It's Majestic von KradNibeid (Quartäre Quartalsgeschichten) ================================================================================ Vergangen ist vergangen ----------------------- Unglücklich betrachtete sich Robert im Spiegel. Man hatte ihn in eine waldgrüne Filzjacke gesteckt, dazu eine reich verzierte Lederhose, passend mit Kniestümpfen und Schuhen. Sein Hemd war an der Knopfleiste mit Blumenstickereien verziert, und ein Filzhut mitsamt Gamsbart thronte auf seinem Kopf und komplettierte seine Tracht. „Babsi, ich sehe lächerlich aus!“, schmollend zog Robert die Mundwinkel nach unten und betrachtete das Spiegelbild der älteren Frau, die in einem schicken Dirndl bekleidet neben ihm stand und ihn freundlich anlächelte. „Du siehst bezaubernd aus, mein Spatz. Und zieh nicht so einen Mund, sonst bleibt dein Gesicht so!“ Lachend niete sie sich neben den Jungen und kitzelte ihn an den Seiten, woraufhin Robert unfreiwillig anfangen musste zu lachen. „Lass das, Babsi! Hey!“ Lachend versuchte Robert, sich gegen den Angriff seines Kindermädchens zu wehren, jedoch vergeblich. Nach einigen Minuten erwies sich die Frau jedoch als gnädig, und entließ Robert wieder in die Freiheit. „Siehst du, mein Spatz, so siehst du viel besser aus. Ein Lächeln ist doch viel schöner als immer so böse zu gucken.“ Liebevoll nahm Babsi Robert auf den Arm, der sich jedoch heftig wehrte. „Lass das, Babsi! Ich bin schön fünf, ich kann alleine Laufen!“ Als Robert schließlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, warf er noch einen letzten, schiefen Blick in den Spiegel. „…und ich sehe trotzdem lächerlich aus.“ „Das siehst du nicht, mein Spatz. Außerdem ist heute die Geburtstagsfeier deines Großvaters – da musst du doch schick aussehen. Und in deiner Tracht siehst du aus wie ein feiner, bayerischer Prinz!“ Bestimmt nahm Babsi Robert an den Schulten und schob ihn in Richtung Tür. „Prinzen müssen aber nicht so ein Zeug tragen, die dürfen anziehen, was sie wollen!“ Widerwillig ließ sich Robert von seinem Kindermädchen in den Gang schieben und nahm dann ihre Hand, als sie in Richtung Speisesaal durch die Flure gingen. „Wenn du meinst, mein Spatz, wenn du meinst. Und jetzt komm, dein Großvater wartet.“ „…und wie schon mein Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater zu sagen pflegte: Die Wahrheit ist nicht das, was du siehst, sondern das, was du nicht siehst!, was sich der Junge wohl auch mal besser zu Herzen genommen hätte!“ Gelächter breitete sich um den Tisch herum aus, und die anwesenden Herrschaften pflichteten dem alten Herren, der am Kopfende des Tisches saß, amüsiert bei. Gelangweilt stocherte Robert in dem Braten herum, der auf seinem Teller lag, und schob das Stück Fleisch vor sich herum. „Iss ordentlich, mein Spatz! Es gehört sich nicht, mit seinem Essen zu spielen“, flüsterte Babsi in Roberts Ohr, während sie ihn freundlich anlächelte. „Aber Wildhase schmeckt mir nicht. Und es ist langweilig hier. Es sind nur alte Leute da, und die erzählen nur langweiliges Zeug. Ich will lieber fernsehen. Gerade kommen die Power Rangers“, maulte der Fünfjährige und stütze demonstrativ sein Kinn auf seine Hände, die Ellenbogen auf dem Tisch. Sofort schob Babsi die Arme des Jungen wieder weg. „Bitte Robert. Die Ellenbogen haben auf dem Tisch nichts zu suchen, das weißt du. Und ich weiß, dass es dir hier nicht gefällt, aber dein Großvater freut sich, dass du da bist. Du weißt nicht mehr, wie lange du ihn noch hast!“ Als das Kindermädchen den trotzigen Blick des Jungen bemerkte, fügte sie außerdem mit einem Schmunzeln hinzu: „Und außerdem musst du erst deinen Teller leer essen, bevor du etwas vom Nachtisch bekommst.“ „Nachtisch gibt es eh erst in einer Ewigkeit“, moserte Robert und streckte Babsi die Zunge heraus, bevor er beleidigt das Fleisch auf seinem Teller in möglichst große Stücke zerschnitt und begann, sie mit möglichst wenig Kauen aufzuessen. Das Kindermädchen neben ihm lächelte milde und strich ihm über den Rücken. „Eines Tages wirst du dich schon daran gewöhnen.“ „…es war ein herzig’s Veilchen!“, schloss Robert das Lied, und die anwesenden Gäste applaudierten ihm. Lächelnd stand der alte Mann am Kopfende des Tisches auf, ging zu dem Jungen und schloss ihn in den Arm. „Danke, mein Junge. Das war wundervoll!“ Liebevoll strich er ihm durch die Haare. „Danke, Großvater“, antwortete Robert etwas verlegen, als auch schon Babsi und seine Eltern zu ihm kamen und ihm zu dem gelungenen Liedvortrag gratulierten. Mit vor Freude roten Ohren lächelte Robert seinen Großvater an. „Ich kann dir ja nächstes Jahr wieder ein Lied vorsingen, Großvater. Ich lerne jetzt bald Alma mia von Haydn!“ Stolz lächelte Robert den alten Mann an, der mit sanften Augen zurücklächelte. „Das würde mich sehr freuen, mein Junge.“ Der Himmel war strahlend blau, und es war viel zu heiß, um in einem schwarzen Anzug in der prallen Sonne zu stehen. Unruhig und schwitzend stand Robert vor seinem Vater auf der Wiese des Friedhofs und beobachtete, wie der mit kunstvollen Schnitzereien und Messingbeschlägen verzierte Sarg in die Kluft innerhalb der Grablege herabgelassen wurde. „Und da ist wirklich Großvater drin?“, flüsterte er unsicher und griff nach der Hand seines Vaters, der ihn traurig anblickte. „Ja, Robert, da ist dein Großvater drin. Aber jetzt musst du leise sein, der Pfarrer möchte noch etwas sagen. Du kannst zu Hause fragen“, flüsterte sein Vater zurück. „Okay“, meinte Robert still und hörte dem Pfarrer dabei zu, wie er einige Worte an die Trauergäste richtete, wobei er das meiste nicht wirklich verstand. Erwachsene redeten meistens so komisch, da war es schwierig, herauszufinden, was sie eigentlich meinten. Nach einer Weile durfte jeder von ihnen zu einer geschmückten Schubkarre gehen und mit einer kleinen Handschaufel Erde auf das Grab kippen, wobei die meisten noch ein paar Worte sagten. Als sein Vater vortrat, nahm Babsi Robert kurz an der Hand. „Warum machen die das, Babsi? Dabei wird doch der ganze Sarg dreckig“, fragte Robert verständnislos und blickte in die tränenfeuchten Augen seines Kindermädchens, das ihn mütterlich anlächelte. „Das stimmt, Robert, aber der Sarg muss eingegraben werden. Und um den letzten Abschied zu nehmen darf jeder dabei ein bisschen mithelfen und seinen Abschiedsgruß sagen“, wisperte Babsi dem Jungen zu. „Ach so“, meinte Robert, als sein Vater vom Grab zurück trat und Babsi mit ihm nach vorne ging. Der Pfarrer blickte ihn bedeutungsschwer an und reichte ihm die Handschaufel, die Robert zögerlich entgegen nahm. Mit Babsis Unterstützung nahm er etwas Erde auf die Schaufel und kippte sie in das Grab, wo der Sarg bereits mit etwas Erde bedeckt war. „Mach’s gut, Großvater. Ich hätte dir gerne noch das neue Lied vorgesungen – du weißt schon, das von Haydn. Schade, dass du vorher gehen musstest“, murmelte er und ging dann wieder zu seinen Eltern zurück, als Babsi unter Tränen ihren letzten Gruß entrichtete. Als er sich zwischen die beiden stellte nahm ihn seine Mutter an die Hand, und nachdem alle Anwesenden Erde auf den Sarg geschüttet hatten, sprachen sie zusammen das Vaterunser. Nachdenklich blickte Robert auf das Notenblatt in seiner Hand, auf das er mit grober, krakeliger Handschrift Für Grosfaters Geburztag geschrieben hatte. Inzwischen war er neunzehn, und seit dem Stimmbruch war für ihn nicht mehr daran zu denken, ein Lied in Sopranlage zu singen. Dennoch hatte er die Noten die ganze Zeit behalten – die Erinnerungen an seinen Großvater, die er damit verband, waren zu kostbar. Zu gerne hätte er es ihm vorgesungen, als er sechs Jahre alt war und sein Großvater siebenundachtzig hätte werden sollen, doch dazu war es nie gekommen. Damals hatte er die Erwachsenen und ihre seltsamen Rituale nicht verstanden, heute war er selbst ein fester Teil dieser Gesellschaft und konnte vieles besser verstehen. Er bedauerte, dass er sich nur so wenige der Geschichten seines Großvaters angehört und sich noch weniger gemerkt hatte. Die Weisheiten des alten Mannes waren ihm durch seinen Vater erhalten geblieben – und heute, wo sein Vater nicht mehr war, trug er sie fort, um sie eines Tages seinen Nachkommen weiterzugeben. Bestimmt heftete er das Notenblatt in seinem Ordner ab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)