1945 von wildfang ================================================================================ Kapitel 1: I - Weiland ---------------------- Kapitel I - Weiland "... Und in seinen Augen leuchtet das Licht und die Forderung der Stunde die keine Sentimentalität mehr kennt. Die alles fordert aber nichts verspricht als Sieg. Auch wenn wir sterben!" Stille lag über dem Land. Das schmutzige grau-weiß des durchweg bedeckten Himmels blutete in das darunterliegende weiß der Schneedecke hinein, nur durchbrochen von den gen Himmel strebenden Nadelbäumen. Der alte Militärtransporter kam zu einem Halt, dunkelgraue Abgasschwaden in die Luft spuckend. Die Beifahrertür öffnete sich, und Ivan trat heraus. Er nahm die bis auf den Filter heruntergerauchte Zigarette aus seinem Mundwinkel und warf sie achtlos in den Schnee, seine Augen den Horizont absuchend. Er zog ein Fernglas aus seiner Manteltasche und nahm es sogleich zu Hilfe - obwohl die Landschaft so karg war, war es anstrengend längere Zeit in das allumgebende Weiß zu starren. Besonders lange verweilte sein Blick um den schmalen Ausläufer des Waldes, der dicht mit Tannen bewachsen war. Sie standen wie Wächter, stumm und dem Schnee stets unnachgiebig. Ivan hatte das Gefühl, genau dort fünig zu werden. Er steckte das Fernglas wieder ein und griff stattdessen nach dem Flachmann in seiner Mantelinnentasche. "Wartet hier." ,sagte er knapp zu zu der Hand voll Soldaten die ihn begleiteten und machte los in Richtung der Bäume. Ivan nahm einen großzügigen Schluck Vodka aus seinem Flachmann als er sich nährte. Er spürte, wie er nervös wurde - eine gewisse Anspannung machte sich in ihm breit, doch es war anders als die Monate, Jahre, die er in Gräben ausgeharrt hatte während ihm Kugeln um die Ohren geflogen waren. Nein ... Ivan entfuhr ein Kichern - es flatterte in seiner Brust, und er spürte deutlich wie sich seine Mundwinkel so weit nach oben zogen wie er es lange nicht mehr erlebt hatte. "Komm' raus, komm' raus ... wo immer du steckst ...", sang er leise, der Schnee unter seinen Füßen das einzige Geräusch weit und breit. Er legte einige Meter zurück, und die Bäume standen nun immer dichter beieinander, wodurch das Gelände zunehmend unübersichtlicher wurde. Doch Ivan blieb unbeirrt - als würde ein innerer Kompass ihn leiten. Und schließlich erblickte er, was er gesucht hatte. An einen Baum gelehnt, im Schnee sitzend. Ein freudig-überraschter Ausruf entfuhr dem Russen - hätte er sich selbst sehen können wäre er wohl verwundert gewesen dass er so strahlen konnte, gerade so kurz nach Beendigung eines Krieges der ihn mehr gekostet hatte als jeden anderen. Und doch konnte Ivan es ganz klar benennen, dieses Gefühl - Freude. Er hatte es schon lange nicht mehr so deutlich gespürt. "Mein kleiner Deutscher ...", kicherte Ivan und setzte hastig zum Sprint durch den kniehohen Schnee an - ein letzter Kraftakt. Er kniete sich, um das leichenblasse Gesicht vor ihm besser begutachten zu können - keine Frage, wer das war. Der Körper war schon großzügig mit Schnee bedeckt - kein Wunder, gemessen an der Zeit die er schon hier sein musste ... Ivan konnte schlichtweg nicht aufhören, zu grinsen - er bemerkte dass er ein wenig zitterte, obwohl er im Moment nicht fror - oder es nicht merkte. Die hellen Wimpern des Deutschen waren mit Frost besetzt, ebenso sein Haar und seine blau schimmernden Lippen. Die Augen geschlossen, sah er aus wie eine friedlich schlafende, gut präservierte Leiche im Eis. Wäre da nicht ... Er machte sich daran, Gilberts Mantel aufzuknöpfen, ebenso die Uniformjacke darunter. Vielleicht hatte er versucht, doch noch zu fliehen, wohin auch immer. Ivan fragte sich geistesabwesend ob Gilbert ihm je erzählen würde, wie lange er noch bei Bewusstsein gewesen war und wie er sich gefühlt hatte - vorrausgesetzt er hätte noch Erinnerungen an '43. Ivan schluckte und staunte nicht schlecht - Gilberts Brust war heil, in einem Stück - wenn auch mit einer riesigen, unförmigen Narbe auf der Mitte-linken Seite versehen die bedeutete, dass der Heilungsprozess nur dürftig von Statten gegangen war. Die Haut schimmerte in einem hellen, verletzlich-wirkenden weiß.  Ein Blick in Gilberts Gesicht konnte nicht recht bestätigen, ob er noch atmete oder nicht - es bildeten sich keine Kondenswölkchen um seinen Mund, doch Ivan meinte zu sehen dass sich sein Brustkorb leicht hebte und senkte. Sachte kniete Ivan sich in den Schnee und beugte sich so weit herunter dass seine Wange ganz nah an Gilberts Mund war. Und da, tatsächlich, fühlte er, wie ein zarter Lufthauch über seine Wange strich. Er atmete noch, nur war die Luft schlichtweg viel zu kalt um nach außen sichtbare Spuren zu zeigen. In Gilberts Lunge musste es folglich ähnlich kalt sein wie in der Umgebung. Es war schlichtweg faszinierend, und Ivan war sich nicht ganz sicher ob je einer von "Ihnen" so etwas schon einmal durchlebt hatte - und danach noch fähig war, davon zu erzählen. Ivan hob seine Augenlider jeweils mit dem Daumen an um in Gilberts Augen zu schauen - die Pupille seines linken Auges war starr und nur Stecknadelgroß, sein rechtes Auge war, wie erwartet, milchig-weiß, vermutlich vollkommen blind. "Ich nehme dich mit nach Hause, moy malen'kiy zaychik.", murmelte Ivan, immer noch lächelnd, ließ sein Augenlid wieder zufallen und knöpfte Gilberts Kleidung die bereits völlig steif vom Dauerfrost war auf. Es würde zu lange dauern, bis Jacke und Mantel völlig trocken wäre. Den wehrlosen, passiven Körper zu entkleiden gestaltete sich langwierig, und Ivan merke deutlich dass es ihn anstrengte den steifen Körper des Deutschen hin- und her zu zerren. Endlich war er bis auf seine Unterhose entkleidet, so griff Ivan in seine Manteltasche und zog eine feingliedrige goldene Kette heraus, mit einem filligranen Anhänger - Hammer und Sichel. Bedächtig legt er die Kette um Gilberts Hals und verschloss sie mit ein wenig Mühe - die Kälte hatte seine Finger bereits taub werden lassen. Sich leicht vorlehnend presste Ivan seine Lippen gegen den Anhänger, und flüsterte; "Ich nehme mich deiner an, Gilbert Beilschmidt." Eine Weile blickte Ivan konzentriert auf Gilberts Gesicht, abwartend ob er eine Veränderung würde feststellen können nachdem er die Worte sagte. Doch nicht einmal eine Wimper des Preußen zitterte als Antwort. Ivan beschloss, für den Moment einfach auf die Wirkung zu vertrauen und warf sich das starre Gewicht des Anderen über seine rechte Schulter und zog schwerem Schrittes mit ihm von dannen. -*- Keiner der Soldaten die Ivan begleiteten wagte es, zu lange auf den fast nackten Körper des Preußen zu schauen. Einer der jüngsten, so vermutete Ivan, hatte ihm wortlos eine Decke aus der Reservenkiste geholt die Ivan eng um die nun recht schmale Form Gilberts schlang. Einen von Motten bereits arg mitgenommenen Mantel hüllte er zusätzlich um ihn, sodass Gilbert, in einen einigermaßen wärmenden Kokon auf Ivans Schoß saß. Der Russe hielt ihn in fest um ihn verschränkten Armen aufrecht, und drückte ihn so eng es ging an sich selbst. Sollte dies alles befremdlich auf Ivans Kameraden wirken, so ließen sie es sich nicht anmerken. Sie unterhielten sich leise und ließen während der Fahrt zurück nach Moskau eine Flasche billigen Fusels zwischen sich hin- und her wandern. Ivan bemerkte, dass einer der Soldaten etwas in der Hand hielt, was unter ihnen für reges Interesse sorgte - der junge Mann erzählte etwas von "Sammlerstück", "verkaufen" und "echt antik". Als er es einem Anderen zum begutachten gab, bestätigte sich Ivans verdacht um was es sich bei dem Objekt handelte. "Sag, Genosse, wo hast du das her?", fragte Ivan leise, aber laut genug dass jeder im Fahrzeug augenblicklich verstummte. Der junge Soldat war verunsichert - er antwortete, zögerlich; "Es ist eine Trophäe." "Ach. Also hast du sie im Kampf gewonnen?", fragte Ivan in seinem gewohnt kindlich-unschuldigen Ton, dem nun allerdings eine stumme Drohung innezuwohnen schien. Der andere kam in stocken - und schwieg. Ivan fuhr unbeirrt fort; "Du hast es gerade eben gefunden, nicht wahr? Im Schnee?" "Ich ... ", begann der junge Mann, wusste aber nicht so recht wie er sich aus der Situation herausreden sollte - oder könnte. "Gib' es mir mal." Ivan streckte ihm seine hand hin, mit der Handfläche nach oben. Der Motor des alten Gefährts dröhnte, der Wind pfiff, doch ansonsten war es totenstill. Die anderen schauten angespannt von Ivan zu dem jungen Soldaten der wohl noch so jung und naiv war, Ivans Forderungen nicht sofort nachzugeben. Der junge schluckte. Und schaute Ivan ins Gesicht, Augen nervös und unbeständig in ihrem Blick. "Ich habe Familie. Ich- ich brauche ..." Augenblicklich schien die Temperatur um weitere -20 Grad zu fallen - Ivan spürte wie ihm ein kalter Schauer überkam der sich um sein Innerstes zu legen schien. Das alte Gefühl der Wut kroch in ihm hoch und ließ seine Stimme zu Eis gefrieren. "Du weisst wohl nicht, was du da gerade versuchst zu tun." Stille. "Entweder du gibst es mir jetzt, oder ich nehme es mir." Der Soldat schien zu beben, immer noch das Eiserne Kreuz umklammernd - einer seiner Kameraden gab ihm einen Stoß mit dem Ellebogen und murmelte etwas, worauf er endlich, zitternd, das Kreuz in Ivans Hand legte. Sofort löste sich die angespannt Atmosphäre wieder, und Ivans Lächeln wurde breiter, wenn auch nicht weniger angsteinflößend. "Kluge Entscheidung.", sprach Ivan besänftigt, mit einem Lächeln. Ivan begutachtete das schwere Abzeichen und erkannte es sofort wieder - es gehörte dem Preußen, kein Zweifel. Er selbst hatte es ihm damals vom Hals gerissen und achtlos in den Schnee geworfen. Er steckte es sich kurzerhand in die eigene Manteltasche, nicht ohne den jungen Soldaten abschließend noch einmal wie beiläufig zu fragen; "Sag', Genosse, wie war nochmal dein Name?" Der junge Soldat hielt inne, und brach in Schweiss aus. Und blieb stumm - er schien zu ahnen, was das bedeutete. "Nun ... ?", Ivan hob eine Augenbraue. "N-Nikolaj." Ivan wartete. " ... P- ... Pokrovskij." Ivan nickte, lächelnd, und merkte sich diesen Namen. Er merkte sich ihn gut. Kapitel 2: II - Heimwärts ------------------------- Kapitel II - Heimwärts Die kaum vorhandene Federung des alten Transporters ließ den Innenraum erbeben. Der Motor dröhnte und jedes neue Schlagloch in der unwegsamen Straße sorgte dafür, dass die Insassen sich gut festhalten mussten, um nicht umher geworfen zu werden, während die notdürftig befestigten Öllampen gefährlich umher schlugen. Nach einigen Stunden Fahrt bekam man jedoch zwangsläufig Routine. Sie hatten bereits den halben Weg zurückgelegt und die Straßenverhältnisse hatten sich gebessert, als der Körper des bewusstlosen Preußen zu zittern begann. Beglückt über dieses so sehr herbei gewünschte Lebenszeichen, zog Ivan ihn noch näher an sich heran und fischte in seiner Manteltasche erneut nach seinem Flachmann. Er braucht etwas, von dem sein Körper zehren kann, dachte Ivan und hielt sogleich in seinen Bewegungen inne. Was, wenn Gilbert gar nicht schlucken konnte? Nachdenklich biss der Russe sich auf die Unterlippe und zog das linke Augenlid des Anderen hoch - seine Pupille war immer noch starr und verengt. Ein unbarmherziger Kniff in die Innenseite von Gilberts Oberarms bestätigte es - Gilbert verfügte momentan über keinerlei Reflexe. Wenn er schon nicht auf Schmerz reagierte, würde er auch weder Schlucken noch Husten können, und jede Flüssigkeit die Ivan ihm einflößte würde wohl höchstens in seine Lungen laufen. Ivan seufzte schwer - es gab keinerlei Anleitungen oder Erfahrungsberichte für diese Situation, und so musste er sich auf sein Bauchgefühl verlassen. Er fuhr mit seiner Zunge über die Innenseite seiner rechten Wange, wo ihm eine schmerzhaft entzündete Wunde schon seit über einer Woche zu schaffen machte und jeden Schluck Vodka zur kleinen Tortur werden ließ. Natürlich trank er trotzdem - oder gerade deswegen - weiter. Doch was, ... wenn ... Ivan zog seinen rechten Handschuh aus und blickte nachdenklich auf Gilberts zitternde, blutleere Lippen hinab. Vorsichtig benetzte er seinen Mittel- und Zeigefinger mit etwas Vodka und führte sie zu Gilberts Lippen. Ein, zwei der anwesenden Soldaten beobachteten das Schauspiel mit latenter Neugier - bis sie sich eines besseren entsannen und verschämt den Blick abwandten. Nachdem der Jüngste von ihnen bereits einen Faux-pas begangen hatte, war keiner der Anderen darauf erpicht, ebenfalls Ivans Unmut auf sich zu ziehen und in sein mentales Register aufgenommen zu werden. Es war nicht sicher, was mit denen passierte, deren Namen er sich "gemerkt" hatte. Der Konsens unter den Soldaten war jedoch, dass es nichts Gutes sein konnte. Ungeachtet der Menschen um ihn herum fuhr Ivan fort und schob Gilbert die Fingerkuppe seines nassen Zeigefingers zwischen die Lippen. Mit der anderen Hand übte Ivan sachte Druck auf Gilberts Unterkiefer aus und brachte ihn dazu, seinen Mund ein Stückchen zu öffnen. Er ertastete sogleich Gilberts Zunge, die kalt und unbeweglich in seinem Mund lag. So könnte er zumindest etwas aufnehmen, ... richtig? Ivan hoffte inständig, dass das, was er hier tat,  irgendeine Wirkung hatte. Er kam sich reichlich merkwürdig vor, dem schlafenden Preußen auf diese Weise Vodka einzuflößen. Er tat dies für eine Weile - benetzte seine Finger mit dem hochprozentigem Alkohol und rieb sie in den Innenraum von Gilberts Mund, stets darauf bedacht, Vorsicht walten zu lassen. Wer wusste schon, wie viel der Preuße mitbekam oder nicht? Ivan ließ seinen Blick über Gilberts Gesicht wandern – er war fasziniert davon, wie verletzlich und schutzlos der Preuße in seinen Armen lag. Das Eis und der Schnee in seinen Haaren waren geschmolzen, sodass die silbergrauen Haare nun klitschnass sein Gesicht umrahmten und feuchte Spuren von Tauwasser über seine Haut liefen. Sie sahen viel dunkler aus als Ivan sie in Erinnerung hatte. Wer wusste schon, ob er den Preußen jemals wieder so sehen würde, von so nahe? Wäre Gilbert bei Bewusstsein und einigermaßen bei Verstand, würde er wahrscheinlich versuchen so viel Distanz zwischen sich selbst und Ivan zu bekommen wie es nur ging. Bei dem Gedanken wurde Russland etwas wehmütig. Gilberts bebende Lippen funkelten in der schummerigen Beleuchtung des Frachtraums mit den Spuren von Vodka. Ein Klos bildete sich in Ivans Hals und er bemerkte, dass sein Herz auf einmal anfing, sehr schnell zu schlagen. Seine Augen weiteten sich. Was … !? Wieso … Er schluckte, versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Ivan war sich selbst nicht sicher, warum er auf einmal so aufgeregt war – er ermahnte sich Ruhe zu bewahren, immerhin war er nicht alleine. Auf einmal hatte die Situation eine ganz neue Bedeutung bekommen, etwas fast anrüchiges. Sein Griff um den zitternden Körper wurde etwas fester. … das liegt nur daran, dass er … nicht bei sich ist. Sobald er bei Sinnen wäre … Ivan verzog sein Gesicht, als hätte er einen bitteren Geschmack im Mund. Nach einem großen Schluck Vodka für sich selbst um den Gedanken zu verjagen, machte Ivan weiter wo er aufgehört hatte, und flößte Gilbert behutsam noch mehr von dem Hochprozentigem ein. Stellenweise befürchtete Ivan, aus Versehen von Gilbert gebissen zu werden, da sich sein Zittern mit der Zeit zu verstärken schien und seine Zähne dementsprechend zu klappern begannen. Er entschied sich, Gilberts vermehrte Muskelkontraktionen als ein positives Zeichen zu deuten. -*- Es dauerte nicht mehr lange und der Wagen kam zum Stehen. Sie hatten ihr Ziel erreicht - das große Anwesen einige Kilometer außerhalb Moskaus, das Ivan mit seinen Schwestern und anderen gelegentlich wechselnden Nationen bewohnte. Zur Zeit war vieles noch nicht geklärt - der Krieg der den Kontinent in Brand gesteckt hatte, hatte längst seine Flammen eingebüßt, und glühte nur noch wie eine Hand voll alter Kohle in einem Kamin. So relativ kurz er gewesen war, so schrecklich zeigten sich nach und nach seine Folgen immer deutlicher. Ivans Schwestern waren bereits in das große Anwesen eingezogen und die anderen Nationen, die von der roten Arme befreit worden waren, fluktuierten zwischen ihren eigenen Hauptstädten und Moskau. Es würde nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch sie permanent hier, bei Russland, ihr zu Hause finden würden. Es überraschte Ivan nicht, Ukraine in der Tür stehen zu sehen, als er aus dem Lader stieg, den bewusstlosen Körper vor sich her tragend. Als er näher kam, erkannte er, dass ihr Gesichtsausdruck von fragend augenblicklich zu finster wechselte, als sie bemerkte, wen genau Ivan da mitbrachte. "Bruder", begrüßte sie ihn steif. Ivan lächelte und legte ein wenig den Kopf schief. "Du dachtest auch er wäre hinüber, oder?" Ukraine schwieg, schaute zu, wie Gilbert zitterte und sonst kein Lebenszeichen von sich gab. Sie antwortete vorsichtig: "Ich weiß nicht so recht, was ich gedacht habe." Sie trat einen Schritt zur Seite, machte ihrem Bruder Platz, der sogleich eintrat. Ivan setzte Gilbert vorsichtig auf dem Boden ab, sodass sein Oberkörper gegen die Wand lehnte. Die Tür schloss hinter ihnen, und Ivan bemerkte in der plötzlichen Stille des Hauses, dass er etwas angestrengt atmete - ein völlig unkooperativer Körper war besonders schwierig zu tragen. Ihn alleine die Treppe hochzubekommen würde nicht einfach werden - er hasste es, seine Schwester in dieser Situation nach Hilfe zu fragen, aber sie war die Einzige, die zur Zeit im Haus war. "Am besten nimmst du die Beine und ich den Oberkörper." Mit einem Blick zu seiner Schwester sah Ivan sofort, dass sein Vorhaben ihr Unbehagen bereitete. Sie reagierte nicht, ließ ihren Blick zu Boden sinken und kaute auf ihrer Unterlippe. "Sofia." Ivan zog rasch seinen Mantel und die Uniformjacke aus und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. "Was ist los?" "Er wird hier bleiben, nicht wahr?", fragte sie tonlos und wusste bereits die Antwort auf ihre Frage. "Ja. Alles weitere wird nach Ende des Kriegs geklärt werden." "..." Sie machte immer noch keine Anstalten, sich zu bewegen - Ivan seufzte leise und trat an seine Schwester heran, strich ihr über ihr Haar. "Ich weiß, dass du verletzt bist. Das sind wir alle", beschwichtigte er sie. "Aber jetzt ... braucht er Hilfe. Siehst du?" Sofia schaute erst Ivan in die Augen, dann folgte sie dem Blick ihres Bruders auf den hellen Schopf des Preußen hinab, der immer noch mitleiderregend auf dem Boden saß und zitterte. "Es wird alles anders. Das verspreche ich dir, Sofia", fügte Ivan sanft hinzu und klemmte eine Strähne ihrer blonden Haare hinter ihr Ohr. Endlich entspannte sich ihr Gesicht etwas und sie nickte stumm. -*- Wie erwartet wurde es ein wahrer Kraftakt, Gilbert in die erste Etage zu befördern. Sie mussten eigentlich nur eine große Treppe hinaufsteigen, dann den Gang hinunter und in eines der leeren Zimmer. Als sie den bewusstlosen Körper auf das Bett sinken ließen, waren sowohl Ivan als auch Sofia dennoch außer Atem. Ivan vermutete, dass es an den andauernden Entbehrungen und Strapazen des Krieges lag, dass sie nun alle mehr oder weniger schlecht belastbar geworden waren. Es war einfach zu viel geschehen auf dem alten Kontinent. Sofia schaute unverwandt auf Gilberts Körper hinab, als sie wieder zu Atem kam. Ivan war klar, dass es seiner Schwester widerstrebte, dem Preußen zu helfen, der mit dafür verantwortlich war, dass sie alle herbe Verluste hinnehmen mussten. Besetzungen, Deportationen, Volksaufstände, die blutig niedergeschlagen wurden - Gilbert würde einen schweren Stand bei den Anderen haben. "Natalia ist noch auf der Jagd?" Sofia nickte stumm und Ivan seufzte vor Erleichterung. Es war schwierig genug nur mit Ukraine diese Situation zu meistern. Würde ihm seine andere Schwester noch zusätzlich am Bein hängen, wäre er wohl endgültig überfordert, keinen Streit ausbrechen zu lassen. Ivan bemerkte, dass Sofia näher an das Bett auf dem Gilbert lag heran trat und eine Hand ausstreckte, um nach etwas an Gilberts Hals zu fischen. Ah, ... natürlich würde sie es bemerken. "Das ist es also. Ich dachte mir doch, dass etwas nicht mit ihm stimmte", murmelte seine Schwester nachdenklich und richtete ihren Blick sogleich vorwurfsvoll auf Ivan. Sofia konnte mindestens so furchteinflößend sein wie ihre Schwester, das wusste Ivan gut - deshalb trat er einen Schritt zurück und ermahnte sich selbst, nun so vorsichtig wie möglich vorzugehen. "Ich habe gründlich darüber nachgedacht. Und im Angesicht der Umstände in denen wir uns befinden ist es unsere einzige Wahl." Ivan schluckte schwer. Die Resignation und Trauer, die sich im Gesicht seiner Schwester spiegelte, schmerzte ihn. "Nicht unsere Wahl. Es ist deine", erwiderte sie mit flacher, tonloser Stimme. "Als hätten wir ein Mitspracherecht!" Sich seiner Schwester langsam nähernd, sprach Ivan mit leiser, behutsamer Stimme auf sie ein: "Sofia, ... die Zukunft steht uns offen! Es ist eine Chance für uns -" "Das sagst du immer, aber du denkst nicht mal eine Sekunde daran, was es für dieses Haus bedeutet!" Ihre Stimme überschlug sich und Ivan fürchtete, sie würde gleich entweder anfangen zu weinen oder ihm eine Ohrfeige verpassen - oder beides. "Gerade ... das ...", sie gestikulierte vage in Richtung von Gilberts Bett, " ... ist doch nur das, was du wolltest ... " Sie verstummte und hielt sich eine zitternde Hand vor den Mund, als hätte sie erst jetzt bemerkt, was sie da gerade gesagt hatte. Ivan beobachtete sie nur, stumm. Es gab nichts, was er nun sagen oder tun könnte, was Sofia beruhigen würde. Jahrzehnte voller kaum gelöster Spannungen und Konflikte lagen hinter ihnen - und auch hinter Natalia. Ihre mehr oder weniger freiwillig geformten neuen Bande waren noch zerbrechlich und kaum belastbar ... Ivan wusste, dass er seine Schwester mit der Wahl, die er getroffen hatte, auf die Probe stellen würde. Ivans Gesicht zeigte keinerlei Regung. Nicht einmal das nonchalante leere Lächeln das er so oft trug zierte das blasse Gesicht. Sofia ließ ihre Hand sinken und ihren Blick unsicher und ziellos über den Boden wandern. " ... du weißt, wie ich das meine." "Ja. Ich weiß, wie du das meinst." Das würde nichts an seiner Entscheidung ändern. Sofia wusste das. Die Stille im Raum wurde zunehmend unangenehmer. "Mach' bitte den Kamin an, ja? Ich muss jetzt weiter", sprach Ivan in einem möglichst neutralen Ton, um Sofia nicht noch weiter aufzuregen. Doch er würde keine Kompromisse in seinem Vorhaben eingehen, nicht einmal für seine Schwestern. Ukraine wäre naiv, etwas anderes von ihm zu erwarten. Etwas wehmütig blickte Ivan ein letztes Mal auf die zitternde Form des Preußen, bevor er sich schweren Herzens wieder in Bewegung setzte. Ukraine machte ein überraschtes Geräusch und streckte ihren Arm zögernd aus, als wolle sie nach Ivans Arm greifen. Als hätte sie sich eines besseren besonnen, hielt sie in der Bewegung inne, und ließ ihren Arm wieder sinken. Ivan blieb stehen, mit dem Rücken zu ihr, und wartete. "... wann kommst du wieder?" Das wohlvertraute Lächeln schlüpfte wieder auf Ivans Gesicht, als wäre es nie fort gewesen. "Wenn das getan ist, was getan werden muss." Sofia legte den Kopf schief. "Wohin gehst du?" Ivan lachte. Er drehte sich um und strahlte seine Schwester an. "Nach Berlin!" Kapitel 3: III - Winter ----------------------- Kapitel III - Winter "Häschen, vor dem Hunde hüte dich, hüte dich. Hat gar einen scharfen Zahn, packt damit mein Häschen an. Häschen lauf, Häschen lauf, Häschen lauf." -*- 1942. Die Welt brennt. Wie viele Höllen hatten die Nationen dieser Erde schon durchlebt? Welche war die schlimmste für Deutschland – Verdun? Die „Knochenmühle“? Sicher, Verdun war ein Wendepunkt gewesen. Mit Verdun war Gilbert endgültig bewusst geworden, wie grundlegend sich die Welt verändert hatte – nein, nicht die Welt. Nicht einmal die Menschen hatten sich wirklich verändert. Es waren vielmehr die geistigen Kinder der Menschheit, ihre Erfindungen. Ihre Maschinen, ihre Technik. Die Menschen waren wie sie immer schon gewesen waren – wankelmütig, unüberlegt, extrem in ihren Gefühlsregungen. Strebsam. Voller Hoffnung, dass die Zukunft immer besser als die Gegenwart sein würde. Es war eher der Aufbruch in eine Epoche, die so vieles Althergebrachte über den Haufen werfen würde, oder es so erscheinen ließ, als hätte sich die Welt grundlegend verändert. Die rasanten Entwicklungen und Erfindungen, mit denen die Menschen selbst kaum noch Schritt halten konnten. Ludwig war noch zu jung, um die Tragweite dieser Veränderung vollkommen zu begreifen – doch Gilbert, der Franzose und der Österreicher, sie hatten alle schon so lange gelebt, dass sie die Zeiten vor Gewehren, Granaten, Senfgas und Mörser noch gut kannten. Sie waren aufgewachsen mit hartem Stahl, mit geschliffenem Stein und kunstvoll geschnitztem Holz. Das Leben war anders, damals – Und genau so das Sterben. Menschen sind zum Material geworden. Sterben die Soldaten an der Front, so werden sogleich neue nachgeschickt, um sie zu ersetzen. Die die nachkamen waten im Schlamm in dem ihre zerfetzten Kameraden liegen, manch armer Teufel mehr lebendig als tot. Der Boden ist zerbombt von Granaten, aufgeweicht vom Regen. Eine Jauche, in der sich abgesprengte Zähne, Knochensplitter, Unrat und anderer Krankheit erregender Dreck zugleich tummeln. Das, all das war Verdun. Doch ein neuer Meilenstein wird sich auf ewig in das Gedächtnis aller brennen, die an diesem Krieg beteiligt waren, die gelitten und gekämpft und gehofft haben. Ein Ereignis, das den Mythos der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht entlarven wird. Eine Schlacht, die der Anfang vom Ende für die Deutschen bedeuten wird. -*- "Die unheilgeschwängerte Nacht zum 19. November 1942 ist hereingebrochen. Stille liegt über dem Land. Nur die Stimme aus Moskau hämmert unermüdlich, monoton. Alle sieben Sekunden stirbt ein deutscher Soldat. Stalingrad: Massengrab!" -*- Es sind einige Monate vergangen. Wir schreiben das Jahr 1943. Der Russe steckt sich das, was er dem Preußen genommen hat, in seine linke Manteltasche. Er beugt sich zu dem nach Luft schnappenden Mann herunter und wischt seine mit Blut besudelte Hand an dessen Uniformjacke ab. Unverwandt blickt er auf das Gesicht des anderen herab, der augenscheinlich mit dem Tode ringt. Das Gesicht des Mannes, der blutend im Schnee liegt, ist kaum wiederzuerkennen. Sein verbliebenes linkes Auge ist weit geöffnet, sein Blick zittert zwischen Horizont und Himmel ziellos hin und her, scheint durch Ivan hindurch zu sehen. Aus seinem Mund dringt unverständliches Gebrabbel, zwischen angestrengten Luftzügen, die zu flach sind, um von Nutzen zu sein. Rotz läuft ihm aus seiner Nase und Tränen aus seinen Augen. Sein silbernes Haar liegt matt und blutnass an seinem Schädel und formt einen schmutzigen, blutroten Kranz. Aus der Wunde in seiner Brust sickert das Blut wie aus einer nicht versiegenden Quelle. Nichts ist übrig von der sonst so stolz dreinblickenden Nation, dem Preußen mit den stechenden roten Augen und dem silberblonden Schopf. Langsam verebbt der blendende Hass, der Ivan zuvor gepackt hatte, der unter seiner Haut zu brennen schien und ihn zum beben gebracht hatte. Es wird wieder leise in seinem Kopf, das durchdringende und wütende Schreien seiner Kinder verstummt. Er reißt sich vom Anblick des Preußen los und entfernt sich ein paar Schritte von ihm, tief und langsam ein- und ausatmend. Ein Gefühl von schmerzender Leere macht sich in Ivans Brust breit. Er kann es nicht verhindern. Obwohl der Preuße und dessen Bruder ihn hintergangen haben und in sein Land eingedrungen waren, obwohl er seine Kinder und seine Soldaten geschlachtet und verbrannt, gehängt und vertrieben hatte - es hätte alles anders kommen können. Doch nun ist es vorbei. Endgültig. Als Ivan das bewusst wird, steigt erneut Wut in ihm hoch. Wut auf Preußen, seinen Bruder, ihren wahnsinnigen Führer, seinen eigenen furchteinflößenden Vorgesetzten. Erinnerungen an vergangene Zeiten, vor über hundert Jahren, suchen ihn heim - der kleine Ritterorden, der ihm keck versprach, ihn eines Tages für sich einzunehmen und zu bekehren, die gemeinsame Schlacht gegen Napoleon mit dem Österreicher ... Seite an Seite auf demselben Schlachtfeld ... Und dann, ein gemeinsamer Sieg. Geteilte, ehrliche Freude und ein flüchtiges Gefühl von Verbundenheit. All das bedeutet nichts. Sein Land ist verwüstet, geleert, ausgehöhlt wie ein fauler Zahn. Russland hatte ganze Landstriche in Flammen gesteckt, nur damit die Deutschen sie nicht für sich nutzen konnten. Vieh getötet, Felder verbrannt. Warum niemand jemals daraus lernte, was es hieß, den Russen auf seinem eigenen Grund und Boden anzugreifen, würde er nie verstehen. Stumm kehrt Ivan um und tritt ein letztes Mal an den Deutschen heran. Er greift nach dem Eisernen Kreuz, das an seinem Kragen prangt, zieht daran bis es abreißt und wirft es im hohen Bogen hinfort. Es bedeutet nun nichts mehr, ist nichts als das Überbleibsel eines Besiegten und bald Toten. Der Deutsche atmet immer noch - Sturkopf, denkt Ivan hämisch. "Dies ist mein Abschied von dir, Preußen", spricht Ivan leise. Er überlegt einen Moment, sucht nach den richtigen Worten. Doch es scheint, als gäbe es sie schlichtweg nicht. Was sagt man zu jemandem, der bald tot sein wird? Jemand, dem man die Gnade ihres Schöpfers nicht ehrlich wünschen kann? Jemand, mit dem man hätte Freundschaft schließen können? "... ich wünschte, es wäre nicht so gekommen", beendet Ivan seinen Gedankengang. Und es ist die Wahrheit. "Nun gehen wir getrennte Wege. Ich ins Leben, du in den Tod. Welcher Weg der bessere ist, das weiß nur Gott." Das ist alles, was es zwischen ihnen noch gibt. Und selbst das ist nicht viel. Ivan steht auf und wandert davon. Er schaut nicht einmal zurück. -*- Der deutsche Soldat humpelt, schwankt und fällt blutend zu Boden. Es macht kaum ein Geräusch, als sein Körper in den Schnee stürzt. Eine Weile bleibt er liegen, während zarte Schneeflocken langsam zu Boden taumeln - dann, unendlich langsam, sammelt er sich und hievt sich hoch. Auf Knien kriechend, erreicht er schließlich eine Tanne, an die er sich lehnt und zusammensackt. Die rechte Hälfte seines Gesichts ist unter dem Blut kaum auszumachen, sein Auge geschwollen und geschlossen. Er ringt nach Luft, die ihm trotz aller Anstrengung verwehrt zu bleiben scheint. Sein verbliebenes Auge starrt in die Leere. -*- Mit jedem Luftzug kriecht die Kälte tiefer in mich hinein. Meine Kehle brennt. Ich will die Augen schließen, doch kann es nicht. Der Schnee fällt weiter, teilnahmslos. Ich höre nichts mehr - da waren einmal Melodien, Stimmen, zu einer Zeit lange vor dem Jetzt. Doch ich kann mich nicht an sie erinnern - meine Gedanken gleiten an ihnen herab, wenn ich versuche, Erinnerungen zu erwecken. Es dauert. Jemand spielt Flöte. Da waren einmal Gesichter. Vertraute. So etwas wie Familie. Ich war einmal ein Königreich. Dann ein Kaiserreich. Dann ... Ein Junge mit Sand in den Haaren und dem Himmel in seinen Augen. Niemand ist da, der mir meine Augen schließen könnte. So bleiben sie offen und schauen, unbewegt, in den Horizont, der sich rot, dann blau, dann schwarz, schwarz, schwarz, schwarz, dann violett, dann rot, dann orange, dann wieder blau färbt. Sterne erscheinen, funkeln und verschwinden, ein Blinzeln aus einer weit entfernten Welt. Die Sonne, eine trübe milchige Scheibe im Himmel, steigt auf und wandert, wandert, wandert, wandert, und versinkt wieder. Der gleiche Himmel, in den ich schon als Kind geblickt hatte, mit denselben durchdringenden, roten Augen. Augen, die meiner Gefolgschaft stets etwas Unbehagen bereitet haben. Als kleiner Junge, ein viel zu schweres Schwert in den kleinen blassen Händen haltend, nur getrieben von dem Wunsch zu Überleben und stark zu werden, stärker und größer ... Vereinzelt erscheinen Tiere - Schneefüchse, Wölfe, Schneehasen. Sie scheinen kaum Notiz von mir zu nehmen, schauen mich flüchtig mit dunklen Augen an und bleiben mir fern. Als ahnten sie, dass das was ich bin nicht eins der ihren ist - etwas wider der Natur. Etwas, das weder leben noch sterben kann. Gefangen zwischen Leben und Tod. Keines von ihnen verharrt, und sie verschwinden mit der gleichen Gleichgültigkeit mit der sie erschienen sind. Verfügte ich über die Fähigkeit zu hoffen oder zu wünschen, dann würde ich darum flehen, dass etwas geschehe mit mir, etwas anderes, als dass die Schneeflocken sich auf meinen Gliedern zu einer immer dicker werdenden Schicht ansammeln. Etwas anderes als die Sonne und der Mond, die meinen Körper abwechselnd mit Licht bescheinen, im Himmel stehen und auf mich herabblicken als würden sie mich beide verhöhnen. Es ist, als ob die Erinnerungen, die ich einmal hatte, wie Murmeln in meinem Kopf liegen, unbewegt und unerreichbar. Manchmal regnet es und das Wasser rollt an meinem Körper herab, trommelt auf meinen leeren Kopf. Selbst er kann nichts in mir erwecken, auch wenn er mich berühren kann. Es ist kalt. Dann ist es wieder warm. Eindrücke dringen an mich, taumeln aber sogleich in die Tiefe in mir herab. Ich kann sie nicht greifen. Da war ein kleiner Junge und dann ein junger Mann, aber ich weiß nicht mehr wie er hieß - ich weiß nur, dass er mein Bruder war. Da war ein Mann, der seine blassblonden Haare im Pferdeschwanz trug. Er brachte mir das Flöte spielen bei. War ich gut darin? War es einfach für mich, es zu lernen, oder widerstrebte es mir? Ich weiß nichts mehr mit Gewissheit. Manchmal bilde ich mir ein, riechen zu können. Die Kälte in der Luft, die in meine Nase dringt, mit jedem Atemzug. Sie riecht klamm, fahl. Verbraucht. Oder bin ich das selbst? Wie riecht ein Körper ohne Leben, der nicht weniger werden kann? Die Wolken wehen, werfen Schatten. Jeder Tag reiht sich hinter den vorigen, ohne dass etwas Nennenswertes passiert. Dies ist mein Fegefeuer. Gefangen in der Gleichgültigkeit der Natur, die beobachtet doch nicht eingreift, gefangen im eigenen Körper, der nunmehr ein leeres zersprungenes Gefäß ist, dem meine Seele in einem Rinnsal zu entfliehen versucht. Doch ich bin gezwungen zu verharren, mein Geist fest verankert in dieser vollkommenen Einöde. Gehört habe ich schon lange nichts mehr, als Jemand in mein Blickfeld tritt. Ich weiß nicht, ob ich erschrecke. Ob ich es noch kann. Erst glaube ich an eine Überlieferung - ist jemand gekommen, um mich zu holen? Instinktiv weiß ich jedoch, dass der Fremde kein Engel ist. Er ist nicht mal fremd. Ich erblicke langes, ergrautes Haar, das ihm im Pferdeschwanz über die Schulter hängt. Ein vertrauter Mund, der mich anlächelt. Ich weiß nicht genau, wer er ist. Doch ich glaube, ich habe ihn mal geliebt. Er spricht - die gedämpften Worte dringen wie durch Watte an meine Ohren, ich verstehe sie nicht. Ein quälendes Gefühl der Hilflosigkeit steigt in mir empor und ich möchte schreien, weinen, doch meine Zunge bleibt trocken und unbewegt in meinem geschlossenen Mund liegen. Er spricht, immer noch - hör auf, hör auf! Ich kann dich nicht verstehen!!, flehe ich und endlich, endlich streckt er seine Hand aus und schließt mit ihr meine Augen, und die Welt um mich herum versinkt in Dunkelheit. Sind das Tränen, die mir heiß über die Wangen laufen? Hier in der Tiefe der Ewigkeit liege ich, kalt und allein, und höre das Rauschen in den Bäumen. Alles verschwindet in Stille. Nichts ist geblieben. Ich habe Ruhe gefunden. ... nein. "Häschen in der Grübe saß und schlief, saß und schlief, armes Häschen bist du krank, dass du nicht mehr hüpfen kannst? Häschen hüpf, Häschen hüpf, Häschen hüpf!" -*- Gilbert wachte auf. -*- Kapitel 4: IV - Verlierer ------------------------- Kapitel IV - Verlierer „Mild und leise wie er lächelt, wie das Auge hold er öffnet – seht ihr’s Freunde? Säht ihr’s nicht? Immer lichter wie er leuchtet, sternumstrahlet hoch sich hebt?“ -Richard Wagner, „Tristan und Isolde“ – 3. Aufzug Der Krug auf dem Tablett klirrte gegen die Porzellanschüssel neben der er stand - ein Klimpern wie ein leises Windspiel. Die schmalen Hände die das Tablett trugen zitterten, aber nicht mehr oder weniger als sonst auch. Lettland ermahnte sich, seinen Blick nach vorne zu richten, dann würde er nicht so schnell stolpern. Ein Geräusch ließ den Letten innehalten – ein leises Stöhnen aus dem Zimmer vor ihm. Lettland schluckte. War ihr Gast etwa … erwacht? Er biss sich konzentriert auf die Unterlippe, schlich so leise es ging Richtung Tür. Behutsam drückte er diese auf, und suchte mit seinem Blick die wohlbekannte Figur, die im Bett lag. Er erblickte den Preußen sofort – sein drahtiger, nunmehr dürrer Oberkörper versuchte, sich von der Matratze zu erheben. Vergebens – seine an den Bettpfosten fixierten Handgelenke hielten ihn an Ort und Stelle. Lettlands Arme begannen unter dem Gewicht des Tabletts zu zittern und das Geschirr darauf klirrte erneut – genug an Geräusch, um die Aufmerksamkeit des Mannes im Bett auf ihn zu lenken. Lettland schaute jedoch schnell gen Boden und trat schwitzend ein, stellte das Tablett schnell auf den kleinen Tisch am Ende des Betts. Draußen sangen die Vögel und die Sonne schien zum Fenster hinein, beleuchtete umher fliegenden Staub sachte, die Situation im Raum völlig missachtend. Vorsichtig hob er seinen Blick wieder. Neugierig war er ja schon, ob die andere Nation nun vollends erwacht war, oder ob es nur ein Fehlalarm war, wie einige Male zuvor. Doch – der Preuße war erwacht. Die schneidende Schärfe seines Blickes ließ keinen Zweifel aufkommen. Er funkelte Lettland stumm mit seinem verbliebenen Auge an – Raivis fragte sich stumm, woher er die Kraft dafür nahm, nachdem er so lange geschlafen hatte. Aber Preußen war … irgendwie anders. Das war nichts Neues. Raivis schluckte nervös und sein Herz fing an zu rasen. Er wollte instinktiv fliehen, doch er verharrte stattdessen starr vor Schreck an Ort und Stelle. Preußens Blick wurde etwas weniger schneidend, als hätte er den Letten nun zu Ende eingeschätzt und beschlossen, dass von ihm keine Gefahr ausginge. Raivis Blick huschte verlegen über den fast vollends entblößten Körper des anderen, und sie verharrten kurz auf der Bandage über seinem rechten Arm, dann auf dem Verband über seiner Brust. „Lettland.“ Augenblicklich zuckte Raivis zusammen beim Klang der Stimme – sie war zwar leise, rau, und Preußen räusperte sich augenblicklich, aber von ihm direkt angesprochen zu werden, brachte Raivis in Verlegenheit. Sofort griff Lettland zum Krug und goss ein Glas Wasser ein. Es war viel passiert … und sie beide hatten gemeinsame Geschichte. Wie fast jeder. Und nun … Raivis zögerte – er schätzte, er konnte Gilbert nun befreien. Doch wie jede Entscheidung, die der in Abwesenheit Russlands treffen musste, bereiteten ihm die möglichen Konsequenzen für den Fall, dass es die falsche war, jetzt bereits Kopfzerbrechen. „Du … wirst dich jetzt nicht mehr kratzen, nehme ich an“, murmelte Raivis und trat an das Bett heran. Seine schweißnassen Finger machten sich schnell daran, die Knoten an Preußens Handgelenken zu lösen. Der Mann im Bett schaute ihn fragend an und Raivis fügte hastig hinzu: „Wir haben das nicht gemacht, nur um dich festzumachen … sondern weil du dir deine Wunde immer wieder aufgekratzt hast.“ Sobald er den anderen befreit hatte, trat Raivis vom Bett zurück. Er fühlte sich peinlich berührt – er ahnte, dass die andere Nation nun … Fragen haben würde. Und das, obwohl sich Raivis am liebsten so schnell wie möglich aus der Affäre gezogen hätte. Wieso hatte er auch gerade heute den Dienst anstelle von Estland oder Litauen … ? Immer noch nicht recht verstehend, blickte der Preuße an sich und seiner bandagierten Brust herunter – er zog seine Arme, die ein wenig zitterten, an sich heran und betrachtete seine Fingernägel. Sie waren verkrustet und beschmutzt mit altem Blut – sein eigenes. Raivis hoffte inständig, dass er sich selbst zusammenreimen könnte, was passiert war. Dankbar für jede Art von Tätigkeit macht er sich daran, dem Preußen das Glas Wasser zu holen. „Ich … kann Königsberg nicht spüren“, sprach Preußen leise. Raivis biss sich auf seine Unterlippe. Preußen schluckte und legte seine zitternde Hand auf seinen Brustkorb. Sein Atem wurde flach, immer schneller und panischer. Seine Augen huschten im Raum herum, als würde er hoffen, die Antwort dort in diesem fremden Zimmer zu finden oder als hoffte er, dies wäre alles ein schlechter Scherz oder ein noch viel schlechterer Traum. Raivis stand mit dem Glas in der Hand, planlos was er nun tun sollte. Es wirkte auf einmal so nichtig, ihm Wasser anzubieten, wo er gerade bemerkt hatte, dass ihm sein Herz fehlte. Die Situation war nun genau zu dem Punkt gekommen, von dem Raivis inständig gehofft hatte, dass er nicht aufkommen würde. Noch bevor er sich eines besseren besinnen konnte, hörte er sich selbst hastig antworten: „S-Sie hatten sich gekratzt, die ganze Zeit, Sie waren nicht richtig wach – deswegen … mussten wir Sie festmachen. Es t-tut mir leid … aber … die Wunde konnte so nicht … heilen …“ Raivis’ Stimme wurde immer kleiner und leiser, und verschwand letzten Endes vollkommen in der Tiefe des Zimmers. Ihm war schlecht. Und er spürte das immer stärker werdende Verlangen, sich umzudrehen und hinauszulaufen – doch wie so oft wenn es darauf ankam, blieben seine Füße wie angewurzelt auf dem Boden stehen und all die Anspannung äußerte sich in einem lächerlichen, bemitleidenswerten Beben das seinen ganzen Körper ergriff. -*- Woher nahm Lettland eigentlich die Dreistigkeit, auszusehen als ob er sich gerne übergeben würde? Wenn hier irgendwer das Recht darauf hätte die Beherrschung zu verlieren, dann war das Gilbert selbst! Sein eingeschränktes Sichtfeld bemerkte er erst nach und nach – die Helligkeit, die an sein heiles Auge drang, überforderte ihn und er stöhnte leise. Er fühlte etwas Weiches über seiner rechten Gesichtshälfte – Bandagen vermutlich. Langsam wurde Gilbert bewusst, wo er war. Was genau passiert war oder gar welches Jahr sie hatten, wusste er jedoch immer noch nicht. Das Letzte, an das er sich erinnerte, waren die Häuserkämpfe in Stalingrad, zermürbende Tage, Wochen, Monate in der Kälte, hungrig, und immer weniger werdend. Eine Welle von Übelkeit kam sogleich über ihn und sein Sichtfeld wurde in Schwarz getaucht. Ein kalter Schauer jagte durch seinen Körper und umklammerte seinen Hinterkopf fest, verblieb dort als ein dumpfer Schmerz. Ihm wurde nach und nach bewusst, wo er sich befand, zumindest auf einem niedrigen Niveau – er spürte etwas Weiches unter seinem Körper. Eine Matratze mit einem Laken darauf. Sein Auge wanderte, versuche aus den unklaren, verwaschenen Farben Sinn heraus zu lesen. Dunkle Wände … eine helle, hohe Decke … Ein Fenster zu seiner linken. Er befand sich in einem Zimmer – eines, welches er nicht kannte, das wusste er instinktiv. „Mein Gott, seit wann siezt du mich?“, murmelte Gilbert und versuchte, nicht in Panik auszubrechen. Etwas fühlte sich … falsch an. Und es dämmerte ihm, was es war. Es fehlte ihm etwas. Etwas Wichtiges. Nicht nur sein rechtes Auge – er wusste nicht, ob das Auge fehlte oder einfach nichts sah – etwas anderes … weitaus wichtigeres … Königsberg war fort. Es fühlte sich an, als wäre ihm ein riesiges Stück aus seiner Brust gerissen worden – er schaute immer wieder ungläubig an sich herab, starrte auf die weißen Bandagen, die ihn umhüllten und nicht so recht zu seiner Wahrnehmung passten – er fühlte sich ausgehöhlt, offen, als könne man durch ihn hindurch sehen. Wie ferngesteuert begann Gilbert, die Bandagen zu entfernen – er wurde immer hektischer dabei, seine Finger wurden immer zittriger und unbeholfener, bis er letzten Endes den dünnen Stoff nach unten riss, weg von seiner Haut. Die Stoffbahnen fielen lautlos in seinen Schoß. Gilbert schwankte zwischen dem Horror, den er befürchtete, und dem verzweifelten Wunsch, dass er sich schlichtweg irrte und ihn bloß ein Hirngespinst aus seinem langen Schlaf verfolgte. Sein Sichtfeld war durch die Bandagen um seine rechte Gesichtshälfte eingeschränkt – Gilberts linkes Auge sah, wenn auch etwas verschwommen. Er erblickte die vernarbte Haut über seiner Brust sofort, registrierte die zarte, rosa Farbe des noch jungen Gewebes. Er schluckte. Die Wunde musste riesig gewesen sein – es sah aus als wäre ihm an der Stelle sein Brustkorb aufgeplatzt oder aufgerissen worden und sei dann halbherzig wieder zusammengewachsen. Er schluckte und zwang seinen Atem wieder ruhiger zu werden – leichter gesagt als getan, denn als die anfängliche Angst wich, brach die Verzweiflung über das was er verloren hatte über ihn hinein. „SCHEISSE!“ Gilbert fluchte und vergrub sein Gesicht in den Händen. Seine rechte Augenhöhle brannte, juckte, und in seiner Brust schien ein Loch zu klaffen, groß und tief wie ein Brunnen. Die zitternden Hände in seinem Schoß ballten sich zu Fäusten, als wollte er die Bandagen die darin lagen zerreißen. ScheißeScheißeScheißeSCHEISSE---- Der Klang einer neuen Stimme riss ihn aus seinen rasenden Gedanken – er hob den Kopf etwas zu schnell, und seine Sicht doppelte sich, er sah jemand Neues vor seinem Bett stehen, oder waren es zwei … ? Blonde Haare … … die Haare … waren … blond … ? Gilbert zuckte jäh zusammen, als ein greller Ton direkt an sein Trommelfell drang, zuerst von links wanderte er in das Innere seines Kopfes, immer lauter werdend. Er konnte nichts mehr hören, nichts mehr sehen, merkte nur, dass er wohl seinen Mund weit aufriss, und dass es auf einmal schwer war, zu atmen. -*- Eduard hielt den schreienden Preußen am Oberarm fest und drückte ihn mit all seiner Kraft ins Bett zurück und bedeutete Raivis mit einem hektischen „Schnell!!“, es ihm gleich zu tun. Gemeinsam schafften sie es, den halbnackten ausgemergelten Mann im Bett zu halten. Es war ihr Glück, dass er noch zu geschwächt war, um ihnen etwas entgegen zu setzen. Seine Schreie wichen einem jämmerlichen Wimmern, bis er jäh verstummte und lediglich zitternd im Bett lag, das Auge weit aufgerissen und an die Decke starrend. Estland schluckte, beruhigte sich langsam. Er konnte sich bereits denken, warum Preußen so außer sich war – er hatte bereits befürchtet, dass die gebeutelte Nation mehr als nur körperliche Schäden von seiner Begegnung mit Russland davon getragen haben würde. „Preußen … ich bin es, Estland.“ Die Nation blinzelte und drehte den Kopf nur widerwillig um mit seinem verbliebenen Auge einen Blick auf Eduard zu erhaschen. Er schien verängstigt, nervös, atmete jedoch erleichtert aus, als er Eduard zu erkennen schien. Hatte er gedacht, er wäre … ? Estland räusperte sich, und ließ von Preußens Arm ab. Er rückte seine Brille zurecht, die ihm etwas zu weit nach unten auf seine Nase gerutscht war. Sie hatten keine Anweisungen von Herrn Russland erhalten, wie sie nun vorgehen sollten – außer ihn unverzüglich zu kontaktieren. „Raivis, du kannst anrufen“, sprach Eduard und sendete Raivis einen bedeutsamen Blick, der ihn ermahnte, die Gelegenheit den Raum zu verlassen bloß zu nutzen. Lettland ließ sich nicht ein weiteres mal auffordern und drehte sich auf dem Absatz um, um aus dem Raum zu huschen. Eduard schloss die Tür hinter ihm leise und zog sich sein etwas zerknittertes Hemd zurecht, stopfte den Saum wieder in seine Hose. Er hatte sich Gedanken über genau diese Situation gemacht, doch nun, da sie Realität geworden war, wusste Estland nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Seine Länder waren von Preußen besetzt gewesen, bis er letztes Jahr von Herrn Russland abgelöst worden war. Sie hatten die Deutschen als Retter empfangen, und die Deutschen hatten die Estländer im Gegenzug bevorzugt behandelt, zumindest im Vergleich zu den anderen baltischen Staaten. Soweit man in einem Krieg dieser Größenordnung von bevorzugter Behandlung überhaupt sprechen konnte. Im großen Bild, das sich nun ergeben hatte, wirkte alles was zuvor gewesen war nichtig. „Welches Jahr?“, sprach Gilbert leise, als hätte er Angst vor der Antwort. Eduard biss sich kurz auf die Unterlippe und antwortete dann: „Wir haben den 6. Mai.“ Angespannte Stille erfüllte den Raum, bis Eduard sie erneut jäh durchbrach. „1945.“ Die andere Nation sah für einen Moment betroffen aus, starrte Eduard mit geweitetem Auge an, als würde er sich fragen, ob er gerade einen Scherz gemacht hatte. Preußen ließ seinen Blick fallen, und schaute stattdessen an die Decke. Er fügte tonlos hinzu: „Die Frage wer gewonnen hat erübrigt sich wohl“, und Eduard fragte sich, wie viel Preußen wohl wirklich vom Ausgang des Krieges wissen wollte. Und wie viel er ihm eigentlich überhaupt erzählen durfte. Bevor die Situation noch angespannter und unangenehmer werden konnte, betrat Lettland erneut den Raum, sichtlich verstört. „ … was ist es?“ Lettland schluckte und fummelte an seiner rechten Uniformtasche herum, die Tasche, in der er üblicherweise seinen Flachmann aufbewahrte, wie Eduard wusste. „Er … er ist bereits … auf dem Weg. Hat Berlin heute M-Morgen verlassen … “ Brachte Raivis unter Mühen hervor und wischte sich sogleich mit zitternder Hand durch sein Gesicht. Eduard bemühte sich, ruhig zu bleiben, und nahm einen tiefen Atemzug. Herr Russland war auf dem Weg nach Hause. Berlin war gefallen. Eine bedingungslose Kapitulation. Er war sich sicher, dass Preußen wusste, wer gemeint war – doch er hütete sich davor, ihn und seine Reaktion auf die Neuigkeit nun allzu gründlich zu beäugen. Sie schienen zurzeit alle in einer ähnlichen Situation zu sein, jedoch wusste Estland, dass es nicht klug war, allzu involviert in die Angelegenheiten anderer Nationen zu werden. Ein Fünkchen seines Mitgefühls gehörte dem Preußen dennoch, insofern als dass sie vor einer für sie nur kurzen Zeit teilweise kollaboriert hatten. Über ein paar gemeinsame Unternehmungen sentimental zu werden wäre jedoch nur wenig produktiv. Es war nicht einmal sicher, ob Preußen noch lange unter ihnen weilen würde. Wer wusste schon von einer Nation, die ohne ihr Herz leben konnte, außer vielleicht Herr Russland selbst? Seine Gedanken waren geordnet wie eh und je. Dies war nur ein weiterer Abschnitt in ihren langen, langen Leben als Nationen. Verkörperungen von dem was war, von viel mehr Teilen als nur einem. Geist und die Erinnerung von Millionen von Menschen die stets hofften und schafften, zerstörten und so oft einen Schritt nach vorne und mehrere zurück taten. Es war eine missliche Lage, doch auch sie würde vorüber gehen. Kein Martyrium würde ewig dauern. Die Deutschen steckten die Welt in Brand, hatten sich im Wahn nur allzu gerne blenden lassen, ein Elan, der sie ins Verderben geführt hatte und ganz Europa mit ihnen. Jetzt würden sie selbst die Asche die sie gesät hatten zu schmecken bekommen. Preußen wohl mehr als sein Bruder – schließlich kannte Estland Russland nur all zu gut. Es war befremdlich, eine einst so starke und nur allzu oft übermäßig laute und kriegerische Nation wie Preußen so zu sehen wie er nun war – schmächtig, lediglich ein Schatten seiner selbst. Die immer schon blasse Haut hatte nun einen Schimmer von Grau inne, eine Farbe wie sie Leichen trugen. Das verbliebene Auge blutgetränkt und stets zitternd, unsicher, suchend ohne zu wissen wonach. Haare wie die Asche, die die Erde seiner Länder bedeckte. Die Farbe zermahlender Knochen. Hände, die zu viele Gelenke zu haben schienen, Finger wie die dürren Äste eines Baumes im Winter. Estland war überzeugt, Preußen würde nicht lange bleiben. Und so riskierte er doch einen Blick auf die andere Nation, die fassungslos im Bett saß, wie erstarrt. „Was bin ich, jetzt?“ fragte er, die Stimme klang fahl und klein. Bald bist du nichts mehr. „Du bist Kriegsgefangener“, antwortete Estland, und es tat ihm fast etwas leid ,so kurz angebunden zu sein. „Wenn du etwas brauchst … Wir werden regelmäßig nach dir schauen.“ Ob diese Worte eine versteckte Anspielung auf mögliche Fluchtversuche waren, … das wusste Estland selbst nicht. Die Vorstellung der Preuße könne versuchen zu fliehen schien absurd. Die andere Nation reagierte nicht und starrte weiterhin in die Leere, Hände zu schlaffen Fäusten in die Bettlaken geballt. Keine Freunde. Keine Feinde. Nur Fremde mit ein paar geteilten Erinnerungen. Eduard merkte kurioserweise wie sich ein Gefühl ähnlich der Übelkeit in seinem Magen breit machte. Er verließ das Zimmer schnellen Schrittes und schloss die Tür hinter sich, schwer atmend. „Eduard? Geht es dir gut?“ Er hob den Kopf und erblickte Toris im Gang, der langsam auf ihn zu kam. Eduard erhob seine Hand und bemerkte sogleich, dass sie zitterte. „Ja … ja, es ist nichts.“ Toris musterte ihn von oben bis unten und durchschaute ihn sofort, sagte aber kein Wort. Es war ein Irrenhaus. Das alles hier. Und der Hausherr würde schon bald wiederkehren. -*- Russland war bester Laune. Nicht nur war das Wetter außerordentlich schön – denn es war warm und sonnig! – sondern auch hatte er den unmissverständlichen Ruf der Nation gehört, auf dessen Erwachen er schon so lange gehofft und gewartet hatte. Er summte eine leise Melodie, während er den Wagen über die holprigen Straßen lenkte. Es war nicht mehr weit. Der Anblick seines Anwesens stimmte ihn noch fröhlicher, und er konnte ein aufgeregtes Kichern nicht ganz unterdrücken als er den Wagen zum stehen brachte und hastig ausstieg. Er zog sich nicht einmal die schweren, dreckigen Stiefel aus, als er ins Haus eilte und die Treppen zu dem Zimmer erklomm, von dem er wusste, dass sich der Preuße darin befand. Seine Gedanken kreisten seit Wochen schon nur um die Frage ob und wann der Preuße endlich erwachen würde – Ivan hatte bereits den Verdacht gehegt, dass es erst soweit sein würde, wenn das Deutsche Reich endgültig zerfallen wäre und sein Führer nicht mehr war. Er hatte es deutlich gespürt, eine Kraft am Rand seines Bewusstseins, die nicht von der Erde hatte weichen wollen. Es war dieses nicht verglühen wollende bisschen Energie gewesen, das Russland damals verleitet hatte, nach Preußen zu suchen. In dem Schnee, in dem er gemeint hatte, ihn getötet zu haben. Es hatte Russland zu ihm geführt, zu dem Körper im Schnee, der weder starb noch lebendig war. Das Schicksal hatte etwas mit ihm vor, und mit Russland – es schien Bestimmung zu sein, dass sie zueinander geführt wurden, als hätte eine unsichtbare Macht die Geschicke der Welt so geleitet. Und nun war es soweit. Berlin lag in Schutt und Asche, die von den Nazis eroberten Gebiete waren längst unter Kontrolle der Alliierten. Ivan hatte sein Herrschaftsgebiet vergrößern können – und zwar bedeutend. Doch es war nicht genug. Er wollte Berlin – doch das wollte der Amerikaner auch. Sein Summen wurde prompt eine Note vehementer und unharmonischer bei dem Gedanken. Toris stand vor der Tür zu dem Zimmer in dem sich der Preuße befand. Es wirkte nicht, als ob er Russland den Weg versperren wollte – er kannte Ivan gut genug, um zu wissen, dass dies wahrlich keine gute Idee sein würde. „Toris!“ Die kleinere Nation wirkte sowohl erleichtert als auch besorgt. „Ah, willkommen zurück“, antwortete er höflich. Ivan tätschelte die braunen Haare des anderen, glücklich über jemanden, der sich zu freuen schien, dass er zurückgekehrt war. Ivan war weder dumm noch ganz so naiv wie es mancher zu wissen glaubte – er wusste, was für eine Wirkung er auf die anderen Nationen unter seinen Fittichen hatte. Aber er würde stets Höflichkeit und Freundlichkeit belohnen, auch wenn sie vielleicht nicht ganz aufrichtig waren. Und Ivan meinte, tatsächlich eine Spur von Aufrichtigkeit in Toris’ grünen Augen zu erkennen. War etwas geschehen? „Ist etwas nicht in Ordnung?“ Toris schien kurz zu überlegen. „Siehst du … er ist wach. Aber es ist wahrscheinlich nicht das, was du dir erhofft hast“, sprach Toris langsam und so vorsichtig wie möglich. Und dann, als müsse er sich zwingen weiter zu sprechen: „Er wird wohl nicht glücklich sein, dich zu sehen.“ Ivans Herz sank in seiner Brust hinab – sein Lächeln war wie weggewischt. Er hatte es befürchtet, sich so manch schlaflose Stunde in den Baracken von links nach rechts im Bett gewälzt und sich den Kopf mürbe gedacht mit Szenarien, die zur Wirklichkeit werden könnten, sobald Preußen erwachen würde. Auf eine gewisse Art war es besser für ihn gewesen als Preußen noch schlief – so konnte er Ivan nicht hassen für das was er getan hatte und all das, was er vielleicht noch tun würde. Würde tun müssen. Wer wusste das schon? Er nickte stumm, und schluckte seine Enttäuschung hinunter. Toris versuchte, zu erklären: „Er hat bereits Eduard für dich gehalten … und er hatte große Angst.“ Ivan lächelte nun wieder, ein wenig traurig. Er hätte es wissen müssen. Auf ein Wunder zu hoffen, das einen reibungslosen Neuanfang garantieren würde, war illusorisch. Doch einen harten Weg gemeinsam zu gehen, konnte noch viel erfüllender sein als würde man alles was man sich erhoffte auf einem Silbertablett serviert bekommen, nicht wahr? Ja – es hatte keinen Zweck, die Möglichkeiten die nicht zur Wirklichkeit werden würden zu betrauern. Er musste es angehen, egal wie widrig die Umstände sein würden. „Ich verstehe. Ich werde es schon irgendwie schaffen“, versicherte Ivan, und atmete tief ein und aus. Ich werde nicht aufgeben, Preußen. Ich mache wieder jemanden aus dir. Das verspreche ich. Wie falsch, wie unglaublich falsch er damit lag. Er öffnete die Tür. -*- Toris knetete seine Hände in seinem Schoß. Er hatte sich auf sein eigenes Zimmer zurückgezogen, unwillig zu viel von der ersten Begegnung der beiden Nationen mitzubekommen. Ivan hoffe zu viel und zu sehr, steckte seine Erwartungen sicher wieder zu hoch. Das war der Grund, warum er immer wieder enttäuscht wurde. Es dauerte nicht lang, bis die Stimme Preußens lauter und lauter wurde. Toris schüttelte den Kopf sachte und griff nach seinem Tee, pustete behutsam über das dampfende Getränk bevor er einen Schluck nahm. Der Schuss Alkohol brannte angenehm in seinem Rachen. Was genau er schrie konnte Littauen nicht ausmachen – es war ihm auch reichlich egal. Er hoffte nur, dass diese Konfrontation mit der Wirklichkeit Ivan nicht in einer zu schlechten Stimmung zurücklassen würde. Denn darunter würden sie alle leiden müssen. Toris verzog das Gesicht. Das war genau der Grund, warum keiner den Preußen wirklich hier haben wollte – er stellte eine kaum vorhersehbare Gefahr für den Haussegen da. Sie alle kannten Ivan und wussten, wie sie ihn und sein Handeln zu nehmen hatten. Doch Preußen war … anders. Die dumpfen Stimmen wurden lauter – Ivan wurde selten laut. Er musste selten laut werden. Er schien gegen die Lautstärke von Preußen ankommen zu müssen, wobei er immer noch ruhiger und kontrollierter wirkte als die andere Nation, die fast schon schrill und zweifellos beleidigend wirkte. Ein kurzer Aufschrei – und es herrschte Stille. Toris nahm noch einen Schluck. Diesmal einen größeren. Der Alkohol brannte stärker. Er hatte es gewusst, seitdem er heute Morgen aufgewacht war – dies würde kein guter Tag werden. -*- Gilbert versuchte sich mit all seiner Kraft die er noch hatte aufzubäumen, doch der eiserne Griff des Russen um seinen Unterkiefer war so stark, dass es schmerzte. Mit der anderen Hand drückte die nicht viel größere aber dafür sehr viel stärkere Nation ihn in die Matratze. Die violetten Augen über ihm funkelten ihn an, dunkel und wütend. Preußens Spucke klebte ihm immer noch quer im Gesicht, wie er mit Genugtuung bemerkte. Es war einfacher gewesen wütend als ängstlich zu sein, auch wenn das Letztere seine erste Reaktion war als der Russe den Raum betreten hatte. Viel hatte der Andere nicht sagen oder tun müssen, um Gilbert auf 180 zu bringen – die Erinnerung an das, was er verloren hatte, und die Aussicht, dass er nicht nur Gilbert annektieren wollte sondern seinen Bruder gleich dazu. Er hasste ihn. Er wollte ihm ein Messer in die Brust rammen, genau wie er es mit dem Preußen gemacht hatte damals, als er ihn wie eine Weihnachtsgans ausgeweidet und zum sterben hatte liegen lassen. Auch wenn er keine Erinnerung an die Geschehnisse hatte, so waren die Schilderungen der Anderen von dem was geschehen sein musste genug, um Gilbert ein Bild davon zu geben, was passiert war. Die hässliche, großflächige Narbe auf seiner Brust, wo einst sein Herz schlug, war Zeuge genug davon. Russland wischte sich über sein Gesicht und presste Gilbert seine eigene Spucke so fest er konnte in sein eigenes. Gilbert gab einen wütenden Laut von sich und strampelte mit den Füßen. Der andere ließ von ihm ab, und Gilbert rang nach Luft. Wenigstens fühlte er sich nicht tot. „Wenn es denn so sein muss,“, sprach Russland leise, fast schon irritierend sanft, „… dann muss es halt so sein.“ Gilbert kniff die Augen zusammen, hustete ein wenig – niemand sollte beim Würgen so starke Hände haben dürfen – und blieb stumm. „Du wirst wissen, wann es soweit ist. Bis dahin … „ Der Russe warf Gilbert ein Lächeln zu, das falscher nicht hätte sein können. „Genieße die russische Gastfreundschaft!“ Kapitel 5: V - Claudere ----------------------- Kapitel V - Claudere claudēre (Latein) - "[1] schließen, verschließen, [2] umzingeln, umschließen, [3] beendigen, beenden -*- “Tiere sind gute Menschen und Menschen böse Tiere.” - „Felidae“, Akif Pirinçci -*1944*- „Du hast ein ungewöhnliches Interesse an ihm.“ Russland versuchte, seine Hände und Finger unter Kontrolle zu behalten. Ansonsten würde er sich andauernd durch die Haare fahren müssen oder an seinem Schal herumspielen. Er ballte die Hände zu Fäusten an seinen Seiten und versuchte ein überzeugendes Lächeln aufzusetzen. „Ich denke, es steht mir zu, ihn zu besitzen.“ Stalin verzog keine Mine. Der Tabak in seiner Pfeife glühte auf als er daran zog. Er stand von seinem Schreibtisch auf und ging in langsamen Schritten auf die Nation zu. Ivan fühlte sich nie wohl, wenn die Aufmerksamkeit seines Oberhauptes vollends auf ihm lastete. Ivan hatte auf einmal Angst – Angst, dass sein Plan nicht aufgehen würde. Dass ihm verwehrt würde, wonach er sich schon so lange sehnte. „Welcher Natur ist dein Interesse?“, fragte er fast schon desinteressiert, während er aus dem großen Fenster auf den schneebedeckten roten Platz blickte.  Die Frage konnte fast beiläufig wirken, wüsste Ivan nicht um die Implikation, die sie in sich barg. Der recht klein gewachsene Mann drehte sich zu Ivan und durchbohrte ihn mit seinem Blick. Ivan fragte sich heimlich, ob die anderen Nationen sich ähnlich fühlten wie er just in diesem Moment, wenn Ivan sie ansah. Das fahle Licht, das durch das Fenster drang, beleuchtete Stalins Gesicht, sodass seine Pockennarben noch mehr zur Geltung kamen als sonst. Ivan wandte seinen Blick ab – er wollte nicht starren. Hitze stieg in sein Gesicht als er verstand, was Stalin da implizierte. Die Abneigungen Stalins den gomosyatin (wie er sie gerne nannte) gegenüber waren kein Geheimnis. Oft genug hatte Ivan mitbekommen, wie er vor allem in der Gegenwart anderer Mitglieder des Staatsapparates lautstark und unmissverständlich klar machte, was er von Männern hielt, die Zuneigung anderen Männern gegenüber empfanden. Hatte Ivan noch lange Zeit gedacht, dass seine menschlichen Führungskräfte verstünden, dass er als Nation und nur quasi-Mensch nicht ganz in ihre Schemen und Ideen von Partnerschaft passte, so verhielt es sich mit Stalin anders. Den genauen Grund dafür konnte Ivan nur erahnen – es kursierten verschiedene Begründungen für die Sanktionen von gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Egal ob es daran lag, dass Homosexualität angeblich ein Zeichen von Faschismus war oder ob er sich steigende Geburtenraten erhoffte – Stalin duldete keine derartigen Verstrickungen, schon gar nicht bei Ivan. Es war nicht so, dass Ivan ihm nicht zu erklären versucht hätte, dass solcherlei Themen unter Nationen einen anderen Stellenwert hatten; dass keine Nation entweder nur eines oder etwas anderes wäre und, dass selbst die Konzepte von „männlich“ und „weiblich“ die die Menschen hatten trotz ihrer äußeren Erscheinung nicht Eins zu Eins auf die Nationen übertragbar waren.  Es war Stalin herzlich egal. Er duldete solcherlei Anwandlungen nicht - in erster Linie aus ideologischen Gründen. Was genau gleichgeschlechtliche Liebe mit dem Faschismus zu tun haben sollte, verstand Ivan dennoch nie so ganz. Menschen verhielten sich fahrig und wechselhaft, wenn es um Dinge wie diese ging. Als wären Arten zu Leben, die nicht ihren eigenen glichen, eine Bedrohung ihrer selbst. Es frustrierte ihn, dass ein Mensch wie Stalin mit seinem Verhalten dafür sorgte, dass er als Nation Unbehagen und Scham empfinden musste. Glücklicherweise verstand Stalin jedoch, dass die Nationen der Ukraine und Weißrussland tatsächlich seine Geschwister waren – eine Art politische polygame Hochzeit war so also ausgeschlossen, zu Ivans Erleichterung. Er hätte es Stalin durchaus zugetraut, etwas Derartiges anzuleiern um Ivan als „ganzen Kerl“ dastehen zu lassen. Die Wirkung nach außen war wichtig in einem Krieg der Systeme, Stalin wurde nie müde dies zur Genüge zu betonen. Ivan ließ sein Lächeln ein wenig breiter werden. „Ein historisches,“ sagte er und lachte leise. Es beruhigte ihn ein wenig, dass sich seine Nervosität nicht in seine Stimme geschlichen hatte. Zumal Stalins merkwürdige Implikation keineswegs mit beiden Füßen in der Realität stand. Ivans Interesse an Preußen war in erster Linie der Wunsch, einen Freund zu gewinnen nach dem er sich immer gesehnt hatte. Ein Freund, der einst schon einmal zum greifen nah gewesen war … doch der ihm dann das Messer in der Rücken gerammt hatte. Ivans Lächeln gefror bei der Erinnerung an den gebrochenen Eisernen Pakt. Es war nicht nur das – vielleicht war es auch der heimliche Wunsch nach Revanche. Wiedergutmachung. Er hatte sich nicht nur einmal ausgemalt was er tun würde, wenn er Preußen in seiner Gewalt, nein, in seiner Obhut hätte …  Sein Lächeln war nun immerhin ehrlich, auch wenn Stalin über den Grund seiner Freude wohl im Unklaren bleiben würde. “Siehst du es nicht ähnlich, Genosse? Ich will ihm helfen, die Fesseln des Faschismus abzustreifen. Damit wir gemeinsam in eine friedliche Zukunft gehen können. Nicht wahr?“ Ivan spürte ehrliche Freude in sich aufkeimen bei dem Gedanken. Stalin schien zufrieden mit dieser Antwort, und sein Blick wurde weniger stechend. Er nickte langsam. „Wer Berlin beherrscht, beherrscht Deutschland. Und wer Deutschland beherrscht, der beherrscht Europa.“ Der Schnee fiel weiter, und der Kamin knisterte wohlig. “Du sollst Preußen haben. Wenn du ihn denn findest.“ Ivan strahlte über das gesamte Gesicht. „Natürlich! Überlasse das nur mir, Tovarishch!“ Etwas schien Stalins Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – er fixierte Ivan, etwas unterhalb seines Gesichtes. In seinen Augen flackerten die Flammen des Kaminfeuers ominös. Die Atmosphäre im Raum schien augenblicklich verändert und Ivan spürte wie sich sein gesamter Körper verkrampfte. Hatte er etwas Falsches gesagt? Bedächtig schritt der kurze Mann vorwärts, und Ivan widerstand seinem Instinkt, der ihn befehligen wollte, bloß rückwärts zu gehen und so viel Distanz zu diesem Mann zu waren wie es nur ging. Ivan schluckte, fühlte wie seine Ohren heiß wurden. Stalin streckte seine Hand aus, und mache Anstalten nach Ivans Schal zu greifen – in diesem Moment setzte Ivans Verstand aus, und ein jämmerliches Geräusch entfloh seinem Hals als er panisch einen Satz zurück machte. Sein Hals … niemand durfte an seinen Hals. Nicht einmal Stalin. Vor allem nicht Stalin. Ivan umklammerte den Stoff mit zitternden Händen, nun von seinem Staatsoberhaupt abgewandt. Er atmete schwer. „Passiert das etwa, wenn du lügst?“, fragte Stalin spöttisch. Ivans Gedanken rasten. Was meinte er? Log Ivan etwa, ohne es zu wissen? Was meinte er? Er keuchte schwer, ein Beben fuhr durch seinen gesamten Körper. Sein Herz, so befürchtete Ivan, würde jeden Moment aus seiner Brust fallen. „Du kannst gehen“, sagte Stalin beiläufig, und fast hätte Ivan es gar nicht bemerkt. Er stahl sich aus dem Zimmer so schnell er konnte, nun vollends aufgelöst. Es scherte ihn nicht mehr, wie bemitleidenswert er wirkte. Bloß weg von hier. Seine Füße trugen ihn ziellos in einen verlassenen Gang, wo er langsam wieder zu Atem kam. Die Angst saß immer noch in seinen Knochen, brachte ihn zum zittern. Vorsichtig zog er den Schal von seinem Hals, fühlte in dem darunterliegenden Verband – er war feucht. Ivan kniff die Augen zusammen, fühlte die Verzweiflung in sich aufsteigen. Nein … nein … bitte nicht … Von den Bemühungen, nicht weinen zu müssen, schmerzte sein gesamter Hals. Es kam nicht von der Wunde, die offensichtlich wieder angefangen hatte zu bluten. Er lehnte an einer Wand, presste seine Handfläche vorsichtig gegen den Verband. Als er seine Hand zurückzog und betrachtete, glänzte sie rot, schwach benetzt mit Wundwasser und seinem Blut. Er spürte wie sich ein Lachen in ihm aufbäumte, und er ließ es spontan aus seinem Mund purzeln. Es klang dissonant, abgehackt. Sein Kiefer zitterte – er schloss den Mund schnell wieder, beunruhigt von diesem jämmerlichen Geräusch, das er da gerade von sich gegeben hatte.  Nein. Das geschah nicht, wenn er log. Das geschah, wenn viele seiner Menschen starben. -*1945*- Wo waren die Deutschen Tugenden geblieben? Der Wille zum Sieg, zur Überlegenheit? Die gestählten Körper und der mutige Blick in eine strahlende Zukunft für das Volk? Ganz sicher nicht hier, im Land des einstigen – oder immer noch? - Feindes. Nicht in diesem Haus, nicht in diesem Zimmer. Gilbert war froh, wenn er es schaffte, den Tag zu überstehen, ohne etwas umzustoßen oder gleich vollends zu Boden zu gehen. Ersteres lag an seinem eingeschränkten Blickfeld, bedingt durch seine anhaltende Blindheit auf dem rechten Auge. Letzteres an seiner anhaltend schlechten körperlichen Verfassung. Er kam nur langsam und mit viel Mühe wieder auf die Beine und musste sich jedes Stück Selbstständigkeit hart erarbeiten.  Als wäre all das nicht schon anstrengend genug, herrschte der Hochsommer in Russland – und in den Breitengraden, in denen sich das Haus des Russen befand, war es unerträglich heiß. Russland war eben nicht nur Sibirien, und deshalb auch nicht immer frostig. Geistesabwesend blickte Gilbert aus dem Fenster seines Zimmers, wie er es so oft tat. Für ihn war es die einzige Art und Weise zu erfahren womit sich die anderen Bewohner des Hauses beschäftigten und wie sie gestimmt waren. Jeder hatte seine Aufgaben zu erledigen, egal ob es darum ging Wasser zu besorgen, die an das Haus angeschlossenen Felder zu bestellen, den Hof zu fegen oder Reparaturen an den Automobilen auszuführen. Etwas zog seine Aufmerksamkeit auf sich – ein hoch gewachsener Mann, der zielstrebig zum Hundezwinger ging, mit zwei großen mit Wasser befüllten Blecheimern. Es war Russland, keine Frage – Gilbert spürte jäh, wie sich ein unangenehmes Gefühl in seiner Brust breit machte, als er ihn erkannte. Es fühlte sich leer an, aber auch als wäre etwas so schweres darin, dass es drohte, ihn zu Boden zu reißen. Die Augen konnte er nicht abwenden, so sehr er es wollte. Die Hunde – allesamt Huskies - reagierten eher lethargisch als sie von ihm Notiz nahmen. Sie hechelten, ihre Zungen hingen ihnen aus den Schnauzen wie nasse Lappen. Selbst der Schatten, den die Bäume spendeten, schien ihnen nur wenig gegen die Hitze zu helfen. Ivan kniete sich vor einen der Hunde hin und begann mit einer Art Schale Wasser über sein Fell zu gießen. Aus der Entfernung konnte Gilbert keine Details erkennen, aber der Hund schien gelinde gesagt erfreut über die Abkühlung. Sofort war die Aufmerksamkeit der anderen Hunde ebenfalls auf Ivan; manche standen auf und trotteten zu ihm in der Hoffnung, ebenfalls abgekühlt zu werden. Es war befremdlich, die andere Nation so zu sehen. Noch nie hatte sich Gilbert ihn in einer Situation wie dieser vorgestellt – etwas so harmloses. Er kümmerte sich um seine Hunde und diese wedelten mit dem Schwanz, kläfften vergnügt.  Gilbert wusste nicht so recht, was er von der Szene dort unten im Hof halten sollte. Immer freudiger und hektischer bewegten sie sich, als Russland dazu überging sie mit dem verbliebenen Wasser großzügig zu übergießen.Natürlich. Hunde lieben ihre Herrchen, egal wer sie sind und was sie tun. Sein Unterkiefer presste sich immer fester in seinen Oberkiefer, bis Gilbert das Knirschen seiner Zähne selbst bemerkte.  Just in diesem Moment stand der Russe auf und schaute, wie beiläufig, zu Gilberts Fenster hinauf. Trotz der Entfernung spürte Gilbert, dass er ihn sofort entdeckte, obwohl er sich versuchte noch rasch wegzudrehen. Gilbert fühlte wie sein Gesicht jäh anfing warm zu werden – die Tatsache, dass er fast über seine eigenen Füße fiel, tat ihr übriges. „Scheisse!“ fluchte Gilbert leise. -*- Ivan konnte nicht behaupten, dass er sich auf das heutige Treffen mit den Alliierten freute. Und dieser Tag würde nur der Anfang für Verhandlungen sein, die sich weiß Gott wie lange hinziehen würden. Er wusste genau, was er wollte. Und er wusste, dass vor allem Amerika ihn nicht würde walten und schalten lassen wie er wollte. Er wusste gut, wer der neue Gegner in diesem Spiel war und er war nicht bereit, sich der neuen angeblichen „Supermacht“ Amerika unterzuordnen. Die Potsdamer Konferenz … Ivan hoffte inständig, aus diesen Verhandlungen erhobenen Hauptes und als wahrer Sieger hervortreten zu können. Mit Gilbert an seiner Seite. Doch zuvor musste er den Preußen präsentabel erscheinen lassen. Gilbert starrte ihn mit großen, fragenden Augen an. Sein Blick wanderte zaghaft auf das Etui in Ivans Hand, dann verwandelte sich sein Gesicht in eine halb ängstliche, halb wütende Maske seiner selbst. „Wenn du glaubst, ich lasse dich damit auch nur einen Schritt näher an mich heran, dann hast du dich geschnitten!“ fauchte Gilbert, einer Katze nicht ganz unähnlich. Er war sich sicher – hätte er gekonnt, so hätte der Preuße nun seine Haare zu berge stehen lassen. Ivans Grinsen wurde noch breiter – machte Gilbert das etwa mit Absicht? Er lachte leise. „Der Einzige, der sich hier geschnitten hat, bist du. Hast du heute schon in den Spiegel geschaut? Du siehst furchtbar aus“ erwiderte Ivan fröhlich, trat unverzagt ins Zimmer hinein und schloss die Tür hinter sich. Gilbert trat augenblicklich ein paar Schritte nach hinten. Als würde das Zimmer ihm gehören – und das tat es ja letztendlich auch – bewegte sich Ivan wie selbstverständlich durch den Raum in das kleine Badezimmer und drehte den Wasserhahn auf. „Also setz' dich hin. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“ Ivan öffnete das Etui und nahm sich die Utensilien heraus, die er benötigte. Sie hatten kein heißes Wasser hier, aber es musste auch so gehen. Luxus war ein Fremdwort in diesem Haus. Mit flinken Bewegungen mischte Ivan den Rasierschaum an. Er selber musste sich nicht allzu oft rasieren, Gilbert jedoch schien einen etwas stärkeren Bartwuchs zu haben – allerdings nur an wenigen Stellen. Selbst wenn er wollte, würde er sich wohl nie einen „richtigen“ Bart stehen lassen können. Es würde am ehesten danach aussehen, als hätte er sich zu lange nicht gewaschen. So wie Gilbert im Moment aussah, würde er ihn nicht mit nach Potsdam nehmen und die besiegte Nation wusste das. Seine Versuche, sich selbst zu rasieren, waren mächtig schief gegangen und er hatte sich mehrere Schnittwunden zugezogen – höchstwahrscheinlich aufgrund seines eingeschränkten Sehvermögens. Seine Bartstoppeln waren an vielen Stellen noch vorhanden – alles in einem sah seine Kinnpartie aus wie ein löchriger dunkler Rasen mit gelegentlichen roten Schnittwunden dazwischen. Er spürte, dass Gilbert sich hinter ihm bewegte, jedoch widerwillig und steif. Angespannt. Ivan wandte sich zu ihm um, etwas ungeduldig. „Ich weiß, dass es dir selber auch unangenehm ist so rumzulaufen. Also?“ Gilbert macht ein Gesicht als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. Er setzte sich endlich auf den kleinen Hocker der vor dem Waschbecken, steif als hätte er einen Stock verschluckt. „Wieso kann es nicht jemand anderes machen?“ fragte Gilbert mürrisch. Ivan lächelte. „Ich glaube, du überschätzt deine Beliebtheit hier maßlos“, erwiderte er ohne zu zögern als er sich zu Gilbert hinunter beugte, um ihm den Schaum ins Gesicht zu pinseln. Der verspannte sich nun noch mehr, schien eine Antwort geben zu wollen, doch er blieb stumm. Was sagt man auch schon darauf? Wenn man weiß, dass man die ganze Welt in den Krieg gestürzt hat, und nun mit den Leidtragenden der Folgen des Schlachtens unter einem Dach wohnen musste? Stille legte sich. Bis auf das leise Geräusch der Klinge, die über Gilberts Haut fuhr, war nichts zu hören. Ivan arbeitete effizient; mit geübten, vorsichtigen Bewegungen ließ er die scharfe Klinge durch den weißen Schaum gleiten, nichts als feuchte und glatte Haut zurücklassend. Er merkte wie sich seine Laune allmählich aufhellte als Gilbert all dies geschehen ließ. Diese Nähe zu Gilbert war etwas seltenes, das die andere Nation immer nur widerwillig zuließ, wenn überhaupt. Und so nah wie jetzt war Ivan ihm nicht mehr gekommen seit dem Tag, an dem er ihn zu sich geholt hatte. Wohlige Gefühle der Nostalgie stiegen in ihm hoch und sein immerwährendes Lächeln wurde ein klein wenig echter.  Gilbert war ihm ausgeliefert, hier und jetzt. Er saß mit gestrecktem Hals, sein blasser Nacken ungeschützt vor der Klinge des Rasiermessers. Auch wenn Gilbert all dies nur tat, weil er keine andere Wahl hatte, erfüllte es Ivan mit einem Gefühl der Genugtuung. So gefiel der Preuße ihm, stur und lebhaft, aber dennoch demütig, wenn es nicht anders ging.  -*- Es brodelte in ihm. Gilbert fühlte, wie sich Schweiß an seinem Nacken bildete, wo seine Haarlinie endete und in blassen Flaum überging. Er hasste den Russen. Er hasste es, ihm ausgeliefert zu sein. Er hasste es, sich von ihm rasieren zu lassen, weil er es selber nicht schaffte ohne sich fast selbst zu skalpieren.  Seiner Position in diesem Haushalt wurde er sich erneut schmerzhaft bewusst, als Russland wie nebenbei fallen ließ, dass hier niemand für ihn einstehen würde, niemand ihn vor dem Kontakt mit Russland bewahren würde. Es schnürte ihm die Kehle zu, und das wahre Ausmaß seiner Schuld, die Dimension des Grauens, das er und Ludwig über die Welt gebracht hatten, war ihm immer noch nur teilweise bewusst. Es gab vieles, was er wusste, und einiges, was er verdrängt hatte. Die momentane Situation in der er sich befand schien ihm zurzeit wichtiger als die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit.  Das ist es. Vergangenheit. Und meine Gegenwart … ist hier. Bei ihm. Er schluckte schwer. Das Messer glitt fast lautlos über seine Haut. Ein Schaudern durchfuhr ihn als erst ein, dann zwei Tropfen kaltes Wasser seinen Hals hinunter liefen. Der Russe schien dies zu bemerken, und lachte kurz. Anstatt ihm das Wasser wegzuwischen, machte er einfach weiter. Arschloch! Gilberts Hände, die eh schon zu Fäusten geballt waren, fingen an zu zittern. Seine Knöchel färbten sich weiß. Könnte er, so hätte er Russland schon längst eine reingehauen, mitten auf seine riesige hässliche und stets leicht rötlich verfärbte Nase. Er ließ ihn zappeln wie einen Wurm am Haken. Alles was er tat war stets mit dem Wunsch verbunden, ihn zu erniedrigen und vorzuführen. Was Gilbert am schlimmsten fand war der belehrende Ton, den er so gerne an den Tag legte, wie ein Lehrer, der ein besonders dummes Kind von oben herab maßregelte. Endlich war er fertig. Um noch einen letzten Fetzen seines Stolzes zu wahren, schnappte er nach dem kleinen Handtuch in Russlands Hand und wischte sich die Reste des Rasierschaums selbst aus dem Gesicht. Wie er Russland einschätzte, hätte er dies gerne selber gemacht. Tja, Pech! Gilbert ignorierte Russland nun, doch er konnte sich ausmalen dass er wahrscheinlich zuerst verdutzt drein schaute und sich dann sein falsches Grinsen sofort wieder über seine Lippen legte. Er wusste, dass die Nation sich diese kleine Geste gut merken würde, und dass er zu einem späteren Zeitpunkt sicherlich dafür zahlen musste. Aber das war ihm in diesem Moment herzlich egal. Wer wusste schon, wie lange es ihn überhaupt noch geben würde? Ein stechendes Gefühl von Verzweiflung breitete sich bei dem Gedanken in seiner Brust aus. Gilbert schluckte erneut, fühlte sich als bekäme er kaum mehr Luft. „In einer Stunde werden wir abgeholt. Bis dahin ziehst du die Kleidung an, die ich für dich rausgelegt habe“, sprach Russland bedächtig und trat um Gilbert herum. Gilbert wischte weiterhin über sein Gesicht, auch wenn es längst sauber war. Er hoffte, seine Finger zitterten nicht. Auf einmal zog etwas an Gilberts Kinn und riss sein Gesicht zur Seite. Es geschah so schnell, dass ihm schwindelig wurde. Er spürte Russlands Atem an seinem Ohr und seine Finger um sein Kinn, die schmerzhaft zudrückten. Gilbert entfuhr ein Schmerzenslaut, der in dem kleinen ansonsten stillen Raum widerzuhallen schien. „Du wirst nicht sterben, Preußen. Was einmal Russland gehört, bleibt bei Russland. Ob du willst oder nicht.“ Seine Worte klangen nicht wie ein Versprechen, sondern mehr wie eine Drohung. Und so schnell wie er ihn umfangen hatte, war Russlands Hand um seinen Unterkiefer auch wieder verschwunden, und mit ihm auch die andere Nation. Die Tür zu Gilberts Zimmer fiel hinter ihm ins Schloss. Gilbert saß auf seinem Hocker, vor Wut zitternd. Er schmiss das Handtuch in die Ecke, wutentbrannt. Kapitel 6: V.V - Bonus: Winterschlaf ------------------------------------ Winterschlaf Es war kalt. Nicht nur draußen, sondern auch drinnen. Zu den seltenen Gelegenheiten zu denen sich die Sonne zeigte war es etwas erträglicher – das Sonnenlicht allein konnte Gilbert jedoch nie vollends aufwärmen, und das Feuerholz wurde streng rationiert. Wichtiger als es nur zum Heizen zu benutzen war es, tagsüber Wasser abzukochen damit sie es trinken konnten. Generell wurde auch nur dort geheizt wo man sich tagsüber aufhielt. Ab und zu. In einem einzigen Raum, den sie sich teilen mussten – falls sie überhaupt je mehr als nur einen Augenblick zum Verschnaufen hatten, was selten vorkam. Der dürftige Zustand in dem sich das in die Jahre gekommene Haus befand, mit den Rissen in der Fassade und Löchern im Dachboden, tat sein übriges. Gilbert fror ständig. Es war schon eine gefühlte Ewigkeit her, dass er sich nicht kalt gefühlt hatte. Irgendwann im Sommer musste er wohl nicht gefroren haben, das gebar allein schon die Logik. Doch es schien ihm so als hätte er seit Herbstanfang nicht mehr aufgehört zu zittern.  Die kalte Jahreszeit hatte alles mit einem bleiernen, grauen Schleier überzogen. Umringt von fast nur Nadelhölzern hatte nicht einmal der Herbst den direkten Umkreis des Hauses in seine so typischen, vielfältigen Farben getaucht. Es war schlichtweg kalt, ungemütlich und irgendwie dreckig draußen geworden. Der Schnee der schon Anfang Dezember fiel versteckte all dies zwar, doch brachte er auch diese von Gilbert so gehasste Kälte mit sich. Es gab einen guten Grund, warum er das schöne, warme Italien stets so gemocht hatte. Dabei hatte der Winter gerade erst begonnen! „Du hast noch drei volle Monate vor dir. Es wäre gut, wenn du lernen würdest dich damit zu arrangieren“, hatte Russland milde lächelnd zu ihm gesprochen, und ihm eine alte, rostige Schaufel zum Schnee schippen in die Hand gedrückt. An und für sich wäre es eine gute Idee, durch Bewegung selbst die gewünschte Wärme zu erzeugen – in der Theorie. Doch mit Gilberts stark reduzierter Leistungsfähigkeit wenn es um körperliche Arbeit ging, waren Russlands Aufträge gelinde gesagt eine Vorstufe zur Folter. Doch Gilbert wusste es besser, als dass er seine Situation mit der von deutschen Soldaten in den Gulags vergleichen würde. Zu einem gewissen Grad sah er den Sinn in den Arbeiten – jeder im Haus hatte seine Aufgaben und war angehalten, diese so gut er konnte zu erfüllen. Die Frauen mussten genau so arbeiten wie die Männer, und zwar so viel und so gut wie es ihnen ihre Möglichkeiten erlaubten. Doch so wie Gilberts Arme mit jeder Schippe voll Schnee die er zur Seite hob schwerer wurden desto verbitterter und missmutiger wurde er. Seine Lunge schmerze, strahlte einen hellen, stechenden Schmerz in seine Seiten. Gilbert keuchte und hielt inne, versuchte wieder zu Atem zu kommen. Er fühlte sich, als wäre jeder Atemzug nur noch oberflächlich, als würde er seine Lunge nur zu einem winzig kleinen Teil tatsächlich mit Luft füllen können. Sein Blickfeld flackerte, wurde schwarz und ein Klingeln zog durch seinen Kopf, füllte seine Ohren wie es schien komplett aus. Ahh … scheisse. Nicht jetzt!  „ … sten. Osten?“ Gilbert blinzelte. Blinzelte noch einmal. Hatte ihn jemand gerufen? „Osten … du kannst rein gehen. Ich mache weiter.“ Gilbert schluckte. Als sein Blick sich allmählich klärte, hob er seinen Kopf vorsichtig und blickte in Litauens Gesicht. Er sah keine Anteilnahme, kein Mitleid darin. Der Blick des anderen war neutral. Und, Gilbert war sich fast sicher, ein wenig angesäuert. Er nickte stumm, übergab dem anderen seine Schaufel und machte sich auf den Weg zurück ins Haus. Gilbert war sich dessen bewusst, dass es die anderen massiv störte, dass er praktisch ein Invalider war, jemand auf den zwangsweise im Alltag Rücksicht genommen werden musste. Er verursachte mehr Arbeit als er erbringen konnte, er war eine Last für die Gemeinschaft in die er von Anfang an nicht hinein passte. Die einzigen Aufgaben, die er erledigen könnte, wären andere als die, die ihm zur Verfügung standen. Er war immer noch in einem Zwischenzustand – nicht souverän, nicht selbstverwaltet. Gilbert war der Osten, und sonst nichts. Das Gegenstück zu seinem Bruder, der der sich in Ivans Gewalt befand. Einer von zweien. Was ihn definierte war nicht er selbst, sondern die Tatsache, dass er nicht der andere war. Er knirschte mit den Zähnen als er sich so gut es ging den Schnee von den Stiefeln klopfte. Es strengte ihn an und die Tatsache, dass es ihn anstrengte, macht ihn noch mürrischer. Unbeobachtet von Gilbert blickte Russland gedankenverloren aus seinem Fenster im ersten Stock, folge Gilberts Silhouette wie sie sich gegen den weißen Hintergrund bewegte. Er seufzte und schloss die Akte die vor ihm lag. -*- Der 24. und die darauf folgenden Weihnachtsfeiertage kamen und gingen ohne dass irgendwer groß davon Notiz nahm. Weihnachten zu feiern so wie es Tradition war, war unter der Sowjetherrschaft verpönt. Die Kirchen waren weitgehend ihres Einflusses beraubt, auch wenn sich seit dem Eingreifen Russlands in den Krieg vieles getan hatte. Kirchen waren inzwischen wieder geduldet, auch wenn ihre Freiheiten deutlich begrenzt waren und sie unter strenger Überwachung durch den Staatsapparat standen. In Russlands Haus wurden die Weihnachtstage behandelt wie jeder andere Tag auch; als Arbeitstag. Wie die anderen Bewohner darüber dachten konnte Gilbert nur erahnen. In der darauf folgenden Zeit jedoch begann sich eine gewisse Geschäftigkeit im Hause breit zu machen. Es wurde auch tatsächlich noch eine Tanne heran geschafft, transportiert auf einem Schlitten. Es war der Neujahrsbaum, wie Gilbert erfuhr, und ersetzte im gewissen Maße das nicht länger geduldete Weihnachtsfest im klassischen Sinne. Es war ein bisschen so, als hätten sich die verbotenen Bräuche in neuer Gestalt zu einem geduldeten Fest wiedergefunden. Das Christkind war das Neujahrskind, und die Geschenke brachte Väterchen Frost. Für besonders sentimental hatte sich Gilbert nie gehalten, doch es versöhnte ihn etwas mit seiner Situation als er merkte, dass es nun zum Jahresende doch noch so etwas wie ein Fest geben würde. Weißrussland und Lettland bereiteten verschiedene Speisen zu, die Gilbert nicht vertraut waren. Ukraine und die anderen schmückten den Baum mit Holzfiguren und bunt bemalten Kugeln. Gilbert selbst machte sich nützlich, indem er einer nicht besonders anstrengenden aber dafür umso monotoneren Arbeit nachging; Socken stopfen. Es fühlte sich jedoch nie so wirklich heimelig an. Gilbert versuchte, nicht allzu sehr an Ludwig und Roderich zu denken und wie sie einst gepflegt hatten, Weihnachten „mit der Familie“ zu feiern, mit köstlichem Essen und wohlbekannter Musik vom Klavier. Als der Rest der Bewohner später am Nachmittag nach draußen ging, um eine Schneeballschlacht zu veranstalten, hatte Gilbert zunächst vorgehabt, drinnen zu bleiben. Beim Gedanken an eine Konfrontation mit den anderen, auch wenn sie noch so spielerisch sei, wurde ihm mulmig. Russland hatte jedoch darauf bestanden, dass er mit kam, und zwängte sich ihm auch prompt als „Beschützer“ auf. Gilbert hatte ein Gesicht gezogen als hätte er in eine Zitrone gebissen. Letztendlich hatte er die Schneeballschlacht überstanden – es war erstaunlich, wie gelöst alle im Laufe des Spiels wurden, als würde eine schwere Last von ihnen genommen. Am Anfang noch unbeholfen und verkrampft flogen die Schneebälle immer großzügiger und zielgerichteter, es wurde gelacht und geschrien und für eine Weile vergaß Gilbert fast wo und bei wem er war. Seine Befürchtungen, die anderen würden ihn ganz besonders hart in die Mangel nehmen wurden nicht bestätigt – obwohl Gilbert den Gedanken nicht abschütteln konnte, dass dies vor allem an der Präsenz Russlands lag. Er hatte das Gefühl, er würde weniger oft getroffen als andere, und das hatte nichts mit seiner eher begrenzten Wendigkeit im Schnee zu tun.  Gilbert versuchte jedoch, den Gedanken beiseite zu schieben und wenigstens einen schönen Tag zu haben. Wenigstens einen Tag, seitdem ich hier bin … Wer weiß, was noch kommen wird?  -*- Das Abendessen war für ihre Verhältnisse üppig – es gab Borschtsch, Pelmeni und Blini. Der Gewürztee, versetzt mit reichlich Schnaps, spendete wenigstens von innen Wärme und jemand hatte eine Schallplatte mit alten russischen Volksliedern aufgelegt. Die Stimmung war gelassen, sofern Gilbert es beurteilen konnte. Nur sehr selten wurden nervöse Blicke in Richtung Russland geworfen, und die große Nation wirkte friedlich und nachsichtig. Gilbert gefiel, dass Russland ihn für heute in Ruhe zu lassen schien. Keine versteckten Ermahnungen kamen von ihm, keine Belehrungen und keine Sticheleien. Gilbert genoss das vorzügliche Essen und erlaubte sich sogar ein wenig Alkohol zu trinken, obwohl er sich sicher war, in seinem jetzigen Zustand so gut wie nichts davon zu vertragen. Als sie um Mitternacht das Haus verließen, konnten sie aus der Ferne vereinzelt Feuerwerk ausmachen, das die Nacht erleuchtete. Es war nicht besonders viel; die Menschen hatten offensichtlich andere Sorgen als Geld beiseite zu legen, um Feuerwerk zu kaufen. Aber es reichte, um ein gewisses Gefühl von Feierlichkeit zu verbreiten. Gilbert ließ seinen Blick schweifen, und seine Augen verharrten auf der großen Silhouette von Russland, die nicht weit neben ihm stand. Russland schaute in die Richtung der großen Stadt, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen und funkelnden Augen. Das blaue, fahle Licht des entfernten Feuerwerks erlosch und sie waren wieder in fast komplette Dunkelheit gehüllt. Gilbert stutzte – er hatte das Gefühl, zum ersten Mal seitdem er hier war, hätte er einen kurzen Augenblick das wahre Russland gesehen … etwas Authentisches. Nicht aus Berechnung oder Kalkül.  Erneut erleuchteten zwei kleinere Raketen den Himmel. Russland hatte sich nun zu ihm gedreht – Gilbert stockte der Atem als er realisierte, dass Russland ihn anlächelte. Er konnte nur darüber mutmaßen, was für einen Gesichtsausdruck er trug, aber Russlands Lachen nach zu urteilen, ließ es ihn nicht all zu souverän erscheinen. Er fühlte wie seine Wangen warm wurden. Was … was soll das … !? Das neue Jahr hielt Einzug, und der Rauch wurde jäh vom kalten Wind hinfort getragen, um den Blick auf die Sterne dahinter freizugeben.  Vielleicht … vielleicht würde das neue Jahr etwas Besseres bringen als das vorherige. Gilbert konnte nur hoffen. -*- Es war mitten in der Nacht, und Gilbert fror wie er es noch nie zuvor getan hatte. So fühlte es sich jedenfalls an. Ein Gefühl als würde das Blut in seinem Körper stillstehen anstatt zu zirkulieren. Er lag im Bett, eingewickelt in eine Daunendecke und eine Wolldecke darüber, und er zitterte trotzdem am ganzen Leib.  Ja … das neue Jahr fängt ja wirklich ganz reizend an … Seine Zehen und Finger fühlten sich bereits komplett taub an, sie kribbelten nicht einmal mehr. Wie lange er schon wach lag, wagte Gilbert nicht zu beurteilen. Er grunzte frustriert und rollte im Bett hin und her, in seiner riesigen Rolle bestehend aus zwei Decken.  Es hatte keinen Sinn. So würde er niemals Schlaf finden. Ohne einen konkreten Plan was er nun tun sollte, schälte sich Gilbert aus seinen Decken. Wie erwartet, traf ihn die ganze Kälte des Zimmers nun ungeschützt. Vielleicht konnte er irgendwo noch eine weitere Decke holen … Die Kälte schien ihm direkt durch seine in Wollsocken gehüllten Füße zu kriechen. Gilbert fluchte leise, und trat aus seinem Zimmer in den Flur. Sogleich erblickte er, dass unter dem Türschlitz von Russlands Zimmer noch Licht schien. Die alten Holzdielen knarrten verdächtig trotz seiner vorsichtigen Schritte als er versuche, sich unbemerkt an dem Zimmer der anderen Nation vorbei zu stehlen. „Osten? Bist du das?“, erklang seine Stimme prompt von hinter der Tür als Gilbert versuchte, sie unbemerkt zu passieren. Verdammt!Ihm blieb auch wirklich nichts erspart! Gilbert seufzte, wissend, dass es keinen Sinn hatte, Russland zu ignorieren. Er schluckte, und drückte die Türklinke hinunter um einzutreten. Die Öllampe brannte auf Ivans Nachttisch und tauchte das Zimmer in ein trügerisch warmes Licht. Dabei war es hier nicht wärmer als bei ihm selbst. Russland lag im Bett, ein paar Kissen hinter seinem Oberkörper, anscheinend um im Bett lesen zu können. Er legte das Buch von seinem Schoß auf den kleinen Tisch neben seinem Bett. Etwas unbeholfen wartete Gilbert an der Tür, und fragte sich, was zur Hölle der Russe nun von ihm wollte. Er war es gewohnt, dass die andere Nation ihn oft auf dem Flur abfangen würde, um ihm eine Hausarbeit aufzuerlegen oder um ihn schlichtweg ein wenig zu piesacken – es schien eine Tätigkeit zu sein, die dem Russen überaus große Freude bereitete, vor allem wenn Gilbert adäquat und wie gewünscht reagierte. Das bedeutete im Endeffekt; je größer die Reaktion war, die Russlands Worte in ihm hervorrief, desto zufriedener war er. Sehr zum Leidwesen Gilberts, dem es partout nicht gelang, seine Ruhe zu bewahren, auch wenn er um Russlands Taktiken wusste. „Komm’ her“, sprach Russland, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, einen anderen Mann nur in Schlafkleidung in sein Zimmer zu bitten. Zögernd trat Gilbert näher, und sein Mundwinkel verzog sich mit jedem Schritt weiter nach unten. Russland lachte, als er in Gilberts Gesicht blickte. Schon wieder!! Hat der vielleicht Nerven!  „Osten … dir ist kalt, nicht wahr?“ „Wow. Hundert Punkte für dich!“ spottete Gilbert. „Ich hatte eine Weile schon das Gefühl, dass du nicht genug schläfst. Liege ich da richtig?“  Gilbert lachte trocken. „Und?“ Russland musterte ihn einen Augenblick, und schlug dann seine Bettdecke zurück. Gilbert schaute einen Augenblick verdutzt drein, bevor er bemerkte, was die andere Nation ihm zeigen wollte. Auf Russlands Torso lag eine Art großer Sack aus handgestrickter Wolle – zuerst verstand Gilbert nicht was das ganze sollte, doch dann wurde es ihm schlagartig klar … Das ganze war eine Art Umschlag für eine Wärmflasche. Augenblicklich erinnerte sich Gilbert an Ukraines Strickarbeiten der letzten Wochen – sie hatte dieses Teil wohl Russland zum Geschenk gemacht. Der Bastard … hatte eine Wärmflasche. Eine Wärmflasche!! „ … und nun? Du hast mich neidisch gemacht, gute Arbeit“ grummelte Gilbert, sein Gewicht vom einen Fuß auf den anderen verlagernd, Arme eng um seinen Oberkörper geschlungen. Es wurde mit jedem Augenblick kälter und unangenehmer und wäre es nicht schon anstrengend genug, bei dieser Kälte auszuharren, hätte er bestimmt noch die Energie aufbringen können, richtig angesäuert zu sein. Was genau hatte Russland diesmal für Hintergedanken!? „Na was wohl? Ich werde mit dir teilen. Aber nur diese Nacht.“ Gilbert blinzelte. Bitte … was!??  „Du willst deine Wärmflasche mit mir teilen?“ Russland nickte und eine seiner blonden Augenbrauen verschwand unter seinem Pony. Bei Gilbert fiel der Groschen – aber pfennigweise. „… du meinst …“ „Mir wird kalt, Osten. Komm’ jetzt zu mir, wenn du nicht frieren willst.“ Gilbert runzelte die Stirn. Sein Kopf war auf einmal wie leergefegt – und wie von selbst taten seine Füße zwei Schritte vorwärts. Nein. Er konnte das nicht tun. Es wäre wie eine erneute Niederlage, ein Eingeständnis. Verletzlichkeit zeigen. Schwäche. Er stoppte und ballte die Hände zu Fäusten. Russland seufzte hörbar. „Ich kann erahnen, was du dir denkst. Aber Hilfe von mir anzunehmen wäre in deiner Situation nur vernünftig. Es wird in absehbarer Zeit nicht wärmer werden, oder?“ Natürlich hatte er recht damit, egal wie sehr Gilbert es hasste, das zuzugeben. Russland … nutzte ihn aus, oder? Hatte er etwas hier von? Wollte er Gilbert … nah sein? Warum!?? Gilbert durchfuhr ein Schaudern und er setzte sich endlich auf das Bett, den Blick starr auf den Boden gerichtet. „Was ist das Problem?“, fragte Russland so unschuldig als ob er es wirklich nicht wüsste. Und auf einmal wusste Gilbert gar nicht, ob es denn tatsächlich ein Problem gab. Ob er alles nicht nur aus Unsicherheit und Scham und Abneigung konstruierte, oder ob Russland all das wirklich nur tat, um ihm zu zeigen wie abhängig er von der größeren Nation war, um auch nur ein Fünkchen Komfort zu erfahren in seiner Situation. Wie ferngesteuert zog Gilbert die Beine an und rutschte weiter in die Mitte des Bettes. Russland schien zufrieden, und warf die große, dicke Decke über ihn. Sie war vorgewärmt und Gilbert schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Ich werde es niemanden wissen lassen, falls es das ist was dich beunruhigt.“ Gilbert war sich sehr sicher, dass seine Wangen spätestens jetzt hellrot waren – sie fühlten sich heiß an, und sein Hals schien wie zugeschnürt. Er blieb stumm. Langsam ließ er sich auf der Matratze nieder und legte seinen Kopf auf eine Ecke des großen Kissens auf dem auch Russland schlief. Er versuchte es rational zu sehen – das hier war eine Ausnahme, und es bedeutete nur so viel wie er entschied. Und das war im Moment; nichts außer einem Gewinn an Komfort. Und wenn man dazu halt ein Bett teilen musste, dann war das eben so! Russland beugte sich auf einmal über ihn, und Gilbert stockte der Atem. Er war nah … so nah … Er konnte Russlands Körper gegen seinen pressen fühlen, als er mit seinem Arm über ihn griff um … … die Lampe auszuschalten. Der Kontakt war so schnell weg wie er gekommen war. Gilbert atmete langsam aus.  Was war das!?? Reiß’ dich mal zusammen!!  Die Decke raschelte von Russlands Seite aus, und schon bald fühlte Gilbert, wie die Wärmflasche seinen Rücken berührte und wohlige, lang vermisste Wärme in seinen Körper fließen ließ. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit fühlte Gilbert sich auch nur ansatzweise wohl. Egal ob Russland mit ihm gerade ein Bett teilte oder nicht. Schnell merkte er, wie die Müdigkeit von ihm Besitz ergriff und es immer schwerer wurde, seinen Gedankengängen nachzugehen. Russland lag auf der Seite, Gilbert zugewendet, welcher im Gegenzug auch auf dem Rücken von ihm abgewandt lag. Entweder Gilbert bildete es sich ein, oder Russland kam ihm immer ein kleines bisschen näher … denn die Wärme an seinem Rücken wurde immer stärker, was dazu führte, dass Gilbert zufrieden seufzte und kaum einen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Im Halbschlaf bemerkte er, dass Russlands Atem ihn an seiner Schulter streifte – er war warm und regelmäßig, völlig normal. Russland war also doch gar kein eisiges Monster, das ohne Wärme lebte … Vielleicht musste er so leben, weil es einfach nicht anders ging. Auch Russen frieren …, geisterte es in Gilberts Kopf herum. Was für ein wirrer Gedanke …  Jetzt wusste er ganz sicher, dass Russland ihm näher gekommen war. Er konnte jetzt fühlen wie Russlands Brust gegen seinen Rücken presste und mit jedem Atemzug sank und hob. Wäre Gilbert nicht so warm und schläfrig, hätte er mit Sicherheit niemals so viel Nähe zugelassen – aber die Wochen und Monate der Entbehrung und harter Arbeit forderten nun ihren Tribut. Als wäre die Erschöpfung von all dieser Zeit nun über ihm zusammengebrochen. In diesem Moment fühlte es sich einfach gut an – die Wärme, die Nähe. Es war alles ganz simpel.  „Nur weil es warm ist …“, murmelte Gilbert, kurz bevor der Schlaf ihn ereilte. Russland lachte leise und flüsterte zurück: „Gute Nacht … und ein frohes neues Jahr, Osten.“ Kapitel 7: VI - Leichenschmaus ------------------------------ Leichenschmaus   Es gibt nur einen angeborenen Irrtum, und es ist der, dass wir da sind, um glücklich zu sein. - Schopenhauer   Die Landschaft rauschte hinterm Wagenfenster vorbei.   Sie redeten nicht miteinander aus dem einfachen Grund, dass Russland kein Gespräch begonnen hatte. Und Gilbert würde ganz sicher nicht darauf bestehen, die Stille zu brechen. Russlands Worte hallten immer noch in seinem Kopf nach: „Ich lass dich nicht sterben. Das verspreche ich.“ – Und mit jeder Minute, der sie ihrem Ziel näher kamen, steigerte sich Gilberts Nervosität. Er hatte so viele Fragen – Wird Ludwig da sein? Wo werden unsere Grenzen gezogen? – Doch stellen würde er sie nicht. Sein Hals war wie zugeschnürt.   Normalerweise redete Russland liebend gern, ganz gleichgültig wie unangenehm (und Gilbert war sich sicher, dass der Russe das immer merkte) es Preußen war. Doch heute wirkte selbst die größere Nation neben ihm auf der Rückbank angespannt. Sein Lächeln, das ihm sonst wie ins Gesicht gemeißelt schien, war an diesem Tag noch maskenhafter als sonst. Dabei hatte Gilbert erwartet, dass er an diesem Tag ganz besonders selbstgefällig sein würde – es ging doch schließlich darum, ihn auszunehmen wie eine Weihnachtsgans. Und Ludwig auch, wie er mit einem schweren Schlucken geistig nachschob wie eine leidige Fußnote. Er musste sich stets daran erinnern, dass er ja eigentlich nicht alleine war. Er und sein Bruder waren weiterhin eins – nur eben zwei Teile des Ganzen. Das Gefühl des Alleinseins hatte sich bei Gilbert sehr schnell eingestellt seitdem er beim Russen leben musste.   Er wagte nicht darauf zu hoffen, dass Russlands Verbündete ihn aus seinem Gewahrsam befreien würden. Die Möglichkeit bestand natürlich, zumal Gilbert über die genauen diplomatischen und machtpolitischen Vorgänge keine Kenntnis besaß. Alles was er wusste war, dass Russland nicht nur ihn wollte sondern auch Ludwig. Und das war eine Aussicht, die Gilbert noch fürchterlicher fand als die Vision der nächsten Jahrzehnte oder Jahrhunderte unter Russlands Herrschaft. Es war wie ein Warten im Fegefeuer – die Unwissenheit darüber, welche Hölle ihn erwarten würde und wer sie mit ihm betreten würde nagte an Gilbert Tag und Nacht. Und dennoch: Je näher sie den Tagen der Entscheidung auch kamen desto mehr fürchtete Gilbert sie. Gefangen in einer gleichgültigen Ödnis, einer Zwischenstation zwischen zwei zweifellos bedeutsamen historischen Meilensteinen. Das Damoklesschwert über ihm schwebend, die drohende Enthauptung stets vor Augen. Es gab kein Szenario in Gilberts Vorstellungskraft in dem all dies glimpflich für ihn ausgehen könnte.   Sein rechtes Auge, oder besser gesagt das was davon übrig geblieben war, juckte elendig unter der Kompresse. Genervt schob er einen Finger unter die Augenklappe bevor er sich eines Besseren besann und es bleiben ließ. Es würde nichts bringen.   „Es ist witzig, dass gerade dein rechtes Auge solchen Schaden nahm, “ sprach Ivan amüsiert. „Das hat doch mit Sicherheit eine tiefere Bedeutung, nicht wahr?“   Gilbert spürte sofort wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. „Halt dich geschlossen, “ zischte er, sich selbst zur Ruhe ermahnend. Er wusste dass es Russland Spaß machte, ihn zu provozieren bis er eine gewünschte Reaktion zeigte – sei es Zorn, Bitterkeit oder noch etwas anderes. „Du machst doch nichts ohne Kalkül.“   Blitzschnell holte Russland aus und hielt Gilberts Kinn in seinem leider wohlbekannten eisernen Griff. Die Fingerkuppen gruben sich schmerzhaft in Gilberts Haut, als wüsste der andere ganz genau wo und wie er ihn anfassen musste, um es so schmerzhaft wie möglich zu machen. Er zwang Gilbert, ihm in die Augen zu schauen als er leise sprach: „Und du solltest auf deine Wortwahl achten. Sonst wasche ich dir deinen Mund mit einem großen Stück Seife aus.“ Gilbert wusste, dass Russland keine leeren Versprechungen machte. Er schluckte seine Wut und Verzweiflung die in ihm tobten herunter und senkte seinen Blick in einer Geste der Unterwürdigkeit. Er atmete angestrengt.   Russland drückte noch einmal feste zu und entlockte Gilbert ein kleines Geräusch des Schmerzes, was ihn anscheinend milde stimmte bevor er ihn wieder los lies.   Gilbert schwieg für den Rest der Autofahrt.   -*-   Allianzen hielten nur so lange bis ein Konflikt vorüber war. Ivan war das klar, und er hatte stets versucht, seine Erwartungen auf einem niedrigen Niveau zu halten. Und dennoch … die Spannungen zwischen ihm, England und vor allem Amerika waren mit der Zeit spürbar intensiver geworden. Es zehrte an seinen Reserven, sich nach einem solchen verheerenden Krieg noch an anderen Fronten behaupten zu müssen – im wahrsten Sinne des Wortes. Der zweite große Krieg war vorüber und dem folgend taten sich sogleich neue Brandherde auf. Einfluss in Europa war die Währung in der sich die Zukunft erkaufen ließ, und der letzte Zankapfel (für den Moment) waren die beiden Deutschen.   Er merkte, dass er fahrig war, ungeduldig und – er befürchtete – berechenbarer als sonst. Das war natürlich eine denkbar schlechte Ausgangsposition für Verhandlungen. Der Druck. der auf ihm lastete, war enorm. Stalin saß ihm schon seit Wochen, nein, Monaten im Nacken und diktierte ihm von Konzepten zur Entnazifizierung der von ihm besetzten Zone bis zur geplanten Bewirtschaftung eben dieser alles bis ins kleinste Detail.   Warum genau er den Preußen mit sich auf die Potsdamer Konferenz nehmen sollte, war ihm schleierhaft geblieben – es war eine Anweisung Stalins gewesen, also hatte er lieber davon abgesehen nachzufragen. Es war nicht so als hätte die Nation ein Recht auf Mitsprache oder, noch absurder, Mitbestimmung. Am ehesten erahnte Ivan in dieser Geste eine Erniedrigung des Besiegten, eine öffentliche Schmähung im kleinen Rahmen. Lasst den Russen seine Eroberung vorführen, lasst ihn zeigen, dass das einst so große und mächtige Preußen nun nach seiner Pfeife tanzte. Die vagen Vorgaben seines Vorgesetzten stellten Ivan vor die unangenehme Situation, sich eine Strategie überlegen zu müssen, wie er am besten mit der anderen Nation umgehen sollte. Vorerst bestand diese darin, ihn an der kurzen Leine zu halten wie einen Schoßhund und ihn mal mehr Mal weniger hart zu bestrafen, wenn er etwas sagte oder tat, das seinem Herrchen missfiel. Auch wenn diese Handhabe recht wirksam war so bedauerte Ivan jedes Mal aufs Neue, Preußen so zurecht weisen zu müssen. Es hatte eins eine Zeit gegeben da hätte er bei der Vorstellung die stolze Nation zu demütigen, zu verletzen und zu drangsalieren genossen. Doch inzwischen war er müde und des ständigen Kämpfens überdrüssig. Die Zäsur des größten Krieges den er bis dato miterleben musste hatte ihre Spuren hinterlassen. Wonach sich Ivan am meisten sehnte war das Einkehren von Stabilität und Ruhe innerhalb seiner eigenen Reihen.    Dabei spürte Ivan in jeder Interaktion mit dem Osten dessen Widerwillen, den stillen Protest, der in jedem seiner Worte und Gesten mitschwang. Selbst ohne darüber zu reden war es Ivan klar, dass der Osten Deutschlands noch immer in Wirklichkeit durch und durch Preußen war, auch wenn ihm ein Großteil seiner Grundlage entzogen wurde – nicht nur geografisch sondern auch ideologisch. Es faszinierte Ivan, dass die andere Nation immer noch im Stande war eine solche innere Stärke zu mobilisieren, gebrochen und geschwächt wie er war. All das sprach für das ungeheure Ausmaß an Stolz und Kühnheit, die ihn einst ausgemacht hatten und es in einem geringeren Ausmaß immer noch taten. Es war nie sein Ziel, Gilbert seines Geists zu berauben, ganz im Gegenteil – genau das war etwas, was Ivan stets bewundert hatte und was den anderen so attraktiv erscheinen ließ. Ivan wollte lediglich, dass die berühmte preußische Loyalität ihm gelten würde. Ihm und auch einer gemeinsamen Sache. Irgendwann ...   „Wir sind bald da“, kommentierte Ivan und bemühte, sich seine Gedanken und Kräfte zu sammeln. „Fünfzehn Minuten.“   Preußen zuckte zusammen und erwachte aus seinem leichten Schlaf. Ivan bemerkte wie sein Atem kurz stockte, von einem tiefen regelmäßigen Ein und Aus zu einem desorientierten Stottern wechselte. Er schien kurzzeitig wie benommen, bevor er realisierte wo er war und in welcher Situation er sich befand. Ivan schmunzelte und verkniff sich ein Schmunzeln. Es waren diese kleinen Momente … Für einen kurzen Moment konnte er Preußen so schutzlos und ehrlich wie sonst nie sehen. Würde Ivan dies aber nur mit einer Silbe kommentieren, wäre der Waffenstillstand zwischen den beiden mit Sicherheit jäh zu Ende.   -*-   Der Frieden währte natürlich nicht lange. Kaum angekommen machte Preußen unmissverständlich klar, dass er keine Hilfestellungen seitens Russland annehmen würde, schon gar nicht, wenn irgendwer ihn dabei sehen könnte. Mit einer Mischung aus stiller Frustration und Mitleid war Ivan gezwungen, Gilbert dabei zuzuschauen, wie er mit seinen Krücken den Weg zum Schloss Cecilienhof bestritt.   Die oberen Querbalken der Krücken bohrten sich in die Oberarme der schmächtigen Nation und der Schweiß stand dem blassen Preußen bereits nach wenigen Metern auf der Stirn.   Es war eine überaus unangenehme, langwierige Prozedur wie in Zeitlupe neben dem Preußen herzugehen, während dieser mühsam den Weg zum Schloss entlang humpelte. Für ihn musste es ein regelrechter Kraftakt sein.   „Du wolltest den Rollstuhl nicht mitnehmen“, erinnerte Ivan ihn in einem bemüht neutralen Ton. Das hätte er sich sparen können, denn Preußen würde ihn anfahren ganz egal was oder wie er etwas gesagt hätte.   Er zischte zwischen angestrengten Atemzügen: „Ich bin … kein … Invalide!“   Russland sparte sich jeden Kommentar. Die Minuten zogen sich ins schier Unerträgliche. Plötzlich vernahm er einen überraschten Laut und das vage Geräusch, wie etwas über den Boden rutschte – reflexartig wandte er sich zu Preußen und griff ihm mit beiden Armen um den Oberkörper um ihn davon abzuhalten, zu Boden zu fallen. Die Krücke fiel klappernd zu Boden. Preußen keuchte in seinen Armen, und Ivan brauchte ein paar Momente, um zu realisieren was gerade passiert war. Die andere Nation war völlig verausgabt, was ihn beunruhigte – er wusste, dass er vom Krieg gebeutelt war, aber das ganze Ausmaß des Schadens offenbarte sich erst nach und nach. Der Fakt, dass Ivan ihm Königsberg genommen hatte, war sicherlich auch nicht unwichtig …   „Es … geht schon …“   Ivan blinzelte. „Offensichtlich nicht. Ich werde dich tragen“   „Was!?“   Bevor Preußen protestieren konnte, umfasste Ivan seinen drahtigen Torso mit beiden starken Armen und hob ihn hoch. Die andere Krücke fiel ebenfalls zu Boden, und Ivan hievte ihn über seine linke Schulter. Da die andere Nation dieses Mal nicht bewusstlos war und einigermaßen Körperspannung halten konnte, war es Ivan ein leichtes, ihn so zu tragen. Ohne lange zu zögern schritt er voran und machte sich auf den Weg zum Eingang des Schlosses, den kläglich protestierenden Preußen über seiner Schulter nicht weiter beachtend. Der andere versuchte erfolglos, sich aus Ivans Griff hinaus zu winden wie eine Maus zwischen den Pfoten einer Katze.   „Wenn du dich wie ein Kind verhältst wirst du auch wie eines behandelt werden.“   „Du … !!“   „Ach, guten Tag Russland. Und … die sowjetisch besetzte Zone, nehme ich an?“   -*-   Gilbert kannte diese Stimme – auch wenn er der anderen Nation gerade nur mit seinem Hinterteil zugewandt war, wusste er genau, wer sie gerade entdeckt hatte. Diese jugendliche, selbstgefällige und unangenehm laute Stimme …   Es war Amerika. Gilbert schluckte, und verfluchte seine mehr als missliche Lage innerlich. Er, eine einst stolze Nation mit langer und ruhmreicher Tradition, wurde nun wie ein Sack Kartoffeln mit dem Hintern voran zum Bankett der Siegermächte getragen. Die Scham schnitt durch Gilberts Brust wie ein Messer.   Er bemerkte erst, dass er abgesetzt wurde, als sich die Welt um ihn herum verschob – alles drehte sich kurz, dann stand er unmittelbar vor Russlands mit verschiedenen Orden dekorierten Brust. Russlands Hände hielten ihn an den Schultern fest, und Gilbert nahm wahr, dass um ihn herum geredet wurde – doch durch das Klingeln in seinen Ohren konnte er nicht genau hören was gesagt wurde. Das Fiepen wurde weniger, und langsam kam Gilbert wieder zu Sinnen. Er schüttelte ein wenig den Kopf und drehte sich um. Das einzige was ihm blieb war zu hoffen, dass dieser peinliche Moment schnell vorüber gehen würde. Er nickte Amerika zu, und der anderen Nation, die unmittelbar neben ihm stand – England, mit einem Gesicht das nach Magengeschwür aussah.   „Hallo“, murmelte Gilbert und fühlte sich in diesem Moment absolut unbeholfen. Wie grüßte man andere mit denen man mehrere Jahre lang im Krieg war, nicht nur militärisch sondern auch ideologisch? Er räusperte sich. Amerikas Lächeln war breit und falsch, und seine durchdringenden blauen Augen musterten Gilbert von Kopf bis Fuß. England rümpfte die Nase, seine Abneigung so einfach zu lesen wie ein Kinderbuch. Manche Dinge würden sich wohl nie ändern.   Es würde ein langer, ein verdammt langer Tag werden.   -*-   Ludwigs Blick als er Gilbert das erste Mal sah, würde er wohl nie vergessen.  So bestürzt, so desillusioniert, hatte er seinen Bruder noch nie gesehen. Als sei etwas in diesem Moment in ihm zerbrochen. Am anderen Ende des Raums schluckte Gilbert den Kloß der seinen Hals zusammenschnürte herunter und rang sich zu einem Lächeln in Ludwigs Richtung durch. Der andere schien sogleich entspannter – die Schultern sackten ein wenig herab, und er nickte Gilbert ebenso mit einem angestrengten kleinem Lächeln zu.   Er spürte Russlands Blick auf seinem Hinterkopf die ganze Zeit, und ignorierte es so gut es ging. Er nahm seinen Platz direkt neben ihm ein und das Treffen begann. Die nächsten Stunden konnten er und Ludwig nicht miteinander reden, nur verstohlene Blicke austauschen während die Siegermächte Beratungen anstellten.  War es ihm zuerst noch möglich gewesen, den Gesprächen zu folgen, drifteten seine Gedanken irgendwo zwischen Grenzziehung und Planbewirtschaftung ab. War es sein Aussehen gewesen, das Ludwig so erschrocken hatte? Er war sich dessen bewusst, dass alleine sein offensichtlich beschädigtes Auge schon einiges über seinen Zustand aussagte, nicht zu schweigen von seiner sehr begrenzten Belastungsfähigkeit. Wie lange er noch auf Krücken gehen musste war nicht abzusehen – seine Muskeln wollten und wollten schlichtweg nicht kräftiger werden, und so fühlte er sich auf seinen eigenen zwei Beinen nach wie vor wie ein Pferd, das versuchte auf Streichhölzern zu laufen. Wie sollte er auch heilen, wenn er nicht einmal eine Hauptstadt besaß?   Er nippte nachdenklich an seinem Glas Wasser, während die Gespräche anschwollen, an Fahrt gewannen und wieder abklangen wie ein Crescendo, das wieder ins Piano überging und zurück. Ludwig sah selbst schlecht aus - seine Haut war blass und die Ringe unter seinen Augen waren dunkel genug um an Ruß zu erinnern. Ruß an den Häuserwänden der zerbombten Wohnhäuser in Köln, Bochum, Stuttgart, ...   Gilbert wollte mit Ludwig reden - natürlich wollte er das! Doch gleichzeitig wusste er immer weniger was er seinem Bruder sagen sollte, wenn sie miteinander sprechen könnten. Es lag so vieles unausgesprochen zwischen ihnen, Tatsachen die stets präsent gewesen waren doch von keinem von beiden beim Namen genannt wurden. Die Rolle der preußischen Generäle in der Opposition gegenüber dem Mann, den sie später ihren Führer nannten als eine Opposition noch möglich war, Ludwigs allzu vorschnelle Begeisterung für den Österreicher, der mit der Vision eines vereinten Deutschlands unter seiner Riege das Land zu fesseln vermochte. Man durfte nie vergessen, wie jung, wie unsagbar jung, Ludwig nach wie vor war. Trotz seines erwachsenen Auftretens und seiner stoischen und abgeklärten Ausstrahlung. In vielen Dingen zeigte es sich doch, die Unerfahrenheit, die Unberührtheit der jungen Nation. Im Nachhinein war es nur allzu offensichtlich, dass die beiden Brüder zwar eine Nation gewesen waren, doch  längst nicht Eins. Es ging dabei nicht um Schuld - wer sich wessen schuldig bekennen musste war immerhin Sache der Siegermächte. Und Gilbert hatte den leisen Verdacht, dass ihm als „älterer Bruder“ eine besonders tragende Rolle an dem was passiert war zugeschrieben werden würde …   -*-   „Hey. Du siehst aus wie Scheiße.”   Ludwig stand auf, kurz verdattert, und setzte dann ein schiefes Lächeln auf.   „Du hast auch schon besser ausgesehen.“   Mit etwas Mühe trottete Gilbert mitsamt seiner Krücken zu dem Sessel neben Ludwigs. Der warme Schein des Kamins konnte fast darüber hinweg täuschen wie abgekämpft und fahl die Haut seines kleinen Bruder in Wirklichkeit war.   „Man tut was man kann …“, murmelte Gilbert und ließ sich in den Sessel fallen. Er versuchte, nicht zu angestrengt zu atmen – Ludwig musste ja nicht mehr von seinem Zustand mitbekommen als unvermeidbar war.   Stille legte sich über die beiden, begleitet von dem steten Knistern des Kamins. Es war eigentlich ein gemütlicher, heimeliger Raum. Für Gilbert nach so langer Zeit in Russlands Haus sogar ein Hauch von Luxus. Doch wie befürchtet wusste Gilbert nicht so recht wie er das Gespräch mit seinem Bruder beginnen sollte – und dieser natürlich genau so wenig, unbeholfen wie er war in solchen Situationen. Der Apfel fiel halt nicht weit vom Stamm …   Ludwig brach das Schweigen mit einem Räuspern. „Wie ist es dir- …“, begann er zögernd, brach dann aber ab, weil er wohl selber merkte, was für ein holpriger Gesprächsbeginn eine Frage nach dem Befinden sein würde. Was sagt man schon zu jemandem, den man wahrscheinlich für tot gehalten hatte, von dem man wusste, dass er mehr oder weniger in Gefangenschaft lebte? Nachdem er mit seinem Bruder die Welt in Brand gesetzt hatte?   „Du wolltest mich allen Ernstes fragen, wie es mir ergangen ist?“, spottete Gilbert, jedoch ohne Boshaftigkeit. Er lachte kurz, und hoffte damit die Situation ausreichend zu überspielen. Ludwig lachte nervös und kratzte sich am Nacken. Immer noch so einfach zu lesen … Sie sprachen nicht viel, aber sagten viel – mit jedem Moment wurde die Atmosphäre entspannter, wohliger. Ludwig legte seine Unbeholfenheit immer mehr ab und versuchte so vorsichtig wie möglich zu fragen, auch wenn die Themen zugegebener Maßen heikel waren – und das war noch eine wohlwollende Umschreibung.   „Stimmt es, dass du …“   Schon wieder brach Ludwig ab. Gilbert zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.   „ … dass er dir Königsberg genommen hat? Ich meine … so …“   Er hatte geahnt, dass Ludwig es wissen wollen würde. Das Thema war ihm unangenehm, es hatte etwas merkwürdig Intimes.   „Ja, es stimmt. Es ist nicht mehr da.“   Ludwig starrte seinen Bruder einen Moment an, und ließ seinen Blick über dessen Brust wandern, als hoffte er dort irgendein Indiz für das zu finden, das dort nicht mehr war.   „Aber ich bin noch hier. Ich nehme an, dass er sich damit für Stalingrad bedanken wollte. Unter anderem …“   Sie hatten nie darüber gesprochen, doch Gilbert konnte sich vieles herleiten. Seine Erinnerungen an die Zeit kurz bevor er für viele Monate in den Schlaf fiel waren kaum vorhanden, außer ein vages Gefühl von Unwohlsein beim Gedanken an Schnee. Als würde zu viel Kälte eine Erinnerung in ihm herauf beschwören – nichts handfestes, aber eine Ahnung von schier endloser Einsamkeit und dem Gefühl, den eigenen Körper bereits verlassen zu haben.   „Du trägst dein Eisernes Kreuz nicht mehr?“   Ludwig schaute auf, und fasste sich wie in Gedanken verloren an seinen Hals, den er sich prompt erneut anfing in einer nervösen Geste zu reiben. Seine Augen glitten zu Boden, Gilberts Blick vermeidend.   „Nein … zu viele Erinnerungen.“   Gilbert schluckte.   Erneut, Stille.   -*-   Ivan gähnte hinter vorgehaltener Hand, als er die letzten Zeilen auf der Schreibmaschine tippte. Es war anstrengend genug, um diese Tageszeit überhaupt noch wach zu sein – einen Rapport auf Deutsch zu tippen zehrte selbst nach dem dritten Wodka noch spürbar an seinen Nerven. Just in diesem Moment ging die Tür auf.   „Ah, Osten! Wie geht es deinem Bruder?“, fragte er in betont gefälligem Tonfall.   „Was machst du in meinem Zimmer?“   „So unhöflich …“, seufzte Ivan und beendete seinen letzten Satz auf der Maschine, bevor er das Blatt hinauszog und zu den anderen legte. Natürlich hatte es Kalkül, dass er sich in das von Gilbert bezogene Zimmer gesetzt hatte. Er wollte ihn wissen lassen, dass er sehr wohl wusste was er tat, mit wem er sich traf und eine gute Vorstellung davon hatte, über was er redete.   „Ich habe die wichtigsten Punkte der Besprechungen zusammengefasst und würde sie gerne mit dir durchgehen. Setz’ dich doch.“   Preußen blieb wie angewurzelt stehen.   „Was. Machst du. In meinem Zimmer.“   „Du hast zwei Augen im Kopf. Wonach sieht es aus?“   „Du willst mich einschüchtern, ist es das?“   Ivan faltete seine Hände übereinander. Er merkte wie er ungeduldig wurde – der Tag war bereits lang und er drohte noch länger zu werden. „Ich muss für klare Fronten sorgen, Osten. Das ist es, was Siegermächte tun.“   Der Preuße lachte zynisch; „Und den Arsch hinhalten ist was Besiegte tun, richtig!?“, seine Stimme wurde zunehmend hässlich und schrill. Ivan spürte, dass er verzweifelt wurde. War das Gespräch mit seinem Bruder nicht so gut verlaufen wie er gehofft hatte? Er stand auf, tat aber keinen Schritt in die Richtung des anderen. Er wollte nicht mehr einschüchtern als nötig war. Eine Eskalation war das letzte, was Ivan jetzt wünschte.   Wenn der andere nur wüsste, wie kindisch er sich gerade verhielt, würde er sich wahrscheinlich schämen. Dieses Verhalten war ihm nicht würdig, und es schmerzte Ivan ein wenig die andere Nation so zu sehen. Ivan realisierte, dass es nichts gab was er sagen könnte um, die Situation zu entschärfen – also ließ er es sein. Stattdessen griff er unter den Schreibtisch und holte eine Flasche Wodka hervor.  Aus seiner Manteltasche holte er zwei kleine Gläser. Preußen beobachtete ihn dabei lediglich stumm. Ivan stellte zwei Schnappsgläser vor sich auf den Schreibtisch und goss ein.   „Trägst du immer Schnappsgläser bei dir?“, fragte die andere Nation ungläubig.   Ivan zuckte mit den Schultern. „Nicht, wenn ich alleine bin.“   Er schob ein Glas in Preußens Richtung und prostete ihm ohne groß zu warten zu; „Nastrovje.“ Der Wodka ging runter als sei er wirklich nur ein Wässerchen. Es brachte die bekannte, wohlige Wärme mit sich, zumindest für kurze Zeit. Besser als nichts. Ivan war gespannt, ob sich seine Taktik bezahlt machen würde. Es verlangte ihm viel ab, in Preußens Gegenwart so ruhig und besonnen zu bleiben, wenn seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren von stundenlangen Verhandlungen mit anderen Nationen, von denen er genau wusste, dass der einzige, den sie mehr hassten als Nazi-Deutschland, Ivan selbst war.   Preußen nahm ein Glas an sich und ließ sich langsam auf einem der Stühle nieder. Er musterte das Getränk skeptisch. Ivan hatte nicht erwartet, dass der andere tatsächlich mit ihm trinken würde. Nun war sein Interesse geweckt. Die Aufmerksamkeit des anderen schien zu wandern, bis er tief in Gedanken versunken schien. Worüber nur hatte er mit dem Westen geredet? Schließlich nippte Gilbert an dem Wodka, verzog sein Gesicht etwas, und trank das Glas dann in einem Schluck aus. Er versuchte, nicht zu stark zu husten. Ivan konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Niedlich.   „Ich habe diesem Gör geholfen, seine Soldaten auf die Reihe zu kriegen. Ich habe ihm geholfen, sich von England loszumachen.“   Ach. Es geht um Amerika.   „Und so zahlt der Drecksack es mir heim.“   Ivan schwieg. Er wusste um die Meinung des Amerikaners – er sah in Preußen den militaristischen Teil Deutschlands, einen unheilvollen Einfluss auf seinen Bruder. Er hatte vermutet, dass Preußen ihm diese Information nicht abkaufen würde, wäre sie von Ivan gekommen. Wenn es nach Amerika ginge, wäre Preußen nicht in Ivans Hände gefallen sondern wäre nach dem Sieg restlos liquidiert worden – blieb nur die Frage, wem der Grund und Boden zugesprochen werden sollte. Ihn zu einer russischen Exklave zu machen war Amerika noch mehr zuwider gewesen, und so hatte die Situation in einem Patt geendet.   „Du hast davon gewusst, oder?“   Ertappt! Ivan lächelte mild. „So ist es. Aber ich ging davon aus, dass du es mir nicht glauben würdest. Immerhin käme die Information ja von mir.“   Gilbert zog eine Grimasse. „Touché.“   Diese Art von Information eignete sich vorzüglich, Stimmung gegen den Westen zu machen – genau deshalb hatte Ivan sie für sich behalten. Er wollte bei seinem Ostdeutschen nicht den Eindruck erwecken, dass er ihn manipulieren wollte – denn das wollte er wahrlich nicht. Denn was nützte schon erzwungene Loyalität? Was für einen Wert hatte eine aus Misstrauen und Argwohn geborene Freundschaft? Aber wenn der andere von einer anderen Quelle von Amerikas Haltung ihm gegenüber erfuhr, würde Ivan sich sicherlich nicht beschweren. Es gab nichts, das Russland sich mehr wünschte, als ein ehrliches Band zwischen ihm und Ostdeutschland. Die Voraussetzungen für dessen Entstehung waren denkbar schlecht, und das wusste Ivan.  Immerhin hielt er den Preußen quasi an einer politischen Hundeleine.   Er goss sich einen weiteren Schluck Wodka ein, und der anderen Nation ebenfalls als er Ivan wortlos das kleine Glas hinstellte.   „Dem Blag würde ich allzu gerne sein Lächeln aus dem Gesicht wischen. Mit meiner Faust.“   Ivan lächelte Osten an und hob sein Glas.   „Darauf lass uns trinken!“   -*-   Die Nacht sollte Gilbert keine Ruhe bringen. Er rollte sich im Bett hin und her, zerwühlte die schweißnassen Laken und stöhnte angestrengt.   Er träumte viel.   Der warme Felsen unter seinem Körper grub sich unangenehm in seinen Rücken hinein. Die Ketten um seine Handgelenke waren von der sengenden Sonne so erhitzt, dass sie seine Haut darunter zu verbrennen schienen.   Ludwig saß nicht weit entfernt, und weinte. Rein äußerlich wirkte er wie Gilbert ihn nun kannte, körperlich groß gewachsen – nur die Stimme mit der er kläglich schluchzte war die eines Kindes.   Die Sonne verdunkelte sich kurz – ein schriller Schrei schnitt die heiße Luft entzwei. Gilbert schaute in den Himmel, und sah einen Schatten über seinem Kopf vorüber ziehen. Dann sah er den Adler – die Adler? Nein, es war nur einer. Aber er hatte zwei Köpfe. Er prangte vor ihm, faltete seine mächtigen Flügel an seinen Körper und musterte Gilbert mit seinen zwei grausamen, gleichgültigen Augenpaaren. Blankes Entsetzen und Angst schossen durch Gilberts Körper. Er verkrampfte sich augenblicklich als der Adler näher kam, und versuchte vergeblich, sich von dem riesigen Tier weg zu drehen.   „Bruder … du hast gesagt, du könntest nur einmal sterben ...“, wimmerte Ludwig ohne seinen Blick von Gilbert abzuwenden obwohl ihm der Rotz und die Tränen in Strömen übers Gesicht liefen. Es war ein verstörender Anblick. Ludwig schien zu wissen, was nun kam. Und auch Gilbert wurde es klar als der Adler sich über ihn beugte und seinen Schnabel mit aller Wucht in seine Brust rammte.   Es war kein Schmerz wie man ihn aus der Wirklichkeit kennt – es gab keine körperliche Komponente bei dieser Empfindung. Stattdessen gruben Todesangst, unbeschreibliches Grauen und absolute Ohnmacht ihre Krallen tief in Gilberts Seele und brachten ihn dazu lauter zu schreien als er es selbst je für möglich gehalten hatte. Der Adler wühlte sich zielstrebig durch seinen Brustkorb bis er das erreicht hatte wonach er gesucht hatte – und fraß Gilberts Herz. Er riss daran, verschlang es stückchenweise bis nichts mehr übrig war.   Nichts an dieser Qual war einmalig – es war nur ein einziges Mal in einer nie enden wollenden Reihe von Torturen die Gilbert durchleben musste. Ihm wurde schlagartig klar: Sein Herz würde ihm nachwachsen, und es würde ihm jedes Mal aufs Neue genommen werden. Gilbert schrie, schrie bis er dachte er würde bald ohnmächtig werden – es war zu viel Schmerz, zu viel zu qualvoll –   -*-   Gilbert erschrak vor dem Geräusch seiner eigenen Schreie . Er rang nach Luft.   Nur ein Traum. Nur ein Traum …   Es dauerte, bis sich Gilbert beruhigen konnte. Langsam löste sich die Angst in ihm ein wenig auf. Es war wieder still in seinem finsteren Zimmer.   … nur ein Traum …   Das unheilvolle Gefühl einer drohenden Katastrophe wollte aber nicht vollends weichen. Was er den Tag davor bereits unterschwellig vernommen hatte, wurde ihm nun noch einmal vollends bewusst: Alles würde sich ändern. Schon wieder.   Und er war allein.   Österreich hatte sich abgewendet als der Krieg verloren war, und schon vorher hatte Italien sich zurückgezogen. Japan war auf der anderen Seite der Erde, und selber in schlechter Verfassung. Ludwig war unter Amerikas Fittichen. In Russlands Obhut waren mit ihm fast ausschließlich ehemalige Feinde, Nationen deren Länder er annektiert hatte, ihre Bevölkerung vertrieben, versklavt oder schlimmeres. Er war abhängig von seinem Wohlwollen. Und es zerriss Gilbert.   In seiner schier erdrückenden Einsamkeit sehnte sich Gilbert nach jemand anderem – es war egal, er wollte nur nicht länger alleine sein. Er gestand sich diesen Moment der Schwäche zu, in dieser schrecklichen Nacht. Sogar über Russlands Gegenwart wäre er in diesem Moment froh gewesen.   Gilbert stöhnte und grummelte in die Dunkelheit: „Ich glaube, mit mir geht es wirklich zu Ende ...“       Kapitel 8: VII - Herzeleid -------------------------- Kapitel VII – Herzeleid   "Es gilt, die deutsche Bestie zu besiegen. Sie zu erwürgen und nie wieder erstarken zu lassen." – Josef Stalin (zugeschrieben) 1943   Man würde vielleicht erwarten, dass an einem solchen Ort der Himmel immer wolkenverhangen wäre. Dass stets düstere, schwere Wolken die Sonne verdecken und das Sonnenlicht hier nie wirklich bis zum Erdboden durchdringt. An einem Ort, an dem so viel Leben vernichtet wurde. Doch dem war nicht so – heute schien die Sonne besonders kräftig und die rot-gelb-braunen Blätter, die teils auf dem Boden lagen und sich teils noch an den dünnen Ästen ihrer Bäume festhielten, schienen im Licht zu leuchten. Es war fast schon frühlingshaft. Ludwig würgte. Gilbert griff in die Tasche seiner schwarzen Uniform und holte eine Zigarette aus der Schachtel. Er drehte sich von seinem Bruder weg, aus Gründen der Pietät. Ein paar Schritte tat er und beobachtete geistesabwesend das Treiben im Lager. Die stets ähnlich aussehenden Insassen verschmolzen zu einer gleichförmigen Masse, unterbrochen nur von dem gelegentlichen Wachmann, der mit hartem Ton und in makelloser Uniform Befehle bellte und dabei gelegentlich jemanden schlug. Dabei stets ein Schäferhund, der mindestens genauso pflichtbewusst kläffte wie sein Herrchen. Er steckte sich die Zigarette an und zog daran. Seine Zigarette war zur Hälfte aufgeraucht, als er langsame Schritte hörte, die ihm näher kamen. „Hast du etwas zu trinken?“ Gilbert griff in die Innenseite seiner Uniform und gab seinem Bruder einen Flachmann. „Danke …“ Ludwig sah aus, als wäre er durch die Hölle gegangen. Es mochte bizarr klingen, doch Gilbert war froh darum: das bedeutete, dass es Ludwig noch nicht egal war, was hier passierte. Dass er noch einen Umgang mit dem, was hier geschah, lernen musste. Dabei wusste Gilbert nicht einmal, ob er selber das schon getan hatte.   -*-   Es war nicht so, als würde jemandem sein Leben hierfür genommen werden. Die Luft stand, bedeutungsschwanger und diesig. Ivan fuhr sich erneut mit einem Taschentuch über seine schweißnasse Stirn. Erneut rammte er die Schaufel in den steinigen, unnachgiebigen Boden von Oblast-Kaliningrad. Er nahm niemandem sein Leben. Ivan fluchte. Die Spitze seiner Schaufel stieß auf etwas und er hielt inne.   Es war eher eine … Umverteilung von Leben. Er bückte sich und entfernte letzten Endes mit seinen bloßen Händen das letzte bisschen Erde, das die metallene Kiste bedeckte. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Potentielles Leben.   -*-   „Ist das ein Scherz?“ Ivan blickte den Deutschen eindringlich an, ohne zu blinzeln. Der andere umklammerte das kleine unscheinbare Kästchen mit zitternden Fingern. „Nein. Aber etwas, was sich darauf reimt“, antwortete Ivan im Singsang. Preußen lachte kurz und tonlos. „Will ich wirklich wissen, woher das kommt?“ Ivan fuhr sich nachdenklich mit der Zunge über die Innenseite seiner Wange. „Würdest du mir glauben, wenn ich es dir erzähle?“ Die andere Nation senkte den Blick erneut auf den Inhalt der Schachtel. „Doch. Schon.“ Ivans Augenbrauen schossen kurz in die Höhe – das überraschte ihn dann doch etwas. Preußen schloss das Kästchen und schluckte schwer. Seine Hand blieb darauf liegen. „In Ordnung. Ich will es.“ Er konnte sich kaum beherrschen – ein breites Grinsen machte sich auf Ivans Gesicht breit und er hätte am liebsten über den Tisch gegriffen und Preußens Hand in seine eigene genommen. Er besann sich aber eines Besseren und griff sich stattdessen in seinen Schal und grub seine Finger in das weiche Material. Es half nichts – Ivan kicherte ein bisschen in seinen Schal hinein und war sich ziemlich sicher, dass Preußen ihn bereits wieder argwöhnisch musterte. „Aber so wie ich dich kenne … hat die ganze Sache einen Haken.“ Ivan beruhigte sich allmählich und zwang sich zur Beherrschung. Ja – auf diesen Einwand war er natürlich gefasst. Er wusste selber, dass dies die nächste Schwierigkeit war, die es zu überwinden galt. Er hatte Preußen bereits einmal richtig eingeschätzt – er hatte erahnt, dass die andere Nation nicht auf ewig kränklich und schwach bleiben wollte. Hatte erkannt, dass Preußen bereit sein würde für eine neue Hauptstadt einiges auf sich zu nehmen. Nun spekulierte Ivan darauf, dass Preußens Durst nach Kraft und Stärke mächtig genug sein würde, um diese letzte Hürde zu überwinden ... Preußens Blick ruhe auf ihm, jede Geste und Bewegung von Ivan genau bewertend. Er wusste ganz genau: wenn er jetzt einen Fehler machte, dann war es das. Der gerade erreichte Waffenstillstand war zerbrechlich. „Wir beide ... du und ich ... sind nun auf derselben Seite", fing Ivan etwas holprig an. Er hatte dieses Gespräch schon oft in seinem Kopf durchgespielt, doch nun, wo es darauf ankam, erschienen ihm seine eigenen Worte fremd und unbeholfen.   "Ich will nicht, dass du unnötig leidest." Super gemacht Ivan, du klingst wie ein Bauer, der einem kranken Stück Vieh den Gnadentod bereiten will. Er schnitt eine Grimasse, schon jetzt unzufrieden mit sich selbst. "Und ich will versuchen, alles so angenehm wie möglich zu -" "Kannst du mal aufhören um den heißen Brei rumzureden!?", warf Preußen ein, offensichtlich gereizt. Bildete Ivan es sich ein, oder war er blasser als sonst? Preußen wandte sich ab und drückte seine Handflächen fest auf sein Gesicht. Ein undefinierbarer Laut zwischen Lachen und Schluchzen entfuhr ihm und es erfüllte Ivan mit einem fast schmerzenden Anflug von Mitgefühl. Ivan ahnte, dass Gilbert bereits einen Verdacht hegte, wie das Ganze vonstattengehen würde ... und dass es ihm Angst bereitete. Er konnte es nachvollziehen – aber hätte der Deutsche Ivan als seinen Souverän bereits akzeptiert, wäre alles auch nicht so verdammt schwer. Mit Preußen umzugehen war wie zu versuchen einen wilden Hasen einzufangen, der bereits in die Ecke gedrängt war. Ein Häschen, das bis zum Tode kämpfen würde und sich notfalls selbst mit seinen Zähnen und Krallen gegen den großen Bären zur Wehr setzen würde. Aber am Ende war er eben doch nur ein Häschen. Ivan stand auf und ging um den Tisch herum und kam vor dem aufgelösten Preußen zum Stehen. Die Situation war angespannt –Gilbert versteckte sein Gesicht weiterhin, schien auf Abwehr und schwer zugänglich. Und Ivan musste die Wogen glätten. All das ohne sein Gesicht zu verlieren. Ivan hätte sich hinknien und zu ihm sprechen können. Nein. Er ist kein kleines Kind. Er hätte Preußen wortlos umarmen können – eine Option, der Ivan überhaupt nicht abgeneigt war, jedoch ... Nein. Er würde mich sofort zurückweisen. Wortlos stand er vor dem anderen, während er in Gedanken all diese Szenarien durchging. Ivan hob seine Hand, nicht sicher, was er überhaupt tun wollte, und berührte kaum merklich Preußens Ellbogen. Eine kleine Berührung, so vorsichtig wie fallender Schnee. Preußen schien inne zu halten –Ivan überlegte kurz seine Hand zurückzuziehen, entschied sich aber dagegen. Alles oder nichts. "Versuche, mir zu vertrauen. Ich will genau wie du, dass du wieder stark wirst. In Ordnung?" Preußen ließ zaghaft seine Hände sinken. Sein Blick schweifte umher, unsicher. Mit einem schiefen Lächeln, das sein Gesicht Ivans Meinung nach völlig entstellte, fragte er nur: „Wenn du genug Vodka hast.“   -*-   Das war die schlechteste Idee seines Lebens. Und Gilbert lebte schon verdammt lange. Die Straßen waren eine Katastrophe – falls man die Schotterpisten in der fast-sibirischen Tundra so nennen konnte. Gilbert wusste nicht, ob ihm wegen der Nervosität von dem, was ihn heute noch erwartete, so angespannt war (vorausgesetzt sie kamen tatsächlich heute noch an) oder die kaum vorhandene Federung des Militärlasters, in dem sie fuhren, Schuld war. Jede Unebenheit im Bodenbelag – und davon gab es reichlich – erschütterte das Fahrzeug von der Radachse bis zum Innenfenster und fuhr Gilbert durch Mark und Bein. Vielleicht war es aber auch einfach der Gestank des Ziegenkots. Russland hatte partout nicht mit der Sprache rausgerückt, warum sie das Tier mitnahmen – generell hatte er sich sehr bedeckt gehalten was die ganze Unternehmung anging. Die Ziege verbrachte die gesamte Fahrt damit, abwechselnd auf einer alten schäbigen Decke auf dem Boden zu hocken oder laut meckernd auf der Stelle zu trippeln, sichtlich agitiert. Russlands Schweigsamkeit alleine hätte Grund genug sein müssen, um Gilbert von dem Vorhaben abzubringen, doch wenn er ehrlich sein musste, war er auf eine merkwürdige Art und Weise auch neugierig auf das, was ihn erwartete. Vor allem gierig. Die Aussicht, endlich wieder auch nur annährend der zu werden, der er einst war, reichte aus, um ihn all seine Befürchtungen und Zweifel beiseiteschieben zu lassen. Er wollte gar nicht so genau wissen, was dort passieren würde mit ihm, wo sie hinfuhren. Wo auch immer das war. Das einzige, was zählte, war das Ziel.   -   Es war ein kleines, bescheidenes Haus oder vielleicht auch nur eine bessere Hütte. Rauch stieg aus einem kleinen Rohr an dessen Seite. Der Umriss der Behausung zeichnete sich gegen den grau-blauen, dämmernden Himmel ab und wirkte dabei in der kargen Gegend einsam und verloren. Russland ging voran, die leise meckernde Ziege im Schlepptau. Gilbert stakste unter einiger Anstrengung den Hügel hinauf. Als die Tür sich öffnete, wehte Gilbert der Geruch von Kohl entgegen. "Vanya!!", rief eine Frauenstimme offensichtlich erfreut. Gilbert zwang sich weiter zu gehen, auch wenn ihm vor dem Kontakt graute. Er sprach praktisch kein Russisch und anzunehmen, dass jemand, der in der tiefsten Tundra Sibiriens Deutsch sprach, war töricht. Russland sprach mit der offensichtlich weiblichen Person und es war ein wenig merkwürdig ihn so Russisch sprechen zu hören. Seine Stimme war ... freundlich, weich. Und zwar nicht die trügerische Freundlichkeit, die er nur allzu gern wie ein geladenes Gewehr vor sich her trug, sondern vielmehr eine ehrliche Wärme. Die andere Nation wirkte auf einmal fremd, auch wenn Gilbert ihn nun schon gezwungener Weise viele Jahre kannte. Just winkte Russland ihn heran. Die Frau, die sie empfing, entpuppte sich als kleine, gebückt gehende Oma. Unter ihrem Kopftuch lugte weißes Haar hervor, ihr Gesicht war so, wie man es bei einer Frau ihres Alters vermuten würde. Doch was Gilbert inne halten ließ, waren ihre Augen – ein stechendes Hellblau, wie er es noch nie gesehen hatte. Ein eindringlicher Blick musterte ihn und Gilbert fühlte sich auf einmal schrecklich inadäquat. Sie sagte etwas zu Russland, welcher auf einmal peinlich berührt schien und verschmitzt lächelnd eine Antwort gab. Gilbert wurde flau und war sich nicht sicher, ob er wirklich wissen wollte, worum es ging ... Der Blick der Alten wurde etwas weicher, als sie in Gilberts Gesicht schaute. Gilbert war das alles schrecklich unangenehm und so purzelten die Worte wie von selbst aus seinem Mund: "D-dóbraje útra!" Stille. Die Alte kniff die Augen zusammen, legte den Kopf schief und wandte sich fragend an Russland. Russland schien jetzt erst zu realisieren, dass Gilbert versucht hatte auf Russisch zu grüßen – anscheinend war er tatsächlich so unverständlich gewesen. Russland fing an zu lachen und die Oma tätschelte lächelnd Gilberts Schulter. Gilbert biss sich sofort auf seine Unterlippe – er hatte nur höflich sein wollen! "Osten, das ist ja reizend von dir!" Gilbert stieg sofort die Schamesröte ins Gesicht. Ich geb' dir gleich reizend eins in die ... "Sie fragt mich, ob du dir den Kopf gestoßen hast ... wir haben Abend, nicht Morgen", sprach die andere Nation und hatte sogar die Nerven ihm zuzuzwinkern. "An deiner Aussprache arbeiten wir noch." Schon jetzt war Gilbert bedient. Er war froh, als sich die unangenehme Situation endlich auflöste und sie das Häuschen betraten.   Der Geruch nach gekochtem Kohl intensivierte sich im Inneren des Hauses. Es war eng, die Wände hingen voller Teppiche. Es waren noch weitere Frauen da, eine Frau mittleren Alters und eine, die Gilbert auf 16 schätzte. Sie starrte Gilbert unentwegt an, sodass es ihm unangenehm war. Als wolle sie mit ihren Augen Dolche in seinen Körper stoßen. Dass er als Deutscher nicht erwarten konnte überall Sympathien zu ernten, war Gilbert klar. Untereinander sprachen alle Russisch und ab und an übersetzte Russland Gilbert ein paar Gesprächsfetzen. Dafür war Gilbert tatsächlich dankbar. Die Situation war merkwürdig genug ... die Sprachbarriere tat ihr übriges. Die Alte wurde ihm als "Baba Jaga" vorgestellt. Sie verfüge über besondere Fähigkeiten, die sie den Nationen bei Bedarf anbot. Wie Gilbert schon vermutet hatte, ging es um so etwas wie Okkultismus. Ein Konzept, das ihm noch gut bekannt, aber dennoch suspekt war. Er selbst war einst aus dem Geist einer zutiefst religiösen Gruppierung entstanden und hatte sein Leben zusammen mit den Ordensrittern einzig und allein in den Dienst einer höheren Macht gestellt. Obwohl schon hunderte Jahre vergangen waren, hatte Gilbert immer noch einen tiefen Respekt davor. Doch von jemand anderem konnte er jetzt gerade keinerlei Hilfe erwarten. Diese Schamanin war seine einzige Möglichkeit. Das oder sein Schicksal als schwächliche, kränkelnde Nation anzunehmen. Die Wahl war eindeutig.   -*-   Ivan atmete tief durch und öffnete den sorgfältig gefalteten Stoff vorsichtig. Preußen, ihm gegenüber an einem kleinen Holztisch sitzend, schien die Luft anzuhalten, als er erblickte, was ich darin befand: eine Spritze, eine Glasphiole und ein winziges Bündel aus einer Art Folie. Bedacht darauf, sich seine eigene Anspannung nicht anmerken zu lassen, bewegte er sich betont langsam. Er wollte Preußen nicht noch zusätzlich verunsichern. "Was, wenn es nicht wirkt?" Er war unsicher und seine Stimme zitterte ein wenig. "Wieso sollte es nicht? Alkohol wirkt bei uns auch", entgegnete Ivan ruhig, während er den Löffel nahm und die Kerze näher zu sich heran holte. "Eine milde Gabe von China. Du solltest ihm das nächste Mal danken, wenn du ihn siehst." Preußen lachte und es klang schmerzhaft. Ivan hielt inne. "Misstraust du mir?" Preußen schaute ihn an und in seinen Augen flackerte der Schein der Öllampen um sie herum. Er schwieg eine Weile und antwortete dann: "Nein. Aber ich weiß, was du von mir willst. Und das macht es nicht einfacher." Ein Lächeln breitete sich auf Ivans Gesicht aus, das er schnell versuchte im Zaun zu halten: "Ich will vor allem einen starken, loyalen Sattelitenstaat." "Du willst einen Deutschen Schäferhund vor deiner Haustüre." Ivan konnte nicht mehr – er musste einfach lachen. Preußen zog ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. "Und genau deswegen vertraue ich darauf, dass du mich wieder auf die Beine stellen wirst", beendete Preußen seinen Gedankengang und schaute Ivan dabei tief in die Augen. Es war ein Blick, der Ivan wie eine Hand an der Gurgel packte und zudrückte. Er biss sich kurz auf seine Unterlippe. Preußen vertraue ihm – das berührte Ivan, egal auf welchen Schlussfolgerungen dieses Vertrauen beruhte. Er hielt Preußens Blick stand, wandte seine Augen unter dem Vorwand ab, sich weiter um die Vorbereitung der Betäubung zu kümmern. Sie saßen in Stille da, während Ivan das Heroin aufkochte und in die Spritze aufzog. Preußen band sich ein Gummiband um den Oberarm und knotete es fest zu. "Willst du selbst?" Preußen schüttelte den Kopf. "Du", sagte er nur. Seine Brust hob und senkte sich sehr schnell dabei. Ohne all dies zu kommentieren, hockte Ivan sich neben die andere Nation, setzte die Spritze an und drückte die Droge direkt in seine Vene. Preußen stockte der Atem und Ivan löste das Gummi um dessen Arm. Binnen Sekunden sackte Preußen in sich zusammen und rutschte zur Seite. Ivan packte ihn bei der Schulter und zog ihn an sich. Er wusste nicht, ob Preußen seine Worte noch hörte, sprach sie aber trotzdem: "Dieser russische Bär wird dich beschützen." Wäre er noch ansprechbar, hätte Preußen ihn für diesen Satz wahrscheinlich bitterböse abgestraft. Ivan schmunzelte.   -   Preußens regloser Körper war fast zu schwer, um ihn in den Dachstuhl des Häuschens zu hieven. Natürlich hätte man der anderen Nation auch erst dort oben den Schuss geben können, aber Ivan hatte sich bewusst dagegen entschieden. Zu groß war die Befürchtung, er könnte es sich angesichts von dem, was ihn oben erwartete, noch einmal anders überlegen. Er legte Preußen so vorsichtig auf dem Boden ab, wie er konnte, und stützte seinen Kopf mit einer Hand. Ihn aus seinem Hemd zu schälen gestaltete sich anstrengend, vor allem weil Preußen seine Gliedmaßen nicht helfend koordinieren konnte. Ivan griff nach dem Gurt, der an einer Kette in der Wand befestigt war, und brachte Preußens Arme über seinem Kopf verschränkt in Position. Dieser ließ Ivan gewähren und wirkte (gut für ihn) immer noch komplett teilnahmslos und weit entfernt von allem, was um ihn herum geschah. Seine Füße wurden in einem ähnlichen Gurt fixiert, sodass er lediglich seine Knie anheben konnte. Ivan hoffte inständig, dass die Prozedur nicht so schlimm werden würde, wie all dies anmuten ließ. Er blickte auf Preußen herab – Das kann nicht gemütlich sein … Kurz entschlossen griff Ivan nach Preußens Hemd, faltete es halbherzig zusammen und schob es unter Preußens Kopf, damit dieser wenigstens etwas gemütlicher auf dem Boden liegen konnte. Preußen seufzte, schloss seine Augen und sein Kopf rollte etwas zur Seite. Es schien ihn so wirklich gar nichts zu stören. Ivan war dankbar, dass zumindest dies schon mal funktionierte. Der goldene Anhänger mit Hammer und Sichel ruhte zwischen Preußens Schlüsselbeinen und darunter auf seiner Brust … die grobschlächtige, grässliche Narbe, die Ivan ihm damals in Stalingrad zugefügt hatte. Ivan musste schlucken – damals hatte er Preußen Königsberg genommen, beflügelt von rasendem Hass. Er hatte das Bild, wie sich das Messer in seine weiße Brust bohrte, noch gut vor Augen – damals hatte er es genossen, ihn so zu verletzen und zu demütigen. Ihn so zu quälen im Wissen, dass er nicht die Gnade genoss, anschließend so schnell sterben zu dürfen wie ein Mensch. Und nun war der Zusammenhang ein ganz ähnlicher, die Motive nur völlig vertauscht. Er bedauerte nicht, was damals geschehen war – aber für Ivan war es selbstverständlich, sich nun um den Osten Deutschlands zu kümmern, wo er nun von ihm, der Sowjetunion, abhängig war. Auf eine gewisse Weise machte es ihn auch glücklich, derjenige zu sein, der Osten wieder stark machen konnte und der ihm eine neue Hauptstadt gab. Der Geste wohnte eine gewisse Symbolkraft inne. Und gleichzeitig machte es ihn nervös zu wissen, wie viel davon abhing, dass das hier klappte, dass er Preußens Vertrauen nicht enttäuschte. Sachte streckte er seine Hand aus und schob den goldenen Hammer-und-Sichel-Anhänger zur Seite. Zitterte seine Hand dabei? Vielleicht – er versuchte nicht zu sehr darüber nachzudenken. Baba war in einer anderen Ecke des Raumes zu Gange und verbrannte verschiedene Kräuter in einer Schale. Die war hochkonzentriert, murmelte unentwegt und fügte stets Dinge in das Gemisch hinzu, rührte mal im Uhrzeigersinn, mal dagegen, legte ihre Hand immer wieder auf die kleine Holzkiste, von der zunehmend eine Art von Energie auszuströmen schien, die Ivan so noch nie in seinem Leben wahrgenommen hatte.   Nadja kam die steile Treppe hoch mit einem Eimer voll Blut, welchen sie umgehend zur Baba brachte. Ohne nach links oder rechts zu schauen, machte sie Anstalten sogleich wieder über die Treppe nach unten zu verschwinden. Ivan hielt sie auf: „Nadja.“ Sie hielt inne und drehte sich zögerlich zu Ivan hin. „Danke, dass du hilfst. Ich verstehe, dass es dir schwer fällt.“ Das Mädchen verschränkte die Arme und fixierte Ivan mit einem Blick, der sich anfühlte, als könne sie durch ihn hindurch gucken. Ivan wurde etwas nervös – vielleicht konnte sie das tatsächlich. Es musste einen Grund dafür geben, dass sie bei der Baba war. „Du willst ihm helfen. Ich verstehe das. Aber es ist noch viel … in ihm drin“, sprach sie und gestikulierte an ihr rechtes Auge. Ivan versuchte zu verstehen. „Du meinst … Altlasten?“   Nadja nickte und musterte den Preußen kurz. „Und ob der Preis, den du hierfür zahlen musst, es wert ist … „ Ivan schluckte. Dass man den Ausgang dieses Unternehmens nicht voraussehen konnte, war ihm klar und immer schon gewesen: wenn man einen Handel mit einem Vermittler des Überirdischen einging, musste man sich dessen bewusst sein. Ein nervöses Lachen entfloh ihm: „Meine Schwestern sind auch alles andere als begeistert … aber es geht nicht anders. Es muss sein. Ich … brauche ihn.“ Sofort nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, merkte er, dass man sie auch anders interpretieren konnte. Augenblicklich schoss ihm die Schamesröte ins Gesicht. Er war sich selber nicht einmal sicher, wie er das denn nun gemeint hatte … „I-Ich brauche ihn als Verbündeten. Stark und leistungsfähig …“, schob er verschmitzt nach. Nadja sagte nichts und Ivan flehte inständig, dass sie in ihm nicht etwas sehen konnte, dessen er sich selbst noch nicht bewusst war. Ihm war auf einmal unglaublich warm. „Ich verstehe das. Wenn man sich etwas so sehr wünscht, dass man alles bereit wäre dafür zu tun“, sprach Nadja ruhig und Ivan schaute überrascht zu ihr auf. Sie wirkte auf einmal … traurig. Traurig und viel zu jung, um mit Baba im Nirgendwo Rituale für Menschen auszuführen, die Wünsche hatten. Der Moment fand sein jähes Ende, als es aus der Ecke des Zimmers zischte und aufleuchtete. Es war soweit.   -   Wie es wohl wäre wenn sie jetzt alleine wären, in diesem Moment? Nur Ivan und Preußen, diese neu annektierte Nation die gerade so wehrlos war wie zuletzt im Winter 46. Unweigerlich dachte Ivan an jenen Tag, als er den anderen im Schnee wieder gefunden hatte und mitnahm. Er konnte sich noch gut an den Kontrast des dunklen grauen Wollmantels auf der gespenstig weißen Haut erinnern. An die bleichen, fast farblosen Lippen und die hellen Wimpern, auf denen winzige Eiskristalle lagen. Jetzt war es ähnlich, aber doch anders. Preußen wand sich auf dem Boden um sich selbst, kraftlos, wie ein Wurm. Ivan griff nach seinen Beinen und drückte sie gegen den Boden. Preußen wurde augenblicklich ruhiger. Nadja schrieb mit einem blutbenetzten Finger Runen auf den Boden, in einem Kreis um Preußens Körper herum. Baba Jaga murmelte indes immer weiter, ihre Stimme anschwellend und abebbend, Worte aneinander reihend, die Ivan in noch keiner Sprache der Welt gehört hatte. Langsam aber sicher wurde Ivan die Bedeutung dieses Augenblicks bewusst. Es gab kein Zurück. Ob es klappen würde oder nicht – Ivan würde den Preis zahlen müssen, egal ob Preußens Körper das neue Herz annehmen würde oder nicht. Geschenke gab es nicht. „So ist das hier, in Russland,“ geisterte es Ivan durch den Kopf und er musste lachen. Nadja kam zu ihm herüber und beugte sich über Preußens Körper. Sie tastete an seiner Brust herum und malte einen Strich unterhalb seines Brustkorbs, leicht schräg auf Preußens linker Seite. Um sicher zu gehen, dass es genug war, tauchte sie ihren Finger noch einmal in den Eimer mit Blut und zog die Linie noch einmal nach. Sie drehte sich zu Ivan und sprach mit fester Stimme: „Dort, und nirgends sonst. Du hast nur einen Versuch.“ Ivan nickte und spürte, wie die Nervosität in ihm aufstieg und versuchte die Überhand zu gewinnen. Er spürte, wie ein Zittern durch seinen Körper jagte und sich festsetzte. Babas Worte wurden lauter, immer lauter und Nadja zog sich zu ihr an den Rand des Raumes zurück.   Auf einmal schien die Atmosphäre im Raum sich zu verdichten – es wurde stickig und das konnte nicht mehr nur an den verdampfenden Ölen der entzündeten Kräuter liegen. Es fühlte sich an, als würde Ivans Brustkorb eingeschnürt. Die kleine Holzschachtel auf dem Boden schien zu vibrieren und er wagte es kaum sich ihr zu nähern. Der Deckel hob sich durch die Vibration schier von alleine und Ivan fasste all seinen Mut zusammen und griff nach dem faustgroßen Herz, das in der Schachtel lag.   Augenblicklich fingen die in Blut gemalten Symbole an in gleißendem Licht zu leuchten – Ivans erster Reflex war, sich einen Arm schützend über die Augen zu halten, damit er noch irgendetwas erkennen konnte. Es war, als sei er von einem gleißenden Wald aus Blitzen umgeben, die sich vom Boden himmelwärts schlängelten. Das Herz in seiner Hand zitterte deutlich spürbar mit Energie und schien dabei von einer Sekunde zur nächsten schwerer zu werden. Baba Jagas Worte hatten sich in einen merkwürdigen Singsang verwandelt, zusammen mit dem Zischen und dem dröhnenden Ton, den die überweltlichen Kräfte, die den Raum erfüllten, durchdrangen. Es dröhnte in Ivans Ohren und die Luft schien immer knapper zu werden – jeder Atemzug war eine Anstrengung. Er versucht einen Blick zur Baba und Nadja zu werfen, doch die Lichtblitze, die von den Runen ausgingen, blendeten alles, was dahinter war, aus. Es gab nur Licht um ihn herum, Licht – und Preußen. Der schien trotz des Drogenrauschs beunruhigt von der Situation um ihn herum – Ivan vermutete das, sicher sein konnte er in all dem Chaos nicht mehr. Nicht mal, ob dieser schrie oder nicht, vermochte er noch auszumachen. Es war jetzt oder nie. Ivan drückte mit seiner linken Hand Preußens Brust zu Boden, um ihn dort still zu halten. Bitte, bitte … und wenn es nur diese eine Sache ist … !, schickte Ivan ein letztes Stoßgebet gen Himmel und formte eine Faust um das Herz in seiner Hand. Preußens Augen öffneten sich und blickten in seine eigenen, als er seine Faust versuchte in Preußens Brustkorb hinein zu schieben, entlang der blutigen, leuchtenden Linie. Das Licht flackerte einen Augenblick und steigerte die Helligkeit dann ins Unermessliche.   -*-   Zuerst ist es, als würde jemand einen Stein in meine Brust drücken. Dann ein Druck, dass es jede Faser meines Körpers gen Boden zieht – und dann als ob es mir flüssiges Eisen in die Adern gießt. Es fühlt sich an, als würde ich durch den Boden hindurch fallen – mein Körper verliert seine Begrenzungen. Es gibt keine Umrisse mehr, die mich beschreiben. Alles ist in gleißend helles Licht getaucht. Und dann nicht mehr. Die Hitze und das Licht, die mich noch vor Augenblicken umgaben, sind wie weggesogen – es bleibt eine eisige Kälte, die sich in mein Sichtfeld schlängelt und diese hinab zieht in eine Dunkelheit wie die schwärzeste Tinte. Es fühlt sich an, als würde ich unendlich in alle Richtungen gezogen – nur dass da nichts ist, was mich ausmachen würde. Mein Bewusstsein, meine Seele? Formen erscheinen vor meinen Augen. Erst abstrakt, dann konkret. Ich kann Hell und Dunkel ausmachen. Ich öffne die Augen oder tue etwas, was dem entspricht, nur ohne Körper. Mein Bewusstsein taucht wie aus einem See an die Oberfläche. Ich sehe durch die Augen von jemand anderem.   Es ist Nacht, die Szene nur dürftig von ein paar Öllampen beleuchtet. Ich atme schwer und schwitze unter meinem dicken Wollmantel. Mein Hals schmerzt und brennt und ich spüre etwas Feuchtes dort. Ich habe wieder einen Körper, doch er ist nicht meiner. Die Muskeln in meinen Armen sind müde und dennoch schaufle ich weiter, immer weiter in der festen Erde. Da sind noch andere Männer um mich herum, die auch Löcher ausheben. Als ich realisiere, was ich hier tue, halte ich für einen Moment inne und schaue auf den Boden neben mich, wo ein Körper liegt. Er ist in Stoff gehüllt und ich weiß nicht, wer es ist – doch der, durch dessen Augen ich sehe, weiß es. Ich merke, wie Tränen in meine Augen steigen und über meine Wangen laufen – unkontrollierbar, als hätte jemand ein Fass angebrochen. Es schnürt mir den Hals zu. Ein kaum beschreibbarer Schmerz steigt in meine Brust, sodass es sich anfühlt, als würde mir das Herz mit eisernen Fäusten zusammengedrückt. Ich muss weitergraben.   Eine andere Abfolge von Bildern: Gesichtslose Männer mit einer Sprache wie Giftnattern legen mir Dornen um den Hals und ziehen die Schlinge zu. Ein so kleiner Hals, an dem so kleine Hände mit so kleinen Fingern hektisch und in Todesangst an die Schlinge greifen und sie versuchen zu lockern, dass es wider die Natur scheint. Keine so kleinen Hände, kein so kleines Geschöpf sollte so um sein Leben kämpfen müssen.   Die Szene löst sich langsam auf und mit ihr dieses unwirkliche Gefühl einen fremden Körper zu haben. Der Osten im Preußen im Gilbert öffnet die Augen. Der Gilbert im Gilbert im Gilbert öffnet die Augen.   Dann kommt der Schmerz.   Nervenenden schreien in hysterischer Agonie. Flüssiges Magma pulsiert durch ihn und umzeichnet wieder so etwas wie Umrisse, die ihn definieren. Wie eine zersprungene Vase, die gerade noch zusammenhält. Der Osten im Preußen öffnet die Augen, öffnet die Augen, öffnet die Augen. Ein Versprechen, ein Traum, was könnte sein, was wäre möglich. Ein Vielleicht – nicht weniger, nicht mehr. Liebe, Hass, Macht, Untergang. Vielleicht tausend Jahre, vielleicht nur ein Wimpernschlag. Vielleicht Hybris, vielleicht ein Epitaph.   Eine Nation – geschaffen, um zu einen, um zu dienen und ein Traum. Was sein könnte, eine Möglichkeit. Nur ein Vielleicht, nicht mehr, nicht weniger.   Es ist soweit.   Wie ein Neugeborenes werde ich in die Welt geschmissen, auf dieses Tollhaus, das unsere Welt ist. Schreiend, weinend, weil ich auch diese Geburt mit dem Tod bezahlen muss – schlimmer noch, mit dem Leben-Müssen. Geburt ist nur eine weitere Möglichkeit. Nicht mehr, nicht weniger.   Ich bin hungrig.   So hungrig.   -*-   Es wird dunkel und ich bin in Kälte gehüllt. Ich bin nicht mehr bei Osten, habe nicht einmal mehr einen Körper, der mich umreißt. Ich verliere mich. Erinnere mich nicht mehr an mich selbst. Das Röhren der Magie um uns herum verhallt und es herrscht Stille. Und dann nicht mehr. Ein kleines Licht, ein Flackern und nicht mehr. Umgeben von alles durchdringender Stille schwebe ich immer weiter weg von dieser kleinen, hellen Form in der Dunkelheit. Ich sinke hinab, hinab, bis es nicht mehr weiter hinab geht und dann noch weiter. Meine Lunge brennt. Meine Glieder sind bleiern.   Auf einmal fassen mich zwei Arme und ziehen an mir. Hinauf, hinaus.   Ivan in Russland öffnet seine Augen, öffnet sie, öffnet sie und sieht nicht durch sie sondern durch die Augen jemand anderes.   Ich sitze in einem Raum, geflutet von Sonnenlicht. Ich knie an einem Bett, und meine Hände umklammern eine faltige, schlanke Hand. Meine Hände müssen warm sein, denn ich merke, wie diese zerbrechliche Hand in meiner von einem Augenblick auf den nächsten immer kälter und kälter wird. Wie im Zeitraffer. Warme Rinnsale von Tränen laufen mir übers Gesicht, Schluchzen um Schluchzen bringt meinen Körper zum Beben.   Die Szene flackert, wechselt – ein brauner Schopf Haare auf meiner Schulter, als ich an mir herabsehe, im nächsten Moment schon nur noch von hinten sichtbar. Er entfernt sich und ich kann ihm nicht folgen.   Ein blonder Schopf Haare unter meinem Kinn, ich halte den kleinen Körper fest gegen mich gedrückt, im nächsten Moment schon nur noch eine helle Form, die langsam aber stetig von mir geht. Ich kann auch ihm nicht folgen.   Eine Schwere liegt sich über mich, schnürt meine Brust ein. Es ist ein Gefühl wie ausgehöhlt zu werden mit jedem Atemzug. Ein Loch, das sich tiefer und tiefer frisst und Eiswasser in mich hinein gegossen wird. Ein Gefühl von lähmender, vernichtender Einsamkeit. Hunderte, Tausende Gesichter marschieren an mir vorbei, hinein in einen monströsen, bizarr anmutenden Hochofen. Seine Flammen lodern, immer und immer heller – wärmen tun sie niemanden. Was sie tun, ist Leben vernichten. Es wird still in mir. Was ich tue, ist Leben vernichten. Was spielt es dabei schon für eine Rolle wie viele? Und ob es welche von meinen oder welche von anderen sind? Die Welt ist eine Hölle. Grausamkeit wiederholt sich in einem Perpetuum Mobile. Die Menschen treten in dieser Höllenmaschine die Pedale, rasen in den Hamsterrädern, bis ihre kurzen Leben vorbei sind und sie der nächste ersetzt. Eine Höllenmaschine, die Leben vernichtet, eine Maschine der sich die Menschen mit einem allzu fröhlichen Lachen zwischen die gierigen Kiefer schmeißen.   Sie töten sich selbst, sie töten einander. Das ist das Gesicht einer Nation. Das ist mein Gesicht.   Ich ziehe meine Hand zurück.   -*-   Die Zeit schien für einen Moment still zu stehen und dann doch weiter zu laufen. Gilbert öffnete die Augen und blickte sogleich in die Russlands. Er war über seinen eigenen Körper gebeugt – nein. Genauer gesagt steckte er mit einer Hand in Gilberts Brustkorb. Bevor er die Situation völlig verstehen konnte, löste sich die andere Nation von ihm, zog seine Hand aus ihm heraus. Es tat nicht weh, alles, was Gilbert spürte, war das Nachlassen eines Druckgefühls, das vorher in ihm geherrscht hatte – und er spürte, wie sein Herz schlug, stolpernd und aufgeregt. Ach ja … da war ja was … Russland schaute ihn an, als ob er derjenige war, der seine Hand mit voller Wucht in seinen Körper gerammt hatte. Seine Augen zitterten furchterfüllt. Stille. Gilbert verlor sich wieder im Gefühl seines eigenen Körpers, das ihn umgab, ein angenehmer rauschartiger Zustand, der schnell wieder Überhand gewann. Was passiert war … Keine Ahnung. Es war aber auch nicht wichtig. Jetzt, in diesem Moment. Er schloss die Augen und spürte nach, wie sein Blut endlich wieder warm wurde in ihm, mit jedem Schlag seines neuen Herzens. Ihm wurde warm.   -*-   Ivan zitterte bis ins Mark. Wie vom Donner gerührt. Der Vodka brannte auf seinem Weg den Rachen hinunter. Er kauerte an der Wand des kleinen Hauses, unter dem gleichgültigen Nachthimmel der Tundra. Was war das? Was zur Hölle war das!?? Erinnerungen, die er Jahrzehnte, Jahrhunderte lang versucht hatte zu vergessen. „Tatjana … Maria … Olga … Alexei …“ Ivan krümmte sich um sich selbst, der Schmerz so präsent wie damals. Schippe für Schippe. Asche zu Asche. „… Anastasia …“   War das … Osten? Hat er das auch gesehen? Weiß er, dass das … meine Erinnerungen waren?!   Ivan fuchtelte in seinen Hosentaschen herum, bis er eine Zigarette und sein Feuerzeug fand. Mit zitternden, ungeschickten Fingern zündete er sie sich an und nahm einen gierigen Zug. Der Geruch von verbrennenden Haaren, das Geräusch von Schaufeln, die sich in gefrorenen Boden versuchten zu bohren, war wieder da, und es fühlte sich an wie Fingernägel, die an seinem Schädel kratzten. Ivan fluchte, fluchte noch einmal – Ich will das nicht … ich habe das nicht gewollt. Wieso jetzt!?? Es dauerte, bis Ivan sich beruhigen konnte – er wusste nicht, wie viele Zigaretten es gewesen waren, er merke lediglich, dass er keine mehr hatte. Sein Flachmann war ebenfalls leer. Aber es war in Ordnung, jetzt. Was auch immer zwischen ihm und Osten stattgefunden hatte, war übernatürlich gewesen. Ivan hatte selbst nur ein rudimentäres Verständnis von den Dingen, die Baba veranstaltete, und wie sie funktionierten, aber das … Es war etwas was Ivan nicht wiederholen wollte. Mit niemandem. Jemals. Es war intim gewesen, so intim wie irgendetwas nur sein konnte. Es war, als hätten sich ihre beiden Seelen für einen Augenblick völlig nackt gegenüber gestanden – wenn Osten seine Erinnerungen gesehen hatte, dann war das, was er da Fremdes gesehen hatte … die der anderen Nation. Ivan blieb ratlos zurück, was das alles zu bedeuten hatte. Und ob sich Preußen überhaupt erinnern konnte, dass all dies überhaupt geschehen war. Er vermutete, dass die Droge noch ein paar Stunden wirken würde. Auf eine gewisse Weise, schlussfolgerte Ivan, war es nur fair. Er hatte schließlich schon zweimal seine Hand in Ostens Brust hinein gesteckt und darin gewütet: es war nur konsequent, wenn er nun auch etwas aus seinem tiefsten Inneren preisgeben musste. Er raffte sich zusammen und ging wieder ins Haus. Müde war gar kein Ausdruck für seinen Zustand – er wollte einfach nur noch schlafen.   Baba schaute Ivan mahnend an und winkte ihn heran. Er hatte das Gefühl, sie wusste genau, was da passiert war zwischen ihm und Osten – er scheute ihren Blick, wollte für heute gar nichts mehr von irgendwas wissen. Doch sie sagte nichts, sondern drückte ihm nur zwei dicke Wolldecken in die Hand und ein großes Kissen. Sie murmelte noch, er solle so lange schlafen, wie es ging. Ivan bedankte sich und kletterte hinauf auf den Dachboden. Der Raum war nur noch von einer kleinen Öllampe erleuchtet und er musste lange suchen, bis er den Körper des anderen auf dem Boden fand. Man hatte ihn mittlerweile losgemacht von der Fixierung und die andere Nation lag auf der Seite, Knie angezogen. Eine Hand ruhte auf seiner Brust, die andere war um seinen eigenen Bauch gelegt. Er schien noch gut berauscht zu sein – genug um keinerlei Unbequemlichkeit zu verspüren, so vermutete es Ivan. Sein Blick ging ins Leere. Ivan griff um Ostens Hals herum, suchte nach dem Verschluss der Kette und nahm sie an sich. Osten ließ ihn gewähren. Als seine Finger die Haut des anderen streiften, schien Osten laut auszuatmen – Ivan erschrak ein wenig. Seine Haut fühlte sich glühend heiß unter seinen Fingerspitzen an. „Osten? Hörst du mich?“ Träge rollte er auf den Rücken und nahm einen weiteren tiefen Atemzug. „Osten“, wiederholte Ivan etwas sanfter. Osten blinzelte unendlich langsam und drehte seinen Kopf in Ivans Richtung. Als seine Augen Ivan fixierten, fühlte es sich kurz so an, als hätte Ivan jemand in den Bauch geschlagen. Ostens Blick wirkte so, als würde er Ivan das erste Mal sehen. Als würde er ihn betrachten ohne zu urteilen.   Ohne ihn zu hassen.   Ivans Augen brannten – Kann er sich erinnern? Weiß er, dass er … mich gesehen hat? „Gilbert.“ Osten hielt seinen Blick und Ivan fühlte, wie ihm warm um die Nasenspitze wurde. Es dauerte einen Augenblick, bis er realisierte, was Osten ihm hier anbot – seinen Namen. Seinen menschlichen Namen. Sein Herz schlug Ivan auf einmal bis zum Hals. „Ahh. Ähm … Ivan“, antwortete Ivan und merkte direkt, wie schüchtern er klang. Er hoffte Osten – nein … Gilbert würde das nicht gegen ihn benutzen. Doch dieser lächelte nur ein wenig und fragte lakonisch: „Wirklich? Der Durchschnittsname?“ Darauf konnte Ivan nicht anders – er lachte und fühlte die Anspannung und Angst der ganzen Tags von sich abfallen. Es war ein Anfang – ein kleiner, aber immerhin.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)