träume nicht verantwortlich für Lucas Tod waren. Diese Gabe war ein Geschenk, damit er Menschen retten konnte. Ohne sie hätte er Charity und ihre Großmutter nicht retten können und Marco wäre nach wie vor noch kriminell oder er wäre auch gestorben. Diese brennenden Schmerzen in seinem Bein und seiner Hüfte sowie die Angriffe seiner Mutter schienen irgendetwas in ihn zu wecken. Er konnte nicht genau beschreiben was es war. Irgendwie war es ungefähr das gleiche Gefühl, welches er gehabt hatte, als er auf Walter eingetreten hatte. War es etwa Hass? Konnte es tatsächlich sein, dass er seine Mutter hasste? Aber wie sollte das möglich sein, wenn er sich so sehr wünschte, endlich Frieden mit ihr zu schließen und er sie sogar jeden Monat im Gefängnis besuchen kam, obwohl sie ihn beinahe umgebracht hätte? War es etwa so, dass er sie hasste, obwohl er sie nach alledem immer noch als seine Mutter liebte? Fakt war aber nun, dass er jetzt nicht mehr bloß diese körperlichen Symptome verspürte. Nein, es war weitaus mehr und ein wenig bereitete es ihm auch Angst. Es war, als wäre in diesem Moment, da sich der gleiche Alptraum von damals zu wiederholen schien, eine Blockade gebrochen worden. Zum ersten Mal seit zehn Jahren spürte er wirklich wieder etwas in seinem Inneren und das war brennende Wut. Es war die Wut gegen die Grausamkeit und Ungerechtigkeit seiner Mutter, gegen seinen selbstsüchtigen Onkel und alle anderen, die ihn all die Jahre wie Dreck behandelt hatten. In dem Moment, als seine Mutter ihn wieder zu Boden trat wie so viele Male zuvor nach dem Tod seines kleinen Bruders, brach alles hervor und dieser brennende Zorn war stark genug, dass er ihn wirklich wahrnahm. Und dieser Zorn half ihm, die Schmerzen zu ignorieren und sich endlich zur Wehr zu setzen. Für ihn war es in diesem Moment mehr als reiner Selbstschutz, um nicht erschossen oder totgeprügelt zu werden. Er setzte sich gegen seinen Selbsthass, seine Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zur Wehr und auch gegen all das ihm widerfahrene Unrecht. Mit aller Kraft trat er seiner Mutter die Beine weg, woraufhin diese das Gleichgewicht verlor. In dem Moment setzte er sich auf und schlug ihr die Rohrstange gegen das Schienbein. Schreiend sank sie in die Knie und wollte schießen, doch da stürzte sich Jesse auf sie und nagelte sie am Boden fest. Nun sah er ihr direkt in die Augen und spürte wieder diesen intensiven Schmerz in seinem Innersten. Und nun wusste er auch, was es war: Hass und Liebe zugleich, die nichts anderes als Verzweiflung und Wut hervorbrachten. „Ich lasse mich nicht mehr von dir herumschubsen, Mum. Glaub mir, du bist nicht die Einzige, die Luca vermisst und seinen Tod betrauert. All die Jahre habe ich diese ganze Scheiße ertragen, weil mir alle eingeredet haben, ich hätte es nicht anders verdient. Ich hab mich von dir fast umbringen lassen, weil ich Schuld an Lucas Tod haben soll. Walter hat mich verprügelt, auf die Straße gesetzt oder eingesperrt, wenn ich nicht nach seiner Pfeife getanzt habe. Und diese diese ganzen perversen Schweine, die mir den einen Sommer zur Hölle gemacht haben, hatten mir teilweise Dinge angetan, wovon sogar dir schlecht wird. Meine Mitschüler haben mich drangsaliert und zusammengeschlagen, weil ich der Sohn einer Verrückten bin, der sich auf dem Strich von irgendwelchen perversen Kinderschändern ficken lässt, weil er auf der Straße lebt und Geld braucht. Alle haben mich wie Scheiße behandelt und ich habe das alles stillschweigend hingenommen. Ich hab sogar deine Vorwürfe ertragen und den Sündenbock für dich gespielt, weil ich dich immer noch als meine Mutter geliebt habe. Aber hab ich endgültig die Schnauze voll! Ich will mir nicht einen Tag länger zum Vorwurf machen lassen, dass ich den Tod anderer Menschen vorhersehen kann und nicht jedes Mal in der Lage bin, sie zu retten. Als Luca starb, war ich gerade mal 13 Jahre alt! Du warst seine Mutter und du hättest ihn beschützen sollen. Stattdessen hast du dir den lieben langen Tag dein scheiß Koks reingezogen und dich um rein gar nichts gekümmert. Ich habe all deine Pflichten übernommen, während du entweder gearbeitet hast oder total zugedröhnt warst. Ich war immer für Luca da und hab mich um ihn gekümmert, was eigentlich dein verdammter Job gewesen wäre. Aber du willst einfach nicht wahrhaben, dass du eine absolute Rabenmutter bist und genauso schuld an Lucas Tod bist. Stattdessen hast du mir all die Jahre Vorwürfe gemacht und mir für alles die Schuld gegeben, was du dir selbst eingebrockt hast!!!“ Jesses Griff wurde immer fester und am liebsten hätte er noch weiter zugedrückt. Eine innere Stimme schrie danach, dass er sie schlagen sollte. Ja, er wollte mit der Rohrstange auf sie einschlagen und das am liebsten so lange, bis ihre erbärmliche Existenz endlich beendet war. Doch als Jesse erkannte, was da in ihm vorging und dass er kurz davor war, seine eigene Mutter umzubringen, verschloss er diese Gefühle sofort wieder. Er war entsetzt darüber, was er da gerade vorgehabt hatte und konnte nicht glauben, dass er wirklich seine eigene Mutter umbringen wollte. Sofort lockerte sich sein Griff und das nutzte Veronica, um ihm in die Seite zu boxen, wo ihn die Kugel getroffen hatte. Der Schmerz raubte Jesses ganze Kraft und so gelang es ihr, ihren Sohn von sich wegzustoßen. „Du nennst mich eine Rabenmutter? Warum habe ich wohl angefangen, Drogen zu nehmen? Doch nur, weil deine Träume Schuld waren, dass dein Vater uns verlassen hat. Du hattest nur eine einzige verdammte Aufgabe: Pass auf deinen Bruder auf! Und selbst das hast du nicht geschafft und ich bin den ganzen Tag arbeiten gewesen. Da kann ich wohl von dir verlangen, dass du dich um die Wohnung und um deinen Bruder kümmerst. Aber dank dir ist alles kaputt gegangen. Dein Vater ist abgehauen, ich saß zehn Jahre im Gefängnis und mein kleiner Luca ist tot. Man hat ihm die Augen herausgeschnitten, während er noch gelebt hat… und dann… dann mussten sie seine Leiche wieder zusammennähen, weil er mit einer Kettensäge zerstückelt wurde! Das alles hätte nicht passieren müssen, wenn du vernünftig auf ihn aufgepasst hättest. Du hast ihn ermordet und dafür wirst du bezahlen.“ „Hör endlich damit auf, immer die Schuld auf andere zu schieben, sondern übernimm endlich mal Verantwortung für deine eigenen Probleme.“ „Das muss ein versoffener, arbeitsloser Penner wie du gerade sagen. Du kriegst doch gar nichts auf die Reihe in deinem Leben, stattdessen zerstörst du mit deinen Träumen das Leben von Menschen. So einen wie dich will doch niemand haben. Du hättest niemals geboren werden dürfen!“ Erneut brach die Wut in Jesse aus und betäubte gänzlich seine Schmerzen. Er konnte sie nicht mehr unterdrücken, griff seine Mutter daraufhin an und es kam zu einem heftigen Handgemenge. Du irrst dich, dachte er und versuchte sie irgendwie zu Boden zu stoßen. Es gibt Menschen in meinem Leben, die mich nicht wegstoßen und verachten. Marco, Grace und Charity glauben daran, dass ich eine Zukunft habe und dass ich mein Leben wieder in den Griff bekommen kann. Charity hat mich von der Straße geholt, obwohl sie mich gar nicht kennt und Marco hat mir so oft geholfen, Menschen vor einem Unglück zu bewahren, wenn ich es vorhergesehen habe. Sie glauben an mich und haben mir geholfen, als ich keinen anderen Ausweg mehr als den Tod gesehen habe. Ich darf also nicht einfach so aufgeben, nur weil meine verrückt gewordene Mutter versucht, mich umzubringen. Ich muss es schaffen, damit ich Charity wenigstens noch ein Mal sehen und sie sprechen kann. Doch der Schmerz in seinem Bein und in seiner Hüfte wurde immer schlimmer und er spürte, dass er zu viel Blut verlor. Lange konnte er jedenfalls nicht mehr durchhalten. Also mobilisierte er seine Kräfte und schaffte es, Veronica Wyatt zurückzudrängen und sie gegen den Container zu drücken. Soweit so gut, jetzt hatte er sie fest genug im Griff, damit sie nichts Dummes mehr anstellte. Aber so konnte er auch nicht die Polizei rufen. Es blieb ihm also keine andere Wahl, als sie bewusstlos zu schlagen. Doch da rammte Veronica ihm ihr Knie unter die Gürtellinie und damit verließ Jesse all seine Kraft, als der Schmerz ihn an seiner empfindlichsten Stelle traf. Er stöhnte und krümmte sich vor Schmerzen, konnte sie nicht mehr festhalten und in dem Moment, als er sie losließ, traf ihn ein weiterer Schuss direkt in die Brust. Zuerst realisierte er es gar nicht, bis er dann selbst das Blut an seiner Hand sah, als er sie auf die Stelle gepresst hatte. In dem Moment versagten seine Beine endgültig den Dienst und er brach zusammen. Seltsamerweise spürte er die Schmerzen kaum, denn in seinem Inneren tat es noch mehr weh. Tränen ließen seine Sicht verschwimmen und zuerst verstand er nicht, wieso ihm schon wieder die Tränen kamen. Normalerweise war es ihm immer egal gewesen, wenn er in solch eine Situation geriet und sein Leben auf dem Spiel stand, denn sein Leben war ihm egal. Aber warum war er denn jetzt plötzlich am Weinen, als er in den Lauf der Waffe blickte, die gleich seine mehr als trostlose Existenz beenden würde? Jetzt, da er zumindest zu einem gewissen Grad wieder seine eigenen Gefühle wahrnehmen konnte, verstand er endlich, wieso er so traurig darüber war, dass er jetzt gleich sterben würde. Und das Schlimmste daran war, dass er jetzt nichts mehr tun konnte, um sich gegen dieses Schicksal zu wehren. So sehr er es auch wollte, sein Körper würde das nicht mehr schaffen und selbst wenn er es könnte, die Kugel würde ihn sowieso gleich in den Kopf treffen und ihn töten. Was für eine verdammte Ironie die ganze Situation doch war. All die Jahre hatte er es sich gewünscht, endlich zu sterben um aus dieser Hölle zu entkommen und jetzt, da er unbedingt am leben bleiben wollte, würde er sterben. Warum konnte das Leben denn nicht ein einziges Mal fair zu ihm sein und ihm wenigstens eine Chance geben? Naja, wenigstens waren Charity und die anderen in Sicherheit und würden überleben. Das war doch ein tröstlicher Gedanke und irgendwann würde Charity schon darüber hinwegkommen und auf andere Weise ihr Glück finden. Ihr Glaube hatte ihr doch schon geholfen, über den Tod ihrer Eltern hinwegzukommen, da würde sein Tod doch sicherlich auch nicht so tragisch für sie werden. Immerhin kannten sie sich beide sowieso kaum und mit Sicherheit wäre sie mit ihm auch niemals glücklich geworden. Ja, es ist okay so wie es ist. Es wäre doch sowieso auf die Entscheidung hinausgelaufen, ob ich oder jemand anderes sterben muss. Aber wenigstens kann ich mit der Gewissheit sterben, dass Charity und ihre Großmutter in Sicherheit sind. Wenigstens konnte dieser Gedanke ihn ein klein wenig trösten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)