Das triste Leben des Jesse Wyatt von Sky- ================================================================================ Kapitel 5: Ein Deja-vu Erlebnis ------------------------------- Charity hatte endlich das Haus von Jesses Onkel erreicht und stieg aus dem Wagen. Hoffentlich war Jesse nicht allzu sauer, dass sie jetzt schon wieder vor der Tür stand und ihm auf die Nerven ging. Aber dieses Mal konnte sie ja nichts dafür und sie hatte auch einen guten Grund, ihn zu stören. Immerhin hatte sie ja sein Handy und das wollte er sicher wieder haben! Sie stieg die Stufen hoch und klingelte. Nichts geschah, also klingelte sie direkt noch mal, aber nun zwei Male hintereinander. „Jesse?“ rief sie und versuchte, etwas durch die Tür zu hören. „Ich bin es noch mal! Ich hab vergessen, dir dein Handy zurückzugeben. Machst du mal kurz auf?“ Immer noch keine Reaktion. Vielleicht hörte er im Keller die Haustürglocke nicht. Womöglich lag er ja auch im Bett und kurierte sein Fieber aus. In diesem Falle war es wohl besser, morgen wiederzukommen. Als sie aber gehen wollte, hörte sie Schritte und kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Es war aber nicht Jesse, sondern ein dicker Mann mit Halbglatze und dem Gesicht einer Bulldogge. Sie kannte ihn vom Sehen her und wusste, dass es Jesses Onkel Walter war. Er sah richtig sauer aus und war im Gesicht verletzt, was nichts Gutes erahnen ließ. Sie wich zwei Schritte zurück und fragte verunsichert „Entschuldigen Sie bitte, aber ist Jesse vielleicht da?“ „Wie jetzt?“ fragte der dicke Mann wütend und rieb sich die eine Hand, die offensichtlich ebenfalls verletzt war. Sein Gesicht nahm die Farbe eines gekochten Hummers an und er sah aus, als würde er gleich vor Wut platzen. „Bist du etwa seine Freundin, oder was?“ Was sollte sie denn darauf antworten? Je nachdem, was sie gleich sagte, würde dieser Kerl entweder vollkommen ausrasten, oder sich bloß weiterhin in Rage reden. Am Besten gab sie eine möglichst neutrale Antwort. „Jesse war bei mir gewesen und hat sein Handy vergessen. Wie geht es ihm denn?“ „Was kümmert’s mich, wie es diesem undankbaren Versager geht? Abgehauen ist er, obwohl ich ihm alles gegeben habe. Und dabei schuldet dieser elende Schmarotzer mir noch einen Haufen Kohle.“ „Wohin ist er gegangen?“ „Keine Ahnung. Der hat seinen Krempel gepackt und ist gegangen.“ „Vielen Dank Mr. Wyatt, einen schönen Tag wünsche ich noch.“ Schnell machte Charity kehrt und eilte zum Wagen, bevor dieser Kerl sie noch aufhalten konnte. Jesse hatte sie entweder angelogen, oder aber er hatte einen so heftigen Streit mit seinem Onkel gehabt, dass er freiwillig gegangen war. Und in dem Zustand konnte er doch nicht auf der Straße schlafen. Sie musste ihn suchen, aber wo sollte sie zuerst anfangen? Es gab mehrere Möglichkeiten für Obdachlose, sich irgendwo einzuquartieren. Und leider gab es hier kein Obdachlosenheim, wo Jesse wenigstens eine vernünftige Unterkunft hätte. Also, wo hielten sich die Obdachlosen hauptsächlich auf, wenn sie ihr Quartier bezogen? Da waren einmal der Stadtpark, die Tiefgaragen und Parkhäuser und der Bahnhof… Die Unterführung, schoss es ihr durch den Kopf. Ja genau! An der Unterführung war nie etwas los und da Jesse strikter Einzelgänger war und sich dort schon einmal niedergelassen hatte, würde er mit Sicherheit wieder dort sein. Wenn sie Glück hatte, würde sie ihn dort tatsächlich antreffen. Also startete die Studentin den Wagen und fuhr los. Die Unterführung war zum Glück nicht ganz so weit weg und für sie stand fest, dass sie Jesse helfen würde, ob er nun wollte oder nicht. Sie musste an diesen unsympathischen Kerl Walter denken, der im Gesicht verletzt war. Und seine Hand sah auch so aus, als hätte er sich ziemlich wehgetan und die Fingerknöchel waren gerötet. Ein schrecklicher Gedanke kam ihr schließlich, als sie überlegte, wie er sich diese Verletzungen zugezogen haben könnte. Was, wenn er und Jesse eine handfeste Auseinandersetzung gehabt hatten und Jesse dann schließlich die Flucht ergriffen hatte? Das würde sie wahrscheinlich erst herausfinden, wenn sie ihn gefunden und zur Rede gestellt hatte. Als sie die Unterführung erreicht hatte, stieg sie aus dem Wagen, schloss ab und lief zu Fuß weiter. Doch sie fand Jesse hier nicht. Offenbar war er gar nicht hier gewesen, aber wo sollte er denn sonst sein? Sollte sie vielleicht doch die Obdachlosentreffs absuchen? Sie setzte sich wieder in den Wagen und wollte zum Bahnhof fahren, da klingelte ein Handy, aber dieses Mal war es nicht Jesses. Denn es wurde ihre Lieblingsmelodie „Happy“ von Pherrell Williams gespielt, der Klingelton ihres eigenen Handys. Da sie keine Freisprechanlage im Auto hatte, hielt sie am Straßenrand, schaute auf das Display und sah, dass es ihre Großmutter war. Sie drückte den grünen Hörer und rief „Oma, was gibt es denn?“ „Cherry, könntest du bitte zum Innenhafen kommen?“ Irgendwie klang sie ein wenig durcheinander, was ihrer Enkelin Sorge bereitete, denn normalerweise war Grace stets gefasst und ruhig. „Ist irgendetwas passiert?“ „Das erkläre ich dir später. Würdest du bitte kommen und ein paar Handtücher mitbringen?“ „Oh Gott, ist jemand ins Hafenwasser gefallen? Geht es dir und den anderen gut?“ „Ja, es geht uns bestens. Aber würdest du dich bitte beeilen?“ „Kein Problem, ich bin gleich da.“ Sofort startete Charity den Motor und fuhr nach Hause, um Handtücher zu holen. Sie fuhr dabei aber mindestens 10km/h zu schnell und raste um die Kurven. Allein die Vorstellung, ihre Großmutter könnte abgerutscht und in den Fluss gestürzt sein, machte ihr Angst. Die Strömung im Fluss konnte sehr gefährlich sein und nicht selten kam es zu einem Unglück, wenn irgendwelche Verrückten hineinsprangen. Zwar klang Grace nicht danach, als sei etwas Schlimmes passiert, doch die Studentin machte sich trotzdem große Sorgen. Nachdem sie den Wagen in der Einfahrt geparkt hatte, eilte sie schnell ins Haus und holte aus dem Badezimmer ein paar Handtücher und sicherheitshalber noch eine Decke, da draußen ein kühler Wind wehte. Die Sachen verstaute sie solange im Kofferraum, dann setzte sie sich wieder in den Chevrolet und fuhr los. Der Hafen lag etwas außerhalb der Innenstadt und dort herrschte zum Glück nicht gerade viel Verkehr. Der Innenhafen war ein beliebter Treffpunkt für Leute, die gerne in Restaurants oder Cafes mit etwas anderer Aussicht gingen. Ihre Großmutter traf sich dort immer mit ihren alten Freundinnen von früher erst zum Gymnastikkurs und ging im Anschluss in ihr Stammcafe am Innenhafen. Normalerweise ging sie immer zu Fuß, weil sie fit bleiben wollte, aber bei Kälte und Nässe chauffierte Charity sie und die anderen mit dem Auto, bevor es noch ein Unglück gab. Ein Sturz konnte schwere Knochenbrüche bedeuten und danach würde ihre Großmutter nie wieder richtig auf die Beine kommen und im schlimmsten Fall zu einem Pflegefall werden. Diesen Gedanken könnte sie kaum ertragen. Außerdem konnte es mit den alten Damen manchmal ganz witzig werden. Besonders, wenn sie sich zum Kartenspielen trafen, denn die Seniorinnen waren ausgefuchste Pokerspielerinnen. Der Himmel begann sich zu verdüstern und es sah verdächtig nach Regen aus. Sie hatte aber Glück und erreichte den Innenhafen, ohne dass das Unwetter hereinbrach. Schon von weitem sah sie eine Gruppe Seniorinnen und glaubte sie als die Gruppe ihrer Großmutter zu erkennen. Sie parkte am Cafe und lief den restlichen Weg zu Fuß. Sofort wurde sie von den alten Damen begrüßt und belagert und wirklich jede begann gleichzeitig zu reden, sodass Charity kaum ein Wort verstand. Aber sie sah schließlich selbst, was da wohl passiert war: Jesse saß vollkommen durchnässt auf einer Bank, sein Gesicht war kalkweiß und er erinnerte mehr an eine Leiche, als an einen Lebenden. „Oma“, rief sie und lief zu ihrer Großmutter, die sich gerade um den benommen 23-jährigen kümmerte. „Was ist denn passiert?“ „Der Junge hat Grace gerettet“, erklärte Dorothy, bevor Grace überhaupt zu Wort kam. „Von einer Sekunde auf die andere ist sie abgerutscht und wäre fast ins Wasser gefallen, da kam dieser Junge herbeigelaufen und hat sie wieder hochgezogen. Aber dann ist er selbst gestürzt.“ Charity sah verwundert zu Jesse und konnte es nicht glauben. Er hatte ihre Großmutter gerettet. Aber woher wusste er, dass sie hier war? Oder war das schon wieder so ein merkwürdiger Zufall? Sie ging zu ihm hin und bemerkte, dass er völlig am Ende mit seinen Kräften war und in den nassen Klamotten musste er sicherlich frieren. „Jesse, kannst du mich hören?“ Sein Blick wanderte zu ihr und wirklich begeistert wirkte er nicht gerade. „Du schon wieder…“ „Ist mir auch eine Freude, dich wiederzusehen. Hör mal, du musst aus den nassen Klamotten raus, sonst holst du dir noch den Tod. Dein Körper ist sicher völlig ausgekühlt.“ „Vergiss es, ich zieh mich doch nicht aus!“ „Jetzt stell dich mal nicht so an.“ Doch sein Blick verriet, dass er so etwas nicht machen würde. Verständnislos schüttelte sie den Kopf und seufzte. „Machen wir einen Kompromiss: Du ziehst Jacke, Shirt und Hemd aus und wir gucken nicht hin, wenn dir das unangenehm ist.“ Mit diesem Kompromiss war er einverstanden und so drehte er sich von ihnen weg und begann, seinen gesamten Oberkörper zu entkleiden, dann reichte Charity ihm die Decke. „So und jetzt kommst du erst mal mit zu uns nach Hause. So wie du aussiehst, brauchst du dringend Bettruhe! Dein Fieber ist sicherlich auch gestiegen.“ Damit verabschiedeten sie sich von den anderen Rentnerinnen, die selbst mit dem Bus fahren wollten. Grace nahm die Tasche, die Jesse bei sich gehabt hatte und begleitete ihre Enkelin und ihren Retter zum Wagen. Nicht ein Mal protestierte der 23-jährige oder machte Anstalten, abzuhauen. In dem Zustand wäre er auch nirgendwo hingekommen. Auch sah Charity, dass Jesse im Gesicht verletzt war, was wahrscheinlich von der Auseinandersetzung mit seinem Onkel herrührte. Wer wohl zuerst zugeschlagen hatte? „Danke übrigens, dass du Oma gerettet hast.“ „Ich war bloß zufällig in der Nähe“, murmelte er und schaffte es kaum, die Augen offen zu halten. Außerdem begann er zu frieren und so schaltete die Studentin die Wagenheizung an. Langsam und vorsichtig fuhr sie aus der Parklücke heraus und steuerte dann in Richtung Hauptstraße, damit sie schneller zuhause war. Tausende von Fragen schossen ihr durch den Kopf und sie wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Zwar war sie etwas naiv, aber sie war nicht blöd. Diese ganzen Zufälle waren wirklich merkwürdig. Zuerst klaute Jesse ihr die Handtasche, gab sie ihr kurz darauf wortlos zurück und am Abend fand sie ihn sturzbetrunken und verletzt an der Unterführung. Er kehrte nach Hause zurück, sie fand sein verlorenes Handy und erfuhr so, dass er abgehauen war. Und kurz darauf erfuhr sie von ihrer Großmutter, dass er sie vor einem Sturz ins Hafenwasser gerettet hatte. Als ob es wirklich so etwas wie Schicksal war, dass sich ihre Wege gekreuzt hatten. Als sie wieder zuhause waren, nahm Charity die Tasche, während ihre Großmutter die Haustür aufschloss und ihnen Bescheid gab „Ich lasse erst einmal ein Bad ein.“ Da sich Jesse nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte, brachte sie ihn ins Wohnzimmer und ging danach in die Küche, um einen Tee zu kochen. So einen konnte sie jetzt auch ganz gut vertragen und außerdem holte sie aus dem Schrank noch ein paar Medikamente, die gut gegen Fieber halfen. Wichtig war es jetzt, dass Jesse sich schonte und sie das Fieber irgendwie gesenkt bekamen. Dieser Sturz ins Hafenwasser war wirklich das Letzte, was er hätte gebrauchen können, wo er doch eh schon krank war. Und dann auch noch diese Auseinandersetzung mit seinem Onkel… er hatte sich völlig übernommen. Kein Wunder, wenn er jetzt zusammenbrach. Während das Wasser kochte, stellte Charity schon mal Tassen, Besteck, Teebeutel und Zucker auf ein Tablett. Nachdem das Wasser heiß genug war, füllte sie es in eine Thermoskanne, stellte sie ebenfalls dazu und ging damit ins Wohnzimmer. Jesse hatte aus seiner Sporttasche ein T-Shirt geholt und es sich übergestreift und danach wieder in die Decke gewickelt. Er war völlig ausgekühlt und zitterte am ganzen Körper. Vorsichtig stellte Charity das Tablett auf dem Tisch ab und setzte sich zu ihm. „Meine Oma lässt dir erst einmal ein Bad ein, dann geht es dir gleich besser. Hier sind übrigens Tabletten gegen das Fieber.“ Er sagte nichts, sondern starrte ins Leere. Vorsichtig legte sie eine Hand auf seine Stirn und stellte entsetzt fest, dass sie richtig heiß war. Das Fieber war eindeutig gestiegen. Kein Wunder, bei der ganzen Aufregung. Ihr Blick aber ruhte allein auf seiner Verletzung im Gesicht. „Hat dich dein Onkel geschlagen?“ fragte sie nach einigem Zögern und mit besorgter Stimme. Immer noch sagte Jesse nichts, offenbar wollte er nicht mit ihr reden. „Ich war vorhin bei ihm gewesen, weil ich dein Handy hier im Wohnzimmer gefunden hatte und es dir bringen wollte. Hör mal, egal was er dir auch angetan hat, du kannst gerne erst einmal hier bleiben. Soll ich vielleicht die Polizei rufen?“ „Nicht nötig“, entgegnete er mit leiser und tonloser Stimme. „Ist eh nichts Dramatisches gewesen.“ „Und dein Gesicht?“ „Nur eine kleine Auseinandersetzung.“ „Wer schlägt sich denn gleich bei einem Streit? Ich bin zwar ein wenig naiv und gutgläubig, aber ich bin nicht blöd, klar?“ „Was willst du denn überhaupt von mir?“ fragte Jesse gereizt und sah sie verärgert an, doch man sah ihm an, dass seine Aggression lediglich eine Abwehrreaktion war, weil er sie unbedingt auf Abstand halten wollte. Er hatte vor irgendetwas Angst. Auch wenn er sie anschrie, hatte sie Mitgefühl für ihn. „Ich will dir helfen, Jesse. Deine Probleme werden sich nie lösen, wenn du nicht endlich mal Hilfe in Anspruch nimmst, denn ganz offensichtlich schaffst du das nicht alleine und in diesem Zustand schon mal gar nicht. Und dich zu betrinken oder umzubringen wird auch nichts ändern.“ Aber es fiel ihm schwer, sich Schwäche einzugestehen und andere um Hilfe zu bitten. Denn dazu musste er Menschen vertrauen und ihnen seine Probleme offenbaren und das wollte er aus irgendwelchen Gründen nicht. Sie goss sich Tee ein und gab drei Löffel Zucker dazu. Vielleicht half es ihm, wenn sie den ersten Schritt auf ihn zu machte und etwas über sich erzählte. „Der Rosenkranz hier hat früher meiner Mutter gehört. Sie und mein Vater starben, als ich noch ganz klein war und ich wuchs bei Oma auf. Er ist mein Glücksbringer und hat mir immer Kraft gegeben, wenn es mir schlecht ging. Weißt du, in der Schule wurde ich oft ausgelacht, weil ich recht gutgläubig war und mich manchmal auch ausnutzen ließ. Auch weil ich an Gott glaube, machten sie sich lustig über mich. Natürlich war es nicht immer einfach für mich, aber ich habe versucht, alles immer positiv zu sehen und stark zu bleiben, weil sich das auch meine Eltern für mich gewünscht hätten. Und ich bin auch stolz darauf, so wie ich bin. Ich kann gut nachfühlen wie es ist, wenn man keine Eltern hat und weiß, dass es manchmal hart ist, egal wie optimistisch man bleibt. Und ich weiß auch wie es ist, von anderen schikaniert zu werden.“ Der harte und abweisende Gesichtsausdruck wich allmählich in Jesses Augen und er senkte den Blick. In diesem Moment wirkte er furchtbar unglücklich. „Wenn ich dir einen guten Rat geben darf“, sagte er schließlich nach einer kurzen Pause „dann solltest du besser aufhören, dich um mich zu kümmern und mich einfach in Ruhe lassen.“ „Wieso?“ „Weil du nur in dein Unglück rennst, wenn du dich mit mir abgibst.“ „Ach so ein Quatsch!“ „Ich meine es ernst.“ Bevor Charity noch etwas sagen konnte, kam auch schon ihre Großmutter hinzu um Bescheid zu sagen, dass das Bad jetzt fertig sei. Ohne etwas zu sagen, trank Jesse seinen Tee und ging ins Bad, wobei die Studentin ihn begleitete um sicherzugehen, dass er nicht unterwegs zusammenbrach. Gemeinsam gingen sie ins obere Stockwerk und an der Badezimmertür blieb die 22-jährige schließlich stehen. „Ich bringe dir gleich deine Sachen hoch.“ Damit wollte sie gehen, doch da hielt Jesse sie mit einer Frage auf. Und diese klang gar nicht so schroff und abweisend wie zuvor, sondern sie klang so, als würde sie ihn wirklich beschäftigen. „Meintest du das eigentlich ernst, dass wirklich jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat?“ „Natürlich! Wenn man Fehler gemacht hat und sie aufrichtig bereut, hat jeder sie verdient! Und du natürlich auch.“ „Selbst wenn man den Tod eines Menschen verschuldet hat?“ Zuerst hielt Charity es für einen schlechten Witz oder für eine Strategie, damit Jesse sie loswerden konnte. Aber es sah nicht danach aus, als würde er Witze reißen. Er meinte es wirklich ernst. Fassungslos sah sie in seine wunderschönen grasgrünen Augen, die aber nun matt und farblos wirkten. Und sie glaubte auch, in diesem Blick so etwas wie Schuld zu erkennen. „Wie meinst du das?“ „So wie ich gesagt habe“, antwortete er und fand seine kalte und abweisende Art wieder. „Weil ich nämlich meinen kleinen Bruder auf dem Gewissen habe.“ Damit begab er sich ins Badezimmer und ließ Charity vor der Tür stehen. Diese stand wie in Schockstarre verfallen da und konnte nicht glauben, was sie da gehört hatte. Jesse hatte seinen kleinen Bruder umgebracht? Stimmte das wirklich? Irgendwie wollte sie das nicht glauben und konnte sich ihn auch kaum als Mörder vorstellen. Aber da wurde ihr in dem Moment klar, dass sie Jesse überhaupt nicht kannte. Sie wusste kaum etwas über ihn. Nur, dass er der Beste seines Jahrgangs gewesen war, einmal die Schule gewechselt und dann abgebrochen hatte, woraufhin er im Getränkemarkt seines Onkels gearbeitet hatte. Er hatte ein Alkoholproblem, seine allein erziehende Mutter saß im Gefängnis und sein Onkel war ein eiskalter und egoistischer Ausbeuter, der seinen Neffen ausnutzte. Trotzdem wollte sie nicht glauben, dass er einen Menschen getötet haben sollte. Oder war sie wieder zu naiv und wollte die Tatsache einfach nicht glauben? Wie sollte sie darauf bloß reagieren? Auch wenn Jesse immer so kalt und abweisend und ein strikter Einzelgänger war, so war er doch kein schlechter Mensch. Er hätte ihr die Handtasche klauen können, aber er hatte sie ihr wieder zurückgegeben und er hatte ihre Großmutter gerettet. Nein, er war definitiv kein Mörder! Dennoch ging sie mit einem unguten Gefühl in der Magengegend zurück ins Wohnzimmer, wo Jesses Tasche noch lag. Grace hatte es sich in ihrem Sessel bequem gemacht und war mit Strickarbeit beschäftigt. „Alles in Ordnung, Cherry?“ Sollte sie ihr sagen, was Jesse ihr erzählt hatte? Dass er behauptete, ein Mörder zu sein? „Es ist wegen Jesse“, sagte sie nach einigem Zögern und setzte sich aufs Sofa. Sie nahm noch einen Schluck Tee, bevor sie weitersprach. „Er hat mir gesagt, dass er für den Tod seines kleinen Bruders verantwortlich ist.“ Nun unterbrach die Pensionärin ihre Arbeit und sah ihre Enkelin durch ihre Brille an. „Wie meint er das?“ Unsicher zuckte sie mit den Achseln und hielt ihre Tasse fest. „Er hat mich gefragt, ob ich es ernst meinen würde, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient. Und als ich ihm mit ja antwortete, fragte er, ob er sie auch verdient hätte, wenn er für den Tod eines Menschen verantwortlich wäre.“ „Und was hast du ihm geantwortet?“ „Nichts. Ich wusste zuerst nicht, was ich davon halten sollte und dachte, er wollte mich damit bloß wieder loswerden. Dann ist er ins Badezimmer verschwunden. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Hat er seinen Bruder selbst und mit Absicht getötet, oder war es ein Unfall? Oma, was meinst du dazu?“ Die alte Dame dachte nach und legte dabei ihre Stirn in Falten. Mit so etwas wie Mord oder Todesfall scherzte man nicht und was Jesse sagte, klang ernst gemeint. Aber allein die Aussage, dass er für den Tod eines Menschen verantwortlich war, bedeutete noch nicht, dass er ihn auch umgebracht hatte. Wie Charity gesagt hatte, es konnte auch ein Unfall sein und Jesse gab sich lediglich die Schuld dafür. Aber was war, wenn er tatsächlich einen Menschen umgebracht hatte? Solange sie die Hintergründe nicht kannten, war es voreilig, irgendetwas zu tun. Sie kannte diesen Jesse nicht und konnte ihn auch nicht richtig einschätzen. Aber als sie beinahe gestürzt wäre, war er sofort herbeigeeilt und hatte sie gerettet, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Dabei hatte er selbst riskiert, von der Strömung fortgerissen zu werden, da es durchaus lebensgefährlich im Hafenwasser sein konnte. Trotzdem blieb sie skeptisch und hielt es für vernünftig, ruhig und sachlich zu bleiben. Aber sie würde trotzdem ein Auge auf diesen Jesse Wyatt haben. Sicher war sicher. „Warten wir erst einmal ab und reden in Ruhe mit ihm.“ Charity nickte und nach einer Weile stand sie auf und nahm die Tasche mit, in der sich Jesses Kleidung befand. Sie ging die Treppe rauf und blieb vor der Badezimmertür stehen und wollte gerade klopfen, da hörte sie etwas scheppern und fürchtete in dem Moment, dass etwas passiert sein könnte. Sofort öffnete sie die Tür und sah Jesse auf dem Boden liegen. Er hatte sich ein Handtuch um die Hüften gewickelt und schien wohl ausgerutscht zu sein. „Warte, ich helfe dir!“ Sie legte die Tasche beiseite und ergriff einen Arm, um ihn hochzuziehen, doch er schlug ihre Hand weg und rief „Nein, lass mich! Ich kann das alleine.“ Doch es war allzu offensichtlich, dass er es nicht alleine schaffen würde. „Jetzt stell dich mal nicht so an und lass dir endlich mal helfen.“ Da er wegen seines Fiebers kaum Widerstand leisten konnte, ließ er sich widerwillig von ihr hochhelfen und sogleich sah die Studentin, was Jesse vor ihr zu verbergen versucht hatte. Nicht nur, dass er am Körper blaue Flecken hatte, sondern auch alte dunkle Narben. An seiner Brust, am Bauch und auch am Unterleib. Und eine Narbe war besonders lang und zog sich von seinem Unterleib bis über den Bauchnabel entlang. Charity jagte dieser Anblick einen Schauer über den Rücken, aber gleichzeitig hatte sie Schuldgefühle, als sie sah, wie unangenehm es Jesse war, dass sie ihn so sah. „Tut mir Leid“, murmelte sie und senkte den Blick. „Ich… ich wusste nicht…“ Er sagte nichts, sondern setzte sich auf den Rand der Badewanne und ihm war auch keine Gefühlsregung anzusehen. Aber als er sah, dass sie zu weinen anfing, war er verwirrt. „Warum heulst du auf einmal?“ „Na weil…“ Charity wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Weil es mir wehtut, das zu sehen… Wer hat dir das denn angetan?“ Er antwortete nicht auf ihre Frage, sondern wich ihrem Blick aus. Nach einer Weile sagte er schließlich „Was geschehen ist, das ist nun mal geschehen und daran kann man eben nichts ändern. Diese Narben kümmern mich überhaupt nicht. Ich will bloß einfach nicht, dass jeder darüber redet.“ „War das dein Onkel?“ „Nur die blauen Flecken. Er war sauer, weil er die zehn Riesen beim Pferderennen verloren hat und musste Dampf ablassen.“ „Bist du deshalb abgehauen?“ „Nicht direkt. Er wollte mich mit Handschellen ans Heizungsrohr fesseln.“ Er sah die Fassungslosigkeit in Charitys Augen, verstand aber nicht, wieso sie so reagierte. Was interessierte es sie denn, was passiert war und wieso reagierte sie denn so geschockt? Normalerweise bekam er eine ganz andere Reaktion und die hatte er an seiner alten Schule sehr oft zu spüren bekommen. Aber wieso sah sie dann so unglücklich aus? Dabei hatte sie nicht mal so ausgesehen, als er sich über ihre treudoofe Art lustig gemacht hatte. Und wieso redete er überhaupt darüber? Das war ihm noch unbegreiflicher. Diese Situation war ihm mehr als unangenehm, denn er verstand einfach nicht, was mit ihr los war und vor allem nicht, was mit ihm selbst nicht stimmte. „Entschuldige, aber ich würde mich gern anziehen…“ „Oh, entschuldige. Ich… ich gehe dann mal besser.“ Damit ging sie und schloss die Badezimmertür hinter sich. Jesse öffnete seine Sporttasche und während er sich anzog, musste er an ihre Reaktion denken, als er ihr erzählt hatte, was ihm passiert war. Wieso nur weinte sie, wenn es sie doch überhaupt nicht betraf? Jesse versuchte den passenden Begriff dafür zu finden. Das war… Mitgefühl gewesen, oder nicht? Es war so genannte emotionale Empathie, die einen das fühlen ließ, was der andere fühlte. Aber wenn dem so war, dann müsste sie doch auch nichts fühlen können, so wie er. Denn er empfand keine Emotionen oder zumindest nahm er sie nicht wahr. Schon seit er in diesem Zustand war, verkümmerte auch seine kognitive Empathie, also das Nachvollziehen von Emotionen bei anderen Menschen. Natürlich erkannte er, dass jemand traurig oder fröhlich war, aber er konnte oft den Grund oder die Ursache nicht verstehen. Er verstand nicht, wie man über Witze oder über die Missgeschicke anderer lachen konnte, ebenso wenig wieso sich manche so freuten, wenn ihre Lieblingsmannschaft das Pokalfinale gewonnen hatte. Er war unfähig geworden, andere Menschen zu verstehen, weil er sich entschieden hatte, sich von ihnen zu distanzieren. Das war für ihn die beste Lösung gewesen, um nicht immer wieder nur enttäuscht und verletzt zu werden. Wann hatte er eigentlich die Fähigkeit verloren, Menschen zu verstehen? Er konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, ob er überhaupt jemals Emotionen empfunden hatte. Doch, er hatte sie schon mal gehabt und zwar beim Tod seines kleinen Bruders. So viele Jahre war das schon her… All die Jahre hatte er nicht das geringste Problem damit gehabt, doch jetzt kam diese Charity daher und drängte sich mit solch einer Aufdringlichkeit in sein Leben, die ja schon fast an Lächerlichkeit grenzte. Und sie hatte Mitgefühl für seine Situation. Diese naive und gut gelaunte Studentin mit dem Sonnenscheinlächeln im Gesicht und dem kindlichen Glauben an das Gute in Menschen hatte doch tatsächlich seinetwegen geweint. Wie sollte er darauf reagieren? Sollte er weiter versuchen, sie von sich fernzuhalten, oder war es an der Zeit, die Wahrheit zu sagen, selbst auf das Risiko hin, dass sie ihn genauso enttäuschen würde wie all die anderen? Ach was, es konnte ihn doch niemand mehr enttäuschen, weil er sowieso niemandem vertraute und auch rein gar nichts mehr empfand, außer körperlichen Schmerz. Als seine Haare getrocknet waren, schnappte er sich seine Tasche und verließ das Badezimmer. Zuerst überlegte er, ob er nicht die Gelegenheit nutzen sollte, um von hier zu verschwinden, aber diesen Gedanken verwarf er wieder. In dem Zustand kam er ganz sicher nicht weit. Was er jetzt brauchte, war einfach nur Ruhe und Schlaf. Gleich schon am Ende der Treppe tauchte auch schon wieder Charity auf. „Du kannst fürs Erste auf der Couch schlafen. Ruh dich aus und wenn du etwas brauchst, sag einfach Bescheid.“ „Macht euch keine Umstände…“ „Du machst Umstände, wenn du dich weiterhin so sträubst.“ Wortlos ging Jesse ins Wohnzimmer, bekam von Charity eine Decke gereicht und legte sich hin. Das Ganze hier ist doch wie ein Deja-vu, dachte er und erinnerte sich, als er mit einem Kater und einem Blackout hier aufgewacht war. Und jetzt war er schon wieder hier gelandet. Irgendwie war das schon eine gewisse Ironie. Und wie beim ersten Mal hatte er kaum eine Chance, sich zur Wehr zu setzen. Na was soll’s, dachte er. Wenn es mir morgen besser geht, dann verschwinde ich. Ist eh besser, wenn ich schnellstmöglich wieder abhaue, bevor noch ein Unglück geschieht. Die Vorhänge wurden zugezogen, wodurch es dunkel im Wohnzimmer wurde. Jesse hörte, wie Charity leise den Raum verließ, aber kurz darauf waren andere Schritte zu hören. Er hob den Blick und sah Grace. „Ich möchte mich noch einmal bei dir bedanken. Ohne dich hätte es vielleicht ganz anders ausgehen können und ich wäre wahrscheinlich im Krankenhaus oder schlimmstenfalls gar nicht mehr hier. Vielen Dank. Und was dich betrifft, mein Junge: Ich weiß nicht, was genau bei dir zuhause alles passiert ist. Vielleicht willst du eines Tages selbst darüber reden, aber wenn du keinen Ort hast, an den du hingehen kannst, darfst du gerne fürs Erste hier bleiben.“ Sie sah keinerlei Gefühlsregung bei ihm, glaubte aber, dass es vielleicht an seinem angeschlagenen Gesundheitszustand lag. Aber dann, als er sie ansah, erkannte sie die Leere in seinem Blick. „Warum macht ihr das? Ihr kennt mich nicht und es bringt euch keinerlei Vorteile, wenn ihr mich hier aufnehmt.“ „Um es mit deinen Worten auszudrücken: Betrachte es als Wiedergutmachung für meine Rettung.“ Wahrscheinlich hätte er in diesem Moment gelächelt, wenn er wirklich etwas empfunden hätte. Charity gegenüber wäre er ja weiterhin abweisend gewesen, aber er konnte so einen harten Ton doch nicht bei einer alten Dame anschlagen. Und er wusste auch, dass Grace die wichtigste Person in Charitys Leben war. Sie war nicht nur Großmutter, sondern auch Elternersatz und da ihre Enkelin ein klein wenig zu gutgläubig und naiv war, übernahm sie auch die Aufgabe, sie zu beschützen. Was sollte er sagen, ohne der alten Dame zu sehr vor den Kopf zu stoßen? Er überlegte und fand schließlich ein Wort, welches ihm als passend erschien. „Danke.“ Damit ließ Grace ihn allein und wenig später fielen Jesse die Augen zu, woraufhin er in einen tiefen Schlaf fiel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)